Jeanne d´Arc - Malte Prietzel - E-Book

Jeanne d´Arc E-Book

Malte Prietzel

0,0

Beschreibung

Die Frage, wer Jeanne d'Arc eigentlich ist, beschäftigte die Menschen schon zu ihren Lebzeiten. Ihr ungewöhnliches Leben, ihre Verdammung und Hinrichtung durch die Inquisition, ihre spätere Rehabilitierung und ihr Aufstieg zur französischen Nationalheiligen ließen zahlreiche Gerüchte, Halbwahrheiten und Mythen entstehen. Malte Prietzel nennt die unbestreitbaren Fakten, erzählt von den Diskussionen der Zeitgenossen um Johanna von Orleans und von ihrem bis heute andauernden Nachleben. Malte Prietzels Buch bietet, was eine Biografie lesenswert macht: nicht nur einen Überblick über das Leben der heilgen Jungfrau, sondern tiefe Einblicke in ihre Zeit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 242

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Malte Prietzel

Jeanne d'Arc

Das Leben einer Legende

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN (E-Book): 978-3-451-33851-9ISBN (Buch): 978-3-451-30414-9

Inhaltsübersicht

Einleitung

Kapitel 1: Eine Kindheit in Idylle und Krieg

Die Familie

Eine kleine Welt

Eine Bauerntochter

Ein frommes Mädchen

Frankreich in den 1420er-Jahren

Die Stimmen

Kapitel 2: Am königlichen Hof

Ankunft in Chinon

Vor der Untersuchungskommission

Der Brief an die Engländer

La Pucelle

Die Ausrüstung der Jungfrau für den Krieg

Die Standarte

Vor dem Aufbruch

Kapitel 3: Der Entsatz von Orléans

Der Angriff der Engländer

Jeannes Einzug in Orléans

Der Kampf um die belagerte Stadt

Jeanne als Kämpferin

Kapitel 4: Reims, Paris, Compiègne

Der Feldzug an der Loire

Die militärische Wende

Der Zug nach Reims

Der Marsch nach Paris

Das Ansehen der Jungfrau

Der Ruhm der Jungfrau

Letzte Gefechte

Kapitel 5: Der Ketzerprozess

Der Weg zum Prozess

Das Gericht und die Richter

Das Verfahren

Die Verhöre

Wohlmeinende Mahnungen

Der Widerruf

Die Hinrichtung

Kapitel 6: Nachleben

Frankreich nach Jeannes Tod

Der Rehabilitierungprozess

Der Mythos Jeanne d’Arc

Quellen und ausgewählte Literatur

Anmerkungen

Bildnachweise

|7|Einleitung

Seit Jeanne d’Arc 1429 in Chinon ihrem König erklärte, sie werde seine Feinde besiegen, sind die Menschen von ihr fasziniert. Viele Zeitgenossen interessierten sich für ihre Taten, einige schrieben darüber. Historiker gaben diese Texte und andere Quellen bereits im 19.Jahrhundert heraus. Die Zahl der wissenschaftlichen Studien und der populären Darstellungen ist inzwischen nicht mehr zu übersehen und auch Theaterstücke und Filme behandeln ihr Leben.

Dank der wissenschaftlichen Bemühungen sind viele Fakten über Jeanne d’Arcs Leben bekannt, über die man sich heute weitgehend einig ist und über die auch für die Zeitgenossen kaum ein Zweifel bestand. Zum Beispiel sind ihr Name, ihr Herkunftsort, ihre Aufenthaltsorte an recht vielen Tagen unumstritten. Diese Fakten sind wichtig, aber sie betreffen nur den äußerlichen Ablauf ihres Lebens. Sie lassen erkennen, was sie tat, aber nicht, warum sie es tat. Schon gar nicht erklären sie, warum Jeanne d’Arcs Handlungen so große Wirkung entfalten konnten.

Denn entscheidend für ihre Wirkung war und ist es, wie die Menschen im fünfzehnten Jahrhundert die Taten dieser jungen Frau interpretierten. Wenn Jeanne d’Arc vor Orléans die französischen Truppen mit ihren Worten und ihrem Beispiel anfeuerte, dann hatte sie nicht deswegen Erfolg, weil sie flammende Worte rief oder weil |8|sie mit ihrer Fahne voran lief. Ihre Wirkung beruhte darauf, dass ihre Soldaten in ihr eine Jungfrau sahen, die Gott auserwählt hatte, um Frankreich zu retten. Sie vertrauten darauf, dass ihre Worte und ihre Handlungen Ausdruck von Gottes Willen und Unterstützung waren.

Jeannes Feinde hingegen wollten nicht glauben, dass die Franzosen von Gott unterstützt wurden. Sie sahen in ihr eine Hure, eine Ketzerin, eine Zauberin, welche die göttlichen Gesetze übertrat und die menschlichen Sitten verletzte, indem sie sich zu Unrecht auf Gott berief, in den Krieg zog und Männerkleidung trug.

Beide Parteien verteidigten ihre Auffassungen, indem sie Schriften über Jeannes Taten verbreiteten. Dabei scheuten sie nicht davor zurück, bewusst Lügen und Halbwahrheiten zu verwenden. Auch mündlich wurde wiedergegeben, was man über Jeanne zu wissen meinte oder zu wissen vorgab. Je nachdem, was ein Autor oder ein Erzähler wusste und was ihm wichtig war, entstand ein je anderes Bild von Jeanne. Jeder hielt dabei sein eigenes Bild von dieser jungen Frau für wahr. So entstanden viele Bilder und viele Wahrheiten über Jeanne d’Arc. Alle zusammen beeinflussten ihr Leben. Nur wenn man diese Vielfalt von Meinungen berücksichtigt, kann man ihr Wirken und ihre Wirkung erklären.

Durch ihre Taten und Worte entstanden schließlich Mythen über Jeanne. Sie war nicht nur für ihre eigene Zeit bedeutsam, sondern wurde auch noch lange nach ihrem Tod als Projektionsfläche für unterschiedliche Interessen benutzt. Sie wurde stilisiert und idealisiert als Opfer der Kirche, als Heldin, die Frankreich rettete und für die Nation starb, als idealistische Streiterin für Gerechtigkeit. Diese Mythen beeinflussten auch die Darstellung |9|Jeannes in der Geschichtswissenschaft und verstellen damit häufig den Blick auf die historischen Zusammenhänge.

Jeannes Leben ist auch deswegen schwer zu erfassen, weil gerade die spannendsten Quellen, die Akten der Prozesse von 1431 und 1456, schwierig zu interpretieren sind. Als Jeanne 1431 in Rouen vor Gericht gestellt wurde, hielt man ihre Verhöre in Protokollen fest. Wie es üblich ist, stellten die Richter Fragen und legten dadurch fest, über welche Themen überhaupt gesprochen wurde. Da es um die Rechtgläubigkeit Jeannes ging, wurden Aspekte, die für die Beantwortung dieser Frage unergiebig waren, nur am Rande berührt. Außerdem konnte Jeanne während des Prozesses nicht einfach unbekümmert ihre Sicht der Dinge darlegen, denn sie wollte selbstredend eine Verurteilung vermeiden. Auch musste sie sich vorsehen, da die Richter versuchten, ihr Fallen zu stellen und den Sinn ihrer Aussagen zu verdrehen. Manchmal widersprachen sich Jeannes Angaben auch. Aus all diesen Gründen darf man nicht davon ausgehen, dass Jeanne immer die ganze Wahrheit sprach oder dass es ihren Richtern darauf ankam, diese ans Licht zu bringen.

Nach Jeannes Tod wurde auf Initiative des Königs ein Verfahren angestrengt, welches das Urteil gegen sie für ungültig erklären sollte. Im Verlauf dieses so genannten Rehabilitationsprozesses wurden im Jahr 1456 viele Zeugen vernommen, die Jeanne persönlich gekannt hatten. Ihre Aussagen bieten umfangreiches Material, auch zu Themen, über die man bei anderen historischen Figuren kaum etwas weiß. Doch ist bei dieser zweiten wichtigen Quelle zu beachten, dass die Zeugen erst 25Jahre nach |10|Jeannes Tod befragt wurden. Manches hatten sie schlicht vergessen, in anderen Dingen war ihre Erinnerung nicht mehr zuverlässig. Dies zeigt sich daran, dass die Zeugen sich mitunter widersprachen. Außerdem wussten sie, was die Richter von ihnen hören wollten, und sie waren sich darüber im Klaren, dass hinter den Richtern die Macht des Königs stand. Manchmal dürften sie daher nicht genau das gesagt haben, was nach ihrer Erinnerung wahr war.

Trotz dieser Schwierigkeiten enthalten die Akten beider Prozesse, wenn sie umsichtig analysiert werden, eine Vielzahl von Hinweisen auf die Taten Jeanne d’Arcs und sie geben Einblick in ihr Denken. Dabei gilt für diese Prozessakten dasselbe wie für alle anderen Quellen: Durch die Betrachtung von Jeannes Leben gerät zwangsläufig immer auch die Weltsicht ihrer Zeitgenossen in den Blick, von den Auffassungen über Religion und Hexerei bis hin zur Frage, ob eine Frau Männerkleider tragen durfte. Jeannes Leben bietet damit aufschlussreiche Einsichten in ihre Zeit.

|11|Kapitel 1

Eine Kindheit in Idylle und Krieg

Die Familie

Als Jeanne d’Arc in Domrémy geboren wurde, erfuhren dies die Bewohner des ganzen Dorfes und sicherlich auch einige Bekannte und Verwandte ihrer Familie in den Nachbarorten. Niemand aber hielt dieses Ereignis schriftlich fest, denn die wenigsten Dorfbewohner konnten lesen, geschweige denn schreiben. Die königliche Verwaltung und die Grundherren führten damals zwar Steuerlisten und Abgabenverzeichnisse, darin hielten sie aber im Allgemeinen lediglich die Familienvorstände fest, deren Frauen und Kinder aber wurden nicht aufgeführt. In Domrémy gab es auch kein Taufregister wie in einigen wenigen Pfarrkirchen zu jener Zeit.

Über Jeannes Kindheit und Jugend ist dennoch so viel bekannt, wie bei kaum einem anderen Menschen des Mittelalters. Die Akten des Verurteilungs- und vor allem des Rehabilitierungsprozesses ergeben ein lebhaftes Bild von Jeannes Leben in ihrem Heimatdorf.

Jeannes Geburtsjahr ist freilich nirgends angegeben. Es lässt sich aber recht plausibel errechnen, weil sie im Prozess von Rouen 1431 nach ihrem Alter gefragt wurde. Sie antwortete, sie sei „ungefähr 19Jahre alt“1. Die Richter gaben sich mit dieser Antwort zufrieden, denn es war vor allem in den weitgehend schriftunkundigen bäuerlichen Schichten üblich, dass jemand nicht genau wusste, in welchem |12|Jahr, geschweige denn an welchem Tag er geboren war. Da die Richter Jeannes Altersangabe nicht anzweifelten, muss sie ihnen plausibel erschienen sein. Auch weisen die Aussagen verschiedener Zeugen und Chronisten Jeanne ein ähnliches Alter wie das genannte zu. So kann man davon ausgehen, dass Jeanne d’Arc ungefähr im Jahr 1412 geboren wurde.

Jeannes Alter war in dem gegen sie geführten Prozess wichtig, weil festgestellt werden musste, ob sie bereits strafmündig war. Der genaue Tag ihrer Geburt war hingegen unerheblich und so fragten die Richter gar nicht erst danach. Ein Zeitgenosse Jeannes nennt den 5.Januar ohne Angabe eines Jahres als ihren Geburtstag.2 Doch der Brief, in dem dieses Datum erwähnt ist, dient eindeutig dem Zweck, Jeannes Auftreten gegenüber dem Ausland ganz im Sinne des Königs von Frankreich darzustellen und er enthält nachweislich falsche und irreführende Angaben. Daher ist nicht zu entscheiden, ob das angeführte Geburtsdatum stimmt.

Jeannes Eltern, Jacques d’Arc und Isabelle Romée, zählten zu den besser gestellten Bauern, die man im Französisch der Zeit „laboureurs“ nannte. Sie gehörten damit zur Oberschicht der ländlichen Bevölkerung, innerhalb derer es starke wirtschaftliche und soziale Unterschiede gab. Sie besaßen ein eigenes Zuggespann sowie ein eingeschossiges Steinhaus, das heute noch existiert.

Aufgrund seines ansehnlichen Besitzes verfügte Jeannes Vater Jacques über eine respektable soziale Stellung im Dorf und in der Umgebung. Von 1425 bis 1427 amtierte er als „Doyen“ von Domrémy, was bedeutet, dass er von seinem Grundherrn, dem Herrn von Bourlémont, ausgewählt worden war, um an der Verwaltung des |14|Dorfes mitzuwirken. 1423 schloss er als Vertreter des Dorfes einen Vertrag mit einem Söldnerhauptmann und bewahrte damit sein Dorf vor Plünderung und Brandschatzung, allerdings nur gegen Zahlung einer Summe Geldes. Innerhalb seines Dorfes war Jacques d’Arc also ein recht wohlhabender und angesehener Mann. Aber das Dorf Domrémy war klein. Jacques‘ Besitz und seine soziale Stellung hätten schon in der nächsten Stadt niemanden beeindruckt.

|13|Abb. 1: Jeannes Geburtshaus in Domrémy ist ein schlichtes Gebäude. Nur dank seiner berühmten Bewohnerin gehört es zu den „Historischen Monumenten“ Frankreichs, seit diese Kategorie des Denkmalschutzes 1840 eingeführt wurde.

Jacques und Isabelle hatten insgesamt fünf Kinder, die alle Heiligennamen erhielten. Jeanne hatte drei Brüder, Jacques, Jean und Pierre, sowie eine Schwester, Catherine. Alle diese Vornamen kamen im Frankreich des 15.Jahrhunderts häufig vor, insbesondere Jeanne war ein weit verbreiteter Name. Auch unter den Verwandten und Bekannten der Familie gab es mehrere Frauen dieses Namens. Vermutlich diente es wohl auch dazu, die verschiedenen Personen zu unterscheiden, wenn die Tochter von Jacques und Isabelle mit der Koseform Jeannette gerufen wurde. Erst als sie ihren Heimatort verließ, nannte man sie Jeanne.3

Als „Jeanne d’Arc“ erscheint sie nur in zwei zeitgenössischen Texten, die rechtlich relevant waren und daher präzise und formgemäß den Vor- und den Nachnamen nannten. Es handelt sich um den Adelsbrief für die Familie von 1429 sowie die päpstliche Anordnung von 1455, den Prozess gegen Jeanne wieder aufzunehmen.4 Alle anderen Texte, die über sie berichten, bezeichnen sie anders, meist als „Jeanne“ oder als „die Jungfrau“.

Das bedeutet jedoch keineswegs, dass „d’Arc“ nicht Jeannes richtiger Nachname gewesen sei oder sie gar keine Tochter des lothringischen Bauernpaars Jacques |15|und Isabelle gewesen sei, wie manchmal spekuliert wurde. Es zeigt sich daran nur, dass man mit Vornamen und mehr noch mit Familiennamen anders umging als heute.

Jeannes Mutter Isabelle wurde etwa nicht nach ihrem Mann „d’Arc“, sondern nach ihrer Mutter „Romée“ genannt. Denn wie Jeanne selbst angab, wurden in ihrer Heimat Frauen üblicherweise mit dem Nachnamen der Mutter bezeichnet.5 Jeanne, ihr Vater und ihre Brüder aber wurden nie anders als „d’Arc“ genannt, wenn ein Familienname genannt wurde.

Hinzu kommt, dass der Name d’Arc von den Zeitgenossen ganz unterschiedlich geschrieben wurde: Darc, Dars, Tarc, Tart, Day. Der jeweilige Schreiber notierte einfach, was er hörte. So schrieb er, wie es damals üblich war, die Kurzform der Präposition „de“ und den eigentlichen Namen zusammen. Mitunter hörte der Schreiber auch lothringischen Dialekt und wusste damit wenig anzufangen. So erklärt sich die Form „Day“, die „Daï“ gesprochen wurde.

Jeanne wurde in der Pfarrkirche von Domrémy getauft,6 wahrscheinlich schon kurz nach ihrer Geburt, wie es damals üblich war, denn die Kindersterblichkeit war hoch, und Ungetaufte kamen, so glaubte man, sofort in die Hölle. Verantwortungsvolle Bischöfe drängten darauf, dass Hebammen die Worte und Gesten des Taufritus kannten. Wenn sie ein Kind entbanden, das schwach war und bald zu sterben drohte, sollten sie eine Nottaufe durchführen, wie es das Recht und die Pflicht jedes Christen in dieser Lage war.

Jeanne wurde mit ihrer Taufe nicht nur in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen, sondern fand auch einen Platz in der dörflichen Gesellschaft, indem |16|ihre Eltern Taufpaten für sie auswählten. Patenschaft schuf nach den Vorstellungen der Zeitgenossen eine feste Verbindung zwischen Paten und Kind, eine geistliche Verwandtschaft, die genauso viel galt wie die biologische.

Jeanne hatte zehn oder elf Paten – eine ungewöhnlich hohe Zahl.7 Die bischöflichen Verordnungen des Bistums Toul, zu dem Domrémy zählte, schrieben eine Höchstzahl von drei Paten vor, damit die Ernsthaftigkeit der Bindung nicht durch die übergroße Anzahl gefährdet würde. Für die Eltern des Täuflings und für das Kind selbst konnte eine hohe Zahl von Paten jedoch vorteilhaft sein. Warum dies so war, zeigt sich, wenn man betrachtet, wer Jeannes Paten waren.

Alle Paten waren „laboureurs“, stammten also aus derselben Schicht der dörflichen Bevölkerung wie Jeanne Eltern. Fast alle Patenonkel sowie die Ehemänner fast aller Patentanten waren Geschäftspartner von Jeannes Vater oder hatten wie er Ämter in der lokalen Verwaltung inne. Ein Patenonkel war Dorfschulze im Nachbarort Greux, bei einer Patentante handelte es sich um die Ehefrau des Schulzen von Domrémy, bei einer anderen um die Frau des Gerichtsschreibers. Indem Jeannes Eltern diese Personen baten, die Patenschaft zu übernehmen, schufen sie die eine weitere Bindung zu ihnen, und festigten die bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen. Offenbar hofften sie, dass diese Beziehungen ihnen und ihrem Kind auch in Zukunft zum Vorteil gereichen würden. Freilich konnte das nur glücken, wenn die Bindungen immer wieder bekräftigt wurden. In Jeannes Leben jedoch spielten ihre Paten keine Rolle mehr, nachdem sie ihre Heimat verlassen hatte. Auch |17|wussten die Paten, die 1456 als Zeugen vernommen wurden, selbst nicht mehr genau, wer mit ihnen gemeinsam diese ehrenvolle Aufgabe übernommen hatte.

Eine kleine Welt

Die Kirche von Domrémy, in der Jeannes Taufe stattfand, war dem heiligen Remigius geweiht, der auch dem Dorf den Namen gegeben hatte, „Dom Rémy“ bedeutete „Herr Remigius“. Das Dorf bildete keine selbstständige Pfarrei, sondern hing von der Pfarrei des größeren Nachbardorfes Greux ab. Domrémy war ein sehr kleines Dorf, das um 1400 wohl nur etwa 50 bis 60Haushalte, also höchstens 250Bewohner, zählte. Es gehörte den Herren von Bourlémont, die in der gleichnamigen, südlich des Dorfes gelegenen Burg lebtens.

Domrémy befand sich am linken Ufer der Maas, die hier die Grenze zwischen dem Königreich Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich bildete. Diese Grenze war jedoch lediglich rechtlich bedeutsam. Wer links der Maas überfallen wurde, konnte den Täter in letzter Instanz vor dem höchsten Gericht des Königs von Frankreich verklagen; wurde man rechts der Maas überfallen, konnte ein Prozess in letzter Konsequenz bis vor das Reichsoberhaupt führen. Da kaum jemand sich die Kosten für so aufwendige Prozesse leisten konnte, hatte dies jedoch praktisch keine Bedeutung. Außerdem wurden die meisten Rechtsstreitigkeiten ohnehin von jenen Adligen entschieden, die jeweils die Gerichtsrechte vor Ort innehatten.

Auf der rechten Maasseite lag das Herzogtum Lothringen. |18|Der Herzog zählte zu den Reichsfürsten, doch in der Praxis waren seine Beziehungen zum Reichsoberhaupt sehr locker. Auch besaß er Lehen, deren Lehnsherr der König von Frankreich war und im Herzogtum Lothringen sprach man wie am Herzogshof französisch.

Die Zeitgenossen teilten Frankreich in „Länder“ (pays) ein, deren Zusammengehörigkeit zum Teil auf politischen, aber auch auf naturräumlichen und historischen Gegebenheiten beruhte. Nach dieser Einteilung zählten Domrémy und seine weitere Umgebung zum Land Lothringen, obwohl dieses Gebiet nicht zum Herzogtum gehörte. Jeanne konnte sich selbst daher mit Recht als Lothringerin bezeichnen, und auch andere nannten sie so. Das kennzeichnete sie als Kind einer Grenzregion – und aus Grenzregionen, so wusste man, kamen Ketzer, aber auch besonders Königstreue.

Die politischen und geografischen Grenzen waren für den Alltag der Bewohner von Domrémy von geringer Bedeutung. Für sie dürfte gegolten haben, was auch auf Jeanne zutraf, bis sie ihre Heimat verließ: Soweit ihr Aktionsradius über ihr eigenes Dorf und die Nachbargemeinden hinausreichte, erstreckte er sich nur bis zu den nächsten Städten: Neufchâteau im Süden, Vaucouleurs im Norden und die Bischofsstadt Toul im Nordosten. Soweit reichten auch die sozialen Beziehungen, in die Jeanne eingebunden war. Bei Vaucouleurs wohnte eine Nichte ihrer Mutter, Jeanne Le Vausseul, mit ihrem Mann Durant Laxart. Eine Patentante Jeannes lebte in Neufchâteau, und Prediger aus dem dortigen Franziskanerkloster kamen ab und zu nach Domrémy, um dort zu predigen und Geld zu sammeln. Die Welt der Bewohner von Domrémy war klein.

|19|Karte 1: Domrémy und Umgebung

|20|Eine Bauerntochter

Jeanne wuchs als Tochter eines gut gestellten Bauern heran wie viele andere Bauerntöchter auch. Sie unterstützte ihre Mutter im Haushalt, lernte nähen und spinnen. Auch auf dem Feld und im Garten half sie mit. Manchmal brachte sie die Tiere des Vaters zur Herde des Dorfes, die dann auf dem dörflichen Gemeinschaftsbesitz geweidet wurde. Wenn die Reihe an ihrer Familie war, hütete sie mitunter auch selbst die Tiere.8

Ihrer Stellung im Dorf und derjenigen ihrer Eltern war Jeanne sich durchaus bewusst, und sie legte Wert darauf, dass niemand die wirtschaftliche und soziale Position ihrer Familie geringer darstellte, als sie selbst sie empfand. Sie beharrte darauf, dass sie vor allem im Haushalt geholfen und nicht das Vieh gehütet habe, denn Viehhüten galt als eine sozial wenig angesehene Aufgabe.

Die unterschiedlichen Arbeiten im Haus und auf dem Feld, die Jeanne schon als Kind ausübte, sollten sie auf das Leben vorbereiten, das ihr bestimmt schien, das Leben einer Ehefrau, Mutter und Bäuerin. Jeanne übernahm auch Aufgaben in der dörflichen Gesellschaft, indem sie zwei Mal Patentante wurde. Sie war die Patin von Nicolas, einem Sohn ihrer Freundin Isabelle, und ihrer Nichte Catherine, der Tochter ihrer Kusine Jeanne Le Vausseul. Dieses kleine Mädchen trug auf Jeannes Bitten den Namen ihrer Schwester Catherine, die im Jahr 1429 verstarb.

Lesen und schreiben zählte nicht zu den Dingen, die Jeannes Eltern ihr auf den Lebensweg mitgeben konnten und wollten. Der Schulbesuch kostete Geld und kam daher, wenn überhaupt, nur für die Söhne in Frage, die diese Fähigkeiten später aufgrund ihrer Stellung in der |21|dörflichen Gemeinschaft brauchen konnten. Bei einer Tochter war eine solche Investition verschwendet, weil diese Fähigkeiten für eine Ehefrau und Bäuerin nicht nötig waren.

Jeanne bestätigte später selbst, dass sie nicht lesen konnte. Allenfalls vermochte sie einige Worte zu erkennen. Sie verschickte später zwar Briefe, aber diese hatte sie nicht selbst geschrieben, sondern diktiert. Einige von ihnen sind im Original erhalten und tragen die Unterschrift „Jehanne“, was der zeitgenössischen Schreibweise ihres Namens entspricht. Diese Unterschriften stammen nachweislich nicht von dem Sekretär, dem sie den eigentlichen Text diktierte, sondern von ihr selbst. Die Handschrift erinnert an die Schrift eines Erstklässlers, sie ist krakelig, unsicher und verkrampft. Offenbar hatte jemand Jeanne ihren Vornamen aufgeschrieben, und sie bemühte sich ungelenk, die Buchstaben nachzuahmen.

Als Bauerntochter ohne Schulbildung beherrschte Jeanne auch kein Latein. Damit blieb ihr der Zugang zu jeglicher wissenschaftlichen Bildung verschlossen. Anders als ihre Kontrahenten im Ketzerprozess von Rouen konnte sie nicht die Worte von Autoritäten, den Autoren der anerkannten theologischen und rechtlichen Standardwerke, zitieren.

Jeannes Orientierung in der Welt gleicht der anderer Schriftunkundiger. Konkrete Strecken- und Mengenangaben, Jahreszahlen und Tagesdaten nannte sie nie. Sie waren zu abstrakt und entsprachen nicht ihrem eigenen unmittelbaren Erleben, sondern beruhten auf einer Verknüpfung mit abstraktem Wissen, über das Jeanne nicht verfügte. Sehr wahrscheinlich konnte sie auch nur in |22|sehr beschränktem Maße rechnen. Dementsprechend ordnete sie Ereignisse aus ihrem eigenen Leben zeitlich ein, indem sie sie mit den Orten verband, an denen sie sich aufgehalten hatte. Sie datierte also einen Vorfall, indem sie sagte: „Als ich in Vaucouleurs war,…“ Innerhalb eines Jahres orientierte sie sich an den Hoch- und Heiligenfesten, die in der dörflichen Gesellschaft den Jahreslauf prägten. Die Tageszeit bemaß sie nach dem Sonnenstand und nach den liturgischen Stundengebeten, die ihrerseits wiederum vom Sonnenstand abhängig waren.

Ihre Zahlenangaben trugen meist rein symbolische Bedeutung. Wenn sie etwa sagte, ihre Fahne bedeute ihr vierzig Mal mehr als ihr Schwert,9 brachte sie damit zum Ausdruck, dass ihre Fahne für sie eine weit größere Bedeutung besitze als das Schwert.

Jeannes Wissensstand lässt sich nur schwer mit heutigen Maßstäben messen. Sie sammelte im Laufe ihres Lebens weniger Schulwissen an, als es heute lebende Drittklässler besitzen. Weit mehr als heute aber galt in einer Gesellschaft, in der nur ein geringer Teil der Menschen lesen und schreiben konnte, dass nicht nur die Schule Wissen vermittelte. Jeanne lernte vieles durch Zuhören – und zwar auch Fakten und Zusammenhänge, die über Haushalt und Landwirtschaft hinausgingen. Dies zeigt sich gerade in ihrem Wissen über Religion und Frömmigkeit, das zum guten Teil aus den Predigten in der Kirche von Domrémy gestammt haben dürfte. Außerdem gab es unter ihren Verwandten mütterlicherseits einen Priester und einen Zisterziensermönch, die sicherlich bei Unterhaltungen im Familienkreis etwas von ihrem Wissen über Kirche und fromme Lebensführung einfließen ließen.

|23|Vor allem aber war Jeanne intelligent und sie hatte den Mut, ihren Verstand einzusetzen und ihren Willen zu behaupten. Dies mussten auch ihre Eltern und ein junger Mann, dessen Name nicht zu ermitteln ist, erfahren. Offenbar suchten Jeannes Eltern nach einem angemessenen Ehemann für ihre Tochter. Dem Ausersehenen versprachen sie sodann ihre Tochter, wie es damals üblich war. Doch Jeanne verweigerte ihre Zustimmung. Daraufhin veranlasste der junge Mann, dass Jeanne wegen des Bruchs eines Eheversprechens vor den Offizial des Bischofs von Toul nach Neufchâteau geladen wurde. Vor diesem geistlichen Richter, der für Ehesachen zuständig war, erschien sie persönlich und erreichte ihr Ziel.10 Die Klage wurde abgewiesen, da Jeanne selbst kein Eheversprechen abgegeben hatte. Jeanne hatte sich gegen ihre Eltern durchgesetzt. Das war eine bemerkenswerte Leistung in einer Gesellschaft, die viel Wert auf den Gehorsam der Kinder, und vor allem der Töchter, legte. Zum ersten Mal war Jeanne damit aus der ihr vorgezeichneten Lebensbahn ausgebrochen.

Ein frommes Mädchen

Jeanne unterschied sich von ihren Altersgenossen vor allem durch ihre große Frömmigkeit. Ihre Eltern erzogen sie zum christlichen Glauben und waren selbst gläubige, praktizierende Christen, was sich unter anderem daran zeigte, dass sie alle ihre Kinder nach Heiligen benannt hatten. Zudem stifteten Jeannes Eltern eine Seelmesse in der Pfarrkirche, was ein beträchtliches finanzielles Opfer bedeutete. Ihre Mutter brachte Jeanne die beiden wichtigsten |24|Gebete, das Vaterunser sowie das Ave Maria, und das Glaubensbekenntnis bei.

Die meisten Zeugnisse über Jeannes Glaubenspraxis stammen von den Zeugen, die 1456 im Zuge des Rehabilitierungsprozesses vernommen wurden. Sie waren bemüht zu unterstreichen, dass Jeannes Verhalten den Vorschriften des Kirchenrechts entsprochen hatte, dass darin also in keiner Weise Ansätze für ketzerische Vorstellungen oder Praktiken zu entdecken gewesen seien. Insbesondere hielten sie fest, dass Jeanne getauft und gefirmt worden war. Auch habe Jeanne zu Ostern gebeichtet und an der Kommunion teilgenommen, was jedem Christen durch das Kirchenrecht vorgeschrieben war.11

Abgesehen von dem Wunsch, Jeanne gegen mögliche Vorwürfe in Schutz zu nehmen, mögen die Aussagen der Zeugen auch davon beeinflusst sein, dass die Erinnerung verblasst war oder sich verformt hatte, denn immerhin waren bei der Befragung der Zeugen bereits 27Jahre vergangen, seit Jeanne ihr Heimatdorf verlassen hatte. Insgesamt aber ergibt sich aus den Aussagen ein stimmiges Bild.

Jeanne war frömmer als andere Mädchen ihres Alters. Ihre Freundinnen neckten sie deswegen und lachten sie aus. Sie nahm an allen Messen teil, die in der Pfarrkirche gehalten wurden. Das waren deutlich weniger als in anderen Kirchen, aber auch in Domrémy fand jeden Sonntag sowie an bedeutenden Heiligenfesten eine Messe statt. Hinzu kamen noch einige Seelmessen, die von den Dorfbewohnern gestiftet worden waren. Auch sonst ging Jeanne oft in die Kirche, um dort zu beten. Die Marienstatue im Gotteshaus schmückte sie mit Blumengirlanden und Kerzen, was auch andere Mädchen taten, allerdings |25|nicht so häufig wie Jeanne. Wenn sie abends auf dem Feld war, kniete sie beim Angelus-Läuten nieder, bekreuzigte sich und betete.12 Gerne gab sie Almosen, von ihrem eigenen Geld wie von dem ihres Vaters.

Oft ging Jeanne zur Kapelle von Bermont, die ungefähr vier Kilometer entfernt war. Dort stand eine Marienstatue, die als wundertätig galt. Jeanne besuchte die Kapelle stets sonnabends, weil dieser Tag der heiligen Jungfrau Maria geweiht war. Oft kamen ihre Schwester Catherine und andere Mädchen aus Domrémy mit. Alle nahmen Blumen und Kerzen mit. Manchmal wurde Jeanne von einem jungen Mann, Michel Lebuin, begleitet.13 Obwohl der Weg nur eine Stunde dauerte, galt der Besuch der Kapelle als Pilgerschaft.

Nicht was Jeanne im Einzelnen tat, war bemerkenswert, sondern vielmehr, dass sie all dies häufiger und ausdauernder als andere tat. Aus kirchenrechtlicher wie seelsorgerischer Sicht war all das völlig unbedenklich.

Heikler war es, dass Jeanne wie viele andere Dorfbewohner an Bräuchen teilnahm, die südlich des Dorfes in der Feldmark stattfanden. Am Rand eines Waldes stand eine markante, große und schöne Buche von beträchtlichem Alter. Den Dorfbewohnern war sie als arbre aux fées, der Feenbaum, bekannt, da man sich erzählte, dass dort vor mehr als 100Jahren ein Herr von Bourlémont eine Fee getroffen habe.14 Mit ihr habe er Kinder gezeugt, von denen alle seine Nachfahren abstammten.

Der Baum spielte aufgrund alter Traditionen eine wichtige Rolle im geselligen und kultischen Leben von Domrémy. Die Dorfbewohner trafen sich an diesem Baum am Sonntag Laetare, der meist in die Zeit des Frühlingsbeginns fällt. Vor allem die heranwachsenden |26|Frauen und Männer sangen und tanzten um den Baum herum. Außerdem flochten Jeanne und die jungen Frauen des Dorfes Blumenkränze, die sie anschließend zur Marienstatue in der Dorfkirche brachten. Ganz offensichtlich drückten diese Praktiken die Freude darüber aus, dass die kalte Jahreszeit vorbei war und das Frühjahr begonnen hatte. Die ersten Zeichen für das Wiedererwachen der Vegetation wurden der Jungfrau Maria dargebracht, als Dank, aber auch als Bitte, dass sie das Wachsen der Pflanzen weiterhin begünstigen werde. Am Feenbaum fand also ein Fruchtbarkeitsritus statt, der allerdings auch Züge unbeschwerter Geselligkeit trug.

Zum 1.Mai, am Johannistag und dem Tag der heiligen Margarete, also dem 24.Juni bzw. dem 16.August, sammelten die Dorfbewohner am Feenbaum grüne Zweige, mit denen sie die Kirche schmückten. Auch dabei handelte es sich um Fruchtbarkeitsriten.

Alles dies wäre geeignet gewesen, das Misstrauen der kirchlichen Obrigkeit zu erwecken, denn die Bräuche am Feenbaum mussten ihr heidnisch erscheinen. Aber der Dorfpfarrer, der Bischof und der geistliche Richter hatten bisher ganz offenbar keinen Grund gesehen, gegen die Bräuche am Feenbaum vorzugehen. Die Dorfbewohner wussten, dass der Pfarrer oder der Bischof sich über die Treffen am Feenbaum missbilligend geäußert hätten, wenn man sie gefragt hätte. Aber sie selbst schätzten diese Vorgänge als geselligen Brauch, keineswegs als heidnische oder ketzerische Praktiken. Auch fragte niemand die Dorfbewohner, ob sie an die Feen glaubten, und jene, die an Feen glaubten, machten nicht viel Aufhebens davon und knüpften keine magischen Praktiken |27|daran. Auch Jeanne nahm trotz ihrer großen Frömmigkeit an den Treffen am Baum teil.

Dies wurde für sie plötzlich zu einem ernsten Problem, als sie berühmt wurde und ihre Richter von dem Baum erfuhren Denn die Teilnahme an heidnischen oder magischen Bräuchen wäre ein Beweis für Jeannes Ketzerei gewesen.

Jeannes Kindheit war insgesamt ruhig und geordnet, ja vor allem im Rückblick erschien vieles geradezu idyllisch. Doch wurde diese Ruhe mehrfach brutal gestört. Denn es herrschte Krieg, seit langem schon.

Frankreich in den 1420er-Jahren

Die Wurzeln des Konflikts, den man seit dem frühen 19.Jahrhundert als Hundertjährigen Krieg bezeichnet, reichten weit zurück. Schon seit der Mitte des 12.Jahrhunderts war der König von England aufgrund komplizierter Heiratsverbindungen zugleich Herr über Teile des Königreichs Frankreich, über die er als französischer Fürst herrschte. Inwieweit er sich in dieser Eigenschaft dem französischen Monarchen unterordnen musste, war immer wieder Anlass zu Streitereien und Kriegen. Auf lange Sicht waren die französischen Könige dabei erfolgreicher und nahmen den englischen Herrschern weite Teile ihres Besitzes ab, sodass der englische König schließlich nur noch über ein Gebiet im Südwesten Frankreichs um Bordeaux verfügte, das man Guyenne oder Aquitanien nannte.

Nach einer langen Phase der Ruhe brach 1337 erneut ein Krieg aus. Drei Jahre später verschärfte König |28|Eduard III. den Konflikt, indem er aufgrund einer dubiosen rechtlichen Begründung den Titel eines Königs von Frankreich annahm.

Der Anspruch Eduards III. auf den französischen Thron war ein Grund dafür, dass in den nächsten Jahrzehnten die Feindseligkeiten zwar durch Waffenstillstände unterbrochen wurden, in der Folge aber immer neue Kampfhandlungen ausbrachen. Der zweite Grund dafür lag in überragenden militärischen Erfolgen der Engländer, die in zwei Schlachten, bei Crécy 1346 und bei Poitiers 1356, die Franzosen vernichtend schlugen. Im Vertrag von Brétigny musste der französische König 1360 äußerst harte Bedingungen akzeptieren. Eduard III. erhielt enorme territoriale Gewinne. Sein Erfolg war so groß, dass sich der französische König damit nie und nimmer abfinden konnte, denn der Großteil seines Königreiches stand jetzt unter der Kontrolle seines Feindes.

Tatsächlich plante der französische Hof die Revanche – mit Erfolg. 1369 begann der Krieg wieder, am Ende des Jahres 1374 waren nur noch Calais und kleine Gebiete um Bordeaux in englischer Hand. Nun wechselten sich für fast 40Jahre Waffenstillstände und kurze Kriegsphasen ab, ohne dass sich an der Machtbalance viel änderte.