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Jerry Cotton auf Gespensterjagd! Nein, niemand bei uns vom FBI glaubt ernsthaft an Geister oder andere übersinnliche Erscheinungen. Aber in einem Wald namens Blackwood an der Staatsgrenze zu Connecticut kam es zu einer Reihe mysteriöser Verbrechen, die die Einwohner eines nahen Städtchens in Angst und Schrecken versetzten. Also schaute ich mich in Blackwood um, in dem Glauben, es mit ganz normalen menschlichen Tätern zu tun zu haben. Doch als ich dann auf eine Klinik stieß, die offenbar von Bestien beherrscht wurde, war schnell klar, dass meine Gegner alles andere als "normal" waren!
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Seitenzahl: 192
Cover
Impressum
Klinik der grausamen Frauen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: (Film) »Das Tal der Puppen«/ddp-images
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5431-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Klinik der grausamen Frauen
1963 startete der Bastei Verlag die Jerry Cotton Taschenbücher in Ergänzung zu der Heftromanserie, die zu diesem Zeitpunkt schon in der zweiten Auflage war.
Damals fragte der Klappentext der Taschenbücher noch: Wer ist G-man Jerry Cotton? Und gab auch gleich die Antwort:
»Er ist ein breitschultriger, gutaussehender FBI-Beamter, der sein Leben dem Kampf gegen Gangster gewidmet hat. Durch seinen Mut und seine Entschlossenheit hat er die Herzen von Millionen Lesern in mehr als 40 Ländern erobert.«
Die Jerry Cotton Sonder-Edition bringt die Romane der Taschenbücher alle zwei Wochen in einer Ausgabe.
Es ist eine Reise durch die Zeit der frühen 60er Jahre bis in das neue Jahrtausend.
1
Sie nahm das vergilbte Foto ihrer Mutter von der Wand und legte es obenauf in den letzten Koffer. Sie drückte den Deckel zu und hob mit einem leisen Stöhnen den schweren Koffer vom Stuhl, um ihn neben die anderen zu stellen, die sie schon gepackt hatte. Noch einmal sah sie sich in dem kleinen Zimmer um. Sie würde es nie wiedersehen. Und nun fiel ihr der Abschied auf einmal doch schwer.
Es war zehn vor acht. Es wurde Zeit. Das Taxi hatte sie schon am frühen Morgen bestellt. Ihre Stellung war gekündigt. Das Zimmer ebenfalls. Sie hatte sich von den wenigen Menschen verabschiedet, denen sie ein Abschiedswort schuldig war. Nur das Telefon musste sie noch abmelden. Diese Verbindung zur Außenwelt hatte sie bis auf die letzte Minute bewahrt, denn sie hoffte noch immer auf den rettenden Anruf, auf die vertraute Stimme, die allein alles wiedergutmachen konnte.
Aber das Telefon klingelte nicht. Die Stille in ihrem Zimmer wurde eine Last, die sie körperlich zu spüren vermeinte. Sie weinte nicht. Darüber war sie längst hinaus. Das war am Anfang noch möglich gewesen. Jetzt gab es keine Tränen mehr. Es gab nur noch die Gewissheit, dass sie alles allein durchstehen musste. Wenn sie es überhaupt überleben würde …
Um das trostlose Warten abzukürzen, prüfte sie noch einmal nach, ob sie auch alles eingepackt hatte. Viel war es ohnedies nicht, was ihr gehörte. Sie klappte die Handtasche auf und suchte die Fahrkarte. Dabei fiel ihr das Bild in die Hände, das Bild des Mannes, der allein ihr helfen konnte. Ein harter Zug trat in ihr Gesicht. Gab es irgendeinen Grund, dieses Bild mit sich herumzutragen?
Sie zog das Fenster auf, hielt das Flämmchen ihres Feuerzeugs an eine Ecke des Fotos und sah zu, wie es langsam vom Feuer aufgezehrt wurde. Der Wind blies ihr die Asche aus den Fingern. Ein paar rußige Flocken waren alles, was übrig blieb. Und die trieb der Wind davon wie gelbe Blätter im Herbst, gefühllos und ziellos, während in ihrem Herzen wieder dieser dumpfe Schmerz war, der kein Ende nahm.
