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Julia ist verliebt. Ihr Freund Jonas nimmt sie ernst und zusammen mit ihm erlebt sie zum ersten Mal bisher ungekannte körperliche Lust. Doch dann verunglückt er tödlich und Julia wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Bei der Beerdigung lernt sie Kolja kennen, der sich als Jonas' bester Freund vorstellt. Wenn Julia mit ihm zusammen ist, wird Jonas wieder lebendig für sie. Kolja kümmert sich rührend um sie, aber schon bald will er mehr. Er bestärkt Julia darin, dass Jonas eine Beziehung zwischen ihnen gutheißen würde - und so lässt Julia sich schließlich auf ihn ein und schläft mit ihm. Nach und nach fordert Kolja immer mehr von ihr und er wird immer eifersüchtiger. Als Julia entdeckt, dass Kolja in Wirklichkeit gar kein guter Freund von Jonas war, sondern sein Konkurrent, ist es fast schon zu spät. Sie ist längst in einem Netz aus Abhängigkeiten gefangen und kann Kolja kaum noch etwas entgegensetzen. Julia steht vor einer schwierigen Entscheidung: Sie erkennt, dass sie zuerst ihren toten Freund innerlich loslassen muss, wenn sie es schaffen will, sich endlich auch von Kolja zu lösen...
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Seitenzahl: 401
Meine Liebe ist so tief wie das Meer. Je mehr ich gebe, je mehr auch hab ich: Beides ist unendlich. Aus: William Shakespeare, Romeo und Julia
Faire l’amour
Jonas hat diese französische CD eingelegt, von Benjamin Biolay, die sie so gern hört. Seine Stimme ist so weich wie das Sofakissen in ihrem Rücken. Warmer Wind bläht das Laken vor dem offenen Fenster. Julia schlägt die Beine übereinander, wippt mit dem Fuß. Sie hat nur eine Bluse an, ärmellos, aufgeknöpft, sie lehnt sich zurück und streicht die zwei Blusenhälften an die Seite. Sie hat Lust, sich Jonas zu zeigen.
Er sitzt ihr gegenüber, auf dem Sessel, sieht, wie ihre Brüste zum Vorschein kommen, zwei halbe Zitronen, ihm zugereckt. Die weiße Bluse rahmt ihre Silhouette ein. Die Luft zittert. Es soll heute noch ein Gewitter geben.
Er darf sich nicht rühren, noch nicht, nur schauen. Mit den Augen Liebe machen.
Schön, dass er so was mag, hat Julia gedacht, später, als sie im Bett lagen, gestillt voneinander, ein Freund, dem du dich zeigen kannst und der sich Zeit zum Schauen lässt. Für die anderen, vor Jonas, war sie eher so was wie Fastfood gewesen. Die Jungs waren hitzig, schnell, manchmal auch albern. Da hätte sie am liebsten vorher schon STOPP gesagt, aber irgendwann kann man nicht mehr STOPP sagen. Es gibt kein Zurück, nie, obwohl sie den letzten Nachmittag mit Jonas wie einen Film immer und immer wieder zurückspult. – Wie sie da saß, erst auf dem Sofa, Beine noch übereinandergeschlagen und mit diesem Kribbeln auf der Haut, von seinem Blick.
Sie war gleich nach dem Sprechunterricht zu ihm gekommen. Sie hatten das Stimmpotenzial von Nina Hagen analysiert. Bei dem Lied Heiß hatte Julia an Jonas gedacht. Besser konnte man es gar nicht ausdrücken, wie es war, wenn Jonas ihr zuschaute.
Mir ist heiß! Ich bin heiß! Ach, warum sind denn nicht alle so heiß? Ja, ist es denn ein Wunder?
Sie schloss die Augen, legte den Kopf nach hinten, auf die Sofalehne. Es war wie Schweben und Flattern – sie war ein Kolibri. Nie hätte sie gedacht, dass sie sich traute, sich vor einem Jungen so gehen zu lassen.
