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Beschreibung

Gemessen an der Dringlichkeit der Klimakrise fallen die politischen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung erbärmlich bis menschenverachtend aus. Während Gletscher schmelzen und Felder im Meer versinken, verfehlt Deutschland ein Klimaziel nach dem anderen und befestigt die EU ihre Außengrenzen. Viele Aktivist*innen blicken mittlerweile verzweifelt auf den Zustand der Welt, eine wachsende Zahl steigt aus, zehrt aus, brennt aus. In "Jenseits von Hoffnung und Zweifel" stellen sich die Autor*innen die Frage, was ihnen die Energie verleiht, weiterhin Widerstand zu leisten. Sie analysieren die großen Narrative ihrer Bewegungen – die Apokalypse, die Utopie, die Maxime ›Hört auf die Wissenschaft!‹ – und klopfen sie daraufhin ab, ob sie Kraft schenken oder rauben. Sie stellen ihre Arbeitsweisen auf den Prüfstand, ihre Gruppenkultur, und sie blicken auf sich selbst, auf ihre Emotionalität und ihr Verhältnis zu Mensch, Gesellschaft und Natur. »Die Texte in diesem Buch«, schreiben die Autor*innen, »basieren auf Debatten, die wir in den vergangenen vier Jahren mit der Gruppe ausgeCO2hlt geführt haben. Das Ergebnis ist kein fertiges Gedankengebäude; Gewissheiten haben wir nur wenige, Zweifel dafür einige. Vor allem stellen wir uns viele Fragen, die wir längst nicht alle beantworten können. Den roten Faden des Buchs bildet die Suche danach, was uns antreibt, politisch aktiv zu bleiben, weiterhin Widerstand zu leisten und auch künftig für die Gesellschaft zu kämpfen, die wir uns wünschen.«

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Seitenzahl: 302

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ausgeCO₂hlt sind ein gutes Dutzend Menschen, die mit viel Zeit, Energie und Herz in der Bewegung für Klimagerechtigkeit aktiv sind, vor allem rund um das Rheinische Braunkohlerevier.

ausgeCO₂hlt

Jenseits von Hoffnung & Zweifel

Gedanken zum Widerstand in der Klimakrise

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

ausgeCO₂hlt:

Jenseits von Hoffnung & Zweifel

www.ausgeco2hlt.de | [email protected]

1. Auflage, Oktober 2022

eBook UNRAST Verlag, Juni 2023

ISBN 978-3-95405-152-6

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Cover gezeichnet von Axel Aucouturier und bearbeitet von Ramin Aryaie

Veröffentlicht unter einer Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 Lizenz

Satz, Illustration und Umschlaggestaltung: Ramin Aryaie - aryaie.org

Inhalt

Einleitung

Erster Teil – Gepäck

Zu spät – für was?Warum uns die Angst vor der Apokalypse nicht weiterhilft

Sind wir noch zu retten?Schluss mit dem Erlösungsmythos

Hide behind the scienceVon kritischer Wissenschaft und Wissenschaftskritik

Geteiltes FernwehVon der Notwendigkeit utopischen Denkens

Bergsteigen mit SisyphosVon falschen Vorbildern, die auf dem richtigen Weg waren

Jenseits von Hoffnung und ZweifelWarum Aufgeben keine Option ist

Zweiter Teil – Reisegruppe

Banden bildenPlädoyer für beziehungsbasierte Organisierung

Reibung erzeugt WärmeZum Umgang mit Kritik

Von Inseln und BrückenGruppen zwischen Utopie und Szene-Klüngel

Leadership einkreisenÜber Macht, die stärker wird, wenn wir sie teilen

Wurzeln statt KronenVerantwortung als Gegenentwurf zu Leadership

Wie Gruppen Gruppen werden und bleibenEin Erfahrungsbericht

Von Fischbrötchen, Baggerfahrern und liebenden MenschenWer oder was ist ein*e Aktivist*in?

Dritter Teil – Wegkreuzung

Einzelarbeit – Politik machen wir im Kollektiv, aber in der Organisation der Lohnarbeit sind wir allein

»Warum sollten mir nur Reproaufgaben bleiben?«Ein Gespräch über Elternschaft in sozialen Bewegungen

PausenWer sie machen kann und wovon eigentlich

»Hätte mir gewünscht, meinen Weggang nicht so sehr als persönliches Versagen erlebt zu haben.«

»Ab wann ist die Gruppe mein politisches Zuhause?«

»Habe mich nach all den Jahren ausgesaugt gefühlt.«

Vierter Teil – Landkarte

Wie wir die Welt verändernTheorien des Wandels

StrategieVogelperspektive statt Feldherrenhügel

Fünfter Teil – Der Horizonts

Are we Nature defending itself?Auf der Suche nach einem anderen Mensch-Natur-Verhältnis

»Wir lassen uns das Land nicht wegnehmen«

Was uns bewegtVom kollektiven Umgang mit Emotionen und dem Gegenteil von kaputt

Dank und Anmerkungen zu unseren Quellen

Quellenverzeichnis

Anmerkungen

Einleitung

Ein regnerischer Januartag, ein Haus in der Eifel. Das Treffen beginnt. Doppelkopfkarten werden weggelegt, die Gitarre wandert in den Koffer, Menschen gießen sich noch einen Kaffee ein und gehen die knarzende Treppe hinauf. Der Raum füllt sich, jetzt sitzen wir im Kreis und schauen in die Flammen des Kaminfeuers. Niemand spricht, nur der Regen trommelt auf die Dachschrägen. Wir haben uns mit unserer Gruppe, ausgeCO2hlt, ein paar Tage Zeit genommen, um über Themen zu sprechen, die für ein normales Plenum zu groß sind und zu schwer.

Wer ist ausgeCO2hlt? Wir sind ein gutes Dutzend Menschen, die mit viel Zeit, Energie und Herz in der Bewegung für Klimagerechtigkeit aktiv sind. Einige haben die Klimacamps im Rheinland, die Besetzung im Hambacher Wald und Ende Gelände mit aufgebaut; andere haben auf Paddelbooten ein Kohleschiff blockiert, das nie kam; wir arbeiten mit Gemeinschaften in Kolumbien zusammen, die von Steinkohleabbau betroffen sind, erinnern Leute ans Dudeln, diskutieren mit rauchenden Köpfen auf Konferenzen über Strategien, und wenn es der Kampf gegen RWE erfordert, schmücken wir auch Weihnachtsbäume in den Dörfern am Garzweiler-Tagebau. Wir sind weiße Menschen im globalen Norden – und in der Position, entscheiden zu können, ob wir weiter kämpfen oder nicht. Wir wollen unsere Emotionen ernst nehmen, ohne zu vergessen, dass andere Menschen viel direkter von den Folgen der Klimakrise betroffen sind.