Sie stand schließlich auf und ging zum Telefon, wählte die Rufnummer der New York Telefongesellschaft und meldete ihren Anschluss ab.
Und damit hatte Sandra Pirella die letzte Brücke hinter sich abgebrochen.
***
»Das Office vom County Sheriff?«, wiederholte Jennifer McDonald, während sie mein Frühstücksgeschirr zusammenstellte. »Gehen Sie nach links die Straße hinunter bis zum Marktplatz, Mister Cotton! Links ist die Apotheke, rechts der Schmied und das Spritzenhaus. Genau in der Mitte liegt das Haus mit den roten Dachziegeln. Da finden Sie das Office vom Bürgermeister, die vier Angestellten der Stadt und das Büro des Sheriffs.«
»Danke, Miss McDonald.«
»Hier nennen mich alle Jennifer. Tun Sie es auch, Mister Cotton!«
Ich sah ihr zu, während sie das Frühstücksgeschirr auf das Tablett stellte. Sie mochte Ende zwanzig sein und war vielleicht keine strahlende Schönheit. Aber sie war auf eine sehr aparte Weise hübsch. Ihre Hände waren Arbeit gewöhnt, das sah man. Und sie hatte außer einer Andeutung von Lippenstift keinerlei Make-up verwendet. Auch die flachen Schuhe und das billige Baumwollkleid mit der großkarierten Schürze darüber deuteten auf ihre Arbeit als Mädchen für alles in diesem Kleinstadthotel hin. Und trotzdem passte sie nicht hierher. Irgendetwas in ihrem ganzen Wesen passte einfach nicht in diese ländlich-verschlafene Kleinstadtatmosphäre.
Aber vielleicht irrte ich mich. Bei Frauen kann man ja nie so recht wissen, woran man ist. Jedenfalls, wenn man ein durchschnittliches männliches Wesen ist. Ich blickte hinaus auf die kleine Straße, die gestern Abend bei meiner Ankunft so verlassen gewirkt hatte. Jetzt sah man immerhin ein paar Frauen mit Einkaufstaschen und gelegentlich sogar ein Auto. Es waren durch die Bank ältere, staubbedeckte Modelle der unteren Mittelklasse. Mit meinem roten Jaguar konnte ich hier nur auffallen. Aber das war nun mal nicht zu ändern.
Jennifer wollte gerade mit ihrem Tablett in die Küche.
»Einen Augenblick, Jennifer!«, sagte ich schnell.
Sie drehte sich um. Ihr kastanienbraunes Haar sandte rotglitzernde Lichtreflexe aus. Die großen braunen Augen sahen mich an. Ihr blasses Gesicht war so unbewegt wie immer.
»Wie lange leben Sie schon hier?«, fragte ich.
Sie wich einen Schritt zurück, als ob sie plötzlich Angst vor mir hätte. »Warum?«, fragte sie tonlos. »Warum wollen Sie das wissen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich wollte mich mit Ihnen bei passender Gelegenheit einmal etwas über diese Gegend hier unterhalten. Und über die Leute. Was es hier eben so gibt.«
»Warum?«
Ich versuchte es mit einem freundlichen Grinsen. »Weil ich ein Polizeibeamter bin. Vom FBI. Ich muss mich hier in der Gegend ein wenig umsehen. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht den einen oder anderen Rat geben.«
Ihr Blick war noch immer unverwandt auf mich gerichtet. »Sie sind Polizeibeamter?«, wiederholte sie.
»Ja. Ich hoffe, Sie haben nichts gegen die Polizei, Jennifer.«
Ich hatte es als Scherz gemeint, aber es war mir wohl nicht gelungen, das richtig deutlich werden zu lassen. Sie öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, aber dann schüttelte sie nur den Kopf und hastete in die Küche. Die Tür klappte mit einem harten Geräusch hinter ihr zu.
Ein paar Sekunden sah ich ihr nach. Irgendetwas war mit ihr. Sollte es mit dem blödsinnigen Auftrag zusammenhängen, der mich in dieses verschlafene Nest geführt hatte?
Ich und ging hinaus. Die warme Frühlingssonne sorgte für eine angenehme Temperatur. Hinter der gegenüberliegenden Häuserreihe hörte ich das Singen von hellen Kinderstimmen. Vielleicht lag die Schule des Städtchens hier in der Nähe.
