Jean-Paul Sartre. Philosophie des Existenzialismus - Sara Stöcklin - E-Book

Jean-Paul Sartre. Philosophie des Existenzialismus E-Book

Sara Stöcklin

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Beschreibung

„Zur Freiheit verurteilt“ – so beschrieb Jean-Paul Sartre den Zustand des Menschen, als er mit seiner Philosophie den Grundstein für radikal existenzialistisches Denken legte. Dieser Band widmet sich dem Philosophen, der wie kein anderer das 20. Jahrhundert prägte. Fünf akademische Beiträge geben einen Einblick in den Freiheitsbegriff sowie das „Problem des Nichts“ und erläutern in diesem Kontext Sartres philosophisches Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“. Aus dem Inhalt: Freiheit bei Sartre, Die Nichtexistenz Gottes, Die Widerlegung des Determinismus, Sartre, Husserl und Heidegger, Sartre und die moderne Hirnforschung, Der Blick des Anderen und das Konzept des Schamgefühls

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Impressum:

Copyright © 2013 ScienceFactory

Ein Imprint der GRIN Verlags GmbH

Coverbild: pixabay.com

Jean-Paul Sartre

Philosophie des Existenzialismus

Sara Stöcklin (2005): "Zur Freiheit verurteilt" - Eine Untersuchung von Sartres Freiheitsbegriff

Einleitung

Quellen

Der Ursprung der Freiheit

Was ist Freiheit?

Zur Freiheit verurteilt?

Schluss

Bibliographie

Martin Feyen (2003): Sartre und das Nichts

Einleitung

Sartre und das Nichts

Kommentar

Schluss

Literaturverzeichnis:

Agnes Uken (2001): Die existentialistische Begründung der Freiheit in Jean-Paul Sartres Werk "Das Sein und das Nichts". Existentialismus und Freiheit

Einleitung

Formen des Seins

Sein und Handeln

Schluss

Literaturverzeichnis

Kevin Liggieri (2009): Zur Freiheit verdammt - Sartres Konzeption der Freiheit und der Vergleich zur modernen Hirnforschung

Einleitung: Ist Sartre ein toter Autor?

„Ich bin dazu verurteilt, frei zu sein.“ - Sartres Philosophie der Freiheit

Sartre und die moderne Hirnforschung: Ist Freiheit Illusion?

Ich würde nicht schreiben aus Freude am Schreiben

Literaturverzeichnis

Nina Strehle (2002): Der Blick und das Schamgefühl in Jean-Paul Sartres Werk "Das Sein und das Nichts"

Einleitung

Der Andere

Der Blick

Das Schamgefühl

Objektivierung des Andern

Literatur

Einzelpublikationen

Sara Stöcklin (2005): "Zur Freiheit verurteilt" - Eine Untersuchung von Sartres Freiheitsbegriff

Einleitung

Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was er tut. (EH 155)

In diesem berühmten Zitat aus dem Essay „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ fasst Jean-Paul Sartre den Kerngedanken seiner Philosophie zusammen: Der Mensch ist Freiheit. Ohne Halt, ohne vorgegebene Werte und ohne Entschuldigungen muss er vor sich selbst verantworten, was er ist und tut. Allen deterministischen Strömungen der Philosophie und Naturwissenschaften zum Trotz verwirft und widerlegt Sartre den Gedanken, dass der Mensch von seiner Umwelt, seiner Gesellschaft, seinem Charakter oder seinem natürlichen Wesen zu dem gemacht wird, was er ist. Die Fülle an Schriften, die er uns hinterlassen hat, ist seit ihrer Entstehung eine wahre Goldgrube für Philosophierende, die sich mit der Beschaffenheit der menschlichen Existenz auseinandersetzen.