An diesem Nachmittag beschäftigen wir uns mit der Frage, wie wir auf den Zustand der Welt blicken, individuell und als Gruppe. Glauben wir daran, dass es sinnvoll und wirksam ist, was wir tun? Was gibt uns die Kraft weiterzumachen? Das Spektrum der Antworten ist breit. Da ist ganz viel Hoffnung und ganz viel Zweifel und – als alle gesprochen haben – die Einsicht, dass vielleicht beides zugleich da sein kann.

»Manchmal in einer Aktion, wenn der Bagger stillsteht und unser Banner daran hängt, dann glaube ich fest daran, dass wir gewinnen können«, sagt eine Person aus der Runde. »Aber dann gibt es diesen Kater, wenn ich einmal richtig geschlafen habe und allein in meinem Zimmer sitze. Das ist die schlimmste Phase. Ich muss mich richtig anstrengen, meine Hoffnung wiederzufinden.«

»Ich bin mir auch nicht sicher, dass wir die Kipppunkte noch verhindern können«, sagt ein anderer Mensch aus der Runde. »Aber ich will nicht länger die Motivation für mein Handeln davon abhängig machen, wie wahrscheinlich es ist, dass wir gewinnen.«

»Wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass wir die Klimakatastrophe noch verhindern können. Aber seltsamerweise macht mir das nichts aus. Ich brauche diese Art von Hoffnung nicht als Antrieb. Aufgeben ist für mich keine Option. Was mich antreibt … Ich ertrage es einfach nicht, nur zuzuschauen, wie so viel Unrecht passiert«, sagt die Sitznachbarin – und Menschen nicken.

»Das tut gut, euch zuzuhören«, sagt eine vierte Person. »Ich denke oft in Gruppen, ich bin die einzige, die zweifelt. Ich spreche nicht mit euch darüber, weil ich Angst habe, euch runterzuziehen. Aber mit euch gemeinsam zu zweifeln, macht die Zweifel für mich weniger bedrohlich.«

Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, bisweilen gemeinsam in den Abgrund hinabzusteigen und uns mit der vermeintlichen Hoffnungslosigkeit der Klimakrise zu konfrontieren. Als Reisegruppe schaffen wir es immer wieder nach oben. Viele von uns wollen langfristig gemeinsam aktiv sein. Aber es gibt auch die Tage, an denen wir verzweifelt sind. Dann spüren wir – und nicht selten gleichzeitig – Wut und Müdigkeit. Angst. Anstatt diese Gefühle zu verbergen, wollen wir uns ihnen stellen und sie teilen – auch öffentlich. Und darum geht es in diesem Buch.

In den folgenden Texten gehen wir der Frage nach, warum wir nicht aufgeben und alles hinschmeißen. Wir suchen das, was uns die Kraft zum Weitermachen gibt. Wir analysieren die großen Narrative in unseren ewegungen – die Apokalypse, die Utopie, die Maxime ›Hört auf die Wissenschaft!‹ – und klopfen sie daraufhin ab, ob sie Kraft schenken oder rauben. Wir stellen unsere Arbeitsweisen und unsere Gruppenkultur auf den Prüfstand. Und wir blicken auf uns selber, auf unsere Emotionalität nd unser Verhältnis zu Mensch, Gesellschaft und Natur. Dieses Buch war anfangs als Neuauflage der Wurzeln im Treibsand geplant, einer Sammlung von Reflexionen und Werkzeugen für die deutschsprachige Klimagerechtigkeitsbewegung, die wir 2017 veröffentlicht haben. Aber nachdem wir uns ein halbes Jahr mit der Frage beschäftigt hatten, welche Aspekte aus den ›Wurzeln‹ wir beibehalten wollen und wo wir uns zusätzliche Texte wünschen, haben wir gemerkt: Wir sind dabei, ein neues Buch zu schreiben. Natürlich haben wir die Texte in diesem Buch nicht als Gruppe geschrieben. Dann könntest Du dieses Buch wahrscheinlich niemals lesen. Stattdessen haben wir eine kleine Redaktionsgruppe gebildet, die den Großteil der Entwürfe geschrieben hat. Die meisten Texte in diesem Buch sind aus Debatten entstanden, die wir als Gruppe und mit Freund*innen in den vergangenen drei bis vier Jahren geführt haben. Das Ergebnis dieser Debatten ist eine Art Gruppentagebuch, das wir als ausgeCO2hlt veröffentlicht haben. Und das bedeutet: Die Gruppe hat viel Arbeit in die Texte gesteckt und in den Prozess, zu gemeinsamen Positionen und Haltungen zu kommen, oder mindestens die Bruchlinien sichtbar zu machen. Das heißt nicht, dass alle in der Gruppe gleichermaßen hinter allen Inhalten stehen. Das Buch ist eben auch das Ergebnis von internen, teils kontroversen Auseinandersetzungen. Und deshalb meinen wir, wenn wir im Buch ›wir‹ sagen, zunächst ausgeCO2hlt. Aber wenn wir nicht über unsere Gruppe sprechen, bezieht sich das wir auf unser Zugehörigkeitsgefühl zur Klimagerechtigkeitsbewegung in Deutschland.

Beim Lesen wirst du merken: Auf ein paar vereinzelte Gewissheiten kommen viele offene Fragen. Und deshalb ist das Ergebnis kein fertiges Gedankengebäude, keine Anleitung, kein Fünf-Punkte-Programm, sondern eher so etwas wie ein ehrliches Gespräch beim Wandern. Und die Wanderung ist noch nicht vorbei, kann nie vorbei sein. Wir laden dich deshalb ein, die Wanderschuhe anzuziehen und mitzukommen.

Erster Teil

Gepäck

Der erste Teil, in dem wir in unseren Rucksack schauen. Wir finden darin Ballast, den wir im Straßengraben lassen, aber auch Proviant und ein Kletterseil, das wir noch brauchen werden. Wir begegnen apokalyptischen Reiter*innen und verstecken uns hinter niemandem, auch nicht hinter der Wissenschaft. Wir gehen Bergsteigen mit Sisyphos, klettern in den Abgrund und fragen uns anschließend, wie wir wieder rauskommen.

