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Der letzte Teil der Omega Trilogie. Nostradamus Tuckers Erbe geht von seinen Söhnen auf seine neun Enkel über. Das Omega wird aufgelöst und die Steine ihren neuen Wächtern übergeben. Um die Steine in Sicherheit zu bringen zerstreuen sich die Tuckers in alle Winde. Das ist das Ende einer Familie und der Beginn einer neuen Ära.
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Seitenzahl: 479
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Im Zeichen des Omega
Jaspis
Jo Arnold
ISBN: 978-3-86332-106-2
Þæt wæs Þam gomelan gingæste word breostgehygdum, ær he bæl cure, hate heaðowylmas; him of hreðre gewat sawol secean soðfæstra dom.
(Beowulf, 2817-2820)
The old man’s mouth was silent, spoke no more, had said as much as it could; He chose the fire. His soul left his body to find the saints’ reward.
„Du weißt, dass es Unrecht ist!”, stöhnte Michael unter Anstrengung.
„Wie kann etwas falsch sein, das sich so anfühlt?“, fragte Kassie und zog Michael wieder nach unten.
Der große, rothaarige Mann ergab sich seinen Gefühlen und verfluchte sich ein weiteres Mal, dass er Kassie nicht widerstehen konnte. Als er sie küsste erinnerte er sich wieder, wieso es ihm nicht gelang. Und als sich ihre Lippen von seinen lösten wusste er erneut, weshalb es nicht sein durfte.
„Inzest!“, flüsterte er Kassie ins Ohr, während sie ein Hohlkreuz machte und den Kopf zurück warf.
Als sie wieder zu Atem gekommen war sah sie ihn aus großen, dunkelgrauen Augen an. „Das ist es nicht!“, sagte sie trotzig.
Michael zog sie versöhnlich zu sich. „Unsere Väter sind Brüder, Kassie!“
„Na und? Das macht uns zu Cousins ersten Grades. Das ist völlig legal“, die junge Frau legte Michael die schmalen Hände auf die Brust. Sie schob sich ein wenig von ihm weg, um ihn besser sehen zu können.
Sie hatten dieses Streitgespräch schon dutzende Male geführt.
Michael strich Kassie eine braune Haarsträhne aus der Stirn. „Zwillingsbrüder. Eineiige Zwillinge. Du weißt, dass es Unrecht ist“, wiederholte er traurig.
„Es ist mir egal. Und dir ist es auch egal“, beharrte Kassie und liebkoste Michaels rotbraune Brustbehaarung.
Der große Mann reagierte prompt. Eine Gänsehaut bildete sich auf seinem Körper. Kassie fuhr das Brustbein hinauf bis unter sein Kinn, nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger und zog das geliebte Gesicht zu sich heran. Die irisch grünen Augen blickten sie fast flehend an. Sie ignorierte die Ablehnung in Michaels Blick und küsste ihn. Sie konnte spüren, wie er sich einen Moment lang sträubte. Dann ergab er sich doch.
Nur noch dieses eine Mal, dachte Michael Tucker. Wie schon unzählige Male zuvor.
Er drückte Kassie an sich und liebte sie als wäre es das letzte Mal, so wie jeder Liebesakt zwischen ihnen der letzte sein sollte.
Als sie später völlig erschöpft nebeneinander lagen sagte er: „Wir sind den Steinen als Wächter verpflichtet, Kassie. Wir müssen damit aufhören.“ Michaels Hand schloss sich um den Anhänger auf seiner Brust.
„Ich kann nicht“, sagte Kassie und stand auf.
Michael beobachtete, wie sie sich anzog und unwillkürlich stellten sich die Härchen in seinem Nacken erneut auf. Sie war schön. Ein Meter achtzig, schlank, mit langen Beinen. Sie bewegte sich mit einer Selbstsicherheit und Bestimmtheit, die ihn immer wieder verblüffte. Gabriela Kassandra Tierra Tuckers Ausstrahlung war enorm. Es war schwer, ihr nicht zu verfallen. Und es war schwer zu glauben, dass sie erst zwanzig war.
Michael stand ebenfalls auf. Er überragte Kassie um fünfzehn Zentimeter. Sie sah zu ihm auf und presste ihm mit dem Zeigefinger einen Kuss auf die Lippen.
„Kassie. Ich meine es ernst.“, sagte er und hielt sie an den Schultern auf Armeslänge von sich weg.
Kassie lächelte das französische Lächeln, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. „Gut, ich auch!“
„Kassie!“, Verzweiflung schwang in Michaels Stimme.
Kassie schüttelte den Kopf, dass ihre schulterlangen Haare nur so flogen.
Michael gab sie mit einem resignierenden Seufzer frei. Er zog sich an. Kassie sah ihm zu, wie er sich sein Hemd über den muskulösen Rücken streifte. Sie spielte mit der Kette um ihren Hals und ließ den Bergkristall daran schwer zwischen ihren Brüsten landen.
Eher würde ich den Stein aufgeben, als dich!, dachte sie. Laut sagte sie: „Ich frage mich, was Großvater von uns will. Es sind noch vier Tage bis Weihnachten. Hast du eine Ahnung, warum er uns diesmal schon so früh Zuhause haben will?“
Michael schüttelte den Kopf. Er war froh ein Thema zu haben, das ihn ablenkte. „Mir hat er auch nichts weiter gesagt. Aber du weißt ja, er hat die Geheimniskrämerei erfunden.“
Kassie nickte. „Ich frage mich nur weshalb jetzt, wo unsere Eltern im Urlaub sind. Was will er von uns?“
Michael zuckte die Achseln. „Ich weiß, dass Lemon und Yu überhaupt nicht erfreut waren. Sie hatten eine Woche Skiurlaub in den italienischen Alpen gebucht. Mit Begleitung.“ Michael grinste, als er sich an das Telefonat mit seinen jüngeren Brüdern erinnerte. Raguel Mercurius Lemon Tucker und sein Zwillingsbruder Uriel Ares Yu hatten sich wie die anderen Tucker Enkel dem Willen ihres Großvaters Nostradamus gebeugt. Alle neun waren bis zum 20. Dezember angereist. Michael und Kassie waren die letzten. Michael verließ als erster das Flughafenhotel und nahm sich ein Taxi zur Villa der Tuckers. Allein die Tatsache, dass Kassie und er ihre Affäre seit drei Jahren geheim hielten war Bestätigung genug für ihn, dass auch Kassie die moralische Illegalität bewusst war. Er musste diese Beziehung beenden. Er wollte es sogar.