Ich stieg auf dem Hof in meinen Jaguar und fuhr zum Büro des Sheriffs. Es sah aus, wie jedes beliebige Zimmer in einem Polizeirevier in New York auch aussehen könnte. An den Wänden hingen Steckbriefe, von denen ein paar nicht mehr ganz taufrisch waren. Es gab zwei alte Schreibtische, vier billige Holzstühle, zwei Regale und einen kleinen Panzerschrank, den ein richtiger Großstadtganove wahrscheinlich mit einer krummgebogenen Haarnadel öffnen konnte, wenn er gewollt hätte.
Hinter dem Schreibtisch, der am Fenster stand, saß ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Er war breit in den Schultern, hatte verwitterte, sonnengebräunte Gesichtszüge und eisgraues Haar, das so kurz geschoren war, dass seine Borsten nach allen Seiten vom Kopf abstanden. Unter den daumenbreiten, buschigen Augenbrauen blickte mir ein Paar himmelblauer Augen entgegen.
»Guten Morgen«, sagte ich und holte meinen Dienstausweis hervor. »Ich bin Jerry Cotton, Special Agent des FBI, New York District. Sie haben uns um Amtshilfe ersucht, und da bin ich.«
»So, so«, sagte er unbeeindruckt. »Also, Sie sind Special Agent. Komisch. Die habe ich mir ganz anders vorgestellt.« Er musterte mich schon beinahe unverschämt. »Ich bin Sam Proctor, der County Sheriff. Freut mich, Cotton, dass Sie so rasch gekommen sind. Obgleich es nicht gerade eilig war.«
»Worum geht es denn, Sheriff? Was Sie uns da geschrieben haben, muss doch ein Witz gewesen sein, oder?«
»Was habe ich denn geschrieben?«
»Auf eine kurze Formel gebracht: dass es hier Gespenster gibt, dass Sie es leid sind, dass Sie aber mit ihnen nicht fertig werden können und wir sie Ihnen gefälligst vom Halse schaffen sollen. Offen gestanden ist man sich weder in New York noch in Washington sicher, ob das FBI überhaupt für Gespenster zuständig ist. Weil wir aber lokalen Polizeibehörden immer gern unter die Arme greifen, haben wir uns einfallen lassen, dass hier oben die Grenze zum Bundesstaat Connecticut nicht weit ist, dass Ihre Geister vielleicht über diese Grenze hin- und herwechseln und dass unter diesem Gesichtspunkt erste Ermittlungen durch das FBI zu rechtfertigen sind. So weit, so gut. Nun würde ich nur gern hören, wo Sie wirklich der Schuh drückt.«
»Das mit den Gespenstern glauben Sie natürlich nicht, wie?«
»Darf ich ehrlich sein?«
»Bitte!«
»Es ist der albernste Unsinn, den ich je von einem County Sheriff gehört habe.«
Er nickte wieder in seiner ruhigen, gelassenen Art. »Natürlich«, meinte er. »Großstädter.«
»Also, tatsächlich Gespenster«, sagte ich ungefähr so, wie ich einem Verrückten bestätigen würde, dass die Erde eine neuneckige Keksschachtel sei. »Weiß man etwas Näheres über sie? Wachsen sie auf den Bäumen, oder kommen sie bei Neumond um Mitternacht aus einem See? Und richten sie großen Schaden an?«
»Wie man’s nimmt«, sagte er todernst. »Jedenfalls machen sie die Leute hier allmählich verrückt. Und das genügt mir. Durch das Blackwood-Wäldchen im Westen der Stadt fahren selbst die hartgesottensten Farmer aus der Umgebung nur noch mit erhöhter Geschwindigkeit. Keine Frau wagt sich noch auf die Felder, die in der Nähe des Wäldchens liegen. Und wir alle passen, so gut es geht, darauf auf, dass sich die Kinder schon gar nicht dahin begeben.«
»Also das Blackwood-Wäldchen«, wiederholte ich. »Und was hat es da gegeben? Ich meine, außer dass es dort spukt? Ist auch mal etwas Nennenswertes vorgefallen? Etwas Handgreifliches, wenn Sie so wollen?«