Wenn es eine höhere Kraft gibt, dann die zweier Körper, die Liebe machen, faire l’amour. Eine Erkenntnis, die sie in den letzten Wochen das erste Mal gehabt hatte und die sie sich seitdem nicht oft genug bestätigen konnte. Jonas war ihr Boot, mit dem sie sich auf alle Meere wagte.
Sie lagen im Bett, noch klebrig voneinander.
»Du bist ein Wunder«, sagte er.
Wie er sie anschaute, mit verwuschelten Haaren und verrutschtem Blick – verzaubert von ihr.
Ihre Hände spielten miteinander, streiften umeinander, hielten sich, lösten sich, Fingerspitzen an Fingerspitzen, purzelten übereinander wie kleine Kätzchen. – Manchmal gibt es keine Worte, nur Momente.
Das Laken flatterte wie eine Fahne am Mast. Sie waren auf hoher See und ließen sich schaukeln. Der Wind wurde kühler; die CD war zu Ende. Draußen fuhren Autos vorbei, sangen Kinder. Spatzen zwitscherten. Sie kehrten langsam ins Zimmer zurück. Er reichte ihr die Wasserflasche.
»Und wie war es bei deinem Sprechkurs?«
»Ma me mi mo mu – ma me mi mo mu – ma me mi mo mu – ma me mi mo mu – ma me mi mo mu«, ratterte Julia in einem Affenzahn runter und fing wieder von vorn an. Dann holte sie tief Luft. »Ich habe nur an dich gedacht.« Sie lag auf der Seite, den Kopf auf die Hand gestützt. Ihr hellbraunes Haar fiel aufs Kissen. »Ich konnte gar nicht schnell genug zu dir kommen.«
Er lag auch auf der Seite, Kopf auf den Ellenbogen gestützt, und schaute auf ihren Mund. »Ma me mi mo mu«, sagte sie ohne Ton und er küsste ihr die Fortsetzung weg. Dann wollte sie ihm unbedingt was von Nina Hagen vorsprechen.
Er stand nicht so auf Nina Hagen.
»Das ist doch diese Durchgeknallte, die überall Ufos sieht und ihre Tochter Cosma Shiva genannt hat.«
»Ja, und ihr Sohn heißt Otis, nach der Fahrstuhlmarke, weil sie in der Schwangerschaft mal im Fahrstuhl stecken geblieben ist.«
»Krass.«
»Aber eine Wahnsinnsstimme! Mit einer Modulationsbandbreite, das haut dich um! Sie kommt in ihrem Lied Naturträne sogar höher als die Arie der ›Königin der Nacht‹ aus der Zauberflöte. Dort geht es bis ans F und Nina Hagen schafft sogar ein G! Und die Lieder sind einfach …« Julia fand keine Worte, ihr saß noch der Refrain von Heiß in der Kehle: Mir ist heiß, ich bin heiß, ach, warum sind denn nicht alle so heiß …
Zauberworte, jede Silbe, und Jonas war empfänglich dafür, ließ sich streicheln, allein von dem, was sie sagte und wie sie es sagte.
»Du hast eine Wahnsinnsstimme«, sagte Jonas. »Und so einen wunderschönen Mund und wunderschönen Busen und …« Er fuhr mit der Fingerspitze über ihr Schlüsselbein.
»Jonas, hör mal zu!« Sie musste ihm unbedingt noch erzählen, wie sie heute Schauspieler und Filme analysiert hatten.
»Weißt du, was mein absoluter Lieblingsfilm ist?«, unterbrach er sie und wartete.
»Nun sag schon.«
»Der Himmel über Berlin«, sagte er und seine Augen leuchteten.
Und ausgerechnet den kannte sie nicht.
»Musst du unbedingt sehen! Gerade du, als angehende Schauspielerin.« Er küsste sie auf die Nase. »Das ist nicht nur ein Film, das ist …« Und schon war Jonas aufgestanden und es wurde kühl an ihrer Haut. Sie zog sich die Decke über den Bauch.