N.D. Tucker stand vor der großen Haustür der Villa und sah dem Taxi entgegen, das sein letztes fehlendes Enkelkind die sandsteinfarbene Auffahrt herauf brachte. Kassie war seine Lieblingsenkelin. Er hatte weder sie noch die anderen das jemals spüren lassen, hoffte er. Es waren ihre Augen und ihr Charisma. Sie erinnerte ihn in so vielen Dingen an seine Sandy. Obwohl es gar nicht sein konnte, sah er viel seiner ermordeten Frau in ihr. Es war richtig gewesen, ihr Kassandras Namen zu geben.
Kassie stieg aus. N.D. beobachtete amüsiert, wie der Taxifahrer ihr mit glänzenden Augen die Tür des Druckluftschwebeautos aufhielt. Kassie kam mit einem breiten Lächeln auf ihren Großvater zu. Unwillkürlich straffte sich der alte Mann. Trotz seiner 83 Jahre war er körperlich und geistig fit. Aber er dachte: Entweder bin ich auf meine alten Tage geschrumpft oder Kassie ist noch ein Stück gewachsen. Erleichtert bemerkte er die hohen Schuhe an den Füßen der jungen Frau. Nostradamus und seine Enkelin waren exakt auf gleicher Augenhöhe, als sie heran war.
„Hallo Großvater!“, sagte sie in ihrer melodischen Altstimme und brachte das Herz des alten Mannes augenblicklich zum Schmelzen.
„Hallo meine Schöne!“, sagte N.D. und küsste sie auf die Stirn. „Du hast uns warten lassen.“
„Tut mir leid, aber ich habe doch nichts verpasst oder?“, fragte Kassie mit einem Kräuseln um die Mundwinkel.
„Kassandras Augen und Sebastiennes Lächeln. Kein Wunder, dass die Männer den Verstand verlieren.“ N.D. dachte mit einem schmerzhaften Gefühl in der Brust an Michael.
Raphaela kam hinter ihnen aus der Haustür gestürmt und rannte auf sie zu. „Schwesterherz! Endlich! Ich werde noch verrückt so allein unter Männern!“
Das Mädchen mit den langen blonden Locken warf sich Kassie in die Arme. Die ältere Schwester streichelte ihr liebevoll über das Haar.
„Mein goldgelockter Irrwisch. Ich habe dich vermisst. Wie gefällt es dir in New York?“, Kassie sah auf ihre kleine Schwester hinunter.
Mit strahlend blauen Augen erwiderte die Sechzehnjährige den Blick. „Es ist toll auf dem College. Aber auch wenn es von Frankfurt nur zwei Stunden sind, Weihnachten Zuhause ist besser!“
Der Großvater seufzte. „Kommt schon ihr zwei. Oder wollt ihr warten, bis euer alter Großvater hier draußen festfriert.“
Die beiden jungen Frauen hakten ihren Opa auf beiden Seiten unter und schwatzend gingen sie ins Haus. In der Vorhalle trafen sie auf Red und Blue, die ihre Schwester ebenfalls begrüßen wollten. Die Brüder umarmten Kassie herzlich, nur um sich gleich darauf abzusetzen. Sie wollten zu ihren Cousins in den hauseigenen Pool. Kassie rief ihnen lachend hinterher: „Sagt den Jungs wir kommen nach und dann gibt es Saures!“
Mit Raphaela ging sie durch das weitläufige Gebäude in ihr ehemaliges Zimmer.
N.D. Tucker blieb in der Vorhalle zurück und sah seinen Enkelinnen nach. Die eine groß, schlank und dunkel. Die andere klein, zierlich, blond und hellhäutig. Er seufzte zum zweiten Mal. Es gab noch viel zu erledigen, bevor morgen Abend alles vorüber sein würde. Zumindest für ihn. Er ging in die Bibliothek im alten Teil des Hauses. Er warf der Büchersammlung seiner Frau einen wehmütigen Blick zu, dann setzte er sich an einen kleinen Tisch und nahm sich einen Bogen Briefpapier. Er hatte erwogen, die Nachricht an seine Söhne und Schwiegertöchter auf dem Computer zu schreiben, aber das erschien ihm zu herzlos. Als ob eine handgeschriebene Notiz noch einen Unterschied machen würde, dachte er und schüttelte über sich selbst den Kopf.
Dann zwang er seine alterskranke Hand den Stift zu halten. Die Schrift zitterte über das Elefantenpapier.
