Jedem Zauber wohnt ein radikaler Anfang inne - Stevie Schmiedel - E-Book
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Jedem Zauber wohnt ein radikaler Anfang inne E-Book

Stevie Schmiedel

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Beschreibung

Eine Mischung aus Donnerwetter und Liebeserklärung an die feministische Szene

»Stevie Schmiedel macht, wonach ich mich immer gesehnt habe: Sie baut Brücken über sich jäh erweiternde Abgründe. Denn nur so kommen wir voran.« Mithu Sanyal

»Es braucht gute Argumente und großen Mut, eine Haltung zu vertreten, mit der man sich zwischen alle Fronten begibt. Stevie Schmiedel hat von beidem genug.« Julia Karnick

Die Genderstudies sind ein Minenfeld: Eine ›woke‹ Jugend cancelt, was nicht bunt genug ist, während ein Großteil der feministischen Fortysomethings fragt, was die Streite um Privilegien, Gendersternchen oder Pronomen-Salat überhaupt sollen. Ist das Problem im heutigen Feminismus in Wahrheit ein Generationenkonflikt? Dabei könnte es doch so einfach sein: Raus aus dem »ich weiß alles besser« – und zwar auf beiden Seiten! Sagt jedenfalls Stevie Schmiedel, das Gesicht der deutschen Genderforschung und Gründerin von Pinkstinks.

Fundiert, verständlich und mit einer ordentlichen Portion Humor holt sie die Generationen an einen Tisch und zeigt, wie ein moderner Feminismus aussieht, in dem man Fragen stellen darf und der Debatte zulassen kann. Ganz getreu dem Motto: »Allem Zauber wohnt ein radikaler Anfang inne.«

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Seitenzahl: 316

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ÜBER DAS BUCH

Die Genderstudies sind ein Minenfeld: Eine »woke« Jugend cancelt, was nicht bunt genug ist, während ein Großteil der feministischen Fortysomethings fragt, was die Streite um Privilegien, Gendersternchen oder Pronomen-Salat überhaupt sollen. Ist das Problem im heutigen Feminismus in Wahrheit ein Generationenkonflikt? Dabei könnte es doch so einfach sein: Raus aus dem »ich weiß alles besser« – und zwar auf beiden Seiten! Sagt jedenfalls Stevie Schmiedel, das Gesicht der deutschen Genderforschung und Gründerin von Pinkstinks.

Fundiert, verständlich und mit einer ordentlichen Portion Humor holt sie die Generationen an einen Tisch und zeigt, wie ein moderner Feminismus aussieht, in dem man Fragen stellen darf und der Debatte zulassen kann. Ganz getreu dem Motto: »Allem Zauber wohnt ein radikaler Anfang inne.«

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Aus Gründen des Personenschutzes sind einige Namen und Ereignisse so verfremdet worden, dass die darin handelnden Personen nicht erkennbar sind.

Copyright © 2023 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

»Die Zeiten gendern sich« ist eine eingetragene Wort-Bildmarke und rechtlich geschützt. Dieses Werk gibt die Meinung der Autorin wieder, nicht der Organisation Pinkstinks

Umschlag: ZERO Media GmbH, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30130-9V002

www.koesel.de

Inhalt

Einleitung

EINSUnsere Generationen im Clinch – und warum das schon immer so war

ZWEIOlympiade der Diskriminierung – wer hat heute eigentlich die meisten Privilegien?

DREI#MeToo – wird heute etwa alles gecancelt?

VIERSexismus in der Werbung – von Kampf zu Kooperation

FÜNFGendersprache nervt!

SECHSAlle reden von Geschlecht – aber was ist das überhaupt?

SIEBENWie schlichten wir den Streit um Transrechte?

Schluss

Dank

Über die Autorin

Quellen und Anmerkungen

Einleitung

Was ist heute eigentlich los mit dir, Feminismus?

Mal im Ernst: Der heutige Feminismus ist ein einziges Gemetzel. Rechts und links gibt es scharfe Worte, Freundschaftskündigungen, Abgrenzungen und Grabenkämpfe. Muss das sein? »Seufz«, denke ich mir, anscheinend ja, leider. Denn bei Auseinandersetzungen innerhalb der Frauenbewegung geht es vor allem um unsere eigene Identität, unsere Identität als Frauen. Die Frage, wer wir sind, wie wir leben wollen und was »uns Frauen« ausmacht oder ausmachen sollte, bestimmt oft unsere Meinung darüber, was feministisch also – für uns Frauen – ist, und was nicht. Damit wird verständlich: Was die eine als Errungenschaft für Frauen empfindet, mag eine andere als Zumutung ansehen.

Vor allem ältere Frauen, deren Kinder langsam erwachsen werden oder es schon sind, schauen manchmal ratlos auf die vielen Entwicklungen. »Ganz ehrlich«, denkt die eine, »ich habe immer als Ärztin gearbeitet und mein eigenes Geld verdient. Ich habe mich aber nie diskriminiert gefühlt, weil es nicht ›Ärzt*innenkammer‹ heißt. Was soll dieser Gendersprache-Blödsinn neuerdings?« Die Nächste fragt sich: »Ich bin immer gegen sexualisierte Gewalt auf die Straße gegangen. Aber mit #MeToo gehen die zu weit: Männer dürfen gar nichts mehr sagen! Das ist mir jetzt echt zu doll.« Und auch Frauen, die eher traditionelle Rollenmuster leben, sehen manches skeptisch. »Na super«, meint die eine oder andere, »früher waren wir mindestens drei Jahre zu Hause bei den Kindern – jetzt stressen sich die jungen Frauen ab und geben ihre Säuglinge schon nach sechs Monaten in die Kita. Ist das so schlau? Ich war gerne Hausfrau, heute ist das verpönt!«

Sie finden sicher noch sehr viel mehr Themen, über die sich ältere und jüngere Frauen heute streiten. Ob eine Frau beispielsweise die ungehinderte Ausübung von Sexarbeit unterstützt, hängt oft mit ihrem Alter oder ihrer Sozialisierung zusammen. Frauen finden eher, dass Sexarbeit ein Beruf wie jeder andere ist, wenn sie Sexualität nicht nur als etwas sehr Privates empfinden, sondern auch als Dienstleistung denken können. Wer mit Lifestyle-Magazin-Titeln à la »Ich bin eine Sexarbeiterin, na und?« oder »One-Night-Stand leicht gemacht« groß geworden ist, hat oft ein anderes Verhältnis zu Sexualität als jene, die sich nie vorstellen könnten, mit einem Fremden intim zu sein. Hier geht es nicht um ein Urteil darüber, was nun die »richtige« Einstellung zu Sexualität ist. Die unterschiedlichen Sichtweisen wirken sich aber oft auf die Bewertung aus, ob Sexarbeit per se Gewalt an Frauen sei oder nicht.