Zu spät – für was?

Warum uns die Angst vor der Apokalypse nicht weiterhilft

Dieser Text handelt von der Angst und vom Umgang mit der Angst. Er beginnt mit einer Geschichte, die viele vielleicht schon kennen. Die Hobbits Sam und Frodo haben ihr Dorf, Beutelsend, verlassen, um den Ring der Macht zu zerstören. Auf ihrer Reise durch vom Krieg zerstörte Länder gelangen sie nach Lothlorien zur Elbenkönigin Galadriel. Sie führt die Hobbits eines Abends zu einem Steinbecken, in das sie Wasser füllt, und lädt sie ein hineinzuschauen. Sam zögert und wagt dann doch den Blick in ›Galadriels Spiegel‹. Zunächst sieht er nichts, dann die Bäume auf der Festwiese in seinem Dorf und dann Frodo mit bleichem Gesicht. Am Ende kehrt das Bild zu den Bäumen zurück: Sie brennen, schwanken, stürzen. Der Spiegel zeigt die Zerstörung von Beutelsend. Sam beschließt: »Ich kann nicht hierbleiben! Ich muss sofort nach Hause.« Galadriel entgegnet ihm, dass er versprochen habe, nicht ohne Frodo heimzukehren, obwohl er schon gewusst hätte, »dass im Auenland üble Dinge passieren könnten«. Dann spricht sie weiter: »Bedenke auch, dass der Spiegel vieles zeigt und dass nicht alles schon eingetreten ist. Manches tritt nie ein, oder nur dann, wenn der, dem es erscheint, von seinem Weg abweicht, um es zu verhindern. Als Wegweiser zur Tat ist der Spiegel gefährlich.«[1]

In J.R.R. Tolkiens Der Herr der Ringe ist Galadriels Spiegel eine Metapher dafür, was passieren kann, wenn wir uns von unserer Angst leiten lassen. Die Gefahr liegt darin, dass wir den Mut verlieren und von den Plänen abweichen, die wir uns mit unseren Weggefährt*innen vorgenommen haben. Angst kann unglaubliche Energie freisetzen. Wir haben es selbst erlebt. Die Angst davor, dass all diese kleinen bezaubernden Pflanzen, all diese witzigen Piepmatze, die lustige Geräusche machen, ja vielleicht sogar diese zwar häufig zerstörerischen, aber zugleich faszinierenden Menschen aussterben könnten, ist ein Zeichen für Verantwortungsgefühl und Sorge für die Welt, in der wir leben. Es geht nicht darum, keine Angst zu haben. Im Gegenteil: Emotionen zu verdrängen, ist Teil der Unterdrückung, die wir überwinden wollen. Die Frage ist, wie wir mit der Angst umgehen. Lassen wir zu, dass wir stehenbleiben? Oder fangen wir an zu rennen: blindwütig der Gefahr entgegen oder panisch in die andere Richtung? Wie halten wir durch? Und wohin gehen wir, wenn wir erschöpft sind? Auch wenn es schwer ist, wünschen wir uns, trotz und wegen unserer Angst, in Bewegung zu bleiben. Nicht sprintend, sondern gehend, sodass uns nicht die Luft ausgeht. Rennen bedeutet zuzulassen, dass die Zukunft Macht über uns erhält. Aber die Zukunft ist kein Schicksal, sondern ein gestaltbarer gesellschaftlicher Prozess, in den wir intervenieren können, auch wenn Rahmenbedingungen schwieriger werden.

Wir können entscheiden, welche Geschichten wir über diese Rahmenbedingungen erzählen. Geschichten nicht im Sinne von Märchen oder Augenwischerei, sondern als Ausschnitte der Wirklichkeit, die uns Mut machen. Erzählen wir von Menschen, die sich bei knapper werdenden Ressourcen ausrauben, umbringen, aufessen, wie das viele Science-Fiction-Romane tun? Oder betonen wir, dass sich Menschen in Krisen solidarisch organisieren, dass Gemeinschaften stärker werden?

Zu spät – wofür?

»Wir haben vielleicht nur 15 Jahre, also nur 5000 Tage, um den Planeten zu retten.« – Edward Goldsmith, 1990[2]

»Es ist die wohl letzte Chance, sich weltweit auf Emissionsminderungen zu einigen, mit denen man den Klimawandel noch auf zwei Grad begrenzen kann. Die Zeit läuft uns davon.« – Stephan Rahmstorf, 2009[3]

»Die Zeit für leere Versprechungen ist vorbei, jetzt ist es an der Zeit, so zu handeln, als ob unser Leben davon abhängt. Denn das tut es!« – Fridays for Future, 2021[4]

Der Dringlichkeitsdiskurs hat Tradition. Wir sind mittlerweile skeptisch gegenüber Countdown-Kampagnen, die uns einhämmern, dass wir nur noch wenige Jahre haben, um den unumkehrbaren Klimawandel zu stoppen. Oder dass die nächste Bundestagswahl mal wieder die ›letzte Chance‹ für irgendetwas sei. ›Letzte Chance‹, das war auch das Protest-Narrativ vor dem vielfach als ›Hopenhagen‹ bezeichneten UN-Klimagipfel 2009 in Kopenhagen, der zur Enttäuschung wurde. Die Folge war ein riesiger Post-Kopenhagen-Moment (›Floppenhagen‹), der Menschen ausgebrannt und deprimiert zurückließ.

Um es klar zu sagen: Natürlich sind Kipppunkte erreicht, natürlich sind die Folgen katastrophal und leider schrumpfen dadurch unsere Handlungsräume. Es ist also nicht die Dringlichkeit, an der wir zweifeln. Es ist das Zu-Spät-Narrativ – und das hat mehrere Gründe.