Kassie ging in ihr Bad. Sie duschte und rasierte sich die Bikinizone. Dann zog sie einen einteiligen, roten Badeanzug an, schwang sich ein großes Handtuch um die Schultern und ging barfuss zum Pool. Auf dem Weg durch die langen Flure ließ sie ihre Kindheit Revue passieren. Es war eine schöne, aber auch ungewöhnliche Zeit gewesen. Die Kinder von Garren und Greer Tucker waren alle zusammen in diesem riesigen Haus groß geworden. An Spielkameraden hatte es niemals gemangelt. Daraus ergab sich automatisch, dass kaum eines der Tucker-Kinder Kontakt zu Gleichaltrigen außerhalb der Mauern des Anwesens hatte. Sie wuchsen in ihrer eigenen kleinen Welt heran, ohne von den Problemen außerhalb auch nur zu ahnen. Kassie fragte sich, weshalb ihr sonst so weltnaher Großvater sie lieber altenglische Gedichte, esoterische Theorien und lateinische Kriegsberichte lesen ließ, statt mit ihnen in den Frankfurter Zoo zu fahren. Der Patriarch der Familie hatte darauf bestanden, alle seiner neun Enkel bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr nach einem von ihm zusammengestellten Lehrplan unterrichten zu lassen. Raphaela war der tuckerschen Klausur erst vor einem halben Jahr entkommen. Kassie musste zugeben, dass die intellektuelle Vorbereitung durch die von ihrem Großvater gewählten Lehrer exzellent gewesen war. Sie war überrascht, wie leicht ihr ihr Medizinstudium fiel. Auch ihre sozialen Kompetenzen waren durch die vielen Geschwister und Cousins überdurchschnittlich entwickelt. Seit vier Jahren stand ihr die Welt offen, nach der sie sich seit ihrem zwölften Lebensjahr gesehnt hatte und jetzt wünschte sie sich manchmal in dieses große Haus in die Tage ihrer Kindheit zurück. Kassie schüttelte lächelnd den Kopf und dachte an einen Spruch ihrer Mutter: Sei vorsichtig mit dem was du wünschst. Es könnte unter Umständen wahr werden.
Erst jetzt verstand sie, was Sebastienne Tucker damit gemeint hatte. Sie kam zu dem langen Glasgang, der das Haupthaus mit dem Poolbereich verband. Sie ging hindurch und betrachtete den verschneiten Rasen nur Zentimeter von ihren nackten Füßen entfernt. Von der anderen Seite des Ganges kam ihr schwülfeuchte Luft und fröhliches Stimmengemisch entgegen. Sie trat durch die Glasschwingtür und der vertraute Lärm umfing sie wie eine herzliche Umarmung. Ihre Augen tasteten den Raum ab. Der Pool hatte eine stilisierte Knochenform. In seiner Mitte, wo er am schmalsten war, standen einige Kokospalmen in einer Anpflanzung an seinem Rand. Darunter hatte es sich Raphaela zusammen mit Dis, ihrem siebzehnjährigen Cousin, gemütlich gemacht. Gegenüber, im Whirlpool, lag Michael zusammen mit seinem jüngeren Bruder Sariel und Kassies älterem Bruder Red. Blue, sowie die Zwillinge Lemon und Yu standen am flachen Ende des Pools und diskutierten über irgend etwas. Es waren alle da.
Als Kassie eintrat drehten sich acht Köpfe in ihre Richtung. Es wurden Begrüßungen gerufen und gewunken. Kassie lächelte in die Runde und winkte zurück.
Sariel stieß Michael unter Wasser mit dem Ellenbogen an. Er hob sein Kinn in Richtung Kassie und sagte: „Sieh dir diese Frau an. Ich schwöre dir, wenn sie nicht unsere Cousine wäre ...“ Der Rest des Satzes blieb unvollendet, da Michael seinem Bruder mit der flachen Hand auf den Hinterkopf schlug.
„Autsch! “ Sariel rieb sich dümmlich grinsend sein Genick.
Red lachte. Der rote Anhänger auf seiner Brust leuchtete mit den nassen roten Haaren von Michael um die Wette. „Sei nicht so hart zu ihm Mike. Sie ist meine Schwester und mir gehen manchmal unkeusche Gedanken durch den Kopf, wenn ich sie sehe.“
Michael stand auf und kletterte aus dem brodelnden Wasser. Sariel und Red sahen sich mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an.
Kassie legte ihr Handtuch auf eine der Edelstahl-Liegen und stieg in das angenehm warme Wasser des Pools. Sie begann Bahnen zu schwimmen. Eine Weile vergaß sie alles um sich herum und genoss einfach das Gefühl des Wassers. Sie konzentrierte sich auf ihre arbeitenden Muskeln, die mit routinierter Gewohnheit die Kraulbewegungen ausführten. Der Rhythmus ihrer Atmung war gleichbleibend regelmäßig und ihr Herzschlag ging durch die Anstrengung nur langsam nach oben. Kassie schwamm für ihr Leben gern. Im Wasser fühlte sie sich richtig lebendig. Dieses Gefühl hatte sie außerhalb des Wassers nur in Michaels Armen. Dieser Gedanke brachte sie in die Realität zurück. Sie schlug ein letztes Mal an der Seite des Schwimmbeckens an und tauchte dann auf.
Nostradamus Tucker hatte sein Schreiben beendet. Er steckte es in einen Pergamentumschlag, adressierte es und versiegelte es mit rotem Wachs. Es tropfte zähflüssig wie Blut. Dann machte er sich auf den Weg zum Pool, um seine Enkel für den kommenden Tag zu instruieren.
Garren und Greer Tucker kehrten zusammen mit ihren Frauen am Morgen des 23. Dezember nach Hause zurück. Alle vier hatten die Wüstenkreuzfahrt in vollen Zügen genossen. Die Sahara war seit ihrer Begrünung auf ein Viertel ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft. Immer noch groß genug, um die Sanddünen von Bord eines Desertcruiseliners tagelang bewundern zu können. Die Luxusreise war ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk ihres Vaters gewesen.
Aibrean und Sebastienne gingen Arm in Arm auf den Haupteingang ihres Zuhauses zu. Garren und Greer kümmerten sich noch um das Gepäck. Eine Hausangestellte hielt den Schwägerinnen die Tür auf.
„Danke, Anna!“, Aibrean nickte der jungen Frau zu. „Könnten Sie Lothar bitten, unseren Männern mit dem Gepäck zu helfen?“
Anna sauste davon.
