Joachim Ringelnatz - Alexander Kluy - E-Book

Joachim Ringelnatz E-Book

Alexander Kluy

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Beschreibung

Heute erscheint endlich "Joachim Ringelnatz. Die Biografie"! Joachim Ringelnatz ist vermutlich der beliebteste deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts gewesen. Wer kennt nicht seine Kunstfigur Kuttel Daddeldu? Alexander Kluy erzählt uns – endlich, nach langer Zeit – in einer umfangreichen, brillant recherchierten und feuereifernden Biografie vom spannenden Leben des Hans Bötticher.AUTORENPORTRÄTAlexander Kluy, geboren 1966, Studium der Germanistik und Amerikanistik. Autor, Journalist und Herausgeber erfolgreicher Anthologien und der Reihe "Wiener Literaturen". Zahlreiche Veröffentlichungen in deutschen, österreichischen und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Zuletzt erschien von ihm das Buch Der Eiffelturm. Geschichte und Geschichten(2014). Deutschlandradio Kultur: "Dieses Buch ist ein Glücksfall. Virtuos changiert Alexander Kluy zwischen Historie, Kunstgeschichte, Kunstphilosophie und technischen Details."-

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Alexander Kluy

Joachim Ringelnatz

Die Biografie

 

 

Saga

Der Dank des Autors gilt Dr. Wolf-Rüdiger Osburg und Bernd Henninger, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar, Herrn Matthias Haupt und Martin Mazarin vom Stadtarchiv Wasserburg am Inn sowie besonders herzlich für Gastfreundschaft im Zeichen von JR Erika und Dr. Peter Fischer (Cuxhaven).

Zum gedächtnis vonDr. Tobias Hierl(1955–2014)

Wenn jemand mit seinen Gefährten nicht Schritt hält, so tut er es vielleicht deshalb nicht, weil er einen andren Trommler hört. Lasst ihn zu der Musik marschieren, die er hört, wie auch ihr Takt und wie fern sie selbst auch sei. Es ist nicht richtig, dass ein Mensch so schnell reif wird wie ein Apfelbaum oder eine Eiche. Soll er seinen Frühling in den Sommer verwandeln? Wenn die Bedingung der Dinge, für welche wir geschaffen wurden, noch nicht gegeben ist, was wäre irgendeine Wirklichkeit, die wir dafür als Ersatz heranziehen könnten?

Henry David Thoreau,Walden

1 Auftakt

»Vorbei – verjährt – / Doch nimmer vergessen.«1

Peter Scher: Freund Ringelnatz

Zehn Männer sind – ich übertreibe nicht –

des Abends singend um mein Bett gestanden,

darunter eine Anzahl Musikanten

und alles dies bei ultraviolettem Licht

das bald in grünrotgelb hinüberspielte

und staunenswerte Wirkungen erzielte.

Nervosipopel! nannt’ es Ringelnatz

und freute sich solch grellen Unfugs kindlich,

denn er war – welch ein Glück – nicht lärmempfindlich

und konnte dabei dichten, Satz um Satz;

wie festgenagelt saß er auf dem Aerschchen

und formte lächelnd eigenartige Vers’chen.

Die kühn geschwungene Nase am Papier

schrieb er und muffelte mit seiner Schnute;

er war, ein wahrhaft seltener Gast, der Gute,

nur urlaubsmäßig auf der Erde hier;

man sagte drum nicht falsch und unbegründet,

er war ein Licht, an beiden Seiten angezündet.

Jedoch zurück zum Anfang des Gedichts,

ich bin dem Toben nicht wie er gewachsen,

der aus dem Himmel stammte und aus Sachsen,

von seiner Zähigkeit besitz ich leider nichts;

mich macht der Lärm, der Lärm macht mich zuschanden ...

und er, der ihn ertrug, kam uns so sehr abhanden.2

*

Am 25. November 1934 publiziert der Komponist Wilhelm Furtwängler in der Deutschen Allgemeinen Zeitung einen »Offenen Brief«, in welchem er sich mit Paul Hindemith, dem von den Nationalsozialisten heftig angefeindeten Komponisten, solidarisch erklärt. Am Tag zuvor hat der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler in Berlin französische Frontkämpfer empfangen und diesen versichert, dem »neuen« Deutschland läge keineswegs »an zu erobernde[n] Quadratkilometer[n] von Gebiet«, die Sicherung »des Lebens unseres Volkes« stünde vielmehr im Zentrum seiner Politik. Am 20. November jenes Jahres eröffnet der englische König George V. das neu zusammentretende englische Parlament mit einer Rede, in der deutlich vor einer Krise in Europa gewarnt wird. Am 18. November erhält die NSDAP bei Wahlen in zwei Kreisen der Freien Stadt Danzig 77 Prozent der abgegebenen Stimmen, aufgrund des speziellen Status dieser Stadt sind auch weitere Parteien zugelassen gewesen. Am 17. November wird der Reichsgeschäftsführer der NSDAP Philipp Bouhler zum Chef der Kanzlei des Führers ernannt, ihm zugeordnet sind die Parteiadjutanten sowie Hitlers Privatkanzlei. Einen Tag zuvor ist von Hitler der Antrag des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung angenommen worden, infolgedessen einzig der Nationalsozialistische Studentenbund künftig für die gesamte »politisch-weltanschauliche Erziehung der Studenten« verantwortlich sei. Am 15. November hat US-Präsident Franklin Delano Roosevelt die Einführung einer Arbeitslosenversicherung angekündigt, ein sozialpolitisches Novum, hat es doch bis dato auf nordamerikanischem Boden keine solche Absicherung gegeben, und Joseph Goebbels wird Ehrenbürger Berlins.3 Am 13. November macht die Pariser Zeitung Paris Midi mit einer Sensationsmeldung auf: Ein Luftverteidigungsbündnis zwischen Frankreich und Großbritannien solle das Inselreich besser abschirmen. Am 11. November wird in Goslar, zur deutschen Reichsbauernstadt erkoren, der zweite Reichsbauerntag eröffnet, Landwirte und Agronomen aus dem In- und Ausland nehmen an der siebentägigen Zusammenkunft teil, erstmals wird ein »Reichsbauernthing« durchgeführt. Und am 9. November argumentiert der englische Premierminister James Ramsey MacDonald von der Labour Party, sein Land trete nach wie vor für Frieden in Europa ein, Abrüstung, in Sonderheit einseitige Abrüstung, aber sei in seinen Augen kein wirksames Vorgehen, um andere Länder, die Hoch- und Aufrüstung betreiben würden, zur Einstellung ihrer Aktivitäten zu bewegen, Demilitarisierung könne im Gegenteil einen Angriff erst herausfordern.4

Währenddessen rollt Wagen für Wagen und Tag für Tag ein brummender, summender, lärmender, schier kein Ende nehmender Konvoi-Lindwurm von Last-, Transport- und Arbeitswagen in Berlin die breite Heerstraße hin und her, hinauf und hinunter. Ihr Ziel und dann ihr Ausgangspunkt: das im Bau befindliche Olympiastadion. Und von diesem wieder fort. Seit März 1934 werden die Tribünenbauten der seit 1909 vorhandenen Pferderennbahn des Union-Klubs und das Deutsche Stadion abgerissen, das 1913 eingeweiht worden ist. Berlin hat schon seit Ende der zwanziger Jahre für die Abhaltung von Olympischen Spielen in der Hauptstadt Lobbyarbeit beim Internationalen Olympischen Komitee (IOC) betrieben und schließlich im Mai 1931 vom IOC den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympiade im Jahr 1936 erhalten. Werner March, der Sohn Otto Marchs, des Architekten des Deutschen Stadions, legt daraufhin Pläne für den Stadionumbau vor. Mit der »Machtergreifung« reißt das nationalsozialistische Regime, das Potenzial propagandistischer Selbstdarstellung auf globaler Bühne im Nu mit demagogisch-funkelnder Bauernschläue erkennend, die Baumaßnahmen an sich und treibt das Großprojekt, mittlerweile zum Neubau mutiert, mit viel Geld und noch mehr Drohungen und auf die vielen Gewerke ausgeübtem massivem Druck voran. Zeitgleich wird die zweite Bauphase des neben dem gigantischen Zuschaueroval liegenden Deutschen Sportforums eingeleitet und 1936 ebenfalls abgeschlossen. Es wird im Riesenmaßstab ausgeschachtet. Es werden Tonnen über Tonnen an Erde bewegt. Weggekarrt. Fortgeschafft.

In Hörweite der schwer beladenen Fahrzeuge, auf dem Friedhof an der Heerstraße, wird am Dienstag, den 20. November 1934, ein drei Tage zuvor verstorbener Dichter, Maler, Rezitator, reisender Artist, Kabarettist und leidenschaftlicher Briefeschreiber beigesetzt – Joachim Ringelnatz.

»Dienstag, ½ 3 Uhr ganz nahe in einem Waldfriedhof, der in dichtem Nebel lag war eine wunderschöne kleine Feier in einer mit Kerzen u. Lorbeeren reich geschmückten Halle, auf dem Sarg lag die Fahne u. ein Sträußchen von Muschelkalk u. es erklangen von der Orgel Seemannslieder u. zuletzt ›La Paloma‹ u. unter diesen Klängen wurde der Sarg hinaus getragen. Paul Wegener sprach wunderbare Worte u. schloß mit dem schönen Gedicht von Ringel an Muschelkalk gerichtet. [...] Seine Letzten Worte sind zu ihr gesprochen ›Lache doch, Muschelkalk‹, u. dann hat er sie gestreichelt bis er eingeschlafen ist.«5

*

»Der Ringelnatz kam die bordeauxweinroten Ozeane heruntergeschwommen, zwischen bottle and battle, weiß Gott woher, setzt er unvermittelt auf tiefsten Grund eines Witzes höchste Spitze. Vielleicht aus des Wanderers Rimbaud Lenden entsprungen irgendwo zwischen Abessynien, dem Niederrhein und der Welt.«6