»Bin gleich wieder da«, hat er noch gesagt, und sie hat sich nichts dabei gedacht, keine Vorahnung, kein mulmiges Gefühl. Noch ganz satt von ihm, lag sie im Bett und schaute zu, wie er in seine Klamotten stieg. Graue Bruno-Banani-Boxershorts, Jonas wollte, als er klein war, Astronaut werden und Bruno Banani hatte mal Unterhosen für Astronauten entwickelt. Jetzt war davon nur noch die Vorliebe für die Unterwäsche übrig geblieben, und Jonas war sich auch nicht mehr so sicher, was er werden wollte. Musiker vielleicht, oder Ingenieur, oder Speiseeisdesigner.
»Du hast es gut, du wolltest immer schon Schauspielerin werden.«
Wie selbstverständlich er das sagte. Keiner aus ihrer Familie hatte sie diesbezüglich so ernst genommen. – Alle Mädchen wollen in ihrem Leben mal Model oder Schauspielerin werden – das ist Mamas Spruch –, doch irgendwann kommen sie darüber hinweg und werden was Richtiges. Lehrerin zum Beispiel, wie ihre Mutter. Immerhin bezahlen ihre Eltern den Sprechunterricht, die Improvisationsworkshops und, wenn sie Glück hat, auch noch den »Spielen-vor-der-Kamera-Kurs«, damit sie für die Filmschauspielschule Berlin gerüstet ist, denn dahin möchte sie, gleich nach dem Abi, unbedingt!
»Schauspielerinnen müssen sich doch heute alle prostituieren«, pflegt Papa zu sagen. »Mit jedem ins Bett gehen und sich dabei noch filmen lassen. Sogar im Tatort wird ja schon gevögelt. Findest du das nicht eklig?«
So ein Quatsch! Aber wahrscheinlich ertragen Väter es nicht, ihre Töchter vögeln zu sehen, ob im Tatort oder sonst wo. Umgekehrt wäre es für die Töchter ja auch komisch, absurder Gedanke. Natürlich würde sie auch nicht jede Szene spielen, dabei gehört Sex zum Leben wie Essen und Trinken – und zur Schauspielerei. Fragt sich nur, wie weit man geht. Aber darüber muss sie sich jetzt noch keine Gedanken machen, erst mal auf das Sprechtraining konzentrieren. – Unter dunklen Uferulmen wurdest durch Blut und Wunder ruhmlos ruhend du gefunden. Mit Sprachkunst und Präsenz, sagt ihr Lehrer, Herr Lambosi, überzeugt man das Publikum. Ihre Eltern bestimmt auch. All die Familienfilme, die sie seit ihrem sechsten Lebensjahr gedreht hat, fanden sie ja auch toll.
»Schatz, bringst du Zigaretten mit?«, sagt Julia mit rauchiger Stimme und versucht lasziv zu lächeln, mit Augenaufschlag natürlich.
»Und ein Eis.«
Jonas spielt mit. »Was für ein Eis hätte sie denn gern?«
»Irgendwas Fruchtiges, Frisches, was am Stiel – Solero? – Das können wir zu zweit schlecken.«
Er schmunzelt, verbeugt sich vor ihr, sagt: »Ouí, Madame, avec plaisir.«
Und dann eine Zigarette danach, im Bett, so wie in diesen prähistorischen Filmen wie Der blaue Engel, mit Marlene Dietrich. Kann es etwas Schöneres geben?
Sie hatten den ganzen Tag Zeit. Snickers und Rudi, seine WG-Kumpels, kamen erst am Abend von der Ostsee wieder, also könnten sie später sogar noch nackt in der Küche sitzen.
Jonas schlüpfte in die Jeans, zog das hellblaue T-Shirt an, das seinen Augen so schmeichelte, und schnappte sich seinen Helm. Dann kam er noch mal ans Bett und küsste Julia auf die linke Brustspitze.
»Ich liebe dich«, sagte er. Und verschwand.