In der Vorhalle entledigten sich die Frauen ihrer Wintermäntel. Irgendetwas stimmte nicht. Sie hatten zwar nicht erwartet von allen Kindern gleichzeitig begrüßt zu werden, aber es war gar niemand gekommen, um sie zu empfangen.
Sebastienne bemerkte einen Pergamentumschlag auf dem Tisch neben der Garderobe. Sie sog den Duft von Rosmarin ein, das in einem Blumengesteck auf dem Tisch stand. Sebastienne betrachtete es mit einem Stirnrunzeln. In der Vorhalle standen immer Blumengestecke. Dieses war irgendwie anders als sonst. Das Heidekraut, Buchs und die Mistel ließen es weihnachtlich erscheinen, aber Sebastienne entdeckte auch noch Efeuranken, einzelne Zypressezweige und zu ihrem größten Erstaunen Brennnessel. Das Gesteck machte ihr aus irgendeinem Grund Angst. Sie nahm den Umschlag hoch. Er trug die Handschrift ihres Schwiegervaters und war für Garren und Greer.
Unter dem Umschlag lagen zwei Ketten, denen, die ihre Kinder trugen nicht unähnlich. An jeder der grobgliedrigen Edelstahlketten hing ein Anhänger in Form einer Kugel, die in einer an einen Blütenkelch erinnernde Fassung saß. Die eine Kugel bestand aus Lapis Lazuli. Sebastienne erkannte den dunkelblauen Stein mit den goldenen Sprenkeln sofort. Die andere Kugel war ebenfalls dunkel blau, aber eher transparent. Sebastienne ging mit ihrem Fund zu Aibrean. Sie nahm den Umschlag von ihr und drehte ihn in den Händen.
„Er ist versiegelt“, sagte sie überrascht.
Sebastienne hielt in jeder Hand eine der Ketten hoch. „Schau’ mal“
Beim Anblick der runden Anhänger lief Aibrean ein Schauder über den Rücken. „Irgendetwas geht hier vor sich. Hol’ bitte Garren und Greer rein. Ich seh’ nach, welche der Kinder schon angekommen sind.“
Sebastienne nickte, legte die Ketten auf den Tisch und griff sich ihren Mantel. Sie ging hinaus. Aibrean lief in die entgegen gesetzte Richtung auf die Treppe zu.
Sie waren gleichzeitig zurück. Sebastienne kam mit den beiden Männern durch die Vordertür, als Aibrean die lange, breite Holzfreitreppe in die Vorhalle wieder hinunter stieg.
„Keines der Kinder ist da!“, sie klang beunruhigt.
Garren sah seiner Frau entgegen. „Vielleicht gibt uns Dads Brief ja Aufschluss.“
Greer hielt ihn in der behandschuhten Rechten. Er legte den Umschlag zurück auf den Tisch, zog seine Wintersachen aus und nahm ihn dann wieder auf. Dann brach er das Siegel und zog einen Bogen Elefantenpapier heraus. Er entfaltete es, drehte es in die richtige Position und begann zu lesen. Nach wenigen Sekunden verlor sein Gesicht jegliche Farbe. Sein Blick flackerte und seine Hände zitterten immer heftiger. Sebastienne stand neben ihrem Mann und sah ihm ins Gesicht. Der Ausdruck darin allein war genug, ihr das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Aibrean hatte die kleine Gruppe erreicht und Garren legte ihr beschützend den Arm um die Schulter. Greer ächzte. Der Brief entglitt seiner Hand und fiel auf die römischen Keramikfliesen. Aibrean bückte sich und hob ihn auf. Sie sah auf die zwei Absätze vor sich, aber bereits nach den ersten zwei Sätzen machten alle Buchstaben danach keinen Sinn mehr. Sie brach in den Armen ihres Mannes zusammen. Garren und Sebastienne sahen sich an. Keiner von beiden wollte wissen, was in dem Brief stand, dennoch nahm ihn Sebastienne Aibrean aus der schlaffen Hand und las ihn laut vor. Der Sinn der Worte, die sie sah, drang nicht zu ihr durch. Sie las einfach.
„Jetzt weiß ich, wie Felix Hinterer sich gefühlt hat“, sagte Aibrean, als Sebastienne geendet hatte. Ihre Stimme brach und sie schluchzte nur noch.
Am 21. Dezember stand Nostradamus Tucker morgens auf und sah aus dem Fenster. „Alles Gute zum Hochzeitstag, meine Schöne!“, flüsterte er. „Heute sehen wir uns wieder.“
Er begann mit seiner morgendlichen Routine. Duschen, zähneputzen, sich anziehen und in der eigenen Küche frühstücken gehen. Die Kinder waren in dem weitläufigen Gebäude zu hören. Sie waren wach. Das war gut. Als er ihnen am Tag zuvor die Eröffnung gemacht hatte, dass ihre Wacht beginnen sollte, traf er auf gemischte Reaktionen. Aber wenigstens waren alle neun bereit, ihn zu begleiten. Er rief Lothar an und bat ihn, den Audi Minibus für den frühen Nachmittag bereit zu halten.
Um halb Eins aß N.D. Tucker mit all seinen Enkeln ein letztes Mal zu Mittag. Sie saßen gemeinsam um die lange Tafel, die die Anzahl der Familienmitglieder über die Jahre erforderlich gemacht hatte. Er saß am Kopfende des Tisches. Die vier Stühle rechts und links vor ihm waren leer. Seine Söhne und ihre Frauen befanden sich noch unter der Sonne Afrikas. Michael und Red saßen auf den Stühlen, ihrem Großvater am nächsten. Danach kamen die Tucker Kinder in der Ordnung ihres Alters. Auf der linken Seite Garrens Söhne, auf der rechten Seite Greers Kinder. Am weitesten entfernt unterhielten sich die jüngsten, Raphaela und Dis, über den Tisch hinweg über ein neues Computerprogramm.