Als Franz Blei, der vielsprachige Essayist, kosmopolitische Liebhaber des Rokoko und geschmeidige Libertin, dieses Kurzporträt in seinem erfolgreichen Spott-Literar-Kaleidoskop Das Große Bestiarium der Literatur im Jahr 1922 veröffentlicht, ist dieser Ringelnatz der jüngste Autor, den Blei mokant mit spitzer Feder aufspießt. Denn Ringelnatz, der die Alkoholmeere heruntergeschwommen kommt, ist da gerade einmal drei Jahre alt. »Joachim Ringelnatz«, der literarische Springinsfeld, das wilde Kind der neuen deutschen Dichtung, ist erst im Dezember 1919 in die Welt gesprungen. Von einem Schriftstellersohn erfunden, der selber geboren wird in Wurzen, in Leipzig aufwächst, aus romantischer Neigung zur wilden See fährt und zwischen Surinam, Odessa und Norwegen die Meere durchkreuzt und durchleidet, der zum Hungerkünstler aus Not und in tausend Nöten wird, der sich in drei Dutzend Berufen erprobt und in einem jeden davon zumindest ökonomisch scheitert, der träge Kriegsjahre hinter sich hat – und ein Jahr nach dem Ende jenes Krieges, der die bürgerliche und Friedenswelt vor 1914 in einen Orkus gestürzt hat, aus der sie völlig verändert und hart gezeichnet, partiell verkrüppelt, zum anderen Teile verstört, neu und gänzlich anders erstanden ist, ersteht: Joachim Ringelnatz. Und gleich darauf Kuttel Daddeldu, der Mariner larger than life, jene Figur, in deren fiktiven Körper dieser mit 1,60 Metern körperlich eher kurz geratene Ringelnatz mit der übergroßen Nase und den O-Beinen und dem dezent sächsischen Zungenschlag, der einstige Matrose und Leutnant zur See, derart überzeugend ungebärdig schlüpft, dass er im Lauf der Jahre so manchen Brief als »Kuttel« zeichnet. Und der ein solch artistisches Verwirrspiel dem Publikum präsentiert, wie dieses, zwischen Raffinesse und Frivolem, zwischen Derbheit und herzbrechender Einfühlsamkeit oszillierend, es bis dato Kabaretts und Varietés und Theater noch nicht erlebt haben. Dabei ist es in seiner facettenreichen, verspielten, von vielen fälschlich als naiv verorteten Pluralität der personae, des anarchischen Maskenspiels des Ichs, im unverwechselbaren Duktus, im Timbre der Reime, lyrischen Tonfall, in der Eingängigkeit der Verse begründet, dass diese Gedichte Allgemeingut werden. Populär sind sie bei den käuflichen und abgetaktelten Schönen der Nacht in der Berliner Friedrichstraße, die Anfang der 1920er Jahre ihre Körper feil bieten, populär durch die Jahrzehnte hindurch, populär noch am heutigen Tage bei wohlsituiertem Publikum, populär bei Schauspielerinnen und Schauspielern, Rezitatoren und Vorlesern wie Katharina Thalbach und Hannelore Elsner, Otto Sander, Friedhelm Ptok, Harry Rowohlt und Johannes Steck, die allesamt mit größthörbarem Vergnügen und stimmlicher Verve für Audiobookformate zahlreiche Ringelnatz-Gedichte und -Prosa eingelesen haben.

»Nein ernst, als ob das komisch wär«

Wie jeder Mensch, der es verdient, dass die Nachwelt sich nicht nur seiner Werke und Tage annimmt, sondern seiner selbst, ist Joachim Ringelnatz ein Rätsel, das keine Biografie eröffnen kann. Sein wahres Wesen kennen wir nicht; der Ringelnatz, von dem wir zu wissen glauben, ist ein Geschöpf, an dem seine und unsre Einbildungskraft nicht weniger teilhat als die Geschichte: ein träumerisches Kind, ein Kobold und Bürgerschreck, ein Komödiant, Tagedieb und Mandolinenspieler, ein Jüngling und bezaubernder Erzähler, ein leidenschaftlicher unsteter Mann, ein Sohn aus guter Schriftstellerfamilie, ein radikaler Artist, der jeden Kanon verwirft und Verse (fast) ohne Vorbild schreibt, scheinbar mühelos Schnurren und Feuerzeilen und Mythen, auch pro domo et vita, ausstreuend, doch vieldeutig und verborgen Zukünftiges fordernd, von Täuschungen und Enttäuschungen getrieben, in vielen Plänen gescheitert. – Doch dies hat der Lyriker und Essayist Hans Magnus Enzensberger, der hier ganz sacht variiert worden ist, 1955 in seiner sechs Jahre später veröffentlichten germanistischen Dissertation nicht über Joachim Ringelnatz geschrieben, sondern über – Clemens Brentano. Und doch haben diese beiden wilden Poeten eben diese ausgewählten, dabei repräsentativen Punkte gemein: im Werk wie im Leben. Ebenso auch das ontologische Missverhältnis zwischen Biografischem und Geschriebenem. Dazu und überdies auch die erschreckende Unbefangenheit des poetischen Bewusstseins. Brentano – und auch hier lässt sich wundersam erstaunlich dieser Name austauschen gegen jenen Ringelnatzens – hätten sich in seiner historischen Situation, so Enzensberger, zwei Möglichkeiten geboten: die des Zeitgemäß-Interessanten auf der einen Seite, des Epigonalen auf der andren – beide sind verschmäht worden vom Romantiker, der am Ende seines 64 Jahre währenden Lebens zum inbrünstigen Katholiken mutiert ist; und beide sind verschmäht worden von Ringelnatz, dem, mit 50 dem Tod geweiht und nur um ein Jahr älter werdend, Autor ohne Spätwerk und Rezitator mit Auftrittsverbot.7

Erhalten haben sich von Joachim Ringelnatz’ eigenen Auftritten weder Film- noch Tonaufzeichnungen. Nur einige Fotografien legen stumm und atmosphärisch äußerst eingeschränkt unbewegtes Zeugnis davon ab. Einige Gedichte hat er in Funkhäusern vorgelesen und auf Schallplatte gesprochen. Dem 2010 edierten Reprint eines Bandes mit dem Titel In memoriam, dank eines hoch- und vermögenden Leipziger Bibliophilen einst im April 1937 als Privatdruck erschienen, ist verdienstvollerweise eine CD beigefügt worden, die, in Archiven von Funkhäusern ausfindig gemacht, zwölf Poeme enthält, die er selber vorträgt. Zu seinem 50. Geburtstag am 7. August 1933 ist Joachim Ringelnatz auch von einem Filmteam besucht worden, für das er in die Kamera sein Gedicht Im Park gesprochen hat. Diese 42 Sekunden kurze Rezitationssequenz ist das einzige filmische Dokument, das Duktus und Gestus und Habitus dieses Poeten als Vortragenden des eigenen Werkes für die Nachwelt erhalten hat.

»Mit meinesgleichen, den sogenannten Humoristen«, hat schon anno 1918 Alexander Roda Roda kunstvoll geklagt, »pflegt sich die Literaturgeschichte nur ganz hinten im Anhang zu befassen, flüchtig und in kleiner Schrift; auch das erst, wenn unsereins lange genug tot ist.«8 An diesem Befund hat sich seither kaum ein Jota geändert. Humor ist nicht Laufbahn fördernd, erst recht nicht eine als seriöser Akademiker. Humoristische, leichte und scheinbar so leichthändige Literatur ist noch immer das kleine, schiefe Stiefkind der Germanistik, dessen Name so flüchtig und so klein geschrieben und das nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen wird. Offenbar weil dieses Genre, das in sich derart vielgestaltig ist und biegsam bis zum Stadium homerischen Lachens, welches den Körper durchwogt, durchschüttelt und sich vor Vergnügen krümmen lässt, sich mit diebischem Vergnügen den nüchternen analytischen Anstrengungen der germanistischen Interpretationswissenschaft entwindet.

Diesen Zwiespalt von Ablehnung und Rollenerwartung, zwischen Konformitätsattitüde und dissonant erklingender Kreativität, die eigene Wege geht, hat Ringelnatz selber schon erkannt und im Gedicht »Der Komiker« auf den harschen Punkt gebracht:9

Ein Komiker von erstem Rang

Ging eine Straße links entlang.

Die Leute sagten rings umher

Hindeutend: »Das ist der und der!«

Der Komiker fuhr aus der Haut

Nach Haus und würgte seine Braut.

Nicht etwa wie von ungefähr,

Nein ernst, als ob das komisch wär.

Um den »Komiker von erstem Rang« Joachim Ringelnatz, laut Geburtsschein bürgerlich Hans Bötticher, den Dichter, der sich in das Telefonbuch der Stadt München als »Artist« eintragen lässt und in jenes von Berlin als »Kunstmaler«,10 hat es sich in den letzten vierzig Jahren gerade einmal eine Handvoll akademisch bestallter Literatur- und Kunstwissenschaftler angelegen sein lassen. Dafür sind ihre Forschungen, Erkenntnisse und Ergebnisse extensiv und intensiv gewesen, einschließlich einer beeindruckend gründlichen, vielbändigen kommentierten Werkausgabe. Noch verdienstvoller ist hingegen das Engagement zahlreicher Privatpersonen gewesen, die sich teils voll-, überwiegend jedoch ehrenamtlich in dem Dichter aus Wurzen speziell gewidmeten Museen und Vereinen betätigen, in seiner sächsischen Geburtsstadt und in Cuxhaven, der Kreisstadt mit der Kugelbake.