Später, als er nicht wiederkam, ging ihr alles Mögliche durch den Kopf, auch dass sie das mit den Zigaretten nicht hätte sagen sollen. Wegen diesem blöden Scherz, wo der Mann Zigaretten holen geht und nicht wiederkommt.
Aber Jonas wollte nur den Film holen. Der Himmel über Berlin.
Noch war der Himmel blau.
Sie drehte sich auf die Seite. Auf einer Holzkiste stand eine Beck’s-Flasche mit einer rosa Mohnblume. Jonas hatte sie gekauft, weil sie ihn an Julia erinnerte, an ihre Blütenblätter. Julia schaute an die Wand. Mehrere Fotos von ihr hingen dort. Auch ein Nacktfoto, als sie aus dem Badezimmer kommt. Das Handtuch liegt hinter ihr. Sie geht direkt auf den Fotografen zu. Das war im April, an dem Nachmittag, als er ihr das erste Mal zugeschaut hatte.
Julia seufzte. Sie war glücklich. Sie konnte das Glück fühlen, in ihr und über ihr. Der ganze Raum glühte vor Glück. Jonas! Es gab kein schöneres Wort! Jonas. JOnas, JoNas, JonAs, ihr Prophet der Liebe.
17:12 Uhr
Sie war wohl kurz eingeschlafen. Die weißen Vorhänge wehten nach draußen, ein Fensterflügel schlug an die Wand, Regen pladderte auf den Gehsteig. Von Weitem Sirenen. Sie stand auf und machte das Fenster zu. Es donnerte. Dann ein Blitz und wieder ein Donner. Auf der anderen Straßenseite flüchtete eine Mutter mit ihrem Kind in den nächsten Hauseingang. Die Autos hatten Licht an. Der Bürgersteig dampfte.
Jonas war mit dem Motorrad unterwegs, er würde das Gewitter bestimmt im Videoshop abwarten. Halb fünf. Er war vor einer Stunde losgefahren. Wie lange hatte sie geschlafen? Wie lange regnete es schon?
Sie ging in die Küche und holte sich ein Glas, ging damit zu dem riesigen Edelstahlkühlschrank und ließ das halbe Glas voll Eiswürfel klickern. Der Kühlschrank war das einzige Prunkstück in der WG. Snickers, der Philosophiestudent mit dem Hochbett im Hofzimmer, hatte den Kühlschrank von einem amerikanischen Cousin geschenkt bekommen, bevor der wieder nach Seattle gezogen war. Julia goss Apfelsaft über die Eiswürfel. Sie knusperten im Glas, zersprangen. Sie war immer noch nackt. Regen prasselte an die Scheiben. Sie schauderte, fuhr herum, ihr war, als stünde jemand hinter ihr. Aber da war niemand.
17:00 Uhr. Einen Moment, als sie angezogen in der Küche saß und nach draußen sah und alles verschwommen und dunkel war, fühlte sie ein Ziehen im Zwerchfell und eine Unruhe überkam sie, so, als würde sie schon seit einer Stunde im Stau stehen. Nicht wegkommen, nicht bewegen, hoffen, dass es gleich weitergeht, aber es ging nicht weiter. Ein Albtraum, von dem sie sich nie ablenken konnte. Deshalb mochte sie auch nicht Auto fahren. Mit dem Motorrad war das anders. Jonas konnte sich überall vorbeischlängeln. Auch wenn sie davon Angst bekam, weil manche Autofahrer extra keinen Platz machten und ihr lieber mit der Stoßstange die Knie rasierten, weil sie nicht ertragen konnten, dass Motorradfahrer schneller sind.
17:10 Uhr. Der Apfelsaft schmeckt nicht, nur kalt und süß, und Gänsehaut frisst sich ihre Arme hinauf. Sie steht auf, steht da und vergisst, warum sie aufgestanden ist. Sie hört ihr Herz arbeiten. Es tut sich schwer, als klammere sich etwas daran fest. Julia ringt nach Luft, rennt in Jonas’ Zimmer und sucht nach seinem Handy. Sie findet es nicht. Er muss es mitgenommen haben. Bestimmt war es in seiner Hosentasche.