Nostradamus betrachtete einen seiner Enkel nach dem anderen und begann, sich vor sich selbst zu fürchten. Sein Blick wanderte tiefer. Jedes der Kinder trug seinen Stein. N.D. Tucker drückte das faltige Kinn auf die Brust und hob mit der rechten Hand den Anhänger an seiner eigenen Kette etwas an, um ihn besser sehen zu können. Im Gegensatz zu denen seiner Enkel war sein Stein nicht rund. Der blaue Jaspis hatte eine konische Form. Er lief nach unten hin spitz zu. Er hing an der Kette wie ein Pendel. Tucker ließ den Jaspis wieder auf seine Brust fallen, nickte und aß weiter. Nach dem Dessert bat er alle, sich für ihren Ausflug fertig zu machen.
Kassie und Red gingen gemeinsam die Treppe hinauf.
„Sieht so aus, als würden wir heute erfahren, ob Großvaters Geschichten wahr sind“, Kassie stupste ihren Bruder in die Seite.
Er sah mit seinen dunkelblauen Augen auf sie hinunter. „Wahrscheinlicher ist, dass er einsehen muss, dass er geistig verwirrt ist.“
Kassie sah Red direkt an. „Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da warst du sein glühendster Anhänger.“
„Ich war ein Kind“, antwortete ihr älterer Bruder.
„Das waren wir alle. Und manche von uns glauben ihm noch immer.“
Red lächelte nachsichtig auf sie hinunter. „Egal ob verwirrt oder nicht. Großvater ist das Familienoberhaupt. Derjenige, der die Tuckers zusammenhält und dafür achte ich ihn. Die Familie ist das wichtigste überhaupt.“
Kassie zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Ich wusste nicht, dass du so empfindest.“
Red lächelte wieder. Diesmal peinlich berührt. „Na ja, ich liebe euch alle. So einfach ist das.“
Kassie schwieg.
Michael stand in der Küche seines Großvaters und beobachtete durch das Fenster, wie der Chauffeur den Wagen für ihren Ausflug bereit machte. Er drehte sich vom Fenster weg, nahm sich aus einem Oberschrank ein Glas und ging zum Kühlschrank. Er wollte schnell noch ein Glas Saft trinken.
Wie jedes Mal, wenn er in der Küche der alten Villa war, fiel sein Blick auf die roten, römischen Bodenfliesen. Ihr Alter faszinierte ihn. Über eineinhalb Jahrtausende und er lief darüber. Er betrachtete seine Lieblingsfliese. Direkt vor dem Kühlschrank lag sie mit ihrem spiralförmigen Muster darauf. Wenn man nachts den Kühlschrank öffnete und das kalte Licht heraus auf den Boden fiel, glänzte die Fliese blutrot und die schwarze Ascheschliere sah aus wie eine DNS Strang. Keine der anderen Fliesen trug eine Unreinheit auf der Oberfläche. Michael fragte sich, warum dieses Fehlprodukt verlegt worden war. Wahrscheinlich nahm man es in der Antike damit nicht so ernst, dachte er und griff nach dem kalten Apfelsaft in der Kühlschranktür.
Pünktlich um halb Drei stand Lothar mit dem aufgeladenen Audi vor der Tür. Neun junge und ein alter Tucker kletterten in den kleinen Bus hinein. Der gut gelaunte Chauffeur justierte die Schwebehöhe anhand des gemessenen Gewichts im Innenraum. Er war überrascht, dass Tucker Senior selbst fahren wollte, freute sich dann aber über den extra freien Tag. Die Fahrt ging los. Nostradamus wählte die idyllische Strecke entlang der Bergstraße. Sie fuhren Richtung Norden. Links lag die Ebene. Rechts erhoben sich die ersten Vorläufer des Gebirges. Wintertote, frostige Weinreben krochen in grauen Reihen die Hänge hinauf wie ein riesiger Schimmelpilz. N.D. schaltete den Autopiloten ein.
„Wohin genau geht es denn, Opa?“, fragte Raphaela
N.D. Tucker riss seinen Blick von der Schnee überzuckerten Rheinebene los.
„Zum Felsenmeer“, war die Antwort.
„Mitten im Winter?“, meinte Lemon.
Sein Großvater nickte nur.
Zehn Minuten später bog der Audi selbständig nach rechts in die Berge ab. Weitere zehn Minuten danach hielten die Tuckers auf einem kleinen Parkplatz. Eine Imbissbude stand an seinem Ende. Sie war über den Winter geschlossen. Der gesamte Bereich war wie ausgestorben. Man konnte bereits den unteren Teil der sagenumwobenen Felsansammlung erkennen. Die kleine Gruppe stieg aus dem Kleinbus und folgte ihrem Großvater bis an den Fuß des Hügels, den herab sich der Fluss aus Granitbrocken ergoss. Manche von ihnen so groß wie LKWs. Fast alle rund oder oval. Von unten gesehen wirkte der versteinerte Strom bedrohlich, als könne der kleinste Kiesel die Steinlawine losschlagen. Nichts deutete darauf hin, dass die Felsen seit Jahrtausenden in derselben Position verharrten. Der Wald reichte auf beiden Seiten bis direkt an das Geröll heran, als wären die Bäume dazwischen erst gestern von den Monsterkieseln überrollt und begraben worden.
Kassie sah den Berg hinauf. „Wie das Standbild eines Fotografen. Unwirklich.“
„Ja, es ist irgendwie unheimlich. Das fand ich auch schon immer“, antwortete ihr ihr jüngerer Bruder Blue.
Kassie war sich nicht bewusst gewesen, dass sie die Worte laut ausgesprochen hatte und erschreckte sich deshalb über die unerwartete Antwort. Dann lächelte sie Blue an. Er sah ihrem Vater am ähnlichsten. Groß, blond mit markanten Zügen und blauen Augen.