Dem Literaturwissenschaftler Rolf Geißler zufolge steht Literatur »in einer bestimmten Zeit, ohne die sie nicht genau so wäre, wie sie ist, und sie ist [...] zugleich ein Wirkungselement, das seinerseits wieder bestimmend mit verhilft, eine Zeit zu prägen«.11 So einsichtig es ist, dass kein Autor außerhalb seiner Zeit lebt und schreibt, so sehr sich auch manche darum bemühen, ihrer Zeit den Rücken zuzukehren, so schnell ist daher auch die Entscheidung gefallen, mit der vorliegenden Lebensbeschreibung eines Zeit-Dichters, der seine Lebenszeit durch seine Werke transzendiert und zeitlos gemacht hat, Joachim Ringelnatz in seiner Zeit zu zeigen. Denn das halbe Jahrhundert, und älter ist Ringelnatz nicht geworden, auch wenn seine stupende Produktivität Außenstehende auf viel mehr Lebensjahre schließen lässt, zwischen 1883 und 1934, seinem Geburts- und seinem Todesjahr, ist auch jene Zeit gewesen, die Ringelnatz durchfärbt und auf seine eigene, hochoriginelle Weise als Sprachvirtuose und artistischer Dichter marmoriert und geprägt und in der er gewirkt hat, in der er so überaus beliebt geworden ist. Sein reales Leben ist von vielen verniedlichenden Anekdoten und privatmythologischen klischeeträchtigen Fehleinschätzungen überzogen und überwuchert worden. Heinz Rühmann meinte: »Ein Kauz und ein großer Trinker vor dem Herrn«.12 Ringelnatz’ Kosmos sei, so Paul Nikolaus, eine Welt »skurriler, heiter-wehmütiger Lebensbetrachtung, durchsponnen von derbem Seemannshumor und sinnenfrohen zarten Empfindungen«13, und er selber »ein erschütternd hilfloser Zwerg« (Walter Pape).14 »Ringelnatz spielt das gefährliche Spiel des immer Heimatlosen, Rastlosen und singt seine Verse wie ein Kind, das sich im dunkeln Wald fürchtet«, formuliert beispielsweise Silke Kettelhake.15

»Aber vielleicht«, so bereits 1928 Hermann Sinsheimer und Peter Scher in ihrem Buch von München, und Scher ist ein langjähriger, enger Freund Ringelnatzens gewesen, »ist es überhaupt die Zeit, die, selber ringelnatzend, ihn erwählt hat, sie in all ihrer verwegenen, munteren und trotz scheinbar übertriebener Sachlichkeit doch eben wieder phantastischen Art so humorvoll auszudrücken.«16 Es sind die Jahre zwischen der Blüte des wilhelminischen Kaiserreichs, in dem sich das Bürgertum gerade anschickt, es sich in einer in jeder Hinsicht, wirtschaftlich, ideologisch, vor allem intellektuell und psychologisch, hochfragilen Idylle behaglich zu machen, und dem massenmörderischen nationalsozialistischen Regime, das so viele in Deutschland stützen und das nur eine Handvoll Jahre später noch mehr, Millionen und Abermillionen, in Not und Elend stürzt und in namenlose Massengräber oder in bis heute unübertroffener Brutalität zu Rauch werden lässt. Es sind fünf zerrissene Dekaden17 eines Lebens, das erloschen zu Grabe getragen wird in Hörweite schwer beladener Transportfahrzeuge. Und das ganz leicht begonnen zu haben scheint, mit Farben nämlich, Farben, darunter auch merkwürdig gedeckten, aber auch eigensinnig selber kreierten, die mit allen Sinnen hinaufbeschworen werden.

2 Wurzen

»Wurzen!?!?! – ach du liebe Zeit! Mein Wurzen«18

»Der kürzlich verstorbene Joachim Ringelnatz ›Aus Wurzen an der Wurze‹ (= Hans Bötticher 1883–1934), ist gebürtiger Wurzener und der Sohn eines Zeichners aus der Tapetenfabrik, der selbst poetische Schilderungen des Kleinstadtlebens (Allotria, Neues Allotria) brachte. Nach langen Jahren des Umherschweifens als Matrose begann er zu dichten und zu zeichnen, war mehrfach Bibliothekar in großen Privatbüchersammlungen und trat schließlich als Vortragskünstler auf. In seinen Gedichten mischt sich in eigenartiger Weise groteske Phantastik mit warmem Empfinden. Nach Jahren schweren Leidens starb er in völliger Armut in Berlin.«19

Alles beginnt, so der Heimathistoriker Heinz Mattick im Jahr 1938 in etwas ungelenker Zusammenfassung, in Wurzen an der Wurze. Mit Nässe und Feuchtigkeit. Mit Farben. Mit Angst und mit Weinen. Und mit der Sonne.

»Ein Dienstmädchen trug mich auf dem Arm oder führte mich an der Hand.« So lautet, visuell sanft unscharf, der erste Satz des 1931 erschienenen Erinnerungsbuches Mein Leben bis zum Kriege von Joachim Ringelnatz. »Es war noch jemand dabei. Wir standen am Rande eines trostlos schlammfarbenen Wassers, das in die Stadt eingedrungen war und – wenn mein Kleinkindergehirn recht verstand – immer höher stieg. Und der Himmel war gewittergelb. So schlimm, so trostlos war das!«20 Geschickt verschränkt der sich solcherart Erinnernde unterschiedliche Sinneseindrücke, Taktiles, das Gefühl, berührt zu werden, mit Optischem und mit Olfaktorischem, Gerüchen, dem absichtlich als trostlos eingestuften Wasser und dem ungewöhnlichen expressionistisch gewittergelben Himmel über ihm, der dem Kleinen Angst macht. »Das Dienstmädchen machte mich offenbar gern gruseln. Denn andermal zog sie mich auf einem Friedhof trotz meines weinenden und schreienden Protestes vor ein Kreuz, an das ein großer, schreckeneinflößender, nackter Mann genagelt war.

Das ist meine am weitesten zurückreichende Erinnerung.«21

Dann wechselt das mit »Frühestes« überschriebene Auftaktkapitel seiner Kindheits- und Jugenderinnerungen die Perspektive. Von den inneren Eindrücken, so des realen, noch heute vorhandenen Pesthäuschens auf dem 1548 angelegten Totenacker zu Wurzen, 1975 zur Parkanlage an der Hermann-Ilgen-Straße umgewandelt, nach außen. »Von den Eltern oder Geschwistern erfuhr ich später kleine Geschichtchen. Man fand mich, der ich eben gehen gelernt hatte, auf dem Außensims eines hohen Fensters stehend, und ich jubelte: ›Sonne! Sonne!‹ – Wenig später war ich einmal verschwunden. Der beste Freund meines Vaters brachte mich wieder. Er hatte mich mitten auf dem weit entlegenen Marktplatz angetroffen. Aber das wurde mir, wie gesagt, erst später berichtet. Ich kann es nicht nachprüfen und kann auch damit nichts für meine Selbstbetrachtung anfangen.«22 Das schreibt ein lebenserfahrener Autor. Der da schon viele Hunderte und Aberhunderte Seiten gefüllt hat.

Selbstredend ist hier ein Motiv angesprochen und als Auftaktmotiv eingeführt, das alles gewesen ist, nur nicht unwichtig. Das Aufbrechen und das Ausbrechen, beides wird das Leben von Joachim Ringelnatz charakterisieren, der eigentlich Hans Bötticher heißt. Dazu noch Abenteuer und Überraschungen. Vor allem aber Wandlungen und Verwandlungen. Ebenso wie Unterwegssein und Reisen, die ihn weit über den Marktplatz hinaus führen. In diesem frühen Fall ist es jener von Wurzen gewesen. »Von dem«, fährt der Autobiograph dann fort, »worauf ich mich besinne, was ich noch weiß, zurückgedacht: Hat alles seine Frucht gebracht. So oder so.«23 Selbst die Stadt an der Mulde, die gleich zu Anfang auf weniger als einer halben Buchseite abgehandelt wird. Für jemand anderen, für einen Hans Bötticher Nahestehenden hat diese Industriestadt allerdings Bedeutung, größere Bedeutung. Für seinen Vater.

Georg Bötticher, am 20. Mai 1849 in Jena geboren, kommt in einer Zeit zur Welt, in der die freiheitlich-liberalen Wirkungen, Anstöße und Impulse der Revolution von 1848 wieder zurückgedrängt werden.24

Im Mai 1848 hat der sächsische Landtag Gesetze über Presse- und Versammlungsrecht verabschiedet und ein halbes Jahr später ein neues Wahlgesetz, das die Hürden für Wahlfähigkeit und Wählbarkeit herabgesetzt hat, bei den Wahlen im Dezember gewinnen die Demokraten. Ende April 1849 wird im Parlament ein Misstrauensvotum gegen die Regierung unter Gustav Friedrich Held eingebracht, nachdem die Steuerbewilligung durch den Landtag ebenso verweigert worden ist wie die Anerkennung der Reichsverfassung durch dessen Zweite Kammer.25 Dies nutzt nach preußischem Vorbild der sächsische König Friedrich August II. und erklärt den Landtag für aufgelöst. Weiter führt dies zum Dresdner Maiaufstand vom 3. bis 9. Mai, zu Barrikadenkämpfen, der Flucht des Königs und der Landesminister auf den Königstein, der Bildung einer provisorischen Regierung, preußische Truppen werden vom König zu Hilfe gerufen, am 9. Mai ist der Kampf nach heftig geführten innerstädtischen Bataillen beendet.26 Nachdem das Königreich Sachsen kurz vor Ausbruch des Preußisch-Österreichischen Krieges 1866 sich auf die Seite Österreich-Ungarns geschlagen hat, steht nach der harschen Niederlage der Österreicher bei Königgrätz kurzzeitig die Existenz Sachsens auf der Kippe. Drei Wochen später ist sie dann erneut garantiert, jedoch mit der Bedingung, dem von Bismarcks Preußen dominierten Norddeutschen Bund beizutreten.27 Was mit anderen Worten die Aufgabe staatlicher Souveränität bedeutet. Dies bekräftigt die Ausrufung des Deutschen Reiches und die Erhebung des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Kaiser nochmals.28

Nach 1849 nimmt die sächsische Innenpolitik eine konservative Kehrtwende hin zur Restauration und zur »Re-Etablierung des konservativ-bürokratischen Ordnungsstaates« (Katrin Keller).29 In den 1850er Jahren werden sukzessive die Presse-, die Versammlungsund die Vereinsfreiheit per Verordnungen wieder aufgehoben, das 1854 ratifizierte Bundespressegesetz tut ein Übriges. 1851 wird von Österreich, Preußen, Hannover und Sachsen der im Geheimen operierende Polizeiverein geschaffen, der explizit der Überwachung missliebiger Geister dient.30 1856 erfolgt die Aufhebung der traditionellen Patrimonialgerichtsbarkeit der Rittergutsbesitzer, seither vereinigt der Staat alle gerichtlichen Befugnisse auf sich. 1865 tritt das sächsische Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft, das einzige eines deutschen Einzelstaates. Drei Jahre zuvor ist bereits im wirtschaftlichen Sektor die Gewerbefreiheit eingeführt worden; und 1874 ist schließlich, nach mehr als vier Jahrzehnten, die 1831 angestoßene Verwaltungsreform in allen Teilen und umfassend umgesetzt, womit Sachsen nun ein bürgerlich-moderner Staat geworden ist.31