»Vor sechs oder sieben Jahren wurde die Frau des Schmieds überfallen, als sie Kräuter für ihr krankes Knie im Wald suchen wollte. Es war ein schwarzer, hinkender Kerl. Im nächsten Jahr sahen spielende Kinder einen tanzenden Teufel im Wald. Er war rot gekleidet und hatte einen roten Kopf, so sagten es die Kinder. Dann kam die Geschichte mit der Kuh unseres Apothekers. Eines Tages war sie weg. Wir fanden sie schließlich im Blackwood-Wäldchen, verendet, aber ohne irgendein Zeichen äußerer Gewalt. Dann blieb es anderthalb Jahre ruhig. Aber dann wurde die sechzehnjährige Tochter von Joe Silham im Blackwood-Wäldchen vergewaltigt. Das brachte sie um den Verstand. Sie ist heute noch nicht wieder gesund. Alles, was man aus ihr herauskriegen konnte, war die vage Beschreibung eines schwarzen Kerls, der eine Art roter Kriegsbemalung im Gesicht gehabt zu haben scheint. Und dann wurde unser Landbriefträger im Wald von hinten niedergeschlagen und ausgeraubt. Als er wieder zu sich kam, hatte jemand die ganze Post verbrannt. Und vor ein paar Wochen schließlich fanden wir den alten Jim Parker erschossen im Wäldchen. Die Kugel fuhr ihm genau zwischen die Augen. Selbst die hinzugezogene State Police hat uns bis zur Minute noch nicht einmal den Schimmer eines Verdachts liefern können. Ich hoffe, dass Ihnen diese Geschichten nennenswert genug sind.«
»Oha«, sagte ich. »Das sind eindeutige Verbrechen, Sheriff, zum Teil sogar Kapitalverbrechen. Aber meinen Sie nicht auch, dass wir uns auf irdische Täter einigen könnten? Ich habe noch nie gehört, dass Gespenster Frauen vergewaltigen oder Briefträger überfallen, um die Post für eine Kleinstadt zu verbrennen.«
Proctor sah mich mit seinen himmelblauen Augen ausgesprochen freundlich an. Er schien zu überlegen, ob ich gekocht oder gebraten besser zu verspeisen sei. Als er den Mund aufmachte, erinnerte mich seine Stimme an ein fernes Gewittergrollen.
»Ich will Ihnen mal was sagen, Cotton. Natürlich bin ich nicht so ein toller Hecht wie Sie, Kriminalist der besten Schule und so. Ich bin nur ein kleiner, dummer Provinzpolizist. Das heißt aber nicht, dass wir hier nicht gelernt hätten, bis drei zu zählen.«
»Wie schön, dass ich es nicht mit Analphabeten zu tun habe«, lobte ich. »Und was weiter, Sheriff? Wodurch wollen Sie mir beweisen, dass es Gespenster gewesen sein müssen? Denn darauf zielt Ihre Einleitung doch hin, nicht wahr?«
Er wich einer direkten Antwort aus. »Als die Sache mit dem Mädchen passiert ist, hatte ich zehn Minuten später das ganze Wäldchen umstellt und alle Wege und Straßen, die hinein- oder herausführen, abgeriegelt. Ich ließ mit der Feuersirene das eigens für diesen Zweck zusammengestellte Aufgebot alarmieren, und wir durchsuchten mit hundertsechzig Männern Zoll für Zoll das ganze Wäldchen und alle angrenzenden Felder.«
»Wenn der Täter einen Wagen hatte, konnte er längst über alle Berge sein.«
»Es gab keinen Wagen, der an diesem Tag in das Wäldchen gefahren war. Es gibt mit dem Auto nur zwei Möglichkeiten, in das Wäldchen zu kommen, nämlich auf der Bundesstraße nach oder von Albany. Seit es die Autobahn gibt, benutzt niemand mehr diese verhältnismäßig schmale und kurvenreiche Straße. Der letzte Wagen hatte das Wäldchen schon passiert, als das Mädchen noch gar nicht im Wald war.«
»Okay. Angenommen, es wäre so. Was haben Sie gefunden?«