Sie wühlt in ihrem Rucksack nach ihrem Handy, hält die Luft an; ihre Hände zittern. Zweimal tippt ihr rechter Daumen auf das Display, dann erscheint Jonas’ Nummer, und sie sieht sich zu, wie sie noch einmal tippt und fast erstickt, weil sie immer noch keine Luft geholt hat.
Dann klingelt es.
Und klingelt.
»Hallo?« – Eine Frauenstimme. Gehetzt.
Ihr Daumen drückt das Gespräch weg. Draußen blitzt es, Donner kracht. Ihr Herz rast. Es ist düster und kalt. Eine Fliege brummt um die Küchenlampe. Als ihr Handy klingelt, schreit sie auf und wirft es aufs Bett, als würde sie sich daran verbrennen, springt sofort hinterher, sieht Jonas’ Nummer auf dem Display und nimmt den Anruf an.
»Hallo? Wer ist da?« – Sie hört wieder die gehetzte Frauenstimme.
»Julia«, sagt sie. »Wo ist Jonas?« Sie holt tief Luft. »Ich möchte bitte sofort Jonas sprechen.«
»Hier ist Schwester Petra, Urban-Krankenhaus, Notfallambulanz. Sind Sie eine Verwandte von Jonas Reichenberger?«
»Ich bin seine Freundin.«
»Bitte setzen Sie sich mit Jonas’ Eltern in Verbindung«, sagt die Schwester. »Oder kommen Sie her. Ich kann Ihnen nicht am Telefon … also Ihnen nicht auch noch … habe gerade schon den Eltern gesagt, dass …« Ihre Stimme verwischt.
»Was ist mit Jonas?«
»Er hatte einen Motorradunfall.«
Die Zeit steht still. Nichts bewegt sich. Schmetterlinge fallen vom Himmel.
»Er ist vor wenigen Minuten verstorben.«
Aus den Schmetterlingen werden Wespen. Erst summen sie nur von Weitem, dann kreiseln sie auf sie zu, krabbeln in ihre Nase, in die Ohren. Alles brummt. Und stechen zu.
»Hallo? Sind Sie noch da? Hören Sie mich? – Haben Sie mich verstanden? – Ist jemand bei Ihnen?«
Durchsichtig
Im Krankenhaus ist jemand bei ihr. Mama. Sie krallt die Finger in Julias Arme. Das ist das Einzige, was Julia spürt. Nicht den weißen Fußboden unter sich, nicht die weiße Decke über ihr; sie könnte genauso gut im Raum schweben, wie ein Astronaut in seiner Raumkapsel. Gedanken scheuern ihre Augen wund. Keine Tränen.
Stimmen. Türen schwingen. Leere Betten fahren vorbei.
Gummischritte, quietschend.
Ihre Ellenbogen zittern, die Knie auch.
Ein Arzt spricht zu ihnen. Ja, Jonas sei verstorben. Schwester Petra hätte ihr das am Telefon gar nicht mitteilen dürfen. – Hatten sie das nicht gerade im letzten Sprech-Workshop durchgespielt, als sie für einen Krimi die Überbringung von Todesmitteilungen geübt hatten? Plötzliches Verscheiden darf nicht telefonisch übermittelt werden, nicht von Ärzten und schon gar nicht von Schwestern. Dafür muss die Polizei persönlich zur Wohnung der Angehörigen gehen, eventuell in Begleitung eines Seelsorgers. Diese Regeln flattern ihr wie Spruchbänder vor Augen. Sie möchte sie herunterreißen, aber sie kann sich nicht rühren.
Der Arzt entschuldigt sich für Schwester Petra; Schwester Petra sei heute das erste Mal auf der Zentralen Notfallstelle und sei völlig überfordert.