Obwohl der Existentialismus Sartres, erstmals ausführlich dargelegt in seinem frühen philosophischen Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“, in erster Linie die Strukturen des Seins behandelt, ist der Begriff der Freiheit das tragende Element eben dieser Strukturen und schimmert bei all seinen Auseinandersetzungen durch. In der folgenden Arbeit möchte ich den Freiheitsbegriff Sartres untersuchen und kritisch beleuchten. In einem ersten Teil werde ich der Frage nachgehen, wie Sartre die Freiheit des Menschen in ihrem Ursprung begründet, und mich dabei insbesondere mit seiner Widerlegung des Determinismus beschäftigen. Daraufhin werde ich seine Definition von Freiheit unter Berücksichtigung der drei Aspekte „Wesenlosigkeit“, „Erfahrung“ und „Nichtung“ untersuchen und mich anschliessend mit der Frage auseinandersetzen, warum der Mensch gemäss Sartre zur Freiheit „verurteilt“ ist. Dabei werde ich insbesondere die Begriffe der Angst, Verlassenheit und Verantwortlichkeit beleuchten und untersuchen, welche Rolle sie in seiner Argumentation spielen.

Quellen

Als Hauptquellen für meine Untersuchung werden mir der Essay „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ (EH) und der vierte Teil von Sartres frühem philosophischem Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ (SN) dienen. „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ [L’existentialisme est un humanisme] ist die leicht veränderte Fassung eines Vortrags, den Sartre 1945 hielt. Der Text erregte grosses Aufsehen und trug wesentlich zur Verbreitung seines Denkens bei. Da er die Anliegen des Existentialismus jedoch stark vereinfacht, bereute Sartre später seine Drucklegung.[1]

„Das Sein und das Nichts“ [L’être et le néant] trägt den Untertitel „Versuch einer phänomenologischen Ontologie“ und liefert eine umfassende Untersuchung von den verschiedenen Seinsstrukturen, von der Beziehung des Menschen zu anderen, aber in erster Linie zu sich selbst. Das umfangreiche Werk, erstmals 1943 erschienen, besteht aus vier Teilen, von denen sich insbesondere der Letzte mit der Freiheit des menschlichen Handelns und der menschlichen Verantwortlichkeit auseinandersetzt.

Der Ursprung der Freiheit

Warum ist der Mensch frei? Sartre führt ein „inneres“ Argument für die Freiheit ins Feld, um anschliessend äussere Argumente daraus abzuleiten. Das „innere“ Argument möchte ich die „Bedingung zur Möglichkeit“ der Freiheit nennen; es handelt sich dabei um die Nicht-Existenz Gottes. Sartre kann diese zwar nicht beweisen, setzt sie aber als Fundament und Axiom seines Freiheitsgedankens voraus. Das erste äussere, konkrete Argument kann mit Sartres eigenen Worten „Die Existenz geht der Essenz voraus“ (EH 149) betitelt werden und versucht, auf kohärente Weise die Konsequenz aus der Nicht-Existenz Gottes zu ziehen. Das zweite Argument besteht in der Widerlegung des Determinismus.

Die Nicht-Existenz Gottes

Und wenn wir von Verlassenheit sprechen […], wollen wir nur sagen, dass Gott nicht existiert und dass man daraus bis zum Ende die Konsequenzen ziehen muss. (EH 154)

Für Sartre und seine Philosophie ist die Nicht-Existenz Gottes eine absolute Notwendigkeit. Insbesondere sein Freiheitsbegriff ist darauf aufgebaut und davon abhängig, doch da die Freiheit das tragende Element seines ganzen Gedankengebäudes ist, würde dieses unter einem Gottesbeweis vollständig zusammenbrechen. So wie Kant die Existenz Gottes notwendig postuliert, muss Sartre die Nicht-Existenz Gottes notwendig postulieren. Obwohl Sartre den Begriff „Gott“ hier nicht spezifiziert, geht aus dem Zusammenhang klar hervor, dass eine Instanz ausserhalb unserer selbst gemeint ist, die uns geschaffen und ein Wesen gegeben hat, die Werte festsetzt und vor der wir uns verantworten müssen. Sartre ist sich der Konsequenzen, die eine „Abschaffung“ Gottes mit sich bringt, durchaus bewusst:

Der Existentialist denkt […]: es ist sehr unangenehm, dass Gott nicht existiert, denn mit ihm verschwindet jede Möglichkeit, Werte in einem intelligiblen Himmel zu finden; es kann kein a priori Gutes mehr geben, da es kein unendliches und vollkommenes Bewusststein gibt, es zu denken. (EH 154)

Dostojewski schrieb: „Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt.“ Das ist der Ausgangspunkt des Existentialismus. (EH 154f)

Wenn zum andern Gott nicht existiert, haben wir keine Werte oder Anweisungen vor uns, die unser Verhalten rechtfertigen könnten […]. (EH 155)

Sartre argumentiert im Namen der „Wahrheit“. Er hält es für einfach und angenehm, an Gott zu glauben und aus diesem Glauben Werte, Richtlinien und Grenzen zu beziehen. Er hält es auch für schwierig und beängstigend[2], anstelle von Gott die Rolle des Gesetzgebers zu übernehmen und Werte zu wählen. Dennoch glaubt er schlicht und einfach, dass Gott nicht existiert, und will sein Leben folglich in Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit nach der für ihn bestehenden Wahrheit, und nicht nach einem Wunschbild, ausrichten. Auf den Vorwurf, selbstgerecht über Gut und Böse zu entscheiden, antwortet er:

Es ist mir sehr unangenehm, dass es so ist; aber da ich Gottvater beseitigt habe, braucht es ja wohl jemanden, die Werte zu erfinden. (EH 174)

Sartre möchte „den Menschen daran erinnern, dass es keinen anderen Gesetzgeber als ihn selbst gibt und dass er in der Verlassenheit über sich selbst entscheidet“ (EH176). Diese Erkenntnis, die sich durch die existentiellen Gefühle der Angst und Verzweiflung jedem Menschen aufdrängt[3], mag schmerzhaft sein, entspricht aber der Wahrheit. Sie zu verdrängen bedeutet, der menschlichen Realität auszuweichen und ein Leben in Unaufrichtigkeit zu führen.

Die Erkenntnis der Nicht-Existenz Gottes muss jedoch nicht nur Verzweiflung beinhalten. Angesichts der „Schlechtigkeit“ der Welt ist der Mensch vor eine neue Situation gestellt:

Denn in diesem Falle müsste man erfinden, verbessern, und der Mensch wäre wieder Herr seines Schicksals mit einer beängstigenden, unaufhörlichen Verantwortung. (BJ 127)

Die Bedingung zur Möglichkeit der Freiheit ist mit der Nicht-Existenz Gottes gegeben: Der Mensch ist nicht fremdbestimmt durch eine Instanz ausserhalb seiner selbst. Die wesentliche Konsequenz aus diesem Gedanken und damit weitergehende Begründung für die menschliche Freiheit zieht Sartre in der Aussage „Die Existenz geht der Essenz voraus“ (EH 149).

Die Existenz geht der Essenz voraus

Was ist darunter zu verstehen, dass die Existenz der Essenz oder dem Wesen vorausgeht? Sartre selbst bedient sich eines Beispiels, um seine Aussage zu verdeutlichen. Man stelle sich einen Handwerker vor, der einen Brieföffner herstellt. Er hat ein klares Bild vor Augen, wie dieser Brieföffner aussehen und was für einen Nutzen er haben soll. Mit dieser festen Vorstellung macht er sich an die Arbeit und bedient sich bestehender „Herstellungsverfahren“ (EH 148), um sicherzugehen, dass der Brieföffner dem von ihm vorherbestimmten Zweck dienlich sein wird. Aus diesem Beispiel geht klar ersichtlich hervor, dass bei Gegenständen dieser Art das Wesen der Existenz vorausgeht. Zuerst ist die „Idee“, d. h. die Gesamtheit aller Eigenschaften und Herstellungsverfahren, die den Begriff „Brieföffner“ definieren und als reine Vorstellung im leeren Raum steht. Dann erst greift der Handwerker zu seinem Werkzeug und bringt den Gegenstand zur Existenz. Das Wesen des Brieföffners erhält nun seinen materiellen „Körper“, seine Objekthaftigkeit.

Wenn es nun einen Schöpfer-Gott gibt, lässt sich dieser als eben so ein Handwerker denken. Er hat eine Vorstellung des Menschen, seiner Eigenschaften und Zwecke, und er kennt das Verfahren, ihn herzustellen. Das Wesen des Menschen ist schon in Gottes souveränem Plan enthalten, ehe er ihn in die Existenz ruft. Das Streben des Menschen gilt in diesem Falle der Suche nach seinem eigenen ursprünglichen Wesen, nach der Vorstellung, die Gott vor Anbeginn der Zeit von ihm hatte, und dessen Verwirklichung sein Ziel und seine Erfüllung darstellt. Auf dieses Wesen kann er sich berufen, sich daran festhalten, sich aber auch damit entschuldigen. Denn es ist ihm gegeben und war schon festgelegt, ehe er überhaupt materiell existierte.

Sartre wirft Philosophen des 18. Jahrhunderts wie Diderot und Voltaire vor, sich zwar von Gott abgewandt, die Idee von einer Wesenheit des Menschen aber dennoch nicht beseitigt zu haben. Er geht einen Schritt weiter:

Der atheistische Existentialismus, den ich vertrete, ist kohärenter. Er erklärt: wenn Gott nicht existiert, so gibt es zumindest ein Wesen, bei dem die Existenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und dieses Wesen ist der Mensch […]. (EH 149)

Was bedeutet hier, dass die Existenz der Essenz vorausgeht? Es bedeutet, dass der Mensch erst existiert, auf sich trifft, in die Welt eintritt, und sich erst dann definiert. (EH 149)

Da der Mensch nicht von einer Instanz ausserhalb seiner selbst definiert wird, muss er erst existieren, bevor er sich selbst gegenüberstehen und sein eigenes Wesen bestimmen kann. Gemäss Sartre gibt es „keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, sie zu ersinnen“ (EH 149). Definiert der Mensch aber sein eigenes Wesen, so definiert er auch seinen Charakter, seinen Wert und seinen Sinn. Er erschafft sich, in dem er sich von sich selbst loslöst und sich selbst transzendent gegenübertritt – dann erst kann er den „Entwurf“ von sich selbst gestalten, den der Handwerker schon vor der Existenz seines Produktes wählt. Der Mensch ist sein eigener Gott, er ist Transzendenz (vgl. EH 175). Diese Stellung, die der Mensch sich selbst gegenüber hat, birgt eine ungeheure Verantwortung, ist aber die Grundlage der Freiheit. Der Mensch ist frei, weil die Existenz der Essenz vorausgeht, und die Existenz geht der Essenz voraus, weil es keinen Gott gibt. Dies ist der Grundgedanke von „Das Sein und das Nichts“, und im Zusammenhang mit diesem Gedanken führt Sartre die in seiner Philosophie zentralen Begriffe „Für-sich-sein“ und „An-sich-sein“ ein. Das „Für-sich-sein“ ist das transzendente, durch das Bewusstsein bestimmte Sein, das von sich selbst Abstand nimmt und sich definiert. Das „An-sich-sein“ ist das vom Bewusstsein unabhängige, objekthafte Sein der Dinge. Wenn der Mensch seine eigene Freiheit nicht anerkennen will, wenn er sich weigert, die Verantwortung für sein Sein und Handeln zu übernehmen, so reduziert er sich auf das „An-sich-sein“ und macht sich selbst zu einem blossen Objekt.[4] Diese Haltung ist jedoch nichts weiter als ein Versuch der Selbsttäuschung. In Wahrheit, so Sartre, kann der Mensch der Realität nicht ausweichen, dass er sowohl „Für-sich“ als auch „An-sich“ ist, sowohl Subjekt als auch Objekt, und somit absolut frei über sich selbst entscheiden und verfügen kann.

Was bedeutet es konkret für den Menschen, dass er kein festgesetztes Wesen hat, sondern frei über dieses entscheiden muss? In erster Linie bedeutet es, dass seine Existenz zufällig ist und keinen von Aussen konstituierten Sinn in sich trägt:

[…] das Leben hat a priori keinen Sinn. Bevor Sie leben, ist das Leben nichts, es ist an Ihnen, ihm einen Sinn zu geben, und der Wert ist nichts anderes als dieser Sinn, den Sie wählen. (EH 174)

Weiter bedeutet es, dass er auf keine schon existierenden Werte und Gesetze zurückgreifen kann, wenn er moralische Urteile fällen will:

[…] weil wir den Menschen daran erinnern, dass es keinen anderen Gesetzgeber als ihn selbst gibt und dass er in der Verlassenheit über sich selbst entscheidet. (EH 176)

Da auch kein Charakter a priori besteht, kann sich der Mensch nur über sein eigenes Handeln definieren:

[…] der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht. (EH 150)

Wirklichkeit ist nur im Handeln […]: der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Masse, in dem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben. (EH 161)

Der Mensch muss seinen eigenen „Entwurf“ wählen. Er ist sein eigener Handwerker, mit dem Unterschied, dass er als Objekt schon existiert und nun nur noch darüber entscheiden muss, was für einen Sinn er sich selbst verleiht. Der Sinn darf sich jedoch nicht auf etwas ausserhalb des Menschen selbst beziehen – denn mit Sartres Argumentation gibt es in diesem „Ausserhalb“ nichts, an dem sich der Mensch festhalten könnte. Tatsächlich kann nur das eigene Tun und Handeln seiner Existenz Sinn verleihen. Zum Helden wird niemand von Aussen gemacht:

Der Existentialist jedoch sagt, dass der Feigling sich zum Feigling macht, der Held sich zum Helden macht; es gibt immer eine Möglichkeit für den Feigling, nicht mehr feige zu sein, und für den Helden, aufzuhören, ein Held zu sein. (EH 164)

Der Mensch ist eben gerade deshalb frei, weil er nicht von Aussen zu dem gemacht wird, was er ist. Er muss seine Identität völlig aus sich selbst beziehen. Dabei kann er sich dieser Freiheit nicht entziehen – er kann die Verantwortung für sich selbst und sein Tun weder verweigern noch abschieben.

In der Aussage, dass der Mensch die Fähigkeit hat, von sich selbst Abstand zu nehmen und sich zu definieren, und es gleichzeitig keine äussere Instanz gibt, die ihm diese Aufgabe vor oder während seiner Existenz abnehmen könnte, liegt Sartres grundlegender Beweis für die Freiheit. Er muss jedoch noch einen Schritt weiter gehen. Denn auch wenn es keinen Gott gibt, der das Wesen des Menschen festlegt, und dieser Selbstreflexion üben kann, ist noch nicht die Freiheit im Handeln selbst bewiesen. Der Determinismus, gegen den Sartre antritt, behauptet, dass der Mensch nichts weiter als ein Glied der grossen Kette von Ursache und Wirkung ist und sein jegliches Handeln durch innere und äussere Einflüsse bestimmt wird. Der Widerlegung dieser Theorie, welche in direktem Gegensatz zu Sartres Philosophie steht, widmet dieser denn auch grosse Aufmerksamkeit und Sorgfalt.

Widerlegung des Determinismus

Die einen, die aus einem Geist der Ernsthaftigkeit heraus oder mit deterministischen Entschuldigungen ihre totale Freiheit nicht wahrhaben wollen, werde ich Feiglinge nennen […]. (EH 172)

[…] anders gesagt, es gibt keinen Determinismus […]. (EH 155)

Diesen vorwiegend polemischen Aussagen in „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ geht eine grundlegende Untersuchung des menschlichen Handelns in „Das Sein und das Nichts“ voraus. In seiner Argumentation setzt Sartre noch vor der menschlichen Handlung selbst an; er setzt sich vorerst mit der Voraussetzung des Handelns, mit der Situation des Handelnden auseinander. Aus der phänomenologischen Beobachtung dieser Situation zieht er zwei Schlüsse:

1. kein faktischer Zustand, wie er auch sei (politische, wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft, psychologischer „Zustand“ usw.), kann von sich aus irgendeine Handlung motivieren. (SN 757)

2. kein faktischer Zustand kann das Bewusstsein dazu bestimmen, ihn als Negativität oder Mangel zu erfassen. (SN 757)

Beide Aussagen lassen sich anhand eines Beispiels verdeutlichen. Stellen wir uns die Situation einer Analphabetin in einer entlegenen Region Indiens vor. Da sie weder lesen noch schreiben kann, ist ihr die Möglichkeit verwehrt, Händlerin zu werden. Der Handel ist in dieser Region jedoch die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Folglich lebt sie in absoluter Abhängigkeit von ihrer Familie, welche ihr aufgrund ihrer sozialen Stellung nicht das Recht auf eine genügende gesundheitliche Versorgung zugesteht. Gemäss Sartres erster Aussage kann diese Situation von sich aus keine Handlung seitens der Frau motivieren. Im Gegenteil: Wenn in jener Region alle Frauen Analphabetinnen sind und in völliger Abhängigkeit leben, wird ihr unter Umständen nie auch nur die Idee kommen, an ihrem Zustand etwas zu ändern. Die Motivation zur Handlung erfordert drei Schritte seitens der Frau: Sie muss erkennen, dass es eine Alternative zu ihrer jetzigen Situation gibt, sie muss sich selbst in die Zukunft entwerfen und sie muss einsehen, dass ihre jetzige Situation nicht dem Zweck dient, den sie sich mit ihrem Lebensentwurf selbst gesetzt hat. Sartres erste Aussage bezieht sich auf die Gesamtheit dieser drei Schritte, seine zweite Aussage auf den dritten Schritt.

Wie kann die Frau erkennen, dass es eine Alternative zu ihrer Situation gibt? Für Sartre ist hier die oben beschriebene Erkenntnis grundlegend, dass der Mensch von sich selbst Abstand nehmen kann. Er kann sich selbst und seine Situation „nichten“, d. h., er kann sich selbst übersteigen und aus sich selbst die Vorstellung dessen hervorbringen, das nicht ist. Er kann sich vom „Leim des Seins“[5] lösen und über den faktischen Zustand hinaus denken. Erst die Fähigkeit, zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, zu unterscheiden, ermöglicht eine Handlung.

Die Handlung bedingt jedoch auch den zweiten Schritt. Der Mensch handelt nur im Sinne der Zwecke, die er sich selbst gesetzt hat. Diese Zwecke hat er sich gemäss seinem Lebensentwurf gesetzt. Was beinhaltet dieser Entwurf? Meistens, aber nicht notwendigerweise, enthält er die folgenden Grundelemente: „Ich will leben. Ich will nicht leiden. Ich will glücklich sein.“ Im Falle der Analphabetin erfordert die Motivation für eine Handlung allenfalls weitere Elemente: „Ich will gesund sein. Ich will unabhängig sein. Ich will meine Fähigkeiten entfalten können.“ Der Entwurf ist die „erste“, innerste Entscheidung des Menschen über sich selbst. Er entfaltet und verändert sich mit dem Bewusstseinsstrom des Menschen und ist diesem stets unterworfen. Kein Element, auch nicht der Wunsch nach Leben, ist notwendigerweise im Entwurf enthalten:

[…] denn die schlimmsten Übel oder die schlimmsten Gefahren, die meine Person zu treffen drohen, haben nur durch meinen Entwurf einen Sinn […]. Es ist also unsinnig, sich beklagen zu wollen, weil ja nichts Fremdes darüber entschieden hat, was wir fühlen, was wir leben oder was wir sind. (SN 950)

Um die Handlung im Falle der Analphabetin letztendlich hervorzurufen, bedarf es jedoch noch eines dritten Schrittes. Der dritte Schritt ist die Verknüpfung der beiden ersten Schritte. Erst wenn sie ihre gegenwärtige Situation mit ihrem eigentlichen Lebensentwurf vergleicht, wird sie feststellen, dass sie nicht glücklich ist, und ihren Zustand ändern wollen. Zusammenfassend mit Sartres Worten:

Denn hier […] muss man zugeben, dass nicht die Härte einer Situation und die von ihr auferlegten Leiden Motive dafür sind, dass man sich einen anderen Zustand der Dinge denkt, bei dem es aller Welt besser ginge; im Gegenteil, von dem Tag an, da man sich einen anderen Zustand denken kann, fällt ein neues Licht auf unsere Mühsale und Leiden und entscheiden wir, dass sie unerträglich sind. (SN 756)

Mit dieser Argumentation legt Sartre die Freiheit bereits als „grundlegende Bedingung jedes Handelns“ (SN 758) fest; denn die erste Entscheidung hat der Mensch bereits gefällt, ehe Motive und Ursachen ins Spiel gekommen sind.

Mit dieser Voraussetzung beginnt Sartre nun, den Determinismus im Bereich des konkreten Handelns zu widerlegen. Im Gegensatz zu anderen Gegnern des Determinismus bestreitet er nicht, dass es „kein Handeln ohne Motiv“ (SN 758) gibt:

Es kann nicht anders sein, da jedes Handeln intentional sein muss: es muss ja einen Zweck haben, und der Zweck bezieht sich seinerseits auf ein Motiv. (SN 758)

Der Determinist, so Sartre, macht es sich jedoch zu leicht, wenn er seine „Untersuchung auf die blosse Angabe des Motivs oder des Antriebs“ (SN 759) beschränkt. Die wesentliche Frage ist, was ein Motiv zum Motiv macht. Sartre grenzt hier den Begriff „Motiv“ klar vom Begriff „Ursache“ ab. Eine Ursache, wie wir sie in der Naturwissenschaft finden, hat notwendigerweise eine bestimmte Wirkung. Die Situation, in die der Mensch ohne sein Zutun hineingeboren wird, zum Beispiel eine ungebildete Familie in einer abgelegenen Region Indiens, ist ebenfalls eine Ursache, die sich notwendigerweise in seinem finanziellen und kulturellen Zustand auswirkt und ihm den Ausgangspunkt vorgibt, von dem aus er sein Leben gestalten muss. Was uns jedoch in unserem täglichen Leben und in unserer gegebenen Situation begegnet, nennt Sartre „Motive“. Und während der Determinist behauptet, auf ein bestimmtes Motiv folge mit derselben Sicherheit, mit der ein bestimmtes Phänomen auf eine bestimmte Ursache folge, eine bestimmte Handlung, bringt Sartre seinen Freiheitsbegriff ins Spiel. Der Mensch, als Wesen, dessen Existenz der Essenz vorausgeht, ist das einzige Geschöpf, das sich von sich selbst losreißen und sich von den Kausalreihen lösen kann[6]. Nichts zwingt ihn, auf ein Motiv eine bestimmte Handlung folgen zu lassen, denn sein Bewusstsein verleiht dem Motiv erst dessen Bedeutung[7]. „Um nämlich Motiv sein zu können, muss das Motiv als solches empfunden