Ebenso zerkriegen sich Feministinnen heute gerne über die Frage, ob Muslimas Kopftuch tragen sollten. Ist dieser islamische Brauch ein Instrument der Unterdrückung und Gewalt – oder der religiösen Freiheit und Selbstbestimmung? Die Antwort ist oft abhängig davon, ob man selbst Hijab-Trägerin ist oder Freundinnen hat, die ihr Kopftuch lieben, oder ob man Kontakt zu einer oder mehreren Frauen hat, die als Mädchen gezwungen wurden, Kopftuch zu tragen. Und sie hat damit tun, wie viel und mit welcher Literatur man sich mit der eigenen Rolle als weiße Frau, die über als »migrantisch« gelesene Frauen urteilt, beschäftigt hat. Auch hier sind oft Altersunterschiede zu erkennen. Häufig sind es Frauen einer jüngeren Generation, die sich dagegen aussprechen, Kopftücher in bestimmten Institutionen zu verbieten, weil sie das als rassistisch und übergriffig wahrnehmen. Selbstredend empfinden sie ihren Feminismus als den »richtigeren« und grenzen sich oft gegen die von ihnen als »alt-feministisch« bezeichnete Generation ab.

Die Positionen zwischen den beiden Generationen könnten heute unterschiedlicher kaum sein. Je mehr wir uns uneins sind, desto stärker verhärten sich indes die Fronten. »Seufz«, denke ich mir da wieder, denn irgendwie scheint sich in dieser Art, die Auseinandersetzung zu führen, nicht viel zu bewegen. Dabei wollen wir das doch alle – etwas bewegen, für uns Frauen und für uns alle als Gesellschaft. Gibt es nicht einen Weg, auf dem wir gemeinsam vorankommen können? Einen Weg, raus aus dem »Ich weiß alles besser«, das es uns so schwer macht, miteinander ins Gespräch zu kommen?

Wir Alten wissen es besser! Ist das so?

Ich frage mich, was mit mir passiert ist, seit ich als junge Studentin bedingungslos feierte, dass Menschen Geschlechtergrenzen überschreiten. Ich las die revolutionäre Genderphilosophin Judith Butler, schrieb meine Doktorarbeit über sie und erklärte darin, dass Geschlecht unordentlicher und komplizierter ist, als in Klischees und Büchern wie Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus gern behauptet wird. Heute, über zwanzig Jahre später, sehe ich manches anders. Ich bin kritischer. Ich feiere nicht mehr alles, worauf ich einmal schwor, und manchmal recke ich bockig mein Kinn gen Himmel, polarisiere und übertreibe ins Konservative, weil ich von manchen heutigen Positionen sehr genervt bin. Um es klar zu sagen: von feministischen, linken Positionen. Von derselben feministischen Linken, die ich gegen meine Eltern einst vehement verteidigte. Überhaupt geht mir »woke«, die aktuelle Bezeichnung für politisch-korrekt, manchmal unfassbar auf den Zeiger.

Wenn mir bei einer Konferenz oder Veranstaltung, auf der ich rede, mal wieder gesagt wird, dass beim Mittagssnack »natürlich alles vegan« ist, sage ich meist kühl: »Oh, schade!«, und bekunde fast kindisch, dass ich viel und gerne Fleisch esse. Biofleisch! Aber eben dennoch CO2-pupsende und oft niedliche Tiere, die ich zur Not auch selbst erlegen würde, wenn es sie nicht mehr bequem im Kühlregal zu kaufen gäbe. Dabei war auch ich als junge Frau überzeugte Vegetarierin – später sogar militante Veganerin. Zwanzig Jahre lang rührte ich kein Fleisch an und verstand nicht, warum andere es tun: Wir müssen doch die Welt retten! Heute sehe ich überall vegane Cafés und mache mir Sorgen um die bleich wirkenden jungen Menschen, zu denen auch ich einst gehörte. Und gleichzeitig gehen sie mir mit ihrem unreflektierten Nachgeplapper dessen, was ihnen »woke« erscheint – und was gefühlt alle in ihrer Generation sagen, die urban, hip und nachhaltig leben wollen –, manchmal irre auf die Nerven. Ich denke, damit bin ich nicht allein.

Man nennt das sicher älter werden. Vielleicht Generationenkonflikt. Ich höre mich zu meinen jugendlichen Kindern heute Sätze sagen, mit denen meine Eltern mich damals zur Weißglut brachten, und fühle mich grässlich dabei. »Geh du erst mal arbeiten!«, »So schlimm ist Kapitalismus nun auch nicht!« und »Sag mal, weißt du eigentlich, was der Kommunismus in der Welt so angerichtet hat?« Wenn ich mich derart zur jüngeren Generation abgrenze, die mich und viele von uns Älteren irritiert, passiert mit mir nichts anderes als das, was sie in Bezug auf mich spürt: Ich möchte nicht vereinnahmt werden. Ich möchte nicht die Kontrolle und Selbstbestimmung über mein Leben verlieren. Diese Selbstbestimmung haben auch wir älteren Erwachsenen einst mit harten Pubertätskämpfen und konsequenten Abgrenzungen errungen. Ich möchte gesehen werden! Mit meinen Erfahrungen, meinem Widerstand, mit dem, was ich als mein Wissen und meine Kompetenz erachte. Ich lebe nicht in der Haut der heutigen jüngeren Generation, ich bin in einer anderen »Bubble«. Auch wir Älteren haben jedoch berechtigte Sorgen und Standpunkte. Ich habe länger studiert, mehr gelesen, mehr gelebt und mehr gekämpft als die »Ich-habe-Pride-Socken-von-H&M«-Kids, die heute meinen, alles besser zu wissen. Das klingt sicher furchtbar arrogant und stur. Gleichzeitig aber glaube ich, dass wir uns gegenseitig bereichern können – wenn wir uns gut zuhören. Ich meine sogar, dass diese anstrengende neue Generation, die radikal fordert, an unseren Grundfesten rüttelt und über die sozialen Netzwerke in die Medien drängt, gehört werden muss. Ich sehe nämlich Glitzer hinter dem Regenbogen, und der ist für uns alle da. Wenn wir uns mehr austauschen, langsamer vorgehen und Kompromisse finden.