Erstens bedeutet ›zu spät‹: Wir richten uns nach einer Logik, »die einen bestimmten gegenwärtigen oder zukünftigen Zeitpunkt in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellt. Dieser wird aber zwangsläufig irgendwann in der Vergangenheit liegen. Dann scheint es ›zu spät‹ zu sein, um für ein Gutes Leben zu streiten.«[5] Das wäre schon allein deshalb absurd, weil manche Probleme erst dadurch entstehen, dass die Klimakrise voranschreitet. Wir sprechen sehr bewusst von der Klimakrise, denn wir wollen sichtbar machen, dass wir es nicht nur mit physikalischen Vorgängen im Klimasystem zu tun haben, sondern mit gesellschaftlichen Gemengelagen: mit unterschiedlichen Betroffenheiten, Verteilungsfragen, Ressourcen und Entscheidungsstrukturen. ›Zu spät wofür?‹, ist deshalb auch eine Frage der Positionierung. »Was ist das Ende der Welt anderes als die Zerstörung von Lebensgrundlagen, Ausbeutung und Ausweglosigkeit?«[6], fragt der Schwarze Journalist Paul Dziedzic. In dieser Definition ist die Welt bereits unzählige Male für kolonialisierte und versklavte Menschen untergegangen, der Kolonialismus hat sie untergehen lassen. Doch diese Erfahrungen haben nicht dafür gesorgt, dass Menschen aufgehört haben, für ein Gutes Leben zu kämpfen. Die Katastrophe stand am Anfang des Kampfes. Dziedzic führt weiter aus: »Die Frage, ob das Bildnis vom Ende der Welt zu Resignation führt, statt zu Aktion, ist vielleicht auch eine Frage für wen. Für diejenigen, die schon seit Jahrhunderten kämpfen, stellt sich diese Frage nicht.« Das bedeutet: Egal, welche Desaster wir uns als Folgen der Klimakrise ausmalen, ist unser Umgang damit eine Frage der politischen Gestaltung. Überschrittene Kipp-Punkte bedeuten nicht das Ende unseres Kampfes für das Gute Leben, im Gegenteil: Er wird notwendiger werden denn je. Ob um fünf vor zwölf oder um halb eins – dafür wird es nie zu spät sein.

Zweitens: Wenn die letzte Chance immer kurz bevorsteht, riskieren wir, in einen permanenten Notfall-Modus zu verfallen. Dann ist es leicht, die Geduld zu verlieren: bei basisdemokratischen Entscheidungsprozessen, einer achtsamen Gruppenkultur, dem Aufbau von starken Beziehungen. In anderen Worten: Wir neigen dazu, über unsere Grenzen zu gehen, sogar über die unserer Weggefährt*innen. In unseren Gruppen kultivieren wir häufig Leistungsdruck und Arbeitsethik – wir wollen immer mehr, immer schneller etwas fürs Klima tun… na, das kommt uns doch irgendwie bekannt vor. Die Gefahr besteht, dass wir der kapitalistischen Logik verhaftet bleiben, die die Klimakrise erst hervorgebracht hat.

Drittens kann der permanente Notfallmodus zu Handlungsunfähigkeit, Depression und Verzweiflung führen. Wir haben schmerzlich erlebt, dass sich Freund*innen aus der Klimabewegung zurückgezogen haben. Ein Bekannter wanderte nach Neuseeland aus, mit den Worten: »Ich genieße die letzten Jahre, die uns auf diesem Planeten noch bleiben. Ändern können wir eh nichts mehr.« Nicht alle haben die Möglichkeit, sich für diese Variante des Aufgebens zu entscheiden. Andere Menschen in unserem Umfeld hatten Nervenzusammenbrüche oder mussten wegen Burn-Outs in die Klinik. Wenn es soweit kommt, spielen dabei natürlich unterschiedliche Gründe eine Rolle, auch veränderte Lebensumstände. Doch die Angst vor der Zukunft leistet einen entscheidenden Beitrag. Wir befürchten, dass die Betonung der ›Zu spät‹-Erzählung dazu führt, dass reihenweise Klima-Aktivist*innen ausbrennen und aufgeben.

Apocalypse Now? Apokalypse no!

Als Klimabewegung stehen wir in einer Tradition von Bewegungen, in denen apokalyptische Ängste einer Generation nach der anderen den Boden unter den Füßen weggezogen haben. In der Antiatombewegung wurde mit dem Slogan ›Kampf dem Atomtod‹ vor dem alles Leben beendenden Knopfdruck gewarnt. Entweder durch einen Nuklearkrieg oder durch Wald- und Artensterben war ein mögliches Ende in den 1980er-Jahren für viele bedrohlich nah. Hoimar von Ditfurth ging in seinem Bestseller So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen – Es ist soweit im Jahr 1985 davon aus, dass der Menschheit höchstens noch zwei Generationen blieben. Doch das Waldsterben verlief nicht so schnell, wie befürchtet, und die alles vernichtende Bombe ist auch nicht gefallen.

Auch in der Klimabewegung gibt es Bezüge auf die Apokalypse, wenn auch auf eine andere Art von Apokalypse. Beim Nuklearkrieg läutet das Handeln bestimmter Menschen den Untergang ein: Ein Finger drückt einen Knopf. Bei der Klimakrise ist es umgekehrt. Hier tritt die Apokalypse ein, wenn sich nichts ändert.

In den Anfängen der Klimagerechtigkeitsbewegung in Deutschland gab es die Sorge davor, dass ein zu apokalyptisches Ausmalen der Klimakrise autoritären Maßnahmen Vorschub leisten würde. Spätestens seit Extinction Rebellion (XR) 2018 die Bewegungsbühne betreten hat, sind Untergangsszenarien voll in der Rhetorik der Klimagerechtigkeitsbewegung angekommen. XR stellte wissenschaftliche Schreckensszenarien drastischer dar, als es die Wissenschaftler*innen selbst je vermocht (oder gewollt) hatten. Gleichzeitig öffnete die Bewegung Räume, um über Gefühle wie Verzweiflung und Trauer zu sprechen. Das löste in der Linken großes Unbehagen aus. Wer öffentlich über Emotionen spricht, steht schnell unter Esoterik-Verdacht. Extinction Rebellion hat es mit seinen spektakulären Inszenierungen in vielen europäischen Staaten geschafft, die Gefahr der Klimakrise ins allgemeine Bewusstsein zu katapultieren. Davor ziehen wir unsere Cappies und Mützen.