„Vielleicht haben sich hier doch vor langer Zeit die Riesen eine Schlacht geliefert und mit Steinen beworfen, so wie es die alten germanischen Sagen überliefern.“
Kassie lachte. „Die Germanen waren mit einer ausschweifenden Fantasie gesegnet. Das ist alles.“
Vor sich sahen sie ihren Großvater, der den Aufstieg begann.
„Das kann nicht sein Ernst sein“, stöhnte Yu von hinten.
„Er wird sich sämtliche Knochen brechen, wenn er versucht über die Steine nach oben zu klettern“, fügte Sariel hinzu.
Nostradamus Tucker verschwand hinter den ersten der riesigen Felsen. Seine Enkel eilten sich, ihm hinterher zu kommen. Zu ihrer großen Erleichterung wählte der alte Mann die Naturtreppe, die sich neben der überdimensionalen Moräne hinauf wand. Einfache, in den Waldboden getriebene Holzbretter, die mit Splitt und Holzspänen aufgefüllt worden waren, bildeten die Stufen. Einer hinter dem anderen quälten sie sich den anstrengenden Aufstieg hinauf. Die Treppe war unregelmäßig, schief und an vielen Stellen glatt durch Eis und Schnee. Nach fünfhundert Metern blieb N.D. Tucker schwer atmend stehen. Seine Enkel hinter ihm schnauften ebenfalls. Die kleine Gruppe entließ weiße Wölkchen gefrorener Atemluft in den Wald.
Nostradamus konnte sein Herz unregelmäßig schlagen spüren. Noch nie war er sich seiner 83 Lebensjahre mehr bewusst gewesen, als in diesem Moment. Die restlichen dreihundert Meter bis zur Gabelung erschienen ihm wie eine unüberwindbare Entfernung. Er sah vor sich auf den Boden und nahm Stufe für Stufe.
„Irgendwann komme ich schon an. Wie immer“, dachte er.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber irgendwann erreichte er die Brücke, die über den Fluss aus Felsen führte. Er ging hinüber. Hinter sich hörte er die Schritte seiner Enkel auf den Holzplanken widerhallen.
„Ich führe die Schafe zur Schlachtbank“, dachte er und widerte sich selbst an.
Von der Brücke aus führte ein kleiner Pfad ein Stück vom Felsenmeer weg. Er war auf dem Waldboden kaum auszumachen. Das feuchte Laub des letzten Herbstes lag auf dem Grund. Es war steif gefroren und zerbarst unter den Füßen wie Glas. N.D. folgte der schmalen Bresche zwischen den Bäumen in eine niedrige Senke. Er konnte den Steinkreis bereits vorher sehen. Neun hüfthohe Steine. Fast quadratisch. Sie standen nur Zentimeter voneinander entfernt, was den Kreis klein erscheinen ließ. Nur an einer Stelle gab es einen schmalen Durchgang. N.D. ging direkt darauf zu, trat hindurch und stellte sich in die Mitte des Zirkels. Er hob die Hand mit der Handfläche nach außen und mit dieser bestimmten Bewegung hieß er seine Enkel außerhalb des Kreises stehen bleiben.
Kassie sah sich um. Sie konnte sich daran erinnern, dass sie als Kinder bereits einmal hier gewesen waren. Sie hatten den Steinkreis ohne die Hilfe ihres Großvaters gefunden. Sie hatten Bocksprung über die alten Quader gespielt. Großvater hatte sie hier entdeckt und war entsetzlich böse geworden. Er hatte sie regelrecht den Weg zurück zum Felsenmeer gejagt. Sie fragte sich, was er hier wollte.
N.D. Tucker betrachtete einen nach dem anderen aus seinem guten Auge. Sein Blick blieb an Lemon hängen, wanderte zu dem Stein um dessen Hals und wieder zurück zu seinem Gesicht.
„Komm’ her“, sagte er zu ihm.
Lemon sah nach rechts und links. Dann sah er seinen Zwillingsbruder an; nur um sicher zu gehen, dass er gemeint war. Er trat durch die kleine Ausnehmung zwischen den Steinen. Sein Großvater wies ihm den Stein direkt links neben dem Eingang zu. Als nächstes deutete er auf Raphaela.
„Komm zu mir meine Schöne“, N.D.s Stimme zitterte. „Stell dich mit deinem Aquamarin vor den Stein neben deinen Cousin.“
Das blonde, zierliche Mädchen trat mit einem seltsamen Gefühl im Bauch in den Steinkreis.
„Yu!“, zeigte der Großvater auf den zweiten der Zwillinge.
Der junge Mann ging zwischen den Steinen hindurch und wollte sich neben Raphaela stellen.
„Nein“, sagte der alte Mann, „Lass einen Platz frei.“
Yu zog die Schultern hoch und rutschte eine Position weiter nach links. Er kam sich vor wie eine Schachfigur. Der Gedanke war beunruhigend.
„Michael“, sagte Nostradamus bestimmt.
Als Kassie seinen Namen hörte ergriff sie plötzlich Panik. Sie wollte schreien. Ihn festhalten. Er durfte nicht in diesen Steinkreis gehen. Sie tat nichts dergleichen. Ihr Herz schlug bis in ihren Hals hinauf. Sie beobachtete, wie der Mann, den sie liebte, seinen Platz im Kreis einnahm.
Der Großvater streckte wieder die Hand aus. Er winkte Sariel heran. Sein Enkel guckte ihn an, zögerte einen Moment lang und reihte sich dann ein.
„Blue und Red!“, sagte Nostradamus Tucker.
Der Achtzehnjährige blickte kurz zu seinem älteren Bruder hinüber. Das Rot des Rubin auf seiner Brust schien heller zu strahlen als sonst. Sie traten gemeinsam vor. Der Großvater teilte ihnen die nächsten zwei Steine zu.