Mit dem Alter kommt nicht nur genervtes Augenrollen, sondern auch Verantwortung. Ich bin keine Teenagerin mehr. Das Privileg der Jugend, sich brutal abzugrenzen, einfach rauszuhauen, was man fühlt und denkt, habe ich im Lauf des Erwachsenwerdens verloren. Ich habe mit der Gründung und dem zehn Jahre dauernden Aufbau der feministischen Bildungsorganisation Pinkstinks und als häufige Interviewpartnerin für Genderthemen eine hohe mediale Reichweite erlangt und damit die ethische Pflicht, meine Einstellung – meine Genervtheit – zu hinterfragen und auf den Prüfstand zu stellen. »Leider!«, sagt das bockige Kind in mir. Viel zu oft stöhne ich dieser Tage ungeduldig auf, ein Phänomen, das Leserinnen in den Wechseljahren sicher gut kennen. Aber zum Glück ist mir neben der trotzigen und berechtigten Wut, die Frauen um die fünfzig oft empfinden, eigen geblieben, dass ich doch noch irgendwie »die Welt retten« oder wenigstens dabei helfen möchte. Der ungestüme Drang der Jugend konzentriert sich im Alter aufgrund schwindender Energie jedoch auf eine realistische Einschätzung dessen, was man als Individuum zum Fortschritt der Gesellschaft beitragen kann und will. Auf Fleisch verzichten, das haben wir schon mal festgestellt, wird es bei mir nicht sein. Was dann?

Ich möchte einen Diskurs zum Thema »Gender« zwischen festgefahrenen Positionen anstoßen: einen produktiven Dialog zwischen Jung und Alt, konservativ und progressiv. Ich möchte, dass wir ins Reden kommen und sich jede und jeder zu Wort melden darf. Um dafür eine Grundlage zu schaffen, möchte ich ein paar überraschende Tatsachen und komplexe Realitäten aus der modernen Genderforschung gerne so erklären, dass niemand Kopfsalti machen muss, um sie zu verstehen, sondern sie begeistert beim Einschlafen lesen kann. Und zwar nicht nur entspannt, sondern auch ohne sich streng belehrt zu fühlen. Wenn ich das hinbekomme, kann ich vielleicht etwas bewirken im Streit zwischen den Generationen, zwischen »woke« und »klassisch«, zwischen Alt und Neu.

Was will die mir eigentlich erzählen?

Manche kennen mich vielleicht als »die Genderforscherin aus den Medien«. Dabei wissen vermutlich nur die Wenigsten, was mich antreibt. Mir war es als Kind immer wichtig, dass sich alle lieb haben und nicht streiten. Solange ich denken kann, bin ich Vermittlerin – die typische Rolle, in die Mädchen noch immer hineinerzogen werden. Als Deutsch-Britin und damit Zwei-Kulturen-Kind (meine beiden Großväter kämpften im Krieg an gegenüberliegenden Fronten), musste ich zudem meinem deutschen Umfeld die britischen Eigenarten erklären und umgekehrt. Angewiderte Gesichter beim Geruch meiner Marmite-Pausenbrote in meiner Hamburger Schule hielt ich so wenig aus wie die »scherzhaft gemeinten« Naziwitze und Hitlergrüße meiner britischen Cousins, wenn sie mich in England wiedersahen. So war ich stets um Transfer und Austausch bemüht: Meine beste deutsche Freundin lernte, gebackene Bohnen auf Toast zu lieben, und meine Familie in England verstand irgendwann, dass wir Deutschen von unserer Vergangenheit traumatisiert sind.

Als ich älter wurde, blieb die Überbrückung verschiedener Wissensstände mein Thema. Meine Eltern hatten Realabschluss, ich jedoch durfte studieren – eine Welt, die ihnen fremd war. Vermutlich öfter als Akademikerkinder musste ich die Frage beantworten: »Und, was machst du dann damit? Wozu braucht man das?« Bei jeder Hausarbeit hatte ich meine Eltern im Sinn und versuchte so zu schreiben, dass sie mitlesen konnten – und meine Mutter las tatsächlich bis zur Doktorarbeit mit. Auf diese Weise habe ich früh erlebt, dass es möglich ist, Verbindungen zwischen entfernten Welten zu schaffen. Vielleicht ist es deshalb auch heute noch meine Überzeugung, dass wir uns besser verstehen könnten: Hauptschulabsolventen und Studierte, Linke und Liberale, Land- und Stadtbevölkerung, Norden und Süden, Osten und Westen. Wenn wir uns alle etwas anstrengen und uns gegenseitig unsere Welten erklären. Weil ich keine alte, verbitterte Tante werden möchte und trotzdem das Recht behalten will, meine Meinung kundzutun, möchte ich mich um genau dieses Verständnis jetzt und hier weiter bemühen! Mit diesem Buch.

Manche werden mir schon zuhören, wenn ich sage, dass ich aus meiner Position als Genderforscherin versuche, Verständnis zu fördern. Andere fragen vielleicht: »Genderforschung? Ist das nicht eine Ideologie? Klar meint die, dass sie etwas zu sagen hat: Ihre ›Sekte‹, die Genderstudies, hat ja eine sehr eigenwillige Vorstellung von der Welt!« Nun, ich bin in keiner Sekte, das kann ich Ihnen versichern. Die Genderforschung ist zunächst nicht gleichbedeutend mit Feminismus, sondern ein Sammelbegriff für verschiedene wissenschaftliche Studienbereiche und -ergebnisse, die sich mit Geschlechterrollen beschäftigen. Man könnte nun fragen: »Aber wo kommen die Daten her, warum ändern die sich so häufig? Wie viel absoluter Erkenntniswert wie aus den Naturwissenschaften, etwa der Biologie, steckt da drin?« Tatsächlich gibt es auch in der Biologie immer wieder Studien, die miteinander im Clinch liegen. Ich werde Ihnen hier verschiedene Datengrundlagen vorstellen, sie mit meinen Erfahrungen aus zehn Jahren Aktivismus anreichern und auch meine eigene Forschung als Dozentin in der Genderforschung einfließen lassen. Zudem möchte ich aufzeigen, wo die Forschung vielleicht in einigen Jahren hingehen könnte. Jede feministische Haltung, die wir aus Studien, Theorien und Erfahrungen ableiten, ist eine Ideologie, richtig. Genau wie der Kapitalismus eine Ideologie ist, der Liberalismus und auch der Konservatismus. Ihnen bleibt komplett selbst überlassen, sich die Faktenlage anzuschauen und meinen Empfehlungen zu folgen, oder auch nicht. Ich bitte sogar darum: Nur, wenn wir alle immer wieder überprüfen, was wir meinen, und uns nicht gegenseitig oder den Medien etwas nachsabbeln, kommen wir kommunikativ voran. Genau das ist mein Angebot an Sie: sich selbst ein Bild zu machen, ohne sich gleichzeitig mit Ihren Kindern, Freundinnen oder Arbeitskolleginnen anschreien zu müssen. Vielleicht können Sie nach der Lektüre, ermächtigt durch neues Wissen, ruhiger in die nächste Diskussion gehen oder einfach nur für sich entspannter verfolgen, was »die jungen Menschen« da fabrizieren. Ganz einfach deshalb, weil das ewige sich Aufregen anstrengt und das erbitterte Kämpfen um Meinungen noch mehr – und wir es vielleicht auch ganz entspannt vermeiden können, um zu besseren Ergebnissen zu gelangen.

Polarisieren ist zu einfach!

Wenn wir die gegenüberliegenden Positionen, die hier vorgestellt werden, besser verstehen würden, und anschließend zu Kompromissen und damit Konsens kämen, wäre das ein Sechser im Lotto. Wie viele Menschen wünsche ich mir einen Feminismus, auf den wir uns alle einigen können. Eine Politik für LGBTQI, die niemanden wütend macht. Einen Umgang mit Sprache, bei dem niemand »Zensur!« brüllen muss. Wie genau aber bekommen wir es zwischen den Generationen und verschiedenen Meinungen hin, einen Konsens zu finden? Wie schaffen wir es, im breiten Spektrum der verschiedenen Sichtweisen die Welt besser zu machen und uns nicht zu zerfleischen?

Indem wir erst mal tief durchatmen. Und lernen, uns nicht ständig aufzuregen. Auch wenn wir – gestresst, wie die meisten sind – gerade das so gerne tun. Es macht höllisch Spaß, anzugreifen, zu keifen, die Genervtheit und den Stress rauszulassen. Aber wenn man mir erst einmal eine vernünftige, eiweißreiche Mahlzeit (das muss kein Steak sein, ich nehme auch Quark!) gereicht und meinen Blutzucker stabilisiert hat, bin ich für meinen Teil auch bereit, ausgewogen übers Fleischessen zu reden. Dann gebe ich gerne zu, dass wir ein noch deftigeres Methan-Problem hätten, wenn alle so viel Hack essen würden wie ich. Bis künstliches Fleisch klimaneutral aus dem 3-D-Drucker kommt (fände ich super!), müssen wir um Lösungen zum CO2-Verbrauch ringen. Da müssen Profis ran. Nur weil ich Fleisch esse, heißt das nicht, dass ich mich nicht informieren muss, wie ich sonst noch CO2 reduzieren oder wen ich wählen kann, der oder die sich politisch um CO2-Reduktion kümmert. Zum Glück gibt es Menschen, die sich da auskennen: Ich bin es jedenfalls nicht. Das gebe ich sehr gerne zu.

Ich hoffe, nachdem ich jetzt meine Meinung zu Treibhausgasen kundgetan habe, bucht mich niemand für eine Talkshow zum Veganismus. Überraschen würde es mich nicht. Zu Themen wie Gendersprache oder Sexismus lädt man gerne Leute wie Harald Martenstein oder Sophia Thomalla ein, die sich, wie ich finde, damit wohl ähnlich gut auszukennen scheinen wie ich mit CO2-Reduktion. Ich habe den Eindruck, dass sich Meinung und Empörung grandios verkaufen – Wissen hingegen weniger. Zu den Themen geschlechtliche Vielfalt, Feminismus, Gendersprache, »Cancel Culture« oder »alte weiße Männer« sind andere Personen als die genannten besser geeignet, Lösungen anzubieten. Expertinnen zum Beispiel, Menschen, die Positionen ausgewogen präsentieren können und weniger auf Meinung und Empörung als vielmehr auf Tatsachen setzen. Aber was bleibt im Geflacker der Nachrichten wohl eher hängen: »Winnetou gecancelt: Dieter Hallervorden verteidigt die Abendlandkultur« oder »ZDF-Lizenzabteilung erklärt nüchtern, aus welchen ökonomischen Gründen Winnetou nicht mehr ausgestrahlt wird«? Da ist es wieder, mein Seufzen. Ich habe in der Genderforschung gelehrt und über zehn Jahre Erfahrung als Aktivistin. Aber die wenigen Male, die ich in die ganz großen Talkshows eingeladen war, informierte man mich vorweg, welchen »Diskussionspart« man von mir erhoffte: den der radikalen Feministin, die unerbittlich Extreme fordert. Da ich das jedes Mal im Vorhinein ablehnte, war – huch! – die Verwunderung groß. Ich werde viel für Radio- und Fernsehbeiträge angefragt und bekomme oft die Enttäuschung der Redaktionen mit, wenn ich nicht so polarisierend argumentiere, wie von mir – ich bin ja immerhin Genderforscherin! – erwartet wurde. Was mich nicht davon abhält, weiter ausgewogen zu bleiben und mich dafür einzusetzen, dass sich alle Seiten besser verstehen. Wenn mir meine langjährige Arbeitserfahrung im Feminismus eines gezeigt hat, dann, dass wir nicht weiterkommen, wenn wir uns nicht um echten und zugewandten Austausch bemühen.

Wir leben heute immer mehr in isolierten Blasen. Der anonyme Ton in den sozialen Netzwerken wird spürbar rauer und wir haben Angst oder auch einfach nicht die Muße, uns mit den uns gegenüberstehenden Argumenten zu beschäftigen – weil sie oft so fordernd vorgetragen werden, dass sie uns verletzen. Dann bauen wir unsere Identität noch fester um unsere Gegenhaltung. Je fester diese Mauer wird, desto weniger können wir einander aber hören, geschweige denn einander zuhören. Das kann so nicht weitergehen.

Wir müssen Ängste ernst nehmen

Ich habe viele Jahre sehr laut Kampagnen gegen Sexismus und für Geschlechtervielfalt gemacht und gemerkt, dass wir, die wir uns in diesen Punkten einig sind, immer mehr werden. Aber auch die Gegenseite wird immer größer. Und zwar je mehr wir meinen, im Recht zu sein. Was wir aber am allerwenigsten hören möchten: Wir haben tatsächlich alle ein bisschen recht, von unseren jeweiligen Positionen aus. Das auszuhalten und für uns alle einen Raum im Wahrheitsdschungel zu finden, ist die große Herausforderung unserer Zeit. Dieses Nebeneinander kann nur klappen, wenn wir uns nicht in Wut begegnen, sondern in der Akzeptanz, dass jeder Mensch eigene Erfahrungswelten, Schmerzen und Bedürfnisse hat, und vor allem: riesige Angst. Angst, überrollt, nicht gesehen zu werden, nicht mitbestimmen zu dürfen.

Manche dieser Ängste sind sehr real. Sofern sie sich auf Genderthemen beziehen, möchte ich sie in diesem Buch vorstellen und ihnen Raum geben. Denn nur, wenn wir diese Ängste aufzeigen, aussprechen dürfen und akzeptieren, können wir aus ihnen produktive Dialoge generieren. Dass Angst immer die Sicht für andere Bedürfnisse und echten Austausch versperrt, mehr spaltet als eint, hat uns die Corona-Pandemie exemplarisch aufgezeigt. Als Pandemie-Mutter musste ich wütend aushalten, dass die meisten Wählenden in Deutschland über sechzig sind und damit andere Prioritäten haben als meine und jüngere Generationen. Die Älteren sind einfach die Mehrheit. Um diese Mehrheit zu schützen und weil man es als notwendig empfand, durften Kinder monatelang nicht in die Schule. Sehr viele Kinder in meinem Umfeld, dem kinderreichen Hamburger Stadtteil Eimsbüttel (der deutschlandweit mit die striktesten Maßnahmen und längsten Schulschließungen hatte), wurden psychisch krank oder brachen die Schule ab.1 Ich habe so viel Leid unter Jugendlichen mitbekommen, dass ich mich als Mutter gemeinsam mit anderen Eltern und Publizistinnen an wütenden Presseaktionen und Hashtags wie #coronaeltern beteiligte. Aber sie brachten nichts: Die Schulen blieben zu lange zu, Therapieplätze waren nicht mehr zu bekommen und Bildungslücken konnten bis heute nicht geschlossen werden. Wie, um Himmels willen, konnte das jemand zulassen? Meine Wut war unermesslich.

Aber wie hätte ich mich als vorerkrankte ältere Frau in dieser Zeit gefühlt? Wie wäre meine Position dann gewesen? Wie hätte sie als Verantwortung tragende Politikerin ausgesehen? Ich kann nicht wissen, wie sich ein anderes Leben mit anderen Erfahrungen und Einstellungen anfühlt. Ebenso wenig kann ich wissen, wie es ist, panische Angst vor einer Impfung oder – trotz Impfung – der Ansteckung mit Omikron zu haben, aus welchen Gründen auch immer. Denn wie real und bedrohlich so eine Angst ist, das erlebt nur die betroffene Person selbst. Die Frage ist: Können wir Angst einfach automatisch mit borstiger Antihaltung gleichsetzen? Ist das nicht zu einfach?

Wenn wir uns die letzten Jahre anschauen, müssen wir wohl eher zugeben, dass Ängste in Umbruchsituationen vollkommen normal sind und vor allem eins: menschlich. Viele Ältere erleben die aktuellen Diskussionen um geschlechtliche Identitäten und Gendersprache als eine solche Umbruchsituation. Dies überhaupt anzuerkennen, kann eine gute Gesprächsgrundlage schaffen und den Boden dafür bereiten, den Ängsten Aufklärung entgegenzusetzen. Damit wäre ein wichtiger Schritt getan. Und vielleicht ist der Jugend nach ihren persönlichen Erfahrungen in der Pandemie das Gefühl der Unsicherheit auch gar nicht so fremd, wie wir manchmal vorschnell denken.