»Nichts. Gar nichts. Nicht die Spur eines menschlichen Lebewesens. Der Kerl, der das dem Mädchen angetan hat, muss sich in Luft aufgelöst haben.«
»Das wäre eine sensationelle Erfindung, wenn er das könnte. Ich glaube es nicht. Er wird mit einem Wagen verschwunden sein, den zufällig niemand gesehen hat.«
»Das Blackwood-Wäldchen steht vom Morgengrauen bis zum Eintritt der Dunkelheit unter Beobachtung. Im Süden wechseln sich die alte Milane und Jack Rippers in der Beobachtung der Straße ab, und im Norden tut es Johnny Graham.«
»Diese Leute beobachten Tag für Tag und pausenlos diese Straße, die durch das Wäldchen führt? Haben sie nichts anderes zu tun?«
»Nein. Rippers ist gelähmt und kann aus dem Rollstuhl nicht heraus. Die alte Milane strickt sowieso von morgens bis abends, und dabei kann sie auch am Fenster sitzen und nebenher die Straße kontrollieren. Bei Johnny Graham liegt es ähnlich. Der ist Rentner, neugieriger als das neugierigste Frauenzimmer und froh, dass er von mir diese Aufgabe erhielt.«
»Wollen Sie sagen, dass niemand durch das Wäldchen fahren kann, ohne auf diese Art kontrolliert zu werden?«
»So ist es. Ich habe den alten Leutchen zwei von unseren Feldtelefonen gegeben. Sie setzen sich miteinander in Verbindung, sobald ein Wagen in das Wäldchen fährt. Ist er nicht in der normalen Fahrtzeit von acht bis zwölf Minuten am anderen Ende gesichtet worden, werde ich angerufen. Dann fahre ich raus und sehe mal nach. In den letzten zwei Jahren habe ich das ungefähr dreißigmal gemacht. Und jedes Mal waren es harmlose Leutchen, die eine kleine Rast eingelegt hatten.«
»Aber damals …«
»Als es mit dem Briefträger passierte, gab es keinen Wagen im Wäldchen. Der letzte hatte eine Dreiviertelstunde vorher den Wald passiert. Wir haben das Gelände durchsucht, wie damals nach der Sache mit dem Silham-Mädchen. Und wir haben es noch gründlicher getan, weil der Kerl ja noch irgendwo in der Gegend sein musste. Während das Wäldchen praktisch von allen Seiten beobachtet wurde, haben wir Baum für Baum und Strauch für Strauch abgekämmt. Es gibt kein Tier, größer als eine Faust, das uns nicht zu Gesicht gekommen wäre. Aber einen Menschen haben wir nicht gesehen. Glauben Sie an Geister, oder glauben Sie nicht daran! Das ist Ihre Sache. Aber hier kann es nicht mit rechten Dingen zugehen.«
»Können Sie mit mir mal hinaus zu diesem Wäldchen fahren?«
»Heute Nachmittag gern. Im Augenblick kann ich hier nicht weg.«
»Dann fahre ich jetzt schon mal allein hinaus. Beschreiben Sie mir den Weg?«
»Nichts einfacher als das. Die Straße, die an der Schmiede vorbeigeht, führt Sie nach Blackwood und durch das Wäldchen.«
»Was ist Blackwood?«
»Die nächste Ortschaft. Ein kleines Dorf von kaum zweihundert Einwohnern. Ungefähr sechs Meilen von hier.«
»Okay. Ich wohne im Hotel Dougan. Wenn es mal etwas gibt, was mit unseren Geistern zu tun hat, rufen Sie mich dort an!«
»Darauf können Sie sich verlassen, Agent. Und wenn Sie irgendwas brauchen, wenden Sie sich an mich. Ich habe das FBI nicht um Amtshilfe gebeten, damit ich Ihnen die Arbeit erschweren kann. Mein Interesse ist klar: Ich will, dass hier die Gegend wieder zur Ruhe kommt. Und wenn Sie das schaffen, Cotton, werde ich Ihnen sehr dankbar sein.«
»Wir wollen mal sehen, was das FBI mit Geistern anfangen kann«, sagte ich, während ich aufstand. »Viel Erfahrung haben wir allerdings nicht im Umgang mit Gespenstern. Also dann, Sheriff!«
»Wiedersehen, Agent!«, brummte Proctor.