Nur noch Kassie und Dis standen außerhalb der Steine. Mit jedem einzelnen Mitglied ihrer Familie, das innerhalb der Grenzen des Kreises verschwand, nahm Kassies Panik zu. Dis schien das Gefühl nicht zu teilen, denn er ging willig auf seinen Großvater zu, als er ihn darum bat. Er stellte sich amüsiert an das Ende der Reihe. Nur der dritte Platz von links war nun noch frei.
„Kassie, mein Schatz, komm zu mir“, hörte die junge Frau durch das Rauschen ihres eigenen Blutes in den Ohren.
Sie stolperte zwei Schritte zurück.
„Liebling. Du weißt, es muss sein. Ihr seid die Wächter“, sagte ihr Großvater unerbittlich.
Kassie schüttelte den Kopf.
„Bitte. Komm zu uns“, Nostradamus Tucker streckte den Arm nach ihr aus.
Kassie sah ihm in sein Auge. Es schwamm in einem Ozean aus unterdrückten Tränen. Sie machte einen kleinen Schritt nach vorn.
Der alte Mann nickte. „So ist es gut.“
Kassie zwang sich weiter. Sie schloss die Augen und setzte einen Fuß vor den anderen. Nach nur vier Schritten spürte sie die Hand ihres Großvaters auf der Schulter. Sie sah auf. Der Schmerz, den sie auf dem Gesicht von Nostradamus Tucker sah, jagte ihr Todesangst ein. Wie versteinert stand sie neben ihm, als er seine Aufmerksamkeit wieder den anderen innerhalb des Kreises zuwandte.
„Nehmt eure Steine in die rechte Hand und legt eure linke eurem Nachbarn auf die Schulter“, gab der alte Mann Anweisung.
Fast wie in Trance umfing jeder der jungen Leute den Stein an der Kette um den Hals. Nostradamus konnte sehen, wie sie zum Leben erwachten. Sie leuchteten in einer Intensität, dass man die Blutäderchen und Knochen in den sie schützenden Händen sehen konnte.
Die linken Arme wurden gehoben und auf jeder rechten Schulter, außer der von Yu, legte sich das Gewicht einer Hand.
N.D. Tucker sah seine Enkel an und befahl: „Sagt mir eure vollen Namen. Einer nach dem anderen.“
„Raguel Mercurius Lemon Tucker“, sagte der erste in der Reihe.
Kassie fühlte einen heißen Stich.
„Raphaela Aphrodite Marina Tucker“, sagte ihre kleine Schwester.
Kassie wollte sich vor Schmerz krümmen.
„Uriel Ares Yu Tucker“, tönte durch den leeren Wald.
Kassie brach der kalte Schweiß aus.
„Michael Ademas Zeus Tucker“, sagte die geliebte Stimme.
Kassie hatte das Gefühl, ihre Innereien wollten vor dem Schmerz nach oben durch ihren Hals flüchten.
„Sariel Ambros Kronos Tucker.“
Kassie fiel auf die Knie.
„Haniel Coelus Blu Tucker.“
„Isafil Red Poseidon Tucker.“
Die Stimmen ihrer Brüder brachten Kassie zum Weinen.
„Chamuel Barraq Dis Tucker.“
Kassie krümmte sich auf dem Waldboden vor den Füßen ihres Großvaters und schrie. Dann spürte sie seine Hand auf ihrer Wange. Der Schmerz wurde nicht besser, aber realer.
„Gabriela Kassandra Tierra Tucker“, hörte Kassie sich selbst keuchen.
Unter Auferbietung all ihrer Kraft stand sie auf. Weit vornüber gebeugt stolperte sie haltlos hin und her. Schließlich spürte sie den vertrauten Griff ihres Großvaters um beide Schultern. Er schob sie nach links und drehte sie herum. Kassie lehnte sich schwer gegen den kühlen Stein hinter sich. Ihre rechte Hand wurde ihr von Nostradamus Tucker um das Bergkristall-Amulett auf ihrer Brust geschlossen. Sie spürte Raphaelas federleichte Hand auf ihrer rechten Schulter. Dann hob der alte Mann ihren linken Arm. In dem Moment, als Kassies Hand auf Yus Schulter zur Ruhe kam, wurde Kassie der Boden unter den Füßen entzogen. Die Luft wurde ihr aus den Lungen gedrückt und sie verließ ihren Körper. Sie stieg nach oben und sah wie ein kreisender Raubvogel auf den Steinkreis und ihre eigene Familie hinunter. Großvater stand still in der Mitte. Er hielt seine Kette mit dem Jaspis mit beiden Händen über den Kopf. Seine Arme zitterten von der Anstrengung sie gestreckt nach oben halten zu müssen. Der Stein leuchtete in grellem Blau. Großvaters ganze Person war von dem Leuchten umgeben. Von der Spitze am unteren Ende des Jaspis traten Strahlen hervor. Von oben sah es aus wie die Speichen eines Rades. Ein heller Strahlenkranz. Jeder Strahl erfasste eine der Personen und tauchte sie in das gleiche blaue Licht.
Mit Entsetzen beobachtete Kassie, wie erst Lemon, dann Raphaela, dann ihr eigener Körper zusammenbrach. Es setzte sich fort, wie eine Reihe fallende Dominosteine. Einer nach dem anderen landeten die Tuckers auf dem kalten Waldboden. Mit den letzten Sonnenstrahlen des kurzen Winternachmittags sackte Dis in sich zusammen. Das letzte, was Kassie sah war ihr Großvater, wie er in eine knieende Position fiel und die Hände vor das Gesicht schlug. Dann wurde es um Kassie dunkel.