Der Arzt sieht Julia lange und prüfend an, er will wissen, ob sie ihn versteht. Seine Worte blubbern wie Luftblasen aus seinem Mund, steigen auf und platzen. Sie ist unter Wasser, versunken – wirbelt mit jedem Schritt Schlamm auf. Das Wasser wird dunkel, schwarz. Mamas Finger krallen noch mehr und zwingen sie, wieder aufzutauchen, Luft zu holen. Julia sieht sich von oben neben Mama stehen. Wo sind eigentlich Jonas’ Eltern? Sie arbeiten in Köln. Sind sie schon unterwegs? Mit dem Auto? Fahren sie selber? Können sie überhaupt noch fahren, rechts und links abbiegen, nach so einer Nachricht?
»Schädelbasisbruch«, sagt der Arzt. »Der Hirntod setzte um 17:12 Uhr ein.«
Mamas Finger entgleiten ihr. Julia muss wohl ausgerutscht sein. Ihr ist schlecht. Sie würgt. Dann kommen auch Tränen. Jemand fasst sie an den Schultern, jemand hebt sie hoch und legt sie auf ein hartes Bett.
»NEIN!« schreit sie. So laut, dass die Wände einstürzen. Steine fallen auf ihren Kopf, verschütten sie. Der Arzt reibt mit einem kühlen Wattebausch über ihre Armbeuge und sticht eine Nadel in ihre Vene, drückt gelbe Flüssigkeit in sie hinein.
Später, alles ist durchsichtig, sieht sie Tropfen aus einem Schlauch in eine Kanüle rinnen. Die Kanüle steckt in ihrem Handrücken. Die Hand liegt in Mamas Hand. Mama sieht furchtbar aus. Wie ein Huhn in einer Hühnerfabrik. Kaum noch Federn. Alles zerrupft. Auch die Lippen. Papa steht hinter ihr, hat geweint. Oder weint immer noch. Das kann sie nicht genau erkennen. Es ist Gelee auf ihrem Blick, dann flattert etwas Weißes vorbei, eine Möwe, die zu tief fliegt und sie mit den Flügeln streift. Wenn sie die Augen schließt, ist sie wieder in Jonas’ Zimmer. Sie möchte die Augen nie mehr aufmachen. Andauernd wird sie gestört. Jemand klopft bei ihr an.
»Hallo!«
Es ist noch eine Frau im Raum. Sie berührt Julia am Arm. Julia zieht den Arm weg.
»Julia, hören Sie mich? Ich bin Susanne Brausen. Ich bin die Psychologin. Ich helfe Ihnen, wieder auf die Beine zu kommen.«
Julia zieht die Beine näher an den Bauch.
»Sie sind traumatisiert. Sie haben einen Schock. Das ist ganz normal. Ruhen Sie sich aus und dann reden wir miteinander.«
Julia hört, wie die Frau mit ihren Eltern spricht, ein Summen und Brummen mit einzelnen Wortbrocken, die ihr vor die Füße donnern: REALITÄT BEGREIFEN – NORMALEN TRAUERPROZESS EINLEITEN …
Papas Stimme – so weit weg. Hat sie Fieber? Gleich nimmt er sie auf den Arm und hüpft mit ihr durchs Wohnzimmer, Fieber abschütteln – früher hat es immer geholfen.
Papas Stimme kommt näher, redet irgendwo, da oben, weit über ihr, sagt, SEINE TOCHTER sei noch nicht so lange mit IHM zusammen gewesen. Er spricht den Namen nicht aus. Er kenne IHN kaum, habe ihn nur einmal kurz gesehen, so vor ein, zwei Wochen, als Julia ihn mal nach Hause mitgebracht habe. – Die Sonne scheint. Zwei kleine Mädchen schieben ihre Puppenwagen vorbei. Ein Dackel pinkelt an einen Zaun. – Unter dunklen Uferulmen wurdest durch Blut und Wunder ruhmlos ruhend du gefunden – Julia steht am Fenster, sieht Jonas, wie er vom Motorrad steigt, den Helm abnimmt, Papa die Hand gibt. Sie rennt durchs Treppenhaus, auf den Bürgersteig. »Das ist Jonas. – Das ist mein Vater.« Sie lachen. Papa im grauen Anzug vor silbergrauem Toyota. Jonas in abgetretener Jeans und Lederjacke. Helm in der Hand, von einer Hand in die andere Hand. Hinter ihm, auf dem Gehsteig geparkt, die 750er Yamaha.