Der anonyme Autor des Buchs Desert schreibt bereits 2011, dass aktive Desillusionierung befreiend sein kann. »Die Welt wird nicht ›gerettet‹ werden. Die anarchistische Weltrevolution wird nicht stattfinden. Der Klimawandel ist inzwischen nicht mehr zu stoppen«[7], heißt es darin, und weiter: »Jede Generation hat anscheinend eine letzte Chance, den Planeten zu retten. (…) Die Gnadenfrist ist aber vermutlich inzwischen abgelaufen.« Im Kapitel »Apokalypse Now« führt er weiter aus: »Für Tiere, Insekten, Menschen und Pflanzen, die ausgelöscht wurden, ist die Apokalypse bereits geschehen.«[8] Der Anblick brennender Wälder und das schmelzende Eis sibirischer Permafrostböden erinnern schon an wahr gewordene apokalyptische Schreckensszenarien. Das daraus erwachsende Leid ist real; das kleinzureden oder zu leugnen ist nicht unser Anliegen. Dennoch denken wir, dass die Apokalyptik kein Wegweiser zur Tat sein sollte.

Um das zu verdeutlichen, ist es hilfreich, die Apokalypse als psychologisches Motiv zu begreifen, in dem mehr steckt als ein Synonym für den Weltuntergang. Ideengeschichtlich nimmt die Bibel eine dominante Rolle ein: Auch wenn sich viele in sozialen Bewegungen ganz und gar nicht auf die Bibel beziehen, so bleiben apokalyptische Sehnsüchte von den christlichen Erzählungen geprägt, aus denen sie einst entstanden sind. Deren Einflüsse sind laut Fabian Scheidler auch in der Vorstellung zu erahnen, ein vorgezeichneter historischer Prozess münde im ewigen Endzustand des Kommunismus[9]. Eine der ersten überlieferten Apokalypsen findet sich im biblischen Buch Daniel. Der Text entstand um das Jahr 164 vor unserer Zeitrechnung unter der Herrschaft des Antiochos Epiphanes, der weite Teile des südöstlichen Mittelmeerraums unterjochte. Scheidler geht davon aus, dass Endzeitstimmungen dort entstehen, wo Herrschaft als total empfunden wird und keine anderen Auswege mehr ersonnen werden können. »Apokalypsen sind Visionen einer totalen Verzweiflung. Sie entstehen in den Verwüstungsspuren der Imperien, wo die Welt so tief korrumpiert erscheint, dass Rettung nur noch in der totalen Vernichtung und Neuschöpfung des Kosmos vorstellbar ist.«

Die Apokalypse kann also individuell durchaus auch positiv belegt sein: Menschen können sich nach ihr sehnen, wenn die Ohnmacht der Gegenwart nur stark genug ist. Spuren dieser Sehnsucht nach dem großen Knall blitzen auch in der Klimagerechtigkeitsbewegung auf, beispielsweise in dem Gedanken, der Mensch sei eine Krankheit, von der sich die Welt mittels Temperaturanstieg befreien müsse. Die Klimakrise als planetare Rache an den Menschen.

Vielleicht ist die Sehnsucht nach der Apokalypse umso stärker, je größer die Diskrepanz zwischen der Drastik des Problems und der Erbärmlichkeit der Lösungswege erscheint. Auf Deutschland übertragen: Die Welt steht in Flammen, während die Bundesregierung Erdgas immer noch für eine Brückentechnologie hält und Atomkraft als klimafreundliche Lösung grün gewaschen wird.

Auch in uns löst das den Wunsch aus, dass sich schnell etwas drastisch verändern möge, dass schon morgen alles ganz anders sei. Leider wird das nicht der Fall sein. Das alte, ausbeuterische und demütigende System wird nicht in Flammen aufgehen. Oder – um in der Bildersprache der Apokalyptik zu bleiben – die himmlischen Heerscharen werden die Kohlebagger dieser Welt nicht dem Erdboden gleichmachen. Und vielleicht hat das auch sein Gutes, denn in der Sehnsucht nach der Apokalypse stecken auch Brutalität und Hass. Scheidler:

»Die Allmacht […] Gottes spiegelt die Macht irdischer Herrscher und überbietet sie. Und genau in diesem Punkt kippt die Apokalyptik von der Hoffnung auf Rettung und Wiedergutmachung in eine Spiegelung der traumatisierenden Erfahrung: Was man selbst erfuhr, wird nun am anderen vollstreckt, und zwar mit noch massiverer Gewalt. Die Apokalyptik bricht nicht mit dem Prinzip der Macht, sondern multipliziert es.«[10]

In anderen Worten: Die Apokalypse ist eine Gewaltfantasie, die entsteht, wo die Ohnmacht übermächtig wird. Aber dass Ohnmacht übermächtig wird, wollen wir gerade verhindern. Die Sehnsucht nach der Apokalypse führt in die falsche Richtung.

Sind wir noch zu retten?

Schluss mit dem Erlösungsmythos

Eng verwandt mit der Sehnsucht nach der Apokalypse ist der Erlösungsmythos. Ob der Messias, die Klimakanzlerin oder (mit Abstrichen) Frodo Beutlin – Erlöser*innen haben in vielen starken Erzählungen die Schlüsselrolle inne. Diese Erzählungen beeinflussen, wie wir uns Problemlösungen vorstellen. Wir widmen deshalb diesem fraglichen Erlösungsmythos einen eigenen Abschnitt. Drei Punkte finden wir besonders problematisch.

Der leidende Held

Jesus am Kreuz ist das Sinnbild der Aufopferung. Durch sein Opfer sollte die Menschheit von der Sünde befreit werden. Das Christentum hält das Leiden hoch – als Teil der Erlösungsgeschichte Christi und in der kirchlichen Symbolik. Der Weg zur Erlösung führt nur über das Leiden. Dieses Verständnis klingt im neoliberalen Arbeitsethos an – und gar nicht so selten auch im Aktivismus. Überspitzt formuliert: Desto mehr ich leide, desto näher kommen wir der Klimagerechtigkeit. Im Extremfall werden Hörsturz und Burn-out zu Statussymbolen.

Das Thema, dass ein Mensch (meist ein Mann) sich aufopfert, um die Menschheit von der Sünde zu bewahren oder Mittelerde vor den Orks, durchzieht die abendländische Geistesgeschichte von der Bibel bis Hollywood. Diese Fixierung auf Einzelpersonen finden wir schwierig, weil wir der Ansicht sind, dass es vor allem handlungsfähige Kollektive sind, die gesellschaftliche Veränderung bewirken. Hinter den Helden der Geschichtsbücher standen viele, viele Menschen mit unsichtbarer Arbeit.

Die lineare Zeit

Dem Erlösungsmythos liegt der Glaube zugrunde, dass es irgendwo einen idealen Urzustand gegeben hat, der wiederhergestellt werden muss: Mittelerde vor dem Einfluss Mordors, das Paradies vor dem Biss in den Apfel, eine unberührte Natur, das goldene Zeitalter, die US-amerikanische Kleinstadt-Idylle der ersten sieben Minuten des Horrorfilms. Zu der Vorstellung eines idealen Zustands am Anfang der Zeit gehört ein fiktiver Zustand am Ende der Zeit: das Himmelreich, die klassenlose Gesellschaft, die Utopie. Diese Vorstellung von Zeit gleicht einem Strahl mit Anfang und Ende. Sie schießt schnurstracks wie ein Pfeil auf ihr fernes Ziel zu. Dieses teleologische (zielgerichtete) Geschichtsverständnis findet sich mit verschiedenen Variationen im Christentum, im Fortschrittsglauben der Aufklärung, im Kommunismus – und wir sollten genau hinschauen, wie viel davon auch in den Denkmustern steckt, mit denen wir in der Klimabewegung arbeiten.

Es gibt auch ganz andere Verständnisse davon, was Zeit ist. Ein Alternative ist zum Beispiel die zyklische Zeit. Zwei Aspekte können in unseren Augen Denkanstöße sein, die uns helfen, der Zu-Spät-Logik zu entkommen: das Denken in Kreisläufen und die Betonung von Verwobenheit. In dem Versuch, mit der eurozentristischen Sichtweise zu brechen, werden wir uns im Folgenden auf indigene Theoretiker*innen der Lakota beziehen. Die Lakota sind zuletzt bekannt geworden durch die Kämpfe gegen die Dakota Access Pipeline bei der Reservation Standing Rock.

Kreisläufe: Der Lakota Vine Deloria, ein wichtiger Theoretiker des American Indian Movement der 1970er- und 1980er-Jahre, schreibt in seinem Buch Gott ist Rot, die Weltsicht der Westeuropäer*innen beruhe auf der Annahme, »dass die Zeit in gerader Folge fortschreitet und dass von einem bestimmten Zeitpunkt an die Westeuropäer die Wächter der Menschheit wurden«. Laut Deloria haben viele indigene Gemeinschaften den physischen Raum, die Landschaft, in der sie gelebt haben und noch leben, als wesentlichen Bezugsrahmen für die Zeit genutzt.[11] Bestimmte Orte waren zu bestimmten Stern-, Mond- und Sonnenkonstellationen Treffpunkte.[12] Zeit ist hier verbunden mit Orten und Kreisläufen. Eine Auseinandersetzung mit zyklischer Zeit findet sich auch bei Eva von Redecker. In ihrem Buch Revolution für das Leben schreibt sie: »Die Zeit der Natur (…) ist zyklisch. Tageszeiten, Jahreszeiten und Lebensalter wiederholen sich und mit ihnen Nährstoffkreisläufe, die sich unendlich fortsetzen könnten.«[13] In einer kapitalistischen Gesellschaftsorganisation leben wir zwar entfremdet, aber nicht entkoppelt von den Zyklen der Natur: Wir sind Natur, abhängig – vom Land, vom Regen, von den Jahreszeiten. Es wäre wichtig, zyklische Zeitlichkeiten hochzuhalten. Leider ist die gegenteilige Entwicklung furchterregend stark: Die lineare Verwertungslogik des Kapitalismus zerrüttet fortlaufend das Zyklische in der Natur und das Langsame in uns. In den Worten Redeckers:

»Der Widerstand gegen den Weltverlust muss deshalb als Kampf nicht gegen, sondern um die Zeit ausgetragen werden. Es ist ein Kampf darum, unsere Zeit nicht mehr verkaufen, verwerten oder verpfänden zu müssen, sie auch nicht minuziös zu beherrschen, sondern frei aufbringen zu können.«[14]

Verwobenheit: Der Lakota Nick Estes betont die Verwobenheit von Vergangenheit und Gegenwart als weiteres zentrales Element zyklischer Zeitlichkeit. »Es gibt keine Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, was bedeutet, dass eine alternative Zukunft auch durch unser Verständnis der Vergangenheit bestimmt wird. Unsere Geschichte ist die Zukunft.«[15] Dieser auf den indigenen Widerstand bezogene Gedanke könnte uns helfen, einen anderen Umgang mit erschreckenden Zukunftsszenarien zu finden. Die Geschichte des Widerstands weißer sozialer Bewegungen in Europa ist nicht vergleichbar mit dem indigenen Widerstand. Dennoch finden wir es sinnvoll, den Blick darauf zu richten, wer bereits vor uns im Sinne von Klimagerechtigkeit agiert hat. Die Bezugnahme auf Widerstandsgeschichte weltweit hilft uns, unser Handeln anders in der Zeit zu verorten. Weil wir plötzlich Erfolge sehen, die wir übersehen, wenn wir nur auf die Gegenwart blicken. Nicht alles, was heute selbstverständlich ist, war immer selbstverständlich. Und deshalb: Nicht alles, was heute unmöglich scheint, ist unmöglich. Weil es uns den Druck nimmt, in wenigen Jahren schaffen zu müssen, was wir gar nicht schaffen können. Das Zurückdrängen von Ungerechtigkeit ist ein nie endender Prozess. Es gab immer Ungerechtigkeit, und es wird sie immer geben. Selbst in einer befreiten Gesellschaft wird es noch Ungerechtigkeit geben. Aber wir können das Maß an Ungerechtigkeit wesentlich verändern. Klingt anstrengend? Ist aber auch beruhigend. Schon lange vor uns haben Menschen für Klimagerechtigkeit gekämpft. Sie sind Teil unseres Handelns, genauso wie die, die nach uns kämpfen.

Wenn wir jetzt noch einmal auf die Frage ›Zu spät für was?‹ zurückkommen, wird vielleicht verständlich, warum wir der Meinung sind, dass es nie zu spät für Klimagerechtigkeit ist. Wir verstehen Klimagerechtigkeit nicht als einen fertigen Zustand, der irgendwann erreicht ist. Vielmehr entsteht Klimagerechtigkeit aus dem fortdauernden Widerstand gegen Klimaungerechtigkeit.

Wir sind nicht zu retten. Zum Glück.

In der Bewegung ist oft davon die Rede, dass wir das Klima ›retten‹ müssen. Wir würden uns gerne von diesem Ausdruck lösen. Er klingt so, als könnten wir den Zustand der Welt irgendwann in eine sichere Schublade legen, dann Feierabend machen und Minigolf spielen gehen. Wir fokussieren uns auf ein bestimmtes Zeitfenster, eine einzige Kraftanstrengung, die irgendwann vorbei sein wird. Rebecca Solnit hat das wunderbar so formuliert: »›Retten‹ legt nahe, dass wir eine Sache hinlegen, wo weder Motten noch Rost Schaden anrichten können; es suggeriert, dass wir etwas aus dem gefährlichen, instabilen sich ständig verändernden Prozess herausziehen können, der Leben auf Erden heißt. Aber das Leben ist niemals sauber und endgültig. Nur der Tod ist es.«[16]

Wir sollten uns von der Vorstellung lösen, dass es irgendeinen mythischen Tag geben wird, an dem alles entschieden ist. Sorry to say, unser Kampf für Klimagerechtigkeit wird niemals vorbei sein. Was nicht heißt, dass wir nicht gewinnen können. Wir können Zerstörung aufhalten, Lebensverhältnisse verbessern und unsere Handlungsspielräume erweitern. Und das sollten wir jedes Mal würdigen und feiern. Aber diese Erfolge werden niemals ›gesichert‹ sein. Sie wollen gepflegt, verteidigt, ausgeweitet werden. Ebenso wenig werden unsere Erfolge zu einer vollkommenen Welt führen oder zum Paradies. Das gibt es nur in religiösen Schriften.

Wir schreiben das nicht, um zu frustrieren. Im Gegenteil. Wir selbst erleben, dass diese Perspektive unsere Arbeitshaltung auf eine Weise verändert, die uns stärkt. Wir wollen keinen Aktivismus betreiben, bei dem wir uns in wenigen Jahren auspowern, sondern einen Weg finden, widerständig zu leben. Ein Freund, der Teil der autonomen Anti-AKW-Bewegung der 1980er-Jahre war, erzählte uns dazu eine Geschichte:

»Nach Jahren des Widerstands auf Hüttendörfern und Bauplatzbesetzungen kamen die Kämpfe der Anti-Atom-Bewegung bei der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf zu einem vorläufigen traurigen Höhepunkt. Aus Hubschraubern wurde mit Tränengasgranaten geschossen, drei Menschen kamen ums Leben. In meinem Umfeld waren Gefühle von Ohnmacht und Niederlage dominant. Ich ging in die USA, um vom indigenen Widerstand zu lernen, der eine längere Tradition hat. Bei einer Besetzung eines Büros für Indianische Angelegenheiten (BIA) auf einem Reservat fragte ich: ›Glaubt ihr eigentlich, dass solche Aktionen etwas bringen?‹ Eine ältere Frau antwortete: ›Weißt du, wir sind seit 500 Jahren im Widerstand, und wenn es nochmal 500 Jahre dauert, wir machen weiter.‹«

Die alte Frau kämpft unter düsteren Vorzeichen, aber sie macht ihr eigenes Kämpfen nicht davon abhängig, dass sich in einer begrenzten Zeit einstellt, wofür sie kämpft. Stattdessen setzt sie es in ein Verhältnis zu denen, die vor ihr waren, und denen, die nach ihr kommen. Diese Haltung würden wir uns für uns selber wünschen.

In der Geschichte des Widerstands gab es viele Momente, in denen Menschen hätten aufgeben können. Doch nur, weil sie weitergekämpft haben, können wir heute an ihren Widerstand anknüpfen.

Hide behind the science

Von kritischer Wissenschaft und Wissenschaftskritik

In den ersten beiden Kapiteln sind wir ziemlich tief eingestiegen in die Frage, warum wir uns von Angst und Dringlichkeitsnarrativen nicht leiten lassen wollen. Liest sich hübsch, werden einige von euch sagen, aber meine Angst davor, dass es bald zu spät ist, die Klimakrise aufzuhalten, habe ich nicht in irgendeinem Elbenspiegel gesehen, sie basiert auf knallharten wissenschaftlichen Fakten. Stimmt, sagen wir. Wir lassen die Wissenschaft auf jeden Fall im Gepäck. Sie ist ein wichtiges Multitool, mit dem wir Ideologie-Gespenster vertreiben können, Feuer machen oder auch Gestrüpp wegschneiden können, das uns den Weg versperrt. Sie hilft uns, den Weg freizumachen. Aber sie nimmt uns nicht die Entscheidung ab, wo wir hingehen wollen.

Unsere volle Empathie gilt Andrew Dessler, einem US-amerikanischen Atmosphärenforscher, der den IPCC-Sachstandsbericht von August 2021 folgendermaßen »für Entscheidungsträger*innen« zusammenfasst:

»Hallo Arschlöcher. Wir haben euch jahrzehntelang erzählt, dass das passieren würde, wenn wir nicht die Treibhausgasemissionen reduzieren. Ihr habt nicht auf uns gehört, und jetzt passiert es alles. Hoffentlich seid ihr glücklich. Genießt Hitzewellen, Starkregen, Meeresspiegelanstieg, Ozeanversauerung und noch viel mehr, ihr verdammten Idioten.«[17]

Seit Jahrzehnten legen Klimawissenschaftler*innen Fakten auf den Tisch, warnen, werden kaum gehört. Erstaunlicherweise ist es trotz ihrer rognosen zu keiner Massenpanik gekommen; Regierungen handeln nicht oder nur halbherzig nach ihren Empfehlungen. Stattdessen gibt es sogar Shitstorms gegen Wissenschaftler*innen, die öffentlich auf die drastischen Auswirkungen der Klimakrise hinweisen. Fridays for Future machen darum den Slogan ›Unite behind the science‹ stark. Das ist angesichts der immer noch weitgehenden Verdrängung der Klimakrise in der Bevölkerung ein wichtiger Appell. Je größer das Bewusstsein um die besorgniserregenden Prognosen, desto größer der politische Druck für weitreichende Klimaschutzmaßnahmen, so die Annahme. Wir sind allerdings skeptisch, wie weit der Slogan trägt. Der starke Bezug auf Naturwissenschaften hat den Vorteil, dass er der Bewegung hohe Glaubwürdigkeit verleiht. ›Unite behind the science‹ klingt objektiv, frei von ideologischem Ballast und ist eine Einladung an Menschen (fast) aller politischer Lager. Doch wissenschaftliche Szenarien sind zwar unerlässliches Handwerkszeug, aber keine politische Haltung. Sie sind Analysetool, aber keine Handlungsanleitung. Setzen wir auf Geo-Engineering und elektrisierten Individualverkehr oder auf kleinbäuerliche Landwirtschaft und kostenlosen ÖPNV?

Auch in der Corona-Krise wird oft appelliert, ›auf die Wissenschaft zu hören‹. Was soll das bedeuten? Natürlich müssen wir uns mit den Daten on Virolog*innen auseinandersetzen – aber welche Konsequenz wir daraus ziehen, können diese uns nicht abnehmen. Ob eine Regierung veranlasst, die Türen von Infizierten zuzunageln, ob es im Lockdown erlaubt ist, mit Struppi Gassi zu gehen - das sind Fragen der politischen Aushandlung. Es gibt nicht DIE Wissenschaft, sondern verschiedene wissenschaftliche Erkenntnisse, die sich gegenseitig ergänzen, manchmal auch widersprechen, im Laufe der Zeit durch neue Forschungen an Bedeutung verlieren. Ergebnisse von Experimenten sind nicht zu trennen von der Situation der Beobachter*innen. Und Forscher*innen wiederum sind Kinder ihrer Zeit, die von aktuellen Diskursen und Herrschaftsverhältnissen geprägt werden.

Allgemeingültige Wahrheiten gibt‘s nur in der Kirche. Selbst Wissenschaftler*innen… nein, gerade Wissenschaftler*innen behaupten nicht, dass sie göttliche Wahrheiten verkünden. Im IPCC Bericht ist viel von den »Wahrscheinlichkeiten« die Rede, mit denen Aussagen zutreffen oder nicht. Den XR-Slogan ›Tell the truth‹ finden wir darum dubios – irgendwer hat hier die Postmoderne verpasst.

Den Wahrheitsbegriff zu hinterfragen, bedeutet aber nicht, dass alle Aussagen gleichwertig sind und wir uns in ›subjektiver Beliebigkeit‹ verirren: »Die Erde wird nicht dadurch flach, dass einzelne Leute das Gefühl haben, sie sei nicht rund.«[18] In einem ständigen kollektiven Abgleich mit Erfahrungswerten können wir für eingegrenzte Bereiche zu Schlüssen kommen, die zutreffender sind als andere. Es gibt kaum einen Bereich der Naturwissenschaften, der so konsensual ist wie die Klimawissenschaften. Über die Aussage, dass es einen durch ›menschengemachte‹[19] Treibhausgase bedingten Klimawandel gibt, herrscht eine große Gewissheit, im Gegensatz etwa zu Aussagen über Abläufe im Innern von Teilchen oder die Entstehung des Universums.

Zu sehen, dass naturwissenschaftliche Aussagen immer in einem gesellschaftlichen Kontext stehen, bedeutet nicht, dass sie nicht dazu taugen, die Wirklichkeit zu verstehen. Dieses Spannungsfeld auszuhalten, ist offenbar für viele eine Überforderung. Im Extremfall kommt es zu den hochproblematischen Protesten der Klima- und Coronaleugner*innen, die Wissenschaft ganz ablehnen oder sich auf ihre eigenen ›alternativen Fakten‹ berufen. Die Antwort darauf kann aber nicht sein, Wissenschaft unreflektiert zu überhöhen. Im Gegenteil: Wir dürfen die Kritik an der Wissenschaft nicht ihren Feinden überlassen.

Vermessen

Es liegt nahe, mit Zahlen zu argumentieren. Was quantifizierbar ist, gilt als Grundlage für allgemein nachvollziehbare ›objektive‹ Argumente. Die Verständigung auf gemeinsame Maßeinheiten ist ein enormer Fortschritt. Es gab Zeiten, in denen sich die Länge einer Elle nach dem Arm des Fürsten des jeweiligen Kleinstaates richtete. »Mal war der Abstand von der Nasenspitze zum Daumen entscheidend, mal die Länge eines Fußes – und das zum Teil von Stadt zu Stadt unterschiedlich.«[20] Es waren wohl vor allem Kaufleute, denen das wichtig war, damit sie nicht in den Fürstentümern der langen Lulatsche Verluste machten. Der französische Nationalkonvent führte 1795 das metrische System ein. Darin einigte man sich auf den Meter als allgemeingültige Maßeinheit, also der zehnmillionste Teil der Strecke vom Nordpol zum Äquator. Revolutionär!

Was einerseits Emanzipation von der Willkür der Herrschenden war, leistete einem neuen Größenwahn Vorschub. Die Fähigkeit, die ganze Erde zu vermessen, ging einher mit der Idee, sie auch komplett kontrollieren und beherrschen zu können. Die Vorstellung wurde dominant, dass nichts gilt, was man nicht messen kann.

Zurück zum Klimaschutz: Ein Beispiel dafür, wie unpassend es ist, Natur zu ›vermessen‹, sind Waldschutzmaßnahmen, bei denen die Speicherkapazitäten von Bäumen mit einem einheitlichen Wert versehen und auf dem globalen Markt verhandelt werden. Doch es ist nicht einheitlich, wie viel CO2 ein Baum speichert. Das richtet sich zum Beispiel nach Baumart und nach Alter oder danach, welchen Klimaeinwirkungen er ausgesetzt ist. Außerdem werden selbst die genauesten Messungen nicht dem Wert eines Waldes gerecht und der Bedeutung, die er für Menschen und andere Lebewesen haben kann.

Weniger rechnen, mehr nachdenken

Die Lösungen für die Klimakrise sind niemals ›objektiv‹, sondern werden auf der Basis von bestimmten Werten und gesellschaftlichen Positionierungen vorgeschlagen. Wir finden es wichtig, diese transparent zu machen, anstatt sich hinter einer vermeintlichen Neutralität zu verstecken.

Die Klimabewegung bezieht sich im Sinne der Anschlussfähigkeit häufig auf Begriffe wie Klimaneutralität oder ›Netto Null‹. Zugegeben, die Forderung nach ›Netto Null bis 2035‹ klingt erstmal seriöser als ›Shell must fall‹. Strategisch gesehen sind diese Begrifflichkeiten jedoch eine Sackgasse – wenn nicht ein Irrweg. Sie stärken die Engführung von Klimapolitik auf die Messung von Treibhausgasemissionen. Doch wer sich zu sehr auf Emissionszahlen fixiert, läuft Gefahr, den Blick für systemische Ursachen und Lösungen zu verlieren.