Nostradamus Tucker kämpfte sich auf die Füße. Er schwankte stark. Der Jaspis um seinen Hals zog ihn nach unten wie ein gigantisches Senkblei. Er hob den Stein an und betrachtete ihn. Er sah stumpf und verbraucht aus. N.D. nahm die Kette ab und warf sie achtlos auf den Waldboden. Er schlurfte auf den ihm am nächsten liegenden Körper zu. Es war Blue. Er blickte seinen Enkel an. Blue hatte die Augen weit geöffnet. Sie sahen blicklos durch ihn hindurch. Er atmete, aber das war nur noch ein Reflex. Sein Körper war eine leere Hülle. So wie die all der anderen. N.D. ging zu jedem einzelnen und öffnete ihnen die rechte Hand. Sie waren ausnahmslos leer. Leere Fassungen baumelten an nun wertlosen Ketten. Der alte Mann schleifte ein Enkelkind nach dem anderen zu den Steinen, lehnte es mit dem Rücken dagegen und zog ihm die Jacke aus. Die stumpfen, ausdruckslosen Augen erfüllten ihn mit einer Trauer, die er nur ein einziges Mal zuvor empfunden hatte. Alle neun Körper lebten. Das war das Schrecklichste an der ganzen Wanderung. Deshalb hatte Nostradamus die Wintersonnenwende der Sommersonnenwende vorgezogen. Die Körper seiner Enkel würden nicht als Wachkomapatienten die nächsten Jahrzehnte an Schläuchen hängen. Das mutete er seinen Söhnen und deren Frauen nicht zu. N.D. zerrte und zog, bis er alle seine Enkelkinder in einer sitzenden Position hatte.
Als er fertig war trat er durch den kleinen Ausgang aus dem Kreis heraus. Es war inzwischen dunkel. Über ihm leuchteten Sterne im winterklaren Himmel. Es war sehr kalt. Er zog seine Daunenjacke ebenfalls aus und legte sie zu denen seiner Enkel.
„Jetzt komme ich zu dir, meine Schöne!“, flüsterte N.D. Tucker.
Dann folgte er dem kleinen Pfad tiefer in den Wald. Es war lange her, dass er im Wald spazieren gegangen war.
Oberkommisar Bruno Walter hielt vor dem großen schmiedeeisernen Tor, dem Eingang zum Tucker Anwesen. Er hatte mit zwei Kollegen Stöckchen gezogen, um zu ermitteln, wer den Eltern die Nachricht vom Tod ihrer Kinder überbringen sollte. Normaler Weise war Walter nicht zart besaitet, aber er hatte auch noch nie neun Tote auf einmal gehabt. Es war nicht schwer gewesen, die Körper zu identifizieren. Alle hatten ihre Ausweise bei sich getragen. Glücklicherweise war die Polizei vor den Wölfen am Schauplatz des ..., Walter dachte unwillkürlich an das Wort ‚Verbrechen’. Aber das war es allem Anschein nach nicht. Kollektiver Selbstmord. Freitod. Walter konnte sich keinen Reim darauf machen, weshalb neun Kinder wohlhabender Eltern gemeinsam ihrem Leben ein Ende setzen wollten. Walter schüttelte sich. Das Tor vor ihm schwang langsam auf. Alle Körper waren unversehrt. Die jungen Leute hatten entspannt dagesessen und jeweils ihren gegenüber angesehen. Walter hatte keine Ahnung, wie es den Tuckers gelungen war, in einer solchen Position zu erfrieren. Er hatte auf Drogen getippt, aber daneben gelegen. Es waren in keinem der Toten irgendwelche illegalen oder legalen halluzinogene Substanzen nachzuweisen gewesen. Abgesehen von einer geringen Menge Alkohol in dreien der jungen Männer. Keinesfalls genug, um nicht zu bemerken, dass es verdammt kalt ohne Jacke war. Möglicherweise gehörten die Tuckers einer Sekte an. Das Tor war endlich offen und Walter fuhr langsam hindurch. Er lenkte seinen Dienstgleiter die leichte Steigung hinauf. Das Gebäude, das vor ihm auftauchte, war surreal. Keine Ecken oder Kanten. Keine geraden Linien. Ganz im Gegensatz zu der im Vergleich kleinen Villa, die anscheinend den Haupteingang bildete. Das offensichtlich sehr alte Gebäude musste vor dem großen Komplex schon hier gestanden haben. Es war sehr gekonnt in das Monsterhaus integriert worden. Walter dachte an sein winziges Reihenhaus mit dem Briefmarken großen Garten. Aber wenigstens würden seine Kinder keinen Selbstmord begehen. Hoffte er. Er blickte wieder auf das riesige Haus. In Gedanken änderte Walter ‚wohlhabend’ in ‚reich’. Das Gebäude erinnerte ihn an einen bunten Kinderballon; die mit den verschiedenfarbigen Schlieren und Tupfen. Die Tupfen waren die Fenster, bemerkte Walter überrascht. Sie waren alle unterschiedlich. Manche schief eingebaut, runde, dreieckige, sechs- und achteckige Formen in allen Größen. Bunte Rahmen. In farbenfrohen Mosaiken eingefasst. Plötzlich fiel Walter ein, wo er etwas ähnliches schon einmal gesehen hatte: In Darmstadt. Dieses Gebäude erinnerte ihn an die ‚Waldspirale’ dieses berühmten österreichischen Künstlers. Tausendschönchen. Nein. Hundertwasser, das war der Name. Walter wusste nicht genau, was er von dieser Art Architektur halten sollte. Zumindest der gigantische, blaue, erigierte Phallus auf dem Dach war witzig. Bei genauerem Hinsehen erkannte Walter, dass es sich bei dem schiefen Turm wohl um ein Planetarium handelte. Sein Reihenhäuschen hatte nicht mal genug Dachfläche, um den beleuchteten Rentierschlitten seiner Frau zu Weihnachten komplett aufzustellen. Dasher und Dancer fielen dem Platzmangel zum Opfer. Jedes Jahr. Seine Töchter machten Witze darüber, dass ihr Weihnachtsmann mit einem Sechs Rentiere Sparmodell Schlitten auskommen musste.
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