Sachsen wird ab Mitte des 19. Jahrhunderts binnen zweier Generationen zum Industrieland. Sind 1849 25,6 Prozent der Berufstätigen im Königreich, deutschlandweit ohnehin ein recht niedriger Anteil, agrarisch tätig, so sinkt dieser Anteil im Lauf der folgenden Jahrzehnte. 1871 beträgt er 19,4 Prozent, 1907 nur noch 11,9 Prozent – dafür sind in diesem Jahr 56,3 Prozent der sächsischen Bevölkerung in Industrie und im Handwerk tätig.32 Zeitgleich steigt die Einwohnerzahl rapide an, von 1,2 Millionen im Jahr 1815 auf 2,6 Millionen 1871 und auf 4,8 Millionen im Jahr 1910. Sachsen entwickelt sich zum am dichtesten besiedelten Gebiet Deutschlands.33

Dafür ist Sachsen zusammen mit den Städten Ulm und Augsburg die Wiege der deutschen Baumwollspinnerei. Plauen und Chemnitz sind bereits im 18. Jahrhundert Zentren der sächsischen Baumwollverarbeitung. 1846 weist Sachsen innerhalb des Deutschen Zollvereins die größte Dichte an Baumwollspinnereien auf, wird darin aber in den folgenden fünfzehn Jahren von Preußen, Bayern und Baden überholt.34 Auch bei der Verkehrsentwicklung ist Sachsen führend. Für den Ökonomen und Verkehrspionier Friedrich List (1789–1846) ist Sachsen die »Herzkammer des deutschen Binnenverkehrs«,35 und im Jahr 1900 gibt es keine sächsische Stadt, die keinen Bahnanschluss hat.36

Die Leichtindustrie zieht nach. 1855 entsteht in Dresden die erste deutsche Nähmaschinenfabrik, sieben Jahre später dort mit der »Compagnie Laferme« die erste deutsche Zigarettenfabrik.37 Seit 1827 ist in Sebnitz, bald auch an anderen Standorten, die industrielle Papierfabrikation erstanden und in Schwung geraten, Friedrich August Keller erfindet in Krippen in der Sächsischen Schweiz das Holzschliffpapier, das auf der 1867 auf dem Pariser Marsfeld abgehaltenen Weltausstellung seinen internationalen Durchbruch erlebt,38 und Gottlieb Traugott Bienert eröffnet in Plauen in Dresden die erste industrielle Brotbackfabrik.39 Zwischen 1871 und 1873 werden in Sachsen 26 Aktienbanken gegründet, darunter die Dresdner Bank, die rasant wächst und 1884 ihre Zentrale nach Berlin verlegt.40

Georg Bötticher wächst vaterlos auf. Sein Vater Hans Adam, ein Pfarrer, der in Jena als Theologiestudent und Burschenschafter zu Zeiten des Verbots der Burschenschaften mehrere Jahre Festungshaft abgesessen hat, ist im März 1848, acht Wochen vor seiner Geburt am 20. Mai, gestorben. Seine Mutter Clementine Hand (1815 bis 1892), Tochter des Professors für Griechisch und Geheimen Hofrats Ferdinand Gotthelf Hand (1786–1851), zieht mit ihrem Säugling von Görmar, das heute zum thüringischen Mühlhausen gehört, nach Jena und wohnt in einem Haus in der Jenergasse 6. Er geht erst auf eine strenge Schule in Jena, besucht dann in Dresden die Erziehungsanstalt zu Friedrichstadt, umgangssprachlich »das Freimaurerinstitut« genannt, eine von der Loge zu den drei Schwertern und wahren Freunden 1772 gegründete Lehranstalt an der Wachsbleichstraße, die 1793 zur mildtätigen Stiftung für bedürftige Schüler umgewidmet worden ist. Ein Verwandter, Professor Karl Bötticher aus Berlin, erkennt die künstlerische Begabung des Jungen. Dank ihm kann Georg Bötticher die kunstgewerbliche Klasse des Dresdner Polytechnikums besuchen, außerdem 1866/67 die Webschule in Chemnitz – dort war 1836 die erste sächsische Gewerbeakademie gegründet worden, aus der später die Technische Hochschule hervorgeht41 – mit künstlerischem Schwerpunkt. Zudem absolviert er ein Volontariat in einer Textilfabrik. 1868 ermöglicht ihm, der in diesem Jahr erste Kompositionen veröffentlichen kann, sein Großonkel einen Aufenthalt in Paris. Dort wird Georg Bötticher zum gefragten Musterzeichner von Tapeten und Teppichen und arbeitet bald dauerhaft für das angesehene »Atelier Martin«.42 1870 hat sich schließlich sein Tagesverdienst auf 15 Francs verdreifacht.43 Im Zuge des Deutsch-Französischen Krieges wird er im August desselben Jahres Frankreichs verwiesen, er kehrt nach Thüringen zurück. 1871 zieht er nach Mannheim, weil ihn, der sich in seiner Profession einen Namen gemacht hat, eine Firma dorthin lockt. 1873 übersiedelt er nach Jena, etabliert ein eigenes Atelier, nimmt wieder Kontakte nach Paris auf, beteiligt sich an der Weltausstellung zu Wien im selben Jahr,44 entwirft inzwischen für namhafte Firmen immer zahlreichere sogenannte französische und altdeutsche Muster für Tapeten, Möbel und Auslegeware, überwiegend Perlmuttmalereien und florale Ornamentik. In München, er hat wegen der vielen Geschäftskontakte sich dort eine kleine Zweitwohnung angemietet, lernt er den Tapetenfabrikanten Carl August Schütz aus Wurzen kennen. Dieser ist 1867 Teilhaber seines Vaters und 1875 Nachfolger in der Leitung der von diesem 1840 gegründeten Wurzener Tapetenfabrik geworden.45 Auf dessen Drängen hin lässt sich Bötticher in der Stadt an der Mulde nieder. Schützes Fabrik ist einer der großen Arbeitgeber Wurzens und verfügt über drei Standorte: An der Mauer, Johannisgasse 13, Amtsweg 3.46 In Leipzig betreibt die Familie Schütz seit 1841 ein Tapetengeschäft en détail in der ersten Etage von Auerbachs Hof in der zentral gelegenen belebten Grimmaischen Straße, das sich im Lauf der Jahre zum Einrichtungshaus entwickelt, Jahre später in Specks Hof verlegt wird, wo es bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu finden gewesen ist.47 Hat die Wurzener Fabrik mit sechs Arbeitern begonnen, die mit aus Holz geschnitzten Flachformen gedruckt haben, so steigen die Beschäftigungszahlen sukzessive. Bald zählt die Fabrik 500 Arbeiter. Bei einer Einwohnerzahl von 6500 ist somit jeder dreizehnte Wurzener bei Schütz angestellt. Mit der Einführung von Maschinen sinkt die Arbeiterzahl.48 Im Jahr 1888 sind bei Schütz elf Tapetendruckmaschinen in Betrieb. Jede davon vermag täglich 24 000 Meter Tapeten zu drucken, eine der elf gar mit gleichzeitig zwölf Farben.49 Schon früh hat sich dieser Betrieb auf die Herstellung spezieller Tapeten konzentriert. Tapeten aus Papier, aus Wolle, aus Leder und aus Imitationen werden hergestellt, dazu Borten der verschiedensten Art. In den ersten Jahrzehnten nehmen plüschartige Wollstaubtapeten einen großen Platz im Sortiment ein und um den kostspieligen Import von Wollstaub aus Frankreich zu minimieren, gründet August Schütz 1856 kurzerhand eine Wollstaubfabrik, aus der später eine Teppichfabrik hervorgeht.

Am 20. April 1876 heiratet Georg Bötticher die acht Jahre jüngere Rosa Marie Mathilde Engelhart, Tochter des ein Jahr zuvor verstorbenen Sägewerksbesitzers Gustav Engelhart (1829–1875) und dessen Ehefrau Ottilie (1829–1882). Sie ist am 23. August 1857 in Eydtkuhnen bei Tilsit geboren worden. Wie ihre Tochter Ottilie berichtet hat, ist sie ebenfalls künstlerisch wie literarisch tätig, ebenfalls kunstgewerblich begabt gewesen, unter anderem hat sie Perlstickereien für Zeitschriften angefertigt. Zudem ist sie belesen und gesellschaftlich gewandt.50

In Wurzen wohnen die Böttichers erst in der Langegasse 13, später in der Eilenburger Straße 50, ab 1882 im ersten Stock des barocken einstigen Stadtgutes Crostigall 14. Sein Atelier befindet sich in der Lindenstraße 44 im Hinterhaus des Gasthauses »Zur Rose«.51 Bötticher erarbeitet dort seine erste, große Fachpublikation: die Original-Compositionen zu Flachmustern, in den Jahren 1877 und 1878 in zwölf Lieferungen à 4 Blatt mit 28 im Lichtdruckverfahren besonders hochwertig reproduzierten Entwürfen.52 1879, dem Jahr, in dem das auf Kunsthandwerk spezialisierte Leipziger Grassi-Museum ihm eine Einzelausstellung widmet,53 kommt sein erstes Kind zur Welt, der Sohn Wolfgang, der später einen Abschluss als Ingenieur machen und Bergwerksdirektor in Halberstadt werden und 1946 sterben wird, 1882 die einzige Tochter der Böttichers, Ottilie, benannt nach der Großmutter, die später den Leipziger Kaufmann Hermann Mitter (1882–1967) heiratet und 1958 in Markkleeberg bei Leipzig stirbt, und am 7. August 1883 im Zimmer im ersten Stock über dem Eingangsportal des Hauses Crostigall 14 – auf wurznisch »dor Crostschor« genannt54 – das dritte und letzte Kind, das auf die Vornamen Hans und Gustav getauft wird.

»Wurzen!?!?! – ach du liebe Zeit! Mein Wurzen«:55 Dieser Satz von Ringelnatz, dem Hans Bötticher, der in einem literarischen und literaturkundigen Haushalt aufwächst und früh künstlerisch begabte, seinen Vater wie seine Mutter, schreibende und vom Schreiben lebende Menschen um sich herum erlebt hat, ist ein fernes, dennoch dezidiertes Echo auf das erstmalige Auftauchen seiner Geburtsstadt, die kaum als seine Heimatstadt zu bezeichnen und von ihm eher beseufzt worden ist, in der deutschen Literatur. »Bey Wurzen ists fatal, da muß man so lang auf die Fähre manchmal warthen«, sagt in Goethes Urfaust Frosch. Woraufhin Faust die lakonisch abschließende Antwort gibt: »So!«56 Wie der Germanist und Goethe-Kommentator Albrecht Schöne erklärt, handelt es sich dabei um eine wohl unter Leipziger Studenten des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts, von denen Goethe auch einst einer gewesen ist, gängige redensartliche Wendung. Ist es doch seinerzeit nötig gewesen, über die Mulde mit einer Fähre überzusetzen, um Wurzen, das damals eine Reputation als Bierbrauerstädtchen genossen hat, zu erreichen.57

Im April 1931, fünf Wochen, nachdem seine Autobiografie Mein Leben bis zum Kriege erschienen ist, bringt Carl von Ossietzky in seiner Zeitschrift Die Weltbühne das Ringelnatz-Gedicht »Ehrgeiz«, das solcherart ausklingt:58

Mein Ideal wäre,

Daß man nach meinem Tod (grano salis)

Ein Gäßchen nach mir benennt, ein ganz schmales

Und krummes Gäßchen, mit niedrigen Türchen,

Mit steilen Treppchen und feilen Hürchen,

Mit Schatten und schiefen Fensterluken.

Dort würde ich spuken.

In Wurzen ist mittlerweile tatsächlich nach ihm zwar kein Gäßchen, aber cum grano salis ein Sträßchen benannt, nicht ganz krumm, aber immerhin rechtwinklig, bar jedoch niedriger Türchen, steiler Treppchen und feiler Hürchen, auch ohne Schatten und ohne schiefe Fensterluken.

Otto Scheffler, einst als Lehrling bei Georg Bötticher in die kunstgewerbliche Lehre gegangen, hat eine Anekdote überliefert, die sich am Ende von Hans Böttichers Zeit in Wurzen abgespielt haben muss. »Im ersten Stockwerk des ›Thüringer Hofes‹«, so Scheffler, »befand sich das Atelier [Georg Böttichers, d. Verf.]. Viel zu oft tauchte der Fünfjährige hier auf, um seine ersten Versuche in der Malerei zu unternehmen. Auch zum Spielen mußte ich Zeit haben, was vom gutherzigen Vater stets erlaubt wurde. Als aber eines Tages ein soeben fertig gewordenes Tapetenmusterblatt dreimal fünf Finger einer Kinderhand trug, die nur von ›Klein-Ringelnatz‹ stammen konnten, ließ sich der kleine Sünder lange Zeit nicht blicken.«59

Ende März 1888 verlässt die Familie Wurzen zugunsten der dreißig Kilometer entfernten, viel größeren, lockenden und lukrativen Stadt Leipzig. Daher kann Herbert Günther 1928 durchaus für die Monatszeitschrift Leipzig den im ersten Moment lokalpatriotisch übersteigerten, im zweiten Moment keineswegs mehr ungewöhnlich anmutenden Satz zu Papier bringen: »Ringelnatz ist Leipziger. Er ist in Wurzen geboren, aber schon als Säugling atmete er Leipziger Luft.«60

3 Leipzig

»Dann etwas Leipzig«61

Die Familie Bötticher wohnt zuerst in der Straße An der Alten Elster 14. Das Atelier des Vaters befindet sich in der nur wenige Gehminuten entfernten Fregestraße. Von dort gehen seine Musterzeichnungen und Entwürfe nach Paris und nach Schweden, er sendet sie ins zaristische Russland ebenso wie in die Vereinigten Staaten von Amerika. Später, als die Kinder etwas flügge geworden sind, wohnen Böttichers in der Poniatowskistraße 12, der heutigen Gottschedstraße. Von 1894 bis 1909 ist Böttichers Studio in der Pölitzstraße 1 im Stadtteil Gohlis.62 Seit 1900 verschlechtert sich Böttichers Sehkraft sukzessive. Ab dem Jahr 1905 ist zeichnerische und künstlerische Arbeit ihm nicht mehr möglich und er ab dann ausschließlich literarisch tätig. »Zuletzt wohnte er in der auf die Altstadt zugehenden und dicht beim Schauspielhaus gelegenen Gottschedstraße 12. Vom Fenster aus konnte er sowohl die Synagoge als auch die berühmte Thomaskirche sehen.«63

Der Umzug der Familie von Wurzen nach Leipzig ist in größerem Rahmen zu sehen und zu verankern. Die erste Phase der industriellen Revolution in den Jahren um 1875 bedeutet für die Urbanisierung, auch und erst recht für den Urbanisierungsprozess innerhalb Sachsens, eine größere Ausdifferenzierung. Städtisches Wachstum, das bis in die 1860er Jahre alle Städte erfasst hat, wird nun zum großstädtischen Wachstum. Von Zuzug profitieren in Sachsen zum einen reine Industriestädte wie Plauen, Riesa, Crimmitschau, Meerane oder Zwickau, wo 1840 mit der Königin-Marien-Hütte in Cainsdorf Deutschlands modernstes und größtes Hüttenwerk gestanden hat,64 auch Aue im Erzgebirge, das im Jahr 1815 ganze 800 Seelen zählt und 1910 rund 20 000 Einwohner, zum anderen die drei größten Städte des Landes: Chemnitz, Dresden und Leipzig. In Leipzigs Industrievororten Reudnitz, Lindenau und Plagwitz leben um das Jahr 1890 herum 15 000 bis 25 000 Einwohner. Mit der eigentlichen Kernstadt wirtschaftlich wie gesellschaftlich eng verflochten, sind sie aber bis zur schrittweise erfolgenden Eingemeindung in den Jahren 1889 bis 1892 verwaltungstechnisch noch autonom.65

Seit der ersten Hälfte der 1870er Jahre ist Georg Bötticher auch als Autor tätig, arbeitet etwa seit der ersten Nummer der Zeitschrift Deutsche Jugend 1873 für dieses Blatt, zu dem er Märchen beisteuert.66 Dessen Herausgeber Julius Lohmeyer, vormals tätig für den Kladderadatsch, eine illustrierte politische Revue, wird ihm zum Freund. Es sind Humoresken, auf die er sich spezialisiert, ironische Gedichte und Parodien, mit denen er Erfolg hat. Seit 1878 veröffentlicht er regelmäßig, unter seinem wie dem Mädchennamen seiner Frau,67 benutzt im Lauf der Jahre auch weitere scherzhafte und verspielte Pseudonyme wie beispielsweise Reif-Reiflingen, Rentier Quengler oder Leutnant von Versewitz. Vor allem mit dem Lyrischen Tagebuch des Leutnant von Versewitz (1901–1904) findet er großen Anklang, ist es doch ein liebevoll ummänteltes, dabei inhaltlich durchaus scharfes Porträt des preußischen Pickelhaubenmilitarismus, in dem er die knallig bellende Ignoranz des soldaten-affinen Spätwilhelminismus mit sächsisch gemütlich-hintersinnigem Dialekt zusammenführt. Auch die Alfanzereien von 1899, im Verlag Reclam zu Leipzig in der populären Reihe »Universalbibliothek« als Nr. 3991 anlässlich seines 50. Geburtstags erschienen, werden weithin gelesen. Es sind geistreiche Parodien auf Ludwig Uhlands epische Balladen und Heinrich Heines ironische Poeme. Die Mutmaßung, die bis heute beliebte, um eine Generation jüngere Leipziger Dialektdichterin Lene Voigt (1891–1962), deren Bücher immer wieder neu aufgelegt worden sind, sei in ihren Säk’schen Balladen (1925) von Georg Bötticher inspiriert worden, ja habe ihn sogar nachgemacht, mutet so abwegig nicht an.68 Der Schriftsteller, Romancier und Verfasser von Gedichten für Kinder Victor Blüthgen (1844– 1920), ebenfalls Mitarbeiter der Deutschen Jugend – und ebenfalls Reclam-Autor –, versucht Georg Bötticher in einer knappen, den Alfanzereien vorgeschalteten literarischen Vignette lobend so zu fassen: »Am seltensten sind jene Humoristen im eigentlichen Sinne, die mit souveränem Lächeln über dem ganzen Weltgetriebe stehen, bei denen der Humor aus einer großen inneren Freiheit quillt; kritische Naturen, die das Unzulängliche sehen, aber nicht, um es zu schulmeistern oder zu verdammen, sondern um es, liebenswürdig wie sie sind, vergnüglich zu finden. Die Welt ist Entwicklung, und das Unzulängliche ist von der Entwicklung unabtrennbar – weshalb es tragisch nehmen?

Ein solcher vornehmer Humorist ist Georg Bötticher. Ein Sanguiniker durch und durch, eine wunderbar leicht lebende Natur, feinsinnig, natürlich im Ausdruck, liebenswürdig und graziös selbst, wo er’s auf Schärfe abgesehen hat. Die leichte Ironie, das Drollige ist’s, was ihm am besten liegt.«69 Das Drollige, den Humor der mittelund spätwilhelminischen Zeit präzis Fassende spiegeln bereits die Titel seiner diversen Bücher wider: Schnurrige Kerle, O diese Kinder, Der deutsche Michel, Bunte Reihe, Weiteres Heiteres, Boshaftes von der Gattin und Schwiegermutter und Die Schweinskarbonade, eine leichthändige Travestie von Lew Tolstojs skandalöser wie Skandal erregender Eifersuchts-und-Totschlags-Novelle Kreutzersonate, die 1890 in deutscher Übersetzung erschienen ist und erst ein Jahr später auf Russisch in Russland. Bötticher hat sich, deutet Blüthgen an, auch an Dramatischem versucht. Doch diese Arbeiten sind so schnell vergessen worden und untergegangen wie viel später die dramatischen Versuche und Anläufe seines jüngsten Sohnes Hans. Doch noch eine weitere Parallele zeigt Blüthgen, der Lobredner, auf. »Wenn je eine gute Sache an den rechten Mann gekommen ist«, schreibt er und hebt den größten dichterischen Erfolg Georg Böttichers sanft ironisch hervor, »so ist dies den 200 besten Flaschen Mosel der Trarbacher Moselliedkonkurrenz geschehen: 2140 Dichter haben sich an dieser Konkurrenz beteiligt, vier Gedichte sind prämiert worden, das einzige, auf das sich die Stimmen aller drei Preisrichter vereinigten, war das von Georg Bötticher eingesandte.

Er trinkt sein Bier, aber was guter Mosel ist, das versteht er!«70

Am bekanntesten, nicht nur in Leipzig, ist wohl Böttichers Gedicht »S’ Monnement uffn Geenigsblatz« geworden. Darin heißt es: »Ä Denkmal, ä wunderhibsches hat’s / in unsern Leipzig uffn Geenigsplatz: / Uff ä sehre großen und hohchen Steene, / da steht ä Gerlchen, was sehre kleene. / Ä Geenig is es ganz sicherlich, / nur was für eener – das weeß m’r nich.«71 Die ironischen heiteren Verse des produktiven Autors von Lyrik, kürzerer Prosa und Lustspielen – rund 40 Einzeltitel finden sich von ihm – richten sich, auch in verulkender Gestalt als Travestie der Biertischgesänge von in Burschenschaften organisierter Studenten, gegen martialisches Pathos und gegen blinden und übersteigerten Nationalismus, die in den Werken zahlreicher epigonaler Lyriker um 1900 breiten Raum einnehmen. Essentiell für Böttichers Erfolg sind – ein Vorklang der Lyrik seines Sohnes Hans – die Mündlichkeit, der mündliche Vortrag und das Hinschreiben auf weiche Sang- beziehungsweise Rezitationsbefähigung.72

Sein Porträt über »Leipzig als moderne Großstadt« beginnt Ernst Hasse mit ketzerischer Nüchternheit. Enthalten ist sein Aufsatz in dem außergewöhnlich sorgfältig, ja geradezu exquisit und mehrfarbig gedruckten großformatigen Band Leipzig im Jahre 1904, den die Stadt an der Pleiße »aus Anlaß der Beteiligung Leipzigs an der Weltausstellung in St. Louis« von der Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber (Illustrirte Zeitung) in Leipzig, so die stolze Verkündigungszeile auf der Titelseite – gegenüber, als Frontispizabbildung, ist eine Büste König Georgs von Sachsen abgebildet – herstellen ließ. »Wenn man«, so Hasse, 1846 in Leulitz bei Wurzen geboren, seit 1875 Vorstand des Statistischen Amts der Stadt Leipzig, seit 1886 außerordentlicher Professor für Statistik und Kolonialpolitik und dazu noch Abgeordneter im Berliner Reichstag, »unter einer Großstadt eine Stadt von mindestens 100 000 Einwohnern versteht, so ist die Gemeinde Leipzig in diesen Rang erst im Jahre 1869 eingetreten.«73 Mit dem gleich darauf folgenden Satz revidiert er dies aber kunstvoll und mikropolitisch kalmierend sogleich wieder: »Rechnet man die städtisch bewohnten, früher politisch selbstständigen Vororte hinzu, so kann man schon seit dem Jahre 1855 von Leipzig als einer Großstadt reden.« Doch Einwohnerzahl, so Hasse exkulpierend weiter, sei nicht wenig, ja, sei weniger als nichts. Vielmehr falle stärker und entscheidender ins Gewicht etwas anderes – die, so Hasse, »wirtschaftliche und geistige Bedeutung von Leipzig im 17. und 18. Jahrhundert«, die »mindestens ebenso groß war als heute, wo es zu den modernen Großstädten Deutschlands und Europas zählt«. Der Statistiker, der vier Jahre später, Anfang 1908, in Leipzig sterben wird, führt Leipzigs Aufstieg und Bedeutungswahrung auf zwei Umstände zurück: auf die wirtschaftsgeografische Lage einerseits, auf neue Technologien andererseits. Fern eines schiffbaren Stroms gelegen, gleicht dies frühzeitig die Anbindung via Eisenbahn an andere größere und große Städte aus. Die Strecke nach Dresden wird bereits 1839 eröffnet, jene nach Magdeburg ein Jahr später, 1851 folgt die Strecke nach München, 1859 die Verbindung nach und mit Berlin.74 Damit ist die Messestadt, deren früheste dokumentierte kaiserliche Privilegien auf die Jahre 1466 und 1497 zurückgehen, mit den wichtigsten Städten im Norden und im Süden verbunden. 1711 ist die Pleißestadt, seit 1409 eine Universität in ihren Mauern beherbergend, dann, wie der lokalpatriotische Lokalhistoriker Hasse herausstreicht, Deutschlands und Mitteleuropas wichtigster Messeort75 und jener Ort, »wo man die ganze Welt im kleinen sehen kann«, wie der junge Gotthold Ephraim Lessing 1749 seiner Mutter beeindruckt mitteilt.76 »Gegen 70 000 Menschen besuchen Leipzig alljährlich nur zum Zwecke des Großhandels im Meßverkehr, abgesehen von den Hunderttausenden, die der Kleinhandel der Messe hierherführt.« (Ernst Hasse)77 In den folgenden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts steigt Leipzig zum europäischen Handelsknotenpunkt auf. Die Haupthandelswege verlagern sich an Atlantik und Nordsee. Dadurch sowie durch das starke Aufkommen des Kolonialwarenhandels wird die sächsische Messestadt zu einem der zentralen, wenn nicht sogar zu dem zentralen europäischen Umschlagplatz innerhalb des Handelsverkehrs von West nach Ost und retour. Amsterdam und Hamburg als die nunmehr wichtigsten Handelszentren für englische, für französische und für niederländische Manufaktur- und Kaufmannswaren wählen sich Leipzig als bevorzugten Absatzmarkt. »Fabrikanten aus England, Flandern, Frankreich, Holland und anderen Gegenden«, so William Jacob 1820, »begeben sich in großer Zahl dorthin und treffen die Käufer aus Ungarn, Griechenland, der Türkei und selbst aus der asiatischen Tartarei. Viele der Geschäfte erfolgen durch Makler sowie Kommissionshändler, die sich durch Zuverlässigkeit, Emsigkeit sowie durch die verschiedenen Sprachen, die sie sprechen, auszeichnen. Sie kennen die unterschiedlichen Gewichte, Maße und Goldsorten weit entfernter Länder, die sie miteinander zu vergleichen verstehen.«78 Von der englischen Insel kommen Stahl- und Metallwaren, Textilerzeugnisse aus Wolle und Baumwolle sowie aus den Kolonien des britischen Weltreichs Ingwer, Indigo und Zucker, Kaffee und Farbhölzer. Frankreich spezialisiert sich auf eher Luxuriöses und Angenehmes, auf Galanterie- und Seiden- und Strumpfwaren. Aus dem Osten, insbesondere aus Russland, transportiert man Juchten, Rauchwaren, Leinwand, Hanf, Wachs und Talg heran. Allein der Besuch russischer Kaufleute auf den drei Leipziger Warenmessen, die ungeachtet von Kriegen und Konflikten beharrlich jedes Jahr abgehalten werden, verzehnfacht sich im Lauf des 18. Jahrhunderts. Im Jahr 1780 schließlich lässt die deutschstämmige, in Stettin geborene russische Zarin Katharina die Große in der Stadt an der Pleiße ein eigenes Generalkonsulat eröffnen.

Umgekehrt wird das Ausland immer interessanter und stetig wichtiger für sächsische Produzenten und regionale Manufakturen, für Textilien aus Chemnitz, Plauen und Zittau, Bleche aus Hammerwerken im Erzgebirge liefert man nach England und in die Niederlande, auch die Wolle der vielen äsenden Schafherden auf den Fluren sächsischer Rittergüter geht dorthin, aber auch in die Schweiz und in die Lausitz, zur dort ansässigen Textilindustrie.79 Die Produktion Leipziger Manufakturen – 1747 gibt es hiervon neunzehn in der Stadt, von denen sich acht auf Gold- und Silbergespinste konzentrieren, sechs Samt- und Seidenwaren herstellen und fünf Glanz- und Wachsleinwanderzeugnisse – ist ungemein vielseitig und erstreckt sich auch auf Woll- und Baumwollerzeugnisse, auf Posamenten, Hüte, Spielkarten und bunte Papiere, auf Blasinstrumente, Rauch- und Schnupftabake. Und als originäre Spezialitäten aus der Manufakturproduktion werden Wachstuch, Wachsleinwand und Tapeten vermarktet. Die Spuren dieses goldenen Zeitalters von Leipzig sind noch Jahrzehnte später im Stadtbild unübersehbar und vermerkt, etwa der »Apelsche Garten«, ein Lustgarten mit Lusthäusern, Orangerien und Parkanlagen des Handelsherren und Seidenfabrikanten Dietrich Apel (1662–1718),80 dessen Wohnhaus am Markt steht.

Kennzeichnenderweise gibt August Salomo Maurer im Jahr 1799 seinen als Buch publizierten »Originalbriefen eines reisenden Edelmanns« den Titel Leipzig im Taumel. Er schildert plastisch die auf den Leipzig-Besucher einstürzenden Impressionen:

»Die vielen hier anwesenden Messverkäufer, die aufgeschlagenen Butiken, Kramläden und Stände, so wie das unaufhörliche und bis in die späteste Nacht fortwährende Unwesen, welche durch die Schleifen deutscher, polnischer, russischer und griechischer Kaufleute verursacht wird, machen zwar das sonst öde und todte Leipzig im Ganzen um einen grossen Theil lebhafter und, wenn du willst, angenehmer, im Gegentheil aber auch um ein Merkliches enger, und, mir wenigstens, odiöser.

Du glaubst gar nicht, wie sehr man in dem tollen Gedränge sich vorsehen muss; wie nöthig es ist, auf seine Uhr, Börse und Schnupftücher ein stets wachendes Auge zu haben, und wie rathsam es selbst dem fürsichtigsten Manne wird, in einem Augenblicke sich wenigstens viermal umzusehen, wenn er nicht zuweilen Gefahr laufen will derbe Ribbenstösse zu erhalten, von einherrollenden Wagen umgefahren zu werden, oder sich wohl gar in die Gespanschaft pohlnischer Pferde zu verlieren.

Allzuweit sind ohnedem die Strassen in Leipzig nicht, mache dir also eine Idee, wie viel Platz da seyn kann, wo zwischen einem Raume von vierzehn Ellen (denn so breit sind circa die meisten Strassen) noch zwei Budenleute einander gegenüber stehen, deren Behältnisse beide zusammen genommen doch immer auch eine Breite von acht Ellen ausmachen, und rechne für jeden derselben noch eine Elle, die gewiss um ihn herumstehenden Käufer und Gaffer ausfüllen, hinzu, so hast du in Summa eine Straße, wo in einem Zwischenraume von nicht mehr als vier Ellen – Vieh, Menschen und Esel bequemlich wandeln sollen.«81

Diese Attraktion schlägt sich auch im Wachstum der Stadt nieder. Die Agglomeration Groß-Leipzig, wozu auch die eingemeindete Umgebung gehört, zählt anno 1900 566 302 Einwohner. Ist sie 1871, damals bewohnt von 107 000 Menschen, noch die achtgrößte deutsche Großstadt gewesen, so 1895 nach Berlin, Hamburg und München bereits die vierte.82 Der größere Anteil der »vor den Toren der Stadt« ansässigen Bevölkerung bewirkt einen früheren und einen rascheren Ausbau der Verkehrsanbindung der einzelnen Bezirke und Teile der Stadt. 1872 wird die erste Pferdebahn angelegt durch ein privatwirtschaftliches Unternehmen, die Große Leipziger Straßenbahn-Gesellschaft. Die Gleislänge beläuft sich in jenem Jahr auf 17 550 Meter, davon sind etwas mehr als elf Prozent doppelgleisig verlegt. 600 000 Passagiere werden in jenem Jahr befördert, die Einnahmen betragen 126 611 Mark. 1890 umfasst das zu 96 Prozent doppelgleisige Gleisnetz bereits rund 36 700 Meter, 16,6 Millionen Passagiere zählt man. Bis 1900 verdreifacht sich die Schienenlänge auf 108 357 Meter, 63,5 Millionen transportieren die nunmehr drei Straßenbahngesellschaften – 1896 sind die Leipziger Elektrische Straßenbahn, die »Rote«, gegründet worden und 1900 die Leipziger Außenbahn-Gesellschaft – auch die Große Leipziger Straßenbahn-Gesellschaft, die »Blaue« genannt,83 ist jetzt vollständig elektrifiziert – und erzielen einen Umsatz von 5,88 Millionen Reichsmark.84 1917 werden sie fusioniert.85 Vier Jahre zuvor ist ihnen in Gestalt der Leipziger Allgemeine Kraftomnibus A.G. neue Konkurrenz erwachsen.86

Leipzig hat sich in den Großstadtstatus quasi katapultiert. Neben den Straßenbahnen sind im Nahverkehr 522 Droschken unterwegs. Für den Fernverkehr gibt es sieben selbstständige Bahnhöfe, der nach 1900 projektierte Haupt- und Zentralbahnhof ist zum Zeitpunkt seiner Inbetriebnahme im Jahr 1915 der größte der Welt.87

Die Messe- und Industriestadt Leipzig, Sitz des höchsten deutschen Gerichtshofes, des in einem ausgreifenden Bau untergebrachten Reichsgerichts, ist eine helle Metropole, dank 17 123 Gas- und Petroleumflammen im öffentlichen Raum sowie 68 »elektrischer Flammen«, deren erste 1895 installiert worden ist. Das Gasrohrnetz misst 1902 367 462 Meter, mehrere Gasanstalten existierten nebeneinander.88 Das erste Telefon wird 1882 angeschlossen, 20 Jahre später gibt es 9479 Fernsprecher. Es gibt einen großen Rennplatz, den 1899 geschaffenen Palmengarten, den 1900 stark erweiterten Zoologischen Garten, zwei staatliche und drei städtische Gymnasien, vier Realschulen, ein Lehrerinnenseminar, eine Gewerbeschule, allesamt besucht von insgesamt 6500 Schülern. An der Universität inskribiert sind 3600 Studenten. Besonders auffällig ist die Wassernähe der stromfernen, wohlhabenden Kommune Leipzig (ihr Stammvermögen wies angesichts 118 Millionen Mark Aktiva und 85 Millionen Passiva einen Überschuss von 32,7 Millionen Mark auf): Das Netz an Kanälen umfasst 279 041 Meter, welche immer noch bei der »geruchlose[n] pneumatische[n] Abfuhr« der Fäkalien durchaus von Bedeutung sind, »da die Anlage von Rieselfeldern in der Umgebung der Stadt geologisch auf große Schwierigkeiten« stößt.89

Die Stadt, die in den Jahren nach 1910 zu Messezeiten von 500 000 bis zu 750 000 Besuchern frequentiert wird, mehr, als sie Einwohner hat, prägt junge Architektur. Der in Dresden ausgebildete Arwed Roßbach (1844–1903) erbaut nacheinander die Universitätsbibliothek (1887–1889), das Universitätshauptgebäude (1891–1897) und andere Teile der Hochschule wie die Frauenklinik und das Rote Kolleg, überdies noch die Leipziger Zentrale der Deutschen Bank (1899–1901) gleich neben dem Rathaus sowie die Alberthalle (1886–87) als Erweiterungsbau des Krystallpalasts. Und Hugo Licht (1842–1923), welcher seit 1879 als Baudirektor für Leipzig amtiert, plant das Konservatorium für Musik (1885–87), die heutige Musikhochschule Felix Mendelssohn Bartholdy, das Städtische Kaufhaus (1893–1901), das Alte Grassimuseum auf dem heutigen Wilhelm-Leuschner-Platz, überdies das imposante und die Stadtsilhouette nachhaltig prägende Neue Rathaus (1899–1905) sowie das Stadthaus (1908–1912) und auch das erste Ausstellungsgebäude der Leipziger Mustermesse.90 Auf dieser Messe werden anhand präsentierter Warenmuster vor allem aus den Segmenten Konsumgüter, Glas, Keramik und – für die Familie Bötticher vorrangig interessant – Papierwaren Ordres erteilt.91

Atmosphärisch ist das Leben in Leipzig, der Handels- und Industriestadt, das erst spät Truppenstandort und seit 1899 Sitz des Generalkommandos des 2. Königlich Sächsischen Armeekorps Nr. XIX geworden ist, überaus zivil. Die Beamten des Justizwesens – 1879 residiert hier der höchste deutsche Gerichtshof, das Reichsgericht92 –, die an den verschiedenen Hochschulen Lehrenden und die Verwaltungsangestellten »geben dem Leipziger Leben eine angenehme Beimischung, ohne das öffentliche Leben zu bestimmen. Die Bevölkerung der Stadt lebt überwiegend dem Erwerbe.«93 Nicht zuletzt auch ein wider Sachsens Hauptstadt, die Residenz- und Kunststadt Dresden gerichteter Giftpfeil. Denn Leipzig ist kurz nach der Jahrhundertwende die größte Industriestadt des Königreiches und daher auch ein Zentrum der Arbeiterbewegung. 1863 wird hier der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet und Der Volksstaat, das Presseorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, wird hier verlegt.94 In 1432 Fabriken arbeiten 45 600 Männer und 21 200 Frauen. In Dresden waren es 54 500 Arbeiterinnen und Arbeiter, in Chemnitz, dem anderen, dritten industriellen sächsischen Zentrum 47 500.95

Ein Gewerbe vor allem hat Leipzig bekannt und berühmt gemacht, das polygraphische. Zahlreiche Verlage und Druckereien lassen sich nach und nach in einem zusammenhängenden Distrikt nieder, an der Kreuz-, der Insel-, der Salomon-, Breitkopf- und der Querstraße. Es entsteht das sogenannte Graphische Viertel östlich vom Augustusplatz zwischen Täubchenweg, Dresdner Straße und Kohlgartenstraße.96 Leipzig ist unangefochten Deutschlands Kapitale des deutschen Buchhandels und Buchgewerbes.97 1888 ist das imposante Deutsche Buchhändlerhaus im Neo-Renaissancestil – im Inneren verfügt der Neubau über einen gewaltigen Festsaal – an der Hospitalstraße, der heutigen Prager Straße, übergeben worden. Zwei Jahre zuvor bewegte sich am »Sonntage Cantate, dem 23. Mai d. J.«, berichtete C. Siegfried in der im Verlag von Adolf Kröner zu Leipzig erscheinenden, viel gelesenen und beliebten Familienzeitschrift Gartenlaube, »ein Festzug durch die Straßen Leipzigs. Trotz der sengenden Sonnenhitze marschirten die 4000 Theilnehmer freudig, mit sichtbarem Stolze inmitten der fahnengeschmückten Häuserreihen. Waren es doch zumeist Buchhändler oder Freunde des Buchhandels, die nach der Oststadt hinauszogen, um dort den Grundstein zu einem neuen deutschen Buchhändlerhause zu legen. Wer die Bedeutung des Buchhandels ›in seiner Ehrenarbeit für des Vaterlandes Gesittung, Wissenschaft und Kunst‹ zu würdigen weiß, dem wird auch die Bedeutung dieser Feier nicht entgangen sein, und er wird in ihr ein sichtbares Zeichen der erfreulichen Entwickelung eines der edelsten Zweige unserer Nationalindustrie erblicken.«98 Leipzig ist Sitz des Deutschen Buchdruckervereins, des Deutschen Buchgewerbevereins und des Deutschen Buch- und Schriftmuseums. Zwischen 1880 und etwa 1900 wurden zur Förderung des Nachwuchses die Gutenbergschule für Buchdrucker ins Leben gerufen und die Buchhändler-Lehranstalt mit den dazugehörigen Gebäuden zwischen dem Alten Johannisfriedhof und dem Eilenburger Bahnhof im Osten der Stadt geschaffen.99 Am 3. Oktober 1911 wird die Deutsche Bücherei gegründet, die ab dem 1. Januar 1913 sämtliche deutschsprachigen Publikationen lückenlos in ihren großen Räumlichkeiten am Gerichtsweg sammelt, vereint und archiviert.100

»Seit 1. April wohnen wir in Leipzig, an der Alten Elster 14, II.«, teilt Georg Bötticher einem Freund mit und bekennt ohne falsche Scham: wir »sind kreuzfidel, Wurzen hinter uns zu haben. Die Gedichte eines Kleinstädters. Lyrisches Tagebuch von Leutnant von Versewitz (Pseudonym) siehe in der nächsten oder übernächsten Woche, im Wurzener Tageblatt 1888. Sie sind schon vor einem Jahr entstanden; ein Zufall ließ sie an dem Tag gerade erscheinen, als wir Wurzen verlassen hatten – mir ärgerlich genug. Sie waren aber schon auf Wurzen gemünzt.«101

Die Alte Elster ist ein Flüsslein, das seinen Ausgang nimmt am Hochzeitswehr nahe dem Schreberbad, in Nordrichtung den östlichen Rand der Frankfurter Wiesen entlang fließt und sich dann im Auenwald mit dem Elstermühlgraben vereinigt. 1922, das Elsterbecken ist fertig gestellt, hat die Alte Elster ihre Grundfunktion, das Hochwasser von den häufig überfluteten Frankfurter Wiesen abzuleiten, erfüllt und wird in den folgenden vier Jahren verfüllt, ihr Verlauf mit Bäumen, die in zwei Reihen gesetzt werden, markiert. »Wo die Straße die Stadt verläßt«, führt der Autor und Reclam-Lektor Julius R. Haarhaus (1867–1947) 1928 in der dritten, neubearbeiteten und vermehrten Auflage seiner erstmals 1903 erschienenen Leipziger Spaziergänge aus, »floß früher ein hier überbrückter zweiter Elsterarm, der vor wenigen Jahren zugeschüttet wurde. Die Straße ›An der Alten Elster‹, die die Stadt gegen den Meßplatz abgrenzt, hat dadurch eine wesentliche Verbreiterung erfahren. Zwischen den jüngst angepflanzten Ulmen der neuentstandenen Allee erinnern ein paar mächtige alte Weiden an die idyllischen Uferpartien jener Zeit, wo ein wenig unterhalb der Brücke von Zuschauern umlagerte Angler ihrer nervenberuhigenden Leidenschaft frönten und an Sommerabenden Pferde in die Schwemme geritten wurden.«102 Die Straße An der Alten Elster, die heute der Friedrich-Ebert-Straße entspricht, welche in Südost-Nordwestrichtung auf die Red-Bull-Arena zuläuft, führt direkt entlang des vormaligen Gewässers. In sie, die südlich an der Hohen Brücke beginnt (heute in etwa deckungsgleich mit der Straßenbahnstation Waldplatz) – jenseits sind Messplatz und eine große Turnhalle gelegen –, münden nacheinander Gustav-Adolf-, Auen-, Frege-, Wettiner- und Christianstraße; die drei letztgenannten tragen noch heute diese ihre angestammten Namen. Ihr Ende sind dann der Fregeteich mit den benachbarten Tennisplätzen und die Leutzscher Allee, die südwestliche Kante des Auenwalds.

Für Hans Bötticher ist »der größte Eindruck der Fluß mit seiner Uferromantik. Zwischen den Löchern und dem wirren Gestrüpp der steilen Abhänge kletternd, kämpfend, forschend, erlebte ich die Abenteuer meiner Sehnsucht voraus. Der Fluß trug seltsame Gegenstände vorbei. Am andern Ufer war eine Pferdeschwemme. Es war ein spannendes Schauspiel, wenn dort Rosse ins Wasser geritten oder geführt wurden. Einmal, zweimal trieben dort Leichen an. Noch unheimlicher waren die hohen alten Pappeln an unserem Ufer. Die hohen Pappeln mit ihrem zitternden und schillernden Blättermillionen-Gewoge. Im Sturme neigten sie sich so beängstigend tief hin und her, als drohten sie, jeden Moment auf uns hereinzubrechen. Sie rauschten unsagbar unheimlich in meine einsame Kinderphantasie.«103

Es ist eine Phantasie, die er Jahrzehnte später, in seinem 1931 erschienenen Erinnerungsbuch Mein Leben bis zum Kriege, bewusst romantisch literarisieren wird. Führt doch die Schilderung der Rösser im Wasser über zu einem kleinen, verwachsenen Brotmann, dessen winziges Wägelchen von einem mageren Hunde gezogen wird. Hinzu kommt als Abrundung pittoresker Idylle noch hinter verstacheltem Zaun inmitten wuchernden Unkrauts »ein fahles, totes Haus«.104 Die Kindheitserinnerungen stellen ein Reservoir dar, aus dem Hans Bötticher motivisch, poetisch und malerisch später schöpfen wird. Nicht nur wird er 1929 ein Landschaftsbild malen, das die Alte Elster bereits im Namen benennt und visuell doppelbödig schildert. Gleichzeitig entsteht das Gedicht »An der Alten Elster«, das dieses Kindheitsgewässer, sich eigener dramatischer Effekte der eingesetzten Kontraste vollkommen bewusst, hinaufbeschwört, was auch zeigt, dass sich Kontinuitäten durch das dichterische Werk ziehen:105

Wenn die Pappeln sich an dem Uferhange

Schrecklich sich im Sturme bogen,

Hu, wie war mir kleinem Kinde bange! –

Drohend gelb ist unten Fluß gezogen.

Jenseits, an der Pferdeschwemme,

Zog einmal ein Mann mit einer Stange

Eine Leiche an das Land.

Meine Butterbemme

Biß ein Hund mir aus der Hand. –

O wie war mir bange,

Als der große Hund plötzlich neben mir stand!

Längs des steilen Abhangs waren

Büsche, Höhlen, Übergangsgefahren. –

Dumme abenteuerliche Spiele ließen

Mich nach niemand anvertrauten Träumen

Allzuoft und allzulange

Schulzeit, Gunst und Förderndes versäumen. –

Heulwind beugte die Pappelriesen.

O wie war mir bange!

Pappeln, Hang und Fluß, wo dieses Kind

So viel heimlichstes Erleben hatte,

Sind nicht mehr. Mir spiegelt dort der glatte

Asphalt Wolken, wie sie heute sind.

Der Vater ist die Leitfigur des Drittgeborenen. Ihm eifert er nach. Zur Mutter besteht ein eher gespanntes Verhältnis, ist sie es doch, die über den ungebärdigen, trotzigen und trotzenden Sohn die auf seine Aktionen und Einfälle folgenden Sanktionen und Bestrafungen verhängt. Es ist sie, die ihn nach Missetaten und Fehlverhalten der damaligen Pädagogik entsprechend, die aus heutiger Sicht weniger Erziehung denn Zucht und Aufzucht ist, bestraft, manchmal auch handgreiflich wird und züchtigt. »Mutterliebe fehlt uns beiden. Schade! aber es muß auch ohne die gehn«, bekennt er mehr als ein Vierteljahrhundert später einer jungen Flamme.106 Mutter und Sohn haben gleichermaßen harte Köpfe, wie er es später bündig benennen wird, einen unnachsichtigen Dickkopf und den unbedingten Willen, sich durchzusetzen. Erst später, ab 1919/20, wird sich das angespannte Verhältnis ins eher Positive wenden.

Hans Bötticher ist ein aufgeweckter, einfallsreicher Junge, fängt sich blaue Flecken und alterstypisch so manche Beule. Das Verhältnis zur nur um ein Jahr älteren Schwester Ottilie ist ein enges. Die beiden jüngsten Bötticher-Kinder hecken zusammen Spiele aus. Dass der vier Jahre ältere Bruder Wolfgang, ein fleißiger Schüler, später ein beflissener Akademiker, dann ein bürgerlicher Bergwerksdirektor, hingegen in Mein Leben bis zum Kriege fast gänzlich abwesend ist und nur als ephemerer Schatten aufscheint, ist so aufschlussreich wie sprechend für das innerlich wie äußerlich distanzierte Verhältnis der beiden ungleichen Blutsverwandten. Die Eltern beschäftigen Dienstmädchen, die einiges auszuhalten gewillt sein müssen. Darunter ist mit der 1866 in Halle an der Saale geborenen Clara Pleßke, die in seinem Lebenserinnerungsbuch als »Berta« aufscheint, eine junge Frau, an der aus dem Abstand von fast 40 Jahren er zwei Umstände vor Augen führen kann – Heroismus plus sexuelles Erwachen und überdies den frühen Kontakt mit einer seit 1898 weithin berühmten Zirkusdompteuse. »Berta«, schreibt Bötticher, »war ein schönes, sehr energisches Mädchen. Ich glaube, ihretwegen gab es zwischen meinen Eltern eine Zeitlang heftige Auseinandersetzungen. Die wurden zwar im Nebenzimmer geführt. Aber wir hörten aus dem Unverständlichen doch das Wesentliche heraus und waren über dieses, wenn auch nur kurze Zerwürfnis zwischen Vater und Mutter sehr unglücklich. Ich besinne mich, daß ich dazukam, als meine Mutter sich aus dem Fenster stürzen wollte, und daß ich aufschluchzend ihre Füße umklammerte.

Berta wurde entlassen. Später machte sie sich als Löwenbändigerin einen großen Namen. Der Höhepunkt ihrer Schaunummer war, wenn sie ihren Kopf in den Rachen eines Löwen hielt. Dabei soll sie eines Tages umgekommen sein.«107 Wieder einmal tauscht der autobiographische Erzähler Bötticher/Ringelnatz reale Tatsachen gegen einen literarischen Effekt ein. Denn nach ihrer Gouvernantenzeit arbeitet Fräulein Pleßke zwar im Leipziger Zoo, entwickelt dort eine Dressurnummer mit jungen Löwen und wird rasch unter dem Künstlernamen »Claire Heliot« zur berühmtesten Löwendompteuse der Jahrhundertwende. Sie tritt von Westeuropa bis Russland auf. 1905 ist die grazile, blendend aussehende Heliot als »woman without fear« einer der Höhepunkte im Programm des Circus Sarrasani, als dieser die Vereinigten Staaten von Amerika bereist. 1906 zieht sie sich zurück – auch weil einer ihrer Löwen sie verletzt hat, was sie aber überlebt –, lässt sich in der Nähe von Stuttgart nieder, betreibt dort zwei Jahrzehnte lang ein großes Anwesen mit Pferdezucht; 1953 stirbt sie, nachdem sie zwanzig Jahre in sehr bescheidenen Verhältnissen gelebt hat, im Altersheim Hasenbergheim im Westen der baden-württembergischen Landeshauptstadt.108

Die ersten praktischen erotischen Erfahrungen vollziehen sich auch als von väterlichen Affekten inspirierte Imitation. Sie »oder ein anderes robustes Dienstmädchen«, schreibt Hans Bötticher in seinem pseudorekonstruierenden, recht eigentlich literarisch stilisierten Lebensrückblick, erneut auf eine diesmal buchstäblich knallende selbstironische Pointe zulaufend, »war es, der ich einmal, als meine Eltern nicht daheim waren, plötzlich an die Beine griff. Meine Männlichkