Jedes fünfte Kind - Catrin Boldebuck - E-Book

Jedes fünfte Kind E-Book

Catrin Boldebuck

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Armut ist teuer: Warum alle profitieren, wenn keiner mehr in Armut lebt

Die meisten glauben: Wer in Deutschland etwas erreichen will, schafft das aus eigener Kraft, Arme haben selbst schuld an ihrer Situation. Doch das ist ein Irrtum – auch wenn vereinzelte Aufsteigergeschichten darüber hinwegtäuschen mögen. Wir leben in einer Klassengesellschaft, jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf.

Catrin Boldebuck hat einige dieser Kinder und Jugendlichen begleitet und jahrelang intensiv zu den Themen Chancengerechtigkeit und Bildung recherchiert. Mit diesem Buch lenkt sie den Blick auf eines der drängendsten, ungelösten Probleme unserer Gesellschaft. Denn Kinderarmut ist nicht nur moralisch ein Skandal. Wenn aus armen Kindern arme Erwachsene werden, ist das in Zeiten von Fachkräftemangel und demographischem Wandel auch volkswirtschaftlicher Irrsinn. Höchste Zeit, sich mit den Ursachen und Folgen von Kinderarmut auseinanderzusetzen – und Maßnahmen dagegen zu ergreifen.

»Kinderarmut ist im reichen Deutschland Realität und gefährdet unser aller Wohlstand. Catrin Boldebuck deckt Missstände auf und sagt, was sich jetzt ändern muss.« – Gregor Peter Schmitz, stern-Chefredakteur

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 304

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

»Armut beschämt, beschädigt und prägt fürs ganze Leben. Sie führt dazu, dass sich ein Kind zu früh Sorgen macht, die schon für Erwachsene schwer zu ertragen sind: Was ist, wenn man uns den Strom abstellt? Wir die Miete nicht zahlen können? Wenn der Kühlschrank leer ist?

Wir lassen diese rund drei Millionen Mädchen und Jungen im Stich. Das ist nicht nur unmoralisch, sondern auch sehr kurzsichtig. Wenn wir nichts gegen die Kinderarmut tun, leiden unser eigener Wohlstand und auch unsere Freiheit.

Was für eine Gesellschaft wollen wir sein? Die Antwort auf diese Frage zeigt sich vor allem am Umgang mit Kindern. Sie sind die Fragilsten, sie brauchen den meisten Schutz, unsere kollektive Fürsorge – sie sind unser aller Zukunft.«

Catrin Boldebuck legt mit ihrem Zehn-Punkte-Plan gegen Kinderarmut ein umfassendes Programm vor, an dem sich Politik und Gesellschaft orientieren können. Denn am Ende sind arme Kinder doch genauso wie alle: vorlaut, frech, schüchtern, klein, groß, verträumt und ernst.

Autor*in

Die Journalistin Catrin Boldebuck schreibt seit Jahren über Schule, Bildungspolitik und Chancengerechtigkeit. Die Idee zu diesem Buch ist nach einer Artikelserie über Kinderarmut entstanden – die Eindrücke ihrer Recherchen ließen sie einfach nicht mehr los. Derzeit arbeitet Catrin Boldebuck in der Leitung des Ressorts Gesellschaft beim stern. Zuvor hat sie Projekte der Stiftung stern in Deutschland koordiniert, bis 2021 war sie leitende Redakteurin von Hirschhausens stern ­GESUNDLEBEN.

CATRIN BOLDEBUCK

JEDES FÜNFTE KIND

Warum Kinderarmut unseren Wohlstand und unsere Freiheit gefährdet

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, ­verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbst­verständlich erfüllen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Oktober 2024

Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Petra Hoffmann

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © ferrantraite/istock

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

IJ ∙ CF

ISBN 978-3-641-32004-1V001

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

Kinderarmut geht uns alle an

Voll peinlich: Vorurteile gegenüber Armen

Geschichten von Aufsteigern sind Ausnahmen

Ausgrenzung: Wir leben in einer ­Klassengesellschaft

Klischees über arme Menschen

Auf Armut kann man nicht stolz sein

Die im Dunkeln sieht man nicht

Wer ist hier arm? Ein Überblick über die verschiedenen Definitionen

Armut ist eine Frage der Perspektive

Auf der Straße – absolute Armut

Arm in einer reichen Gesellschaft – die Kriterien der EU

Kein Internet, kein Urlaub, kein Auto: Materielle und soziale Entbehrung

Armut in Deutschland ist relativ

Das soziokulturelle Existenzminimum – die sozialstaatliche Armutsgrenze

15 Euro für den Fußballverein – zu wenig »Bildung und Teilhabe«

Verdeckte Armut: Jedes fünfte Kind ist arm

Armutsrisiken: Welche Kinder trifft es besonders?

Armutsrisiko 1: Allein bei Mama oder Papa

Armutsrisiko 2: Viele Geschwister, viele Kosten, viel Armut

Armutsrisiko 3: Wenn Mama kein Abi hat und Papa den Job verliert

Armutsrisiko 4: Familien mit Migrations­hintergrund

Und raus bist du! Was es bedeutet, in Deutschland in Armut groß zu werden

Kein Geld im Portemonnaie

Wenn das kulturelle und das soziale Kapital fehlen

Jeder braucht ein schönes Zuhause – und einen Schreibtisch

Ernährungsarmut: Nicht genug Nährstoffe auf dem Teller

Arm sein ist ungesund

Kein Geld für Hobbys: Das können wir uns nicht leisten!

Jeder in seiner Blase: Armut sorgt für getrennte Welten – auch digital

Hilft Bildung gegen Armut?

Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit

Wir müssen draußen bleiben: Zu wenig Kita-Plätze für arme Kinder

Armutszeugnis für Deutschland – nicht nur bei der PISA-Studie

Wer nicht lesen kann, bleibt dumm

Hauptsache, Abitur: Wer darf aufs Gymnasium?

»Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose« – Vorurteile von Lehrkräften

Keine schöne Schulzeit

Kein Pausenbrot, kein Federmäppchen: Anzeichen für Kinderarmut im Klassenzimmer

Hauptsache, mein Kind geht auf eine »gute Schule« – warum Eltern soziale Unterschiede verstärken

Die neue »Superdiversität« in der Klasse

Wie Armut zu Bildungsarmut führt

Geschlossene Gesellschaft auch nach der Schule

Können sich nur noch die Kinder reicher Eltern heute ein Studium leisten?

Ganz unten auf der Karriereleiter

Warum wir uns Kinderarmut in Zukunft nicht mehr leisten können

Verschenkte Potenziale: Wir brauchen mehr Fachkräfte

Alle profitieren davon, wenn kein Kind mehr in Armut aufwächst

Unsere Freiheit hängt davon ab, ob die Armut sinkt und alle gerechte Chancen bekommen

Warum der Rechtspopulismus profitiert, wenn die Kinderarmut steigt

Kampf gegen Kinderarmut: Wie machen wir weiter?

Zehn-Punkte-Plan gegen Kinderarmut

1. Arme Kinder brauchen mehr Sichtbarkeit und Respekt

2. Arme Kinder brauchen einen guten Bildungsstart

3. Arme Kinder brauchen die beste Schule, die es gibt

4. Arme Kinder brauchen die besten Pädagogen und Pädagoginnen, die es gibt

5. Arme Kinder mit Migrationshintergrund brauchen bessere Chancen

6. Arme Kinder brauchen Kümmerer, Vorbilder, Unterstützer

7. Arme Kinder brauchen Geld

8. Arme Kinder brauchen Rechte – und alle anderen Kinder auch

9. Arme Kinder brauchen Sport, Musik, Theater – und ein warmes Mittagessen

10. Arme Kinder brauchen ihre Eltern

Wir brauchen jedes Kind, wir brauchen keine Kinderarmut

Danke!

Literaturverzeichnis

Bücher und Sammelwerke

Auswahl eigener Artikel

Anmerkungen

Kinderarmut geht uns alle an

Vor mir am Tisch sitzt ein Kind. Der Junge trägt ein abgetragenes Sweatshirt, verwaschen und zu groß. Erwartungsvoll sieht er mich an, auch etwas misstrauisch. Wir mustern uns. Vermutlich will er lieber in den Garten zu den anderen und Fußball spielen. Aber heute ist eine unbekannte Frau gekommen, sie will Interviews für eine Zeitung machen. Wir sind in Osnabrück beim Kinder- und Jugendhilfswerk Arche. Die Räume in dem alten Wohnhaus wirken hell und freundlich, überall Regale voll mit Büchern, Malsachen und Spielen. Es riecht nach Kaffee und Essen. Ich will mit dem Jungen darüber sprechen, wie er aufwächst. Wovon er träumt. Ob er viele Freunde hat. Ich möchte von ihm wissen, wie es sich anfühlt, arm zu sein. Doch plötzlich weiß ich nicht mehr, wie ich das Gespräch beginnen soll. Es ist mir peinlich, ihn auszufragen.

So begann vor über zwei Jahren meine Arbeit an einem Artikel über Kinderarmut für den stern, das Magazin, für das ich seit vielen Jahren auch über Bildung und Chancengerechtigkeit schreiben darf. Selten hat mich ein Thema so nachhaltig beschäftigt und aufgewühlt wie dieses.[1] Bei den Recherchen hatte ich das Gefühl, immer mehr über diese Gesellschaft, von der ich ein Teil bin, zu begreifen. Was ich dabei entdeckt habe, finde ich alles andere als schön. Mir wurde bewusst, wie anachronistisch, unfair und paternalistisch diese doch ist. Man wird in eine Schicht geboren, wächst darin auf und bleibt darin.

Wie human wir als Gesellschaft sind, zeigt sich am Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Etwa drei Millionen Mädchen und Jungen wachsen in Deutschland unter sozial schwierigen Bedingungen auf, jedes fünfte Kind ist arm. Sie werden systematisch ausgegrenzt und benachteiligt. Ein Verstoß gegen das Grundgesetz, in dem steht: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.«

Für arme Kinder gilt das nicht. Sie haben zwar in den meisten Fällen ausreichend zu essen und man sieht ihnen die Armut nicht sofort an, weil auch sie Turnschuhe und Shirts von angesagten Marken tragen und ein Handy haben. Aber sie müssen auf vieles verzichten, was zu einem normalen Kinder- und Teenagerleben in Deutschland gehört: in den Zoo oder ins Kino gehen, in den Urlaub fahren, im Handballverein trainieren. Und in der Schule haben sie viel schlechtere Chancen, sie kommen seltener aufs Gymnasium und studieren seltener als Kinder aus privilegierteren Verhältnissen. Die hohe soziale Selektivität ist eine der Schwachstellen in unserem Bildungssystem.

Wie wir mit Armut umgehen, dass wir Ungleichheit in diesem Maße zulassen und übersehen, empört mich. Wir wissen seit Langem von dieser Ungerechtigkeit, haben uns daran gewöhnt, schauen weg. Warum, wenn sich doch alle einig sind, dass dringend etwas dagegen unternommen werden sollte? In der deutschen Bevölkerung sind drei Viertel der Erwachsenen und zwei Drittel der Kinder der Meinung: Der Staat tut wenig bis sehr wenig gegen Kinderarmut.[2] Im Ländervergleich fallen wir bereits peinlich auf, so wurde Deutschland offiziell im März 2024 vom Europarat gerügt: Die Bundesrepublik müsse mehr gegen Armut unternehmen. Die Menschrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, forderte unter anderem, den Kreislauf der wachsenden Kinderarmut zu durchbrechen. Der Reichtum unseres Landes stehe in keinem Verhältnis zum hohen Maß an Armut und sozialer Benachteiligung.[3] Aber offenbar sehen hier noch zu wenige Handlungsbedarf. Die Politiker zanken über Bürgergeld und Kindergrundsicherung.

Als Journalistin sammle ich Fakten und werte sie aus. Ich bin keine distanzierte Wissenschaftlerin, sondern »übersetze« deren Erkenntnisse für eine breite Öffentlichkeit. Dazu spreche ich mit Experten und höre mir die Geschichten von Betroffenen an. Ich frage sehr direkt, hake nach, bis ich die Zusammenhänge verstanden habe. Ich werde sehr persönlich. Dabei ist mir eigentlich fast keine Frage und auch keine Antwort unangenehm. Aber bei meinen Recherchen über Kinderarmut habe ich bei mir selbst beobachtet, dass ich Hemmungen habe. Warum ist das so? Weil wir alle Vorurteile gegenüber Armen haben. Wer arm ist, gilt als faul. Früher nannte man Arme »asozial«. Man sollte Abstand zu »Schmuddelkindern« halten. Mit derartigen Vorurteilen bin auch ich groß geworden.

So zu denken, ist Teil unserer Leistungsgesellschaft. Aber das ist nicht nur überheblich, sondern es verstellt den Blick. Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, darüber hinwegzusehen, dass die soziale Schere in Deutschland weiter aufgeht. Wenn jedes fünfte Kind sich nicht entfalten kann, weil es in Armut aufwächst, kommt uns das alle teuer zu stehen. Weil nichts unternommen wird, steuern wir geradewegs auf eine gesellschaftliche Katastrophe zu. Kinderarmut birgt Sprengstoff für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, für die Demokratie – und sie gefährdet unser aller Wohlstand. Darauf hinzuweisen, darin sehe ich meine Aufgabe als Journalistin.

Aber ich will nicht nur die Misere beschreiben, sondern konstruktiv überlegen, was dagegen unternommen werden könnte. Deshalb entwickle ich im zweiten Teil dieses Buches einen Zehn-Punkte-Plan gegen Kinderarmut. Viele dieser Vorschläge sind kleine Schritte. Aber jemand, der viel schlauer ist als ich, hat mir mal gesagt: Wenn man nur ein paar Grad von seinem Weg abweicht, kommt man am Ende ganz woanders raus. Diesen Gedanken finde ich sehr ermutigend. Und vielleicht könnte ja der Einsatz gegen Kinderarmut dabei helfen, dass der kollektive Knoten in unserer Gesellschaft platzt. Wäre das nicht schön?

Ich selbst habe mehr als genug. Jeden Monat landet pünktlich das Gehalt auf meinem Konto. Ich muss mir keine Sorgen darüber machen, wie ich die Miete zahle oder den Kühlschrank fülle. Ich habe ein Auto, kann reisen und mir neue Kleidung kaufen. Das ist nicht nur mein Verdienst, sondern auch sehr den Umständen zu verdanken, in die ich hineingeboren wurde, vor allem meinen Eltern. Ich kann es mir leisten, über Ungerechtigkeit nachzudenken, weil ich etabliert bin. Und ich habe keine Erfahrung mit Armut. Darf ich trotzdem darüber schreiben? Das habe ich mich immer wieder gefragt.

Es ist auch gar nicht so leicht, arme Kinder zu treffen. Wo soll man auch suchen? Auf dem Spielplatz einfach Mädchen und Jungen anzusprechen, das geht nicht. In Schulen kann man auch nicht einfach reingehen und Umfragen starten. Minderjährige verdienen besonderen Schutz, ich kann und darf sie nicht ohne Zustimmung ihrer Eltern befragen und über sie schreiben. Das fordert das Presserecht. Ich habe mich daher entschlossen, über Organisationen zu gehen, die arme Kinder begleiten und betreuen. Davon gibt es in Deutschland einige. Doch bei meinen Anfragen bekam ich häufig zu hören: Ja, es ist ganz wichtig, über Kinderarmut zu berichten. Und besonders wichtig ist, dass die Kinder für sich selbst sprechen. Aber wir können Ihnen bei Ihren Recherchen nicht helfen, wir möchten die Kinder nicht bloßstellen oder traumatisieren. Anders reagiert das Kinder- und Jugendhilfswerk Arche mit bundesweit über 30 Standorten. Der Pressesprecher Wolfgang Büscher sagt: »Wir müssen den armen Kindern ein Gesicht geben, sonst ändert sich nichts.«

Ziel dieses Buches ist es, den rund drei Millionen Mädchen und Jungen, die in Armut leben, eine Stimme zu geben. Nicht nur von außen auf sie draufzuschauen, sondern ihnen zuzuhören. Möglichst viele von ihnen sollen zu Wort kommen. Aber ich möchte die Kinder und Jugendlichen nicht zur Schau stellen. Wer eine deftige Sozialreportage erwartet, wird enttäuscht. Viele Dramen spielen sich im Kleinen ab, nicht auf der großen Bühne. Sie sind nicht sofort auf den ersten Blick zu erkennen. Bei vielen meiner jungen Gesprächspartner und -partnerinnen fiel mir auf, dass sie mir ausweichen, den Blick nicht halten können, mir gar nicht direkt in die Augen schauen. Anders als die Kinder, die ich sonst bei Recherchen getroffen und gesprochen habe. Bei manchen Fragen weichen sie aus, fangen an zu flunkern, zum Beispiel wenn es um die Höhe des Taschengeldes geht.

Die vielen Zurücksetzungen und Kränkungen, die arme Kinder erfahren, können sie häufig erst als Jugendliche oder junge Erwachsene in der Rückschau klar erkennen und benennen. Während sie aufwachsen, fällt vielen der eigene Mangel oft gar nicht so sehr auf – sie kennen es schließlich nicht anders. Deshalb sind viele, die in diesem Buch ihre Geschichte erzählen, Anfang 20. In den letzten Jahren habe ich mit über 30 Kindern und Jugendlichen über das Thema Armut gesprochen. Nicht alle kommen hier zu Wort, aber alles, was sie mir erzählt haben, was ich von ihnen gelernt habe, ist mit in dieses Buch eingeflossen. Weil das ein großer Vertrauensbeweis und teilweise auch mit sehr viel Scham besetzt ist, habe ich alle Namen geändert. Aber alle Geschichten sind wahr.

Vor allem aber habe ich mich dazu entschlossen, dieses Buch zu schreiben, weil mir die Kinder und Jugendlichen, die ich bei meinen Recherchen getroffen und kennengelernt habe, immer wieder gesagt haben: Es ist gut, wenn jemand wie du uns mal fragt! Wenn jemand hinschaut und zuhört. Eine junge Frau hat mir gesagt: Ich möchte meine Geschichte teilen, um anderen Mut zu machen. Um anderen zu zeigen, du bist nicht allein.

Anmerkung zum Gendern: Ich bemühe mich um eine gendersensible Sprache, daher schreibe ich die weibliche und männliche Form aus. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwende ich teilweise die männliche Form. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.

Voll peinlich: Vorurteile gegenüber Armen

Geschichten von Aufsteigern sind Ausnahmen

Jeremias Thiel ist elf, als er zum Jugendamt geht. Zu Hause hält er es nicht mehr aus: Sein Vater ist depressiv, die Mutter spielsüchtig, Geld immer knapp. Um sich ein Taschengeld zu verdienen, sammelt er Pfandflaschen. Der Grund für seinen Besuch auf dem Amt: Er will aus seiner Familie genommen werden. Und so kommt der Junge in ein SOS-Kinderdorf, macht Abitur und studiert in den USA. Mit 19 schreibt Jere­mias Thiel ein Buch über seine Kindheit: Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance.[4] Heute ist er Mitglied der SPD und hält Vorträge über Kinderarmut.

Iris Sayram ist Juristin und Journalistin. Die bundespoli­tische Korrespondentin im ARD-Hauptstadtbüro erkennt man an ihrer markanten schwarzen Brille, wenn sie in den »Tagesthemen« den Kommentar spricht. In ihrer Biografie Für euch schildert sie, wie sie mit Prostitution, Drogen und Armut aufwächst.[5] Als sie zehn Jahre alt ist, wird ihre Mutter von der Polizei abgeholt und später zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie ein Deo für 2,50 DM geklaut und gegen Bewährungsauflagen verstoßen hat. In ihrer ­Jugend besucht Iris Sayram häufiger die JVA als die Bücherei. Aber sie hat gute Noten, schafft es auf das Gymnasium und anschlie­ßend an die Universität. Mit 26 Jahren macht sie das zweite Staatsexamen in Jura. Eine Bilderbuchkarriere.

Aufsteigergeschichten wie die von Jeremias Thiel und Iris Sayram beeindrucken. Sie zeugen von einer enormen Energie, und sie machen Mut. Die Botschaft scheint klar: Geht doch, jeder kann aus armen Verhältnissen aufsteigen. Aber diese Biografien sind Einzelfälle. Sie dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Kinder es eben nicht schaffen, aus eigener Kraft der Armut ihrer Familien zu entkommen. Und sie sind auch keine Rechtfertigung dafür, Kinderarmut zu beschönigen, die Kränkungen und Zurückweisungen, die damit verbunden sind, kleinzureden. Das betonen auch beide Autoren. Es ist ein Problem, dass man in der Öffentlichkeit überwiegend Menschen sieht, die berichten, dass sie arm waren, aber kaum Menschen, die von sich sagen: Ich bin arm.

In dem sozialen Netzwerk X (vormals Twitter) teilen seit Mai 2022 unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen arme Menschen ihre Erfahrungen. Den Anfang machte Anni W., eine alleinerziehende Mutter. Allein im ersten Monat wurden 100 000 Tweets gepostet, Betroffene schildern ihren Alltag, ihre Sicht, ihre Probleme. Es ist das erste Mal, dass sich so viele arme Menschen zu Wort melden. Aber eine öffentlich sichtbare Bewegung, die wie andere Lobbygruppen, etwa die Bauern, wochenlang Straßen blockieren, auf Demos selbstbewusst Forderungen stellen und die Nachrichten beherrschen, wurde bisher nicht daraus. Ein Grund dafür: In den Parteien, in den Vorständen der großen Konzerne und auch im Journalismus gibt es nur wenige Menschen, die selbst Erfah­rung mit Armut haben und die ihre Sicht auf die Gesellschaft einbringen könnten. Wer, wie der Journalist Marco Maurer in der Zeit, über seinen sozialen Aufstieg schreibt, erregt damit viel Aufmerksamkeit.[6] Doch die meisten schweigen lieber über ihre Herkunft.

Ausgrenzung: Wir leben in einer ­Klassengesellschaft

Derzeit beanspruchen Rassismus oder Sexismus mehr Raum in der öffentlichen Debatte als Begriffe wie »Klasse« oder »Klas­sismus«. Die scheinen aus der Mode gekommen zu sein, klingen verstaubt nach Marx und Engels und Das Kapi­tal. Von der Arbeiterklasse redet auch kaum einer mehr. Klassen … kann es die überhaupt noch geben in einer Gesellschaft, die sich immer stärker individualisiert?

Aber ja, Klassen gibt es nach wie vor. Der Begriff »Klassismus« ist aber vielleicht nicht jedem geläufig. Er bezeichnet Vorurteile oder Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft oder ihres sozialen Status. Er richtet sich gegen arme Menschen aus der Arbeiter- und Arbeiterinnenklasse. Und auch gegen Menschen, die von Bürgergeld leben (früher Hartz IV), keine Ausbildung oder kein Studium haben sowie gegen Obdachlose.

Klassismus wurde als Thema lange ignoriert. Erst seit Kurzem wird darüber diskutiert und geschrieben. Vielleicht, weil viele dachten, dieses Problem hätten wir überwunden, so als gäbe es Derartiges nicht mehr in Deutschland. Die meisten glauben, wer etwas erreichen will, der schafft das auch. Man muss sich nur anstrengen.

Für die Generation der Babyboomer, also für zwischen 1946 und 1964 Geborene, war es noch möglich, durch Bildung aufzusteigen. Heute funktioniert dieser sogenannte soziale Fahrstuhl nicht mehr so einfach. Das Bild entwarf der Soziologe Ulrich Beck in den 1980er-Jahren: Durch verbesserte Bildungschancen fuhren weite Teile der Gesellschaft wie mit einem Lift nach oben. Die Folge: Mehr Menschen lebten einige Etagen höher im allgemeinen gesellschaftlichen Wohlstand. Die sozialen Ungleichheiten blieben zwar bestehen, aber weil es allen besser ging, war das Grundgefühl optimistisch. »Früher gab es ein allgemeines Aufstiegsdenken«, sagt der Soziologe Aladin El-Mafaalani. Er forscht an der Technischen Universität Dortmund vor allem zu den ­Themen Bildung und Migration. Seinen Studierenden empfehle er, Hape Kerkelings Buch Der Junge muss an die frische Luft zu lesen oder auch die gleichnamige Verfilmung anzusehen, sagte mir der Professor in einem Interview.

In seiner Biografie schildert der Komiker, Schauspieler und Autor Hape Kerkeling, wie er in den 1970er-Jahren in Recklinghausen im Ruhrgebiet aufwächst. Der Vater ist Schreiner, die Familie hat nicht viel. »Kerkelings Eltern waren nicht arbeitslos, aber sie hatten wesentlich weniger Kaufkraft als jemand, der heute von Bürgergeld lebt. Der Unterschied war, dass sie zur Mehrheit gehörten und nahezu alle in dem ­Milieu dachten: Für die nächste Generation wird es besser. Und sie hatten recht!«, sagt der Soziologe El-Mafaalani. Im Kino fühlten sich viele aus der Generation der Babyboomer bei dem Film an ihre Kindheit erinnert. Sie wurden groß in einer Zeit, als es nur drei Fernsehprogramme gab, aber immer mehr Wohlstand und Wachstum für alle.

Heute fehlt diese optimistische Perspektive. Krieg, Klimawandel und Migration versperren die Sicht, eine goldene Zukunft scheint in weite Ferne gerückt. Die Folge sind resig­nierte Milieus. Armut verfestigt sich. El-Mafaalani erklärt das so: »Solange das Versprechen galt, später wird es den Kindern einmal besser gehen, ließen sich ungerechte Ver­hält­nisse leichter legitimieren. Doch seit etwa zehn Jahren gilt dieses Versprechen nicht mehr. Menschen in prekären Lebens­lagen beobachten, wie andere Jahr um Jahr ökonomisch aufsteigen, sie aber nicht. Das ist deprimierend! Viele glauben, sie hätten selbst Schuld an ihrer Situation.«

Die meisten in Deutschland denken, jeder sei selbst für sein Glück verantwortlich. Sieben von zehn Bundesbürgern und -bürgerinnen stimmen der Aussage zu: Es hängt von mir selbst ab, ob ich es schaffe, auf der sozialen Leiter aufzusteigen. Fast 90 Prozent sind der Meinung, für den persönlichen Erfolg seien vor allem typisch deutsche Tugenden wie Anstrengung und Fleiß wichtig. Andere Faktoren wie Geld oder Beziehungen halten die meisten Befragten für weniger entscheidend. Nur 37 Prozent sagen: Man muss aus der richtigen Familie stammen.[7]

Diese Antworten spiegeln das herrschende Ideal der Meri­to­kratie wider, nach dem allein die Leistung des Einzelnen über seinen oder ihren Status in der Gesellschaft entscheidet und jeder sein Leben selbst in der Hand hat. Obwohl Studien immer wieder zeigen, dass die Herkunft eine zentrale Rolle bei der Verwirklichung von Chancen spielt, überschätzen die Menschen ihren eigenen Anteil am Erfolg und unterschätzen die Macht der Umstände. Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser erklären diesen scheinbaren Widerspruch mit der »Gleichzeitigkeit einer Unzufriedenheit mit der Ungleichheit und einer relativen Zufriedenheit mit der eigenen Lage«. Den Menschen ist die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich zwar bewusst, das tatsächliche Ausmaß der Ungleichheit jedoch nicht. Vor allem Benach­teiligte überschätzen ihre eigene soziale ­Position in der Gesell­schaft. Tief verwurzelte meritokratische Normen verhindern eine Kritik an den Verhältnissen, der Klassenkampf Unten gegen Oben bleibt aus – schließlich ist jeder und jede selbst verantwortlich für sein oder ihr Vorankommen. Ein prominentes Beispiel, das gern angeführt wird: Die Mutter von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder war Putzfrau, und trotzdem hat er es bis nach ganz oben geschafft. »Die wichtigste moderne Form der Legitimation von Ungleichheit ist das Leistungsprinzip«, schreiben die drei Soziologen in ihrem Buch Triggerpunkte.[8]

Durch die Bildungsexpansion ist das Bildungsniveau in der Gesellschaft gestiegen. Sie ist diverser und liberaler geworden. Aber das macht die Gesellschaft nicht automatisch durchlässiger oder gar gerechter. Es ist kompliziert, sich von seiner Herkunft zu lösen, allein aus eigener Kraft etwas im Leben zu erreichen. Vor allem, wenn man aus einer bildungsfernen und armen Familie stammt. Eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt, dass es in Deutschland etwa sechs Generationen dauert, bis Nachkommen einer Familie vom unteren Ende der Einkommensverteilung das durchschnittliche Einkommen erreichen. Im OECD-Schnitt sind es nur fünf Generationen.[9] Hinzu sind in den vergangenen Jahren immer mehr Menschen aus anderen Ländern und Nationen gekommen, die hier bei uns einen Platz finden wollen. Wir werden eine Antwort darauf finden müssen, wie diese Männer, Frauen und Kinder in Zukunft besser integriert werden können.

Klischees über arme Menschen

Zurück zum Klassismus, zu der Art und Weise, wie wir darauf achten, was Menschen haben: viel oder wenig? Den meisten von uns ist wahrscheinlich nicht bewusst, wie arme Menschen ausgegrenzt werden. Aber man muss nur ­einmal beobachten, wie Menschen in U- oder S-Bahnen auf Obdach­lose reagieren. Wenn sie von ihnen angesprochen werden, schauen die meisten Menschen nicht vom Smartphone auf. Sie sehen den Bettelnden nicht in die Augen, viele wenden den Blick ganz ab oder sehen durch sie hindurch. Das gilt allgemein als sehr unhöflich, bei armen Menschen aber scheint dieses Verhalten okay. »Die sehen mich nicht an oder reagieren nicht, wenn ich sie anspreche«, sagt ­Annika. Die 20-Jährige lebt in einem Obdachlosenheim. »Weil ich nicht dreckig bin, mit verfilzten Haaren und eingeschissener Hose rumlaufe, halten mich viele nicht für bedürftig.« In unserer Kultur bettelt man nicht. Bei uns muss keiner auf der Straße leben und stinken – schließlich gibt es Geld vom Staat für arme Menschen. Die sind doch selbst schuld, die sollen arbeiten, sie könnten doch zum Amt gehen. So oder ähnlich denken vermutlich die meisten von uns.

Viele Menschen machen sich die eigenen Vorurteile nicht klar. Alkoholkonsum wird beispielsweise völlig unterschiedlich bewertet: Wenn Menschen der Mittelschicht tagsüber in einer Bar oder einem Café sitzen und ein Glas Wein trinken, gilt das meist als Ausdruck von Genuss und Geselligkeit, auch als Zeichen von Wohlstand. Man gönnt sich ein Gläschen. Bei armen Menschen verhält sich das völlig anders: Wenn jemand, der von Bürgergeld lebt, tagsüber Alkohol trinkt, ist er sicher Alkoholiker, hat sich nicht im Griff, lässt sich gehen.

In der Mode wird mit Armut gespielt und kokettiert, aber zerrissene Jeans sehen nur bei wohlhabenden Menschen cool aus. Die zahlen dafür sogar richtig viel Geld. Bei armen Menschen gelten kaputte Hosen dagegen eher als Indiz für Verwahrlosung. Viele politisch linksgerichtete Studenten und Studentinnen tragen betont abgerissene T-Shirts und dazu Dr.-Martens-Stiefel. Die Schuhe sehen zwar abgetragen aus, sind aber teuer. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob man aus privilegierten Verhältnissen stammt und Secondhand aus Überzeugung trägt, in dem Glauben, damit etwas Gutes für nachhaltigen Konsum und die Umwelt zu tun, als Statement – oder ob man sich schlicht keine neue Kleidung leisten kann.

Bei einer Lesung über Klassismus der Kulturanthropologin Francis Seeck empört sich eine junge Frau öffentlich darüber: »Ich stamme aus einer armutsbetroffenen Familie, habe migrantischen Hintergrund. Mich hat es viel Kraft und Anstrengung gekostet, bis ich so spießig leben konnte wie heute. Darauf bin ich stolz. Jetzt habe ich linke Freunde von der Uni, die tun so, als seien sie arm, sind es aber gar nicht. Mir werfen sie vor, ich sei zu angepasst.« Nach dem Vortrag spreche ich sie an. Zenobar ist als Kind mit ihrer Familie aus dem Iran geflohen. Die erste Zeit lebte die Familie in einer Flüchtlingsunterkunft, die Eltern gingen putzen. »Das war megapeinlich«, erzählt die 37-Jährige. Sie kämpfte sich hoch, machte eine Ausbildung zur Erzieherin, studierte, heute ist sie Sozial­arbeiterin. »Das System kritisieren kann nur, wer dazugehört«, sagt Zenobar. »Wenn du dir ständig überlegen musst: Wie komme ich an Kohle?, kannst du dir das nicht leisten.«

Auch Cleo beobachtet das. Die 25-Jährige, lange bunte Braids in den Haaren, möchte Medizin studieren. »Ich habe meine Armut als Kind nicht verheimlicht, aber Kleidung aus zweiter Hand zu kaufen, war nicht cool. Klassismus schließt aus, aber man sieht ihn nicht. Das ist noch viel schlimmer als Rassismus, den sehen alle«, sagt die Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers. »Klassismus wird ignoriert und verdrängt, oft ist er verwoben mit anderen Problemen wie psychischen Erkrankungen«, sagt sie. Offenbar fehlt an vielen Stellen eine armutssensible Haltung, den meisten Menschen scheint bisher nicht bewusst, wie diskriminierend unsere Gesellschaft an diesem Punkt ist.

Wir diskutieren intensiv darüber, wie Sprache sein sollte, damit sie niemanden ausschließt, herabsetzt oder diskriminiert. Das ist richtig so und lange überfällig, schließlich bildet Sprache die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ab. Manche finden diese Diskussion überzogen, sie regen sich über das Gendern auf. Mag sein, dass Sternchen, Doppelpunkt und eine Pause beim Sprechen noch nicht die richtigen Stilmittel sind, um Diskriminierung vorzubeugen. Sie sehen in Texten ungewohnt aus und hemmen den Lesefluss. Genauer hinzuhören und zu überlegen, wie eine sensible Sprache klingen könnte, um sie dann ganz bewusst einzusetzen und nicht einfach nur daherzuplappern, ist aber sicher der richtige Weg. Auch wenn einige bei der Wokeness-Debatte vielleicht über das Ziel hinausschießen. Aber Sprache hat sich immer weiterentwickelt – so wie die Gesellschaft.

Bei der Beschreibung von armen Menschen fehlt jedoch häufig die Sensibilität. Da werden Menschen als »asozial« oder »Asi« abgestempelt. Die Nationalsozialisten benutzten Begriffe wie »arbeitsscheu« oder »Sozialschmarotzer«. Menschen mit »liederlichem Lebenswandel« wurden von ihnen stigmatisiert, verfolgt und in Konzentrationslager deportiert. Worte bilden auch heute ab, wie auf Menschen herabgeschaut wird.

Francis Seeck forscht zum Thema Klassismus, schreibt Bücher, hält Vorträge und macht Antidiskriminierungstrainings mit Lehrkräften und Kita-Fachkräften. Sie stammt selbst aus einer armutsbetroffenen Familie. Seeck weist darauf hin, dass Begriffe wie »sozial schwach«, »prollig«, »einfache Leute« oder »bildungsfern« eine Wertung beinhalten, die diskriminierend ist. Auch über den Begriff »Brennpunktviertel« könne man stolpern, meint sie, denn damit werde suggeriert, hier sei es gefährlich, als würden in diesen Stadtteilen ständig Feuer ausbrechen.[10]

Als Journalistin überlege ich, welche Worte ich wähle, wie ich mit Menschen spreche und wie ich über sie schreiben kann, ohne dass sich jemand aufgrund seiner oder ihrer Herkunft, Religion oder sexuellen Orientierung herabgesetzt fühlt. Aber ich gebe zu: Den Begriff »Brennpunkt« habe ich auch schon verwendet, weil er plakativ ist. Ich nehme mir vor, noch genauer auf meine Wortwahl zu achten. Auffällig ist, dass es neben sehr technisch klingenden Umschreibungen aus der Wissenschaft, kaum umgangssprachliche Ausdrücke für »arm sein« gibt, die nicht auch herabsetzend wirken. Francis Seeck schlägt vor, von »erwerbslos« statt »arbeitslos« zu sprechen, statt »sozial schwach«, »einkommensarm« zu sagen oder »bildungsbürgertumsfern« statt »bildungsfern«.[11] Bei aller Rücksicht glaube ich, dass man sagen muss, was ist. In einer Sprache, die alle verstehen und die gelegentlich auch provoziert.

Auf Armut kann man nicht stolz sein

»Ich hätte mir lieber einen Nagel ins Knie gerammt, als zuzugeben, wie wir leben«, sagt Iris Sayram in einem Interview mit dem Spiegel. »Mir wäre im Traum nicht eingefallen, mich meinen Klassenkameraden anzuvertrauen. Ich schämte mich furchtbar dafür, dass wir nie in den Urlaub fuhren und von Sozialhilfe und Mamas Nebenjobs lebten.«[12] Und Jeremias Thiel schreibt: »Ich steckte fest in einer ziemlich kaputten Familie, und manchmal hatte ich tatsächlich das Gefühl, ich würde nach Armut riechen.«[13]

Armut sei in Deutschland ein Stigma, stellt der Sozialforscher Christoph Butterwegge fest. Der Professor ist emeritierter Politikwissenschaftler an der Universität zu Köln und forscht seit Jahrzehnten zum Thema Armut. Und er ist bekennender Linker. In einem Gespräch sagte er mir: »Ein Kind aus einem Slum in Nairobi würde niemals versuchen, seine Armut zu überspielen, weil sie dort als normal gilt und man sich dafür nicht rechtfertigen muss, wenn man betroffen ist.« Arme werden in einem armen Land seltener ausgegrenzt und herabgesetzt oder Kinder von Spielkameraden ausgelacht. In Deutschland gelte der Bezug von Bürgergeld als »Armut de luxe«, als Jammern auf hohem Niveau. Butterwegge hält die soziale Ausgrenzung in einem reichen Land wie unserem für besonders perfide. »Man hält körperlich, mental und intellektuell Distanz. Armut gilt als individuelles Versagen, nicht als strukturelles Problem. Betroffene werden in ihrer Persönlichkeit herabgesetzt, gedemütigt und erniedrigt. Deshalb leiden viele Arme unter psychischen Problemen oder auch unter Formen einer Sucht, sie müssen sich betäuben.«

Den Betroffenen die Schuld zu geben, werte das eigene Ego auf und schütze vor der Angst, selbst abzusteigen. Diese Vorurteile und Ressentiments seien jahrhundertealt, und sie hätten sich nicht verändert, so Butterwegge. »Unsere Leistungs­gesellschaft ist von dem Mythos geprägt: Wer etwas leistet, wird mit Wohlstand belohnt. Wer nichts leistet, also faul ist, sich nicht anstrengt, der wird hingegen zu Recht mit Armut bestraft.«

Butterwegge erklärt den psychologischen Mechanismus dahinter: »Wenn man auf Arme herabblickt, dann tut man das in dem Gefühl: Du kannst nicht absteigen, denn du gehörst ja zu den Leistungsträgern. Das nimmt einem die Angst oder mindert sie. Vor allem Menschen, die im Grunde unsicher sind oder Angst vor dem eigenen Abstieg haben, reagieren so.« Seit der Coronapandemie beobachtet er Anzeichen für eine zunehmende Entsolidarisierung: »Bei den inflationären Tendenzen fürchten jetzt viele, dass ihr kleines Vermögen dahinschmilzt wie das Eis in der Sonne. Wenn es darum geht, den eigenen Besitz zu verteidigen, ist unsere Gesellschaft in ihrem Leistungs- und Konkurrenzdenken sehr brutal.«

Ein gängiges Vorurteil lautet, Arme hätten selbst Schuld, weil sie zu faul zum Arbeiten seien. Seit Einführung der Hartz-IV-Reformen im Jahr 2005 werden immer wieder Stereotype gezeichnet – von schmarotzenden »Hartzern«, die auf Kosten von hart schuftenden, ehrlichen, kleinen Leuten leben würden (die Superreichen werden bei solchen Vergleichen wohlweislich außen vor gelassen). Daran hat auch die Umbenennung von Hartz IV in Bürgergeld nichts geändert, dabei sollte das zur Entstigmatisierung beitragen. »Es ist egal, wie die Sozialleistungen heißen, weil alle wissen: Du bekommst Geld vom Staat. Besser angesehen wird man auch nach der Namensänderung nicht«, sagt Daniela Schmitt. Die alleinerziehende Mutter hat lange Hartz IV und Bürgergeld bezogen. Ich lerne ihren Sohn René und sie bei meinen Recher­chen kennen.

Die Debatte um die Erhöhung der Bürgergeldregelsätze im Herbst/Winter 2023 bestätigt Schmitts Fazit: Dabei wurde eine Konkurrenz zwischen Menschen in Arbeit und Bürgergeldempfängern heraufbeschworen und mit populistischen Argumenten moralisiert. Die Bild-Zeitung zitierte eine »Alarmumfrage«, nach der 52 Prozent der Bürger sagten, Arbeit in Deutschland lohne sich nicht mehr.[14] Politiker befeuerten die Diskussion: CDU-Vorsitzender Friedrich Merz entrüstete sich wiederholt über die Bürgergelderhöhung von zwölf Prozent. Immer wieder betonte er, das Lohnabstandsgebot müsse gewahrt werden. Er argumentiert, das Bürgergeld liefere keinen Anreiz zur Arbeit. Dabei hatte die CDU dem Berechnungsschlüssel ein Jahr zuvor noch zugestimmt. Und Finanzminister Christian Lindner von der FDP ­forderte während der Haushaltskrise im Winter 2023/24, beim »Reizthema« Bürgergeld seien Einsparungen vorzuneh­men. Im Interview mit der Rheinischen Post sagte er, es müsse »stärker durchgesetzt werden, dass das Bürgergeld keine Rente ist«, die Regelsätze seien derzeit tendenziell zu hoch.[15] So wird Politik auf dem Rücken von armen Familien gemacht, und es werden Klischees bedient.

Armen Eltern wird häufig unterstellt, sie seien weniger fürsorglich. Hätten sie mehr Geld, würden sie davon Zigaretten und Alkohol kaufen. Ja, solche Eltern gibt es sicher auch. Doch ein solcher Generalverdacht ist unangemessen. Genauso gibt es unter privilegierten Eltern Mütter und Väter, die nur an sich und nicht an das Wohl ihrer Kinder denken. Tatsächlich sparen arme Mütter und Väter eher bei sich, damit ihre Kinder nicht verzichten müssen. Das belegen mehrere Studien, zum Beispiel eine Untersuchung des ­Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung. Diese zeigt, dass Mütter und Väter zusätzliches Geld vor allem in die Förde­rung und in Freizeitaktivitäten ihrer Kinder stecken.[16] Eltern mit wenig Geld auf dem Konto sind nicht automatisch schlechte Mütter und Väter, die bei der Erziehung ihrer Kinder versagen, sondern dies ist nur ein weiteres Klischee über Menschen in Armut.

Die im Dunkeln sieht man nicht

»Ist unsere Gesellschaft vielleicht unsozialer, als den meisten Menschen bewusst ist?«, habe ich den Soziologen Aladin El-Mafaalani gefragt. Seine Einschätzung: »Der Diskurs ist bei Kindern empathischer als bei Erwachsenen, zumindest macht man sie nicht für ihre Situation verantwortlich. Die meisten Menschen werden sagen, dass Kinder nicht in ­Armut aufwachsen sollen. Aber steuern wir dagegen? Nein, das machen wir echt nicht gut. Wir tun viel weniger, als wir machen könnten. Und sobald arme Kinder zu armen Erwachsenen herangewachsen sind, wird ihnen ihre prekäre Lage als individuelles Versagen angelastet.«

Arme Kinder und Jugendliche seien die Gruppe, der es mit Blick auf Lebenschancen am schlechtesten gehe, so El-Mafaalani. »Schwarze Menschen können trotz rassistischer Diskriminierung stolz sein, Schwarz zu sein. Frauen können selbstbewusst sagen, dass sie das Frausein lieben, trotz Benachteiligung. Aber zu Armut passen weder Stolz noch Liebe. Deshalb führt sie bei den Betroffenen zu Resignation. Weshalb viele sagen: Ja guck, die sind doch selbst schuld, die sind so passiv.« Armen fehle es an »Empowerment«, sagt El-Mafaalani weiter. Doch nur wenn eine benachteiligte Gruppe aufsteht und selbst die Initiative ergreift, ändert sich etwas. »Wir haben nur annähernd Gleichstellung zwischen Männern und Frauen, weil es eine Gleichstellungsbewegung gab. Wer keine Empörung in der Öffentlichkeit herstellen kann, hat keine Chance. So funktioniert unsere Öffentlichkeit nun mal. Und Kinder können es nicht, weil sie nun mal Kinder sind. Sie haben keine Lobby in Deutschland, niemand vertritt ihre Interessen.«

»Die im Dunkeln sieht man nicht«, heißt es in dem Theaterstück Die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht, das er 1928 schrieb. Auch fast 100 Jahre später bleiben die »im Dunkeln« unsichtbar, weil sich Menschen aus unterschiedlichen Schichten kaum noch begegnen, sie leben in getrennten Stadtteilen und sind auch in den sozialen Medien in ihren Blasen unterwegs. Soziologen nennen diese Polarisierung Segregation. Aliyah, 22, beschreibt es so: »Wenn man nicht in den Vierteln lebt, dann sieht man die Armut nicht. Wenn ich unterwegs bin, Kopfhörer drin habe, auf mein Handy schaue, achte ich nicht auf die Menschen um mich – so wie alle. Und dann bekommt man es nicht so mit, wenn jemand kein Geld hat. Das sind zwei komplett verschiedene Welten.«

Aliyah ist mit Hartz IV aufgewachsen, sie kennt die Verachtung und auch die Vorurteile. »Armut ist peinlich, und darüber zu sprechen, ist schmerzhaft«, sagt die 22-Jährige. »Egal, ob in der Schule, Freunde oder Bekannte meiner Mutter – immer gab es diese Sprüche: ›Hartz-IV-Empfänger sind zu faul zum Arbeiten‹. Man wird deshalb komisch angeguckt. Keiner will wissen, was eigentlich bei der Familie los ist oder zeigt Verständnis. Kaum einer fragte mal meine Mutter: ›Warum gehst du nicht arbeiten?‹« Aliyahs Mutter hätte eine Antwort darauf gehabt. Sie hat keinen Schulabschluss, war häufig krank und musste ihre drei Töchter überwiegend allein großziehen.