»Möchten Sie mit reinkommen?«, fragte Papa.
»Du kannst Jonas ruhig duzen.«
»Gut, dann kommt doch noch mit rein.«
Am Küchentisch hatte Papa seine Krawatte gelockert und drei Flaschen Bionade aus dem Kühlschrank geholt.
»Ich heiße Klaus«, hatte er gesagt und Jonas die Hand hingehalten. Jonas hat die Hand genommen und seine Bionade dabei umgeworfen. Schäumend ist die rote Limonade über den Tisch geperlt und auf den Boden getropft. Keiner wusste so schnell, wo ein Lappen war.
Jetzt tropft es ihr eiskalt in den Kragen, läuft ihr über den Rücken, bis zum Steißbein. Papa ist da, Mama, diese Susanne-Frau. Sie redet mit Mama immer noch über JULIA, JULIA müsse lernen, das Unbegreifliche, SEINEN plötzlichen TOD zu AKZEPTIEREN. Das sei jedoch äußerst schwierig, denn sie sei ja bei dem Unfall nicht dabei gewesen, habe also das Geschehen nicht selbst WAHRGENOMMEN und deshalb sei es für sie auch nicht greifbar. Also unbegreiflich.
Unbegreiflich – ins Leere fassen. Egal, wohin sie greift. Nichts da zum Festhalten.
Warum hat sie ihn nur gehen lassen? Wenn sie mitgekommen wäre, den Film zu holen, wäre es nicht passiert. Jedenfalls nicht so. Oder überhaupt nicht. Oder sie wären jetzt beide tot.
Das wäre besser, wenn sie jetzt auch tot wäre. Wenigstens das.
Aber Jonas ist gar nicht tot! Er wurde nur von einem Fisch verschluckt.
Keine Sorge, sie holt ihn da schon wieder raus.
Die Möwe
Am Nachmittag des 30.Mai erlitt ein 18-jähriger Motorradfahrer nach einer Kollision mit einem Lieferwagen auf dem Kottbusser Damm, Ecke Urbanstraße, einen Schädelbasisbruch. Der Fahrer des Lieferwagens hatte die Vorfahrt nicht beachtet. Der Motorradfahrer verstarb noch auf der Notfallstation des Urban-Krankenhauses.
Sie hat den Artikel ausgeschnitten. Auch die Todesanzeige, die Jonas’ Eltern in den Tagesspiegel gesetzt haben, ein Zitat von Rainer Maria Rilke:
Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Jonas’ Eltern haben sich bei Julia gemeldet. Sie wollen sich mit Julia treffen. Dann stehen sie da. Seine Mutter nimmt Julia in die Arme. Den Vater sieht sie das erste Mal. Von ihm hat Jonas die blonden Haare– und die schöne Nase. Die Eltern kommen gerade aus der WG und haben mit Snickers und Rudi gesprochen, haben Jonas’ Zimmer gekündigt, Sachen mitgenommen. Bei den Eltern war Julia nur einmal gewesen. Sie wohnen in einer Erdgeschosswohnung in Lichterfelde West, mit Garten, aber meistens sind sie in Köln, weil dort die Firma ist, für die beide arbeiten. Die Mutter ist Managerin und der Vater Computerspezialist.
Es gab Ingwer-Zitronen-Tee, mit Eis und Nusskuchen. Die Mutter trug ein blaues Trägerkleid. Sie fragte Julia, auf welche Schule sie gehe und was ihre Eltern beruflich machten und was Julia einmal werden möchte.
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