Mehrere Wahrheiten gleichzeitig aushalten

Um in den großen Grabenkämpfen unserer Zeit voranzukommen, sind in meinen Augen zwei Dinge besonders wichtig. Beide sind unheimlich unbequem und schwer auszuhalten. Vielleicht verkaufen sie sich auch deshalb medial eher schlecht. Zum einen sollten wir uns immer wieder bewusst machen: Wir sind nicht Gott. Wir können nicht alles wissen und alle verstehen. Statt in ihren Schlagzeilen heute diese und morgen jenen zu verteufeln, müssten Medien schreiben: »Wir wissen es doch auch nicht!« Wer will das schon lesen? Dafür kaufen wir nicht die Bild-Zeitung oder andere Blätter, die gerne auf Empörung setzen. Wir können selbstverständlich ehrlich sagen, dass uns die Bedürfnisse anderer nicht interessieren, weil wir unsere Belange als wichtiger erachten. Etwa so: »Dann kollabiert halt die Welt – Hauptsache, ich bekomme mein Fleisch!« oder: »Dann können Frauen in Deutschland halt zunehmend schwieriger ungewollte Schwangerschaften abbrechen, ist doch nicht mein Problem!«

In einer Welt mit fast acht Milliarden Menschen können wir uns dieses gegenseitige Desinteresse jedoch nicht leisten. Das bringt uns nicht weiter. Denn irgendwo knallt es immer, wir geraten aneinander, und dann betreffen uns die Themen doch. Sei es, dass die Enkeltochter mit uns über Transfeindlichkeit diskutieren möchte oder sich als nicht-binär outet. Oder der Sohn verlässt seine Ehefrau und stellt seinen neuen Freund vor. Oder die Nachbarin, die immer so nett meine Blumen gießt, wenn ich in den Urlaub fahre, erzählt, dass sie sich beruflich für die Rechte von Sexarbeiterinnen einsetzt. Wie gehe ich damit um? Muss ich das überhaupt? Gibt es in allen Fällen nur eine einzige richtige Haltung – oder kann ich meine Sorgen haben, aber trotzdem unterstützen und in wohlwollender Verbindung mit den jeweiligen Menschen sein? Wenn wir es schaffen, gemeinsam und auch jede und jeder für sich Wege zu finden, mehrere Wahrheiten zu balancieren und uns trotzdem verständnisvoll zu begegnen, können wir eine nachhaltigere Welt bauen: nicht zuletzt für unsere Kinder und Enkelkinder – und eine Welt, in der genug Raum für uns und unsere Fragen, Sorgen und Zweifel ist.

Der zweite Punkt, den wir dringend bewegen müssen, ist eng mit dem ersten verknüpft: Wir müssen über Privilegien sprechen. Können wir immer klar sagen, wer es besser hat als wir? Den meisten von uns ist bewusst, dass eine weiße Frau die Mehrfachdiskriminierungs-Erfahrungen einer Schwarzen oder BIPoC-Frau nie nachempfinden kann.2 Wenn es aber um Jung und Alt geht, haben beide Generationen dieselbe feste Meinung, wer schlechter dran ist: »Wir!« Als junge Menschen meinen wir arrogant, dass wir für die alten Menschen mitdenken können oder es besser wissen als sie, während wir als alte Menschen ganz und gar vergessen haben, was es bedeutet oder wie es sich anfühlt, jung zu sein.

Drücken Sie deshalb dieses Buch gerne der jüngeren Generation in die Hand. Auch wenn diese vieles beiseitewischen wird, weil es für die Jugend nun mal immer stürmisch zugehen muss, kann es sein, dass sie etwas mitnimmt: »Ach so, auch als erwachsener Mensch fühlt man sich manchmal machtlos!« Jugend interessiert sich selten für die Weltsicht Älterer, davon hat sie genug, und sie wurde ihr jahrelang in der Kindheit gepredigt. Jetzt wollen sie ihre eigene entdecken. Deshalb liegt es leider eher an uns Älteren, mehr Verständnis für die Jugend zu entwickeln – und der Frieden, den wir damit in diesem verkeilten Kampf gewinnen können, sollte es wert sein, aus unseren festen Gehäusen hervorzulugen und uns für ihre inneren und mit dem Außen geführten Kämpfe zu öffnen.

Die Wucht der Jugend: Unser Job, das Beste draus zu machen!

Das gegenseitige Nicht-Sehen von Jung und Alt hat mit Wut und Verletzung zu tun. Junge sehen Ältere automatisch als privilegierter als sich selbst. Ganz unrecht haben sie damit nicht, denn die Alten haben meistens mehr Geld und damit mehr Autonomie und Macht. Sie sind eben Eltern. Oder Teil der Elterngeneration. Also ehemalige Bestimmer und ewige Besserwisser. Ich schreibe das bewusst in männlicher Form, weil: Eltern sind, von der Jugend aus gesehen, das Patriarchat! Die müssen weg. Damit die Jungen vorankommen können.

Eltern sehen das ganz anders. Wir wollen meist gar nicht alt sein. Und wir fühlen uns häufig gar kein bisschen privilegiert. Schon gar nicht finden wir uns mächtig, wenn es darum geht, den Haushalts- und Arbeitswahnsinn wuppen zu müssen und gleichzeitig den Wunsch zu verspüren, unserem Kind auch abends um 23 Uhr noch aufmerksam zuzuhören, weil es auf einmal und endlich von seinen jugendlichen Sorgen berichtet. Wir fühlen uns auch wenig mächtig, wenn wir sehen, dass wir in medialen Trends nicht mehr vorkommen und keine Ahnung haben, worüber die Kinder am Abendbrottisch in Windeseile reden.

Wir wollen weiterhin von den Kindern als allwissende und allerbeste Schutzzonen der Welt gesehen werden, wie damals, als die Kleinen abends noch auf den Schoß gekrabbelt sind und eine Geschichte vorgelesen haben wollten. Eltern haben um die 15 Jahre nur für diese Liebe und ihre Kinder gelebt, und auf einmal sind sie oft Hassobjekte, machen alles falsch, werden argwöhnisch hinterfragt. Das bedeutet für uns ab einem gewissen Punkt eine radikale und massive Veränderung unseres Weltbilds und unserer Selbstwahrnehmung. Da ist es nur verständlich, dass manchmal das pubertäre Gefühl von Kontrollverlust und Ohnmacht im Älterwerden wiederkehrt und wir einfach keinen Nerv für ein Sich-gegenseitig-Sehen haben.

Das hat vor allem dann seine Berechtigung, wenn der Ton der Jugend so rau daher kommt, wie es heute in Zeiten von anonymem und ungezügeltem Social-Media-Gezanke häufig der Fall ist. Meine Eltern sind früh gestorben und oft denke ich heute: Ach, hätte ich ab dem Teenie-Alter doch nicht immer nur gegen sie gekämpft. Hätte ich meinem Vater nicht mal danken können für seine unendlich langen Arbeitstage, damit ich studieren gehen konnte? Musste ich meiner Mutter ständig das Gefühl geben, dass sie eh nicht versteht, wie es mir geht? Genau diese Verhaltensweisen sind leider das tatsächliche Privileg der Jugend. Rotzig sein, es besser wissen, trotzig und unbeholfen ein stark empfundenes Gefühl raushauen können, auch wenn es nicht genau belegt werden kann: »Das ist aber so, steht im Internet!« oder »Hat Fritz bei der letzten Demo gesagt, da gibt’s Studien zu!«

Wenn wir der Jugend etwas mehr Spielraum im Ausprobieren zubilligen, darauf vertrauen, dass sie uns trotzdem braucht und lieb hat, könnten wir ein ganzes Stück vorankommen. Abgrenzung gehört zum Leben und Großwerden dazu wie die Luft zum Atmen. Trotzdem müssen wir auch über Privilegien sprechen, über Studien und Lebensrealitäten, und vor allem über Sichtweisen: unsere eigenen – und die der anderen Seite. Deshalb ist dieses Buch der Versuch, die feministischen Debatten unserer Zeit aus den Generationen und Kulturen heraus zu erklären. Es wird viele »Ja!«s geben, je nach Standpunkt. Ich möchte nicht denselben Fehler machen, den viele Debatten in Feminismus und öffentlichem Diskurs in der Vergangenheit gemacht haben und so einseitig argumentieren, als ob es nur eine Wahrheit gäbe. Damit verdient man vielleicht mehr Geld und macht klare rechte oder linke Politik, aber Einseitigkeit langweilt mich. Die Welt ist viel zu komplex für Vereinfachungen.

Deshalb ist dieses Buch ein beherztes Plädoyer dafür, sich dafür zu öffnen, Neues zu erfahren – egal, ob man eher links steht oder konservative Positionen vertritt. Ohne dass man in seinem Standpunkt abgewertet wird. Gerade deshalb ist es auch eine Einladung, unser »Die spinnen ja wohl!« loszulassen und zu vertrauen: Das Neue kommt immer mit etwas mehr Wucht, als uns lieb ist, das stimmt. Vieles am Neuen kann jedoch sinnvoll sein. Lassen wir uns ein!

Ihre Stevie Schmiedel

Unsere Generationen im Clinch – und warum das schon immer so war

Töchter und Mütter in Konkurrenz

Als Sigmund Freud 1923 über die Konkurrenz zwischen Müttern und Töchtern schrieb, wusste er nicht, dass das ganz große Gemetzel noch bevorstand. Mehrere Male in den nächsten hundert Jahren sollten die Töchtergenerationen versuchen, ihre Mütter zum Verstummen zu bringen oder wenigstens zu übertönen. Nicht nur gab es in der feministischen Forschung verschiedene widerstreitende Strömungen, wie marxistische, psychoanalytische oder post-strukturalistische Ansätze. Auch jenseits der Wissenschaft, in unserem ganz normal gelebten Alltag, rollte vermutlich jede junge Generation über die jeweilige feministische Altersgruppe vor ihr die Augen. Großes Mütter-Bashing betrieb zum Beispiel meine Generation, die »Generation X« oder »Golf«. Wir 80er-Jahre-Teenager aus Westdeutschland feierten im Phänomen der »Popper« Markenkleidung und Kapitalismus und fanden »Ökos« und Feminismus hoch lästig: Sie verdarben uns den Spaß, den es dringend gegen unsere kriegstraumatisierte, ständig ernst und politisch daherredende Elterngeneration zu verteidigen galt. Ihr hielten wir entgegen: »Oh Mann, Frauen sind doch längst gleichberechtigt! Schaut doch mal Madonna an!« Zugegeben, von ihr wendeten wir uns selbst kurz darauf alle etwas beschämt ab, als sie sich immer jünger operierte. Vierzig Jahre später haben auch wir kapiert, dass selbst eine Madonna nicht alt werden durfte. Und wir verstehen mittlerweile doch viel von dem, was wir am Nonkonformismus der feministischen Lila-Latzhosen-Generation der 70er einst mächtig bekloppt fanden. So schaffen es Töchter nicht immer, und vor allem nicht nachhaltig, die Stimmen und Meinungen ihrer Mütter komplett auszulöschen: Ein Teil von deren Erbe fließt weiter durch die Generationen. In jeder wird von Neuem ausgehandelt oder besser – darüber gestritten –, was erhalten bleiben soll.

Auch aktuell gibt es wieder Zoff. Die ab Mitte der 1980er-Jahre zur Welt gekommenen Millennials, auch genannt »Generation Y«, grenzen sich scharf nach oben ab. Unterstützt werden sie von der »Generation Z« der zwischen 1995 und 2010 Geborenen, die noch zur Schule gehen oder studieren. Zurzeit werden Übermütter wie J. K. Rowling, Bette Midler oder Martina Navratilova auf Twitter beschossen. Wie schon so oft geht es darum, wer unter den Schutzmantel des Feminismus gestellt werden soll und wie. Gehören trans Frauen dazu? Und wenn ja, wie weit? Hier scheinen es eher ältere Frauen der Generation X zu sein, die oft eine andere Vorstellung vom Frausein haben als die jungen. Doch wer trans Frauen nicht als Frauen akzeptiert, ist auf den von jungem Aktivismus geprägten Social-Media-Kanälen Persona non grata, wird auf Twitter blockiert oder mit On- und Offline-Protesten am Vortragen an Universitäten gehindert.3 Löscht eine Blockade eine Meinung aus? Nein. Die Auseinandersetzungen gehen anderswo weiter. Das ist auch gut so. Denn diese Konflikte sagen viel aus über unsere Entwicklung, über neue Erkenntnisse und über den intellektuellen Konsens einer Gesellschaft. Sie zeigen auf, wo Brandherde sitzen, die sich unbearbeitet großflächig ausbreiten können – und das wäre nicht gut. Sie zeigen auch, wo wir noch dringend im konstruktiven Austausch nachbessern müssen. Diese immer wiederkehrenden Debatten legen zudem etwas über unser Verhältnis zueinander offen: Neben der inhaltlichen Ebene scheint es auch eine psychologische Ebene zu geben, eine Art universelles Gesetz, dass sich die Jugend unweigerlich an der älteren Generation reiben muss. Ist das so?

Jede Generation will los von Mama!

Was wusste Sigmund Freud vor gut hundert Jahren, was wir nicht wissen? Kann er uns sagen, warum sich jede feministische Generation von Ideen der vorangegangenen lossagen will? In seinem Werk Das Ich und das Es versucht er das Phänomen strukturell zu erklären. Die Wut der Töchter, schreibt Freud, basiere darauf, dass Mädchen grundsätzlich auch einen Penis wie ihr Vater oder Bruder wollten und sauer auf ihre Mütter seien, dass sie ihnen bei Geburt keinen mitgegeben haben. Aus lauter Wut darüber hegten Mädchen der Mutter gegenüber Mordfantasien. Auch weil sie eifersüchtig seien: Denn die Mutter ist in sexueller Verbindung mit dem Vater und kommt an seinen Penis ran! Auch das Mädchen möchte etwas von diesem Penis abhaben und ihr »Loch«, das sie als große Schande empfindet, damit stopfen. Freud empfahl: Die Konkurrenz zur Mutter überwindet eine Tochter unkomplizierter, indem sie nicht die Mutter umbringt, sondern sich ein eigenes Wesen mit Penis sucht. So kommt man nämlich an Kinder, und die sind schließlich fast so toll wie Penisse. Die »füllen« auch das Loch und machen ein Mädchen zur »richtigen« Frau. Falls Sie diese berühmte Grundlage der Psychoanalyse noch nicht kannten, machen Sie sich bitte keine Sorgen: Generationen von Feministinnen haben diesen Blödsinn bereits auseinandergenommen, Freud als Macho entlarvt und seine Darstellung als symbolisch gelesen. Was das Mädchen wirklich möchte, ist Macht.4 Sie möchte dieselbe Macht und dieselben Freiheiten, die der Vater hat. Etwas, das der Mutter zu fehlen scheint. Kinder und Ehemänner sind natürlich eine sehr altbackene Vorstellung von einem adäquaten Ersatz dafür!

Ist die Annahme, Frauen seien machtlos, nicht längst überholt? Schauen Töchter immer noch Papa und Mama an und denken unterbewusst: Pffft, also Papi wäre ich lieber? Leider ja. Selbst die wichtigsten feministischen Philosophinnen wie Judith Butler schaffen es nicht, von dieser Theorie des weiblichen Mangels wegzukommen, und das nicht ohne Grund: Uns Frauen mangelt es noch immer an vielem. Und solange wir noch nicht so viel vom Kuchen abbekommen wie Männer, solange Teilhabe an wirtschaftlicher und politischer Macht für uns eingeschränkt ist, werden Mädchen auch weiterhin die Freiheit und Handlungsfähigkeit haben wollen, die ihre Väter haben, und sich nicht mit dem zufriedengeben, was die Mütter so darstellen. Frausein ist für jede Generation von Mädchen – und ganz besonders für die aktuelle – nicht gerade der heiße Scheiß. Diese politisch aufgeweckte, weil früh medial geschulte junge Generation sieht uns heute als Frauen altern. Sie sieht uns in den Wechseljahren mit unseren schwindenden Kräften hadern, rapide zunehmen, schwitzen und trotzdem zur Arbeit rennen. Sie sieht unsere Doppelbelastung mit Haushalt und Beruf, die Tatsache, dass wir im Bundestag unterrepräsentiert sind, unsere Falten, die so bedrohlich wirken, dass heute schon sehr junge Frauen mit Botox beginnen. Denn als Frau alt werden heißt dieser Tage auch, keine mediale Sichtbarkeit mehr haben zu können – und die ist heute alles, wenn man Macht haben will. Oder wie viele ältere Frauen sehen Sie so in den sozialen Netzwerken? Nur wenige weibliche Stars der Populärkultur sind über 45. Die Malisa-Stiftung hat die mediale Unsichtbarkeit von älteren Frauen untersucht: 70 Prozent der Hauptrollen von Figuren, die älter als fünfzig Jahre sind, werden nach wie vor von Männern gespielt. In Musikvideos kommen Frauen nur halb so häufig vor wie Männer, und 53 Prozent von ihnen sind ohne Kopf zu sehen.5 Frau zu werden und auch noch als solche zu altern, wirkt im Zeitalter von TikTok und Instagram auf junge Frauen und Mädchen besonders anstrengend: Sie müssen entweder jung und perfekt schön sein – oder sind eben unsichtbar und machtlos.6

Dabei hat sich unser Verständnis vom Frausein in den letzten hundert Jahren stärker verändert als in den tausend davor. Während die Rolle der Frau als abhängige Gehilfin des Mannes und als sein Eigentum Jahrhunderte fast unangefochten gepredigt, gelebt und akzeptiert wurde, gibt es nun schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts Stunk. Wir kämpfen gegen das Patriarchat, die männliche Dominanz, an. Wir wollen Veränderung und Gleichberechtigung. Dabei haben wir schon einiges erreicht. Trotzdem ist Frausein noch immer prekär, denn: Zu oft bedeutet es noch, abgewertet und sexualisiert zu werden und in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik nicht ganz oben mitspielen zu dürfen. Jedenfalls nicht auf demselben Niveau wie »echte Männer«. Nicht umsonst befürchten Männer häufig, als »zu weiblich« gelesen zu werden, als »Pussy« und »wie ein Mädchen«. Denn weiblich zu sein bedeutete historisch meist, dem Mann als Dekoration oder Assistenz zu dienen – selten, seine Chefin zu sein.