***
Ich ging hinaus und stieg die sechs ausgetretenen Steinstufen hinab zu meinem Jaguar. Dort hatten sich inzwischen ungefähr zehn Leutchen versammelt, die den roten Flitzer bestaunten. Der Schmied war anscheinend auch dabei. Ich sagte einen freundlichen Morgengruß, grinste sie an und stieg ein. Natürlich fühlte sich mein Autobesitzerstolz einigermaßen geschmeichelt über die anerkennenden Gesichter, die meinem alten, treuen Vehikel galten. Ich tippte das Gaspedal an und rollte an der Schmiede vorbei durch den Rest des Städtchens. Hinter den letzten Häusern stieg die Straße allmählich zu einem kleinen Höhenzug an, wo das Wäldchen anfing. Ich war in Gedanken bei dem, was mir der Sheriff erzählt hatte.
Natürlich glaube ich nicht an überirdische Dinge. Und wenn die Durchsuchung des Wäldchens nichts erbracht hatte, dann musste eben der Täter vorher schon aus der Gefahrenzone verschwunden sein. Oder es gab eine versteckte Höhle, die man auch beim gründlichen Suchen nicht so einfach entdecken konnte. Irgendeine Erklärung in dieser Preislage würde sich schon finden, davon war ich überzeugt.
Ich fuhr sehr langsam und sah mich aufmerksam um. Das Wäldchen bestand aus Nadelhölzern, die blaugrün und schweigend in den sonnigen Himmel ragten. Für New Yorker Begriffe herrschte eine geradezu unnatürliche Stille. Nur manchmal hörte man in den Zweigen die Stimme eines Vogels. Ich begann, mich mit diesem Auftrag auszusöhnen.
Natürlich hatten mich alle Kollegen und allen voran mein lieber Freund Phil Decker damit aufgezogen, bevor ich von New York aufgebrochen war. Und ich selbst fand es ja auch reichlich idiotisch, eine Gespenstergeschichte auch nur einen Augenblick so ernst zu nehmen, dass man tatsächlich einen Special Agent mit Ermittlungen beauftragte. Aber nach allem, was mir der Sheriff erzählt hatte, spürte ich doch schon den prickelnden Reiz des Rätsels, das gelöst werden wollte. Und ein paar Tage in dieser wunderschön ruhigen Gegend konnten mir schließlich nur guttun.
Ich hatte das Seitenfenster geöffnet und atmete die würzige Waldluft in tiefen Zügen, als ich plötzlich den dunklen Fleck am anderen Rand der Straße sah. Ich trat auf die Bremse, stieg aus und ging hinüber.
Wahrscheinlich ein Ölfleck, dachte ich. Hier wird ein Wagen gestanden haben, der etwas Öl verloren hatte. Aber warum sollte ein Wagen hier überhaupt anhalten? Rechts und links der Straße gab es nichts als hochragende Douglasfichten und dazwischen von abgefallenen braunen Nadeln übersäten Waldboden. Nicht einmal ein Weg mündete hier in diesem Abschnitt.
Ich bückte mich. Der Fleck war bereits eingetrocknet. Nach Öl sah er nicht aus. Eher nach Blut. Ich hatte schon oft genug getrocknetes Blut auf einem Asphaltgrund gesehen, um es wissen zu müssen. Aber Blut? Hier in diesem ruhigen Wäldchen? Wenn es kürzlich hier einen Unfall gegeben hätte, wäre der Sheriff doch vermutlich darauf zu sprechen gekommen. Außerdem gab es sonst keinerlei Spuren. Ich stemmte mich hoch und sah mich um.
Ein kleiner Graben lief neben der Straße her. Genau unterhalb der Stelle, wo der dunkle Fleck auf dem Asphalt war, lag ein Zigarettenstummel. Ich sprang in den trockenen Graben hinab und hob den Stummel auf. Er stammte von einer Camel und war noch blütenweiß. Länger als einen Tag konnte er unmöglich hier liegen. Ich besah mir die andere Grabenseite.
Auf ein paar Grashalmen gab es dunkle Tupfer. Und wieder erinnerten sie mich an geronnene Blutspritzer. Vielleicht hat hier einer gewildert, dachte ich. Ein Kaninchen angeschossen oder etwas anderes. Das wäre ein Fressen für ein gewisse Zeitungen. Jerry Cotton, der bekannte Gangsterjäger aus Manhattan, auf der Fährte eines angeschossenen Kaninchens! Die neuen Spitznamen für mich konnte man sich schon ausmalen. Ich rümpfte die Nase. Nein, ich dachte nicht daran, hinter einem Kaninchen herzulaufen.
Und dann tat ich es natürlich doch. Ich kletterte auf der Waldseite aus dem Graben und suchte. Schon nach ein paar Schritten hatte ich die nächsten dunklen Flecken auf dem Nadelboden entdeckt. Jetzt konnte mich nichts mehr aufhalten. Ich ging vorgebeugt in den Wald hinein und suchte. Als ich dreißig Yards von der Straße weg war, ließ sich aus der Folge der dunklen Tupfer eine Richtung ablesen. Sie führte genau im Winkel von neunzig Grad von der Straße ab in den Wald hinein.
Ich folgte dieser Spur ungefähr eine Dreiviertelmeile und erreichte eine Fichtenschonung. Die jungen Bäume waren knapp mannshoch und standen dichter beieinander als die ausgewachsenen Bäume vorher. Es wurde schwieriger, weil die unteren Äste sich berührten. Ich suchte weiter. Und ich fand an einem der lichtgrünen Nadelzweige die nächste Blutspur. Ich kniete nieder und besah mir die Sache genauer. Der Ast befand sich ungefähr einen Fuß hoch über dem Boden. Damit schied ein Kaninchen wohl aus. Hier hatte ein Lebewesen Blut verloren, das wesentlich größer als ein Kaninchen sein musste.
Vorsichtig schob ich die Zweige auseinander und suchte weiter. Jetzt zeigten mir auch schon abgeknickte Zweige den Weg. Nach einer Viertelstunde war ich quer durch die Schonung hindurch und fand noch immer dunkle Spritzer. Hier hörte der Nadelwald auf und ging in Mischwald über. Aus dem mit braunen Nadeln bedeckten Boden wurde weiches Waldgras. Das machte die Sache schwieriger. Ich ging sehr tief gebückt und strich mit den Händen durch das hohe Gras, um die Spur nicht zu verlieren.
Die Fährte brachte mich in die Nähe eines dicken Buchenstamms. Ich ging langsam an dem grauen Stamm vorbei. Irgendwo knackte etwas, aber ich achtete nicht darauf. Es hatte schon den ganzen Weg über immer irgendwo geknackt, wenn ein Eichhörnchen vor mir davongehuscht war oder irgendein anderes Waldtier mich Störenfried gewittert hatte. Ich suchte die nächsten dunklen Flecken meiner Fährte, und ich war so auf diese Suche konzentriert, dass ich nicht bemerkte, was hinter mir vorging.
Auf einmal krachte etwas mörderisch hart auf meinen Hinterkopf.
Eine erstickend heiße Schmerzwelle toste durch meinen Schädel, nahm mir die Luft und ließ mich für eine Sekunde grell zuckende Feuerräder sehen.
Die Feuerräder vereinigten sich zu einem explosionsartigen, gleißenden Lichtschein, der heller als die Sonne war. Noch einmal schoss eine glutheiße Schmerzwelle durch meinen Körper, und dann sah ich gar nichts mehr.
***
Der Taxifahrer war ein junger Bursche mit einem gutmütigen Gesicht und tiefschwarzer Haut. Als sie die kleine Ortschaft erreicht hatten, hielt er am Straßenrand an und drehte sich um.
»Sie müssen entschuldigen, Ma’am«, sagte der Farbige, »aber ich bin noch nie hier oben gewesen. Ich will mich nur schnell vergewissern, dass wir hier richtig sind.«
Sandra Pirella nickte. Sie saß auf dem Rücksitz, und sie fröstelte, obgleich es draußen Frühling war.
»Das müsste Blackwood sein«, sagte der farbige Taxifahrer. Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter zurück auf die paar Häuser, die draußen zu sehen waren. »Wir sind genau richtig, Ma’am. Nur noch zwei bis drei Meilen. Halten Sie’s noch so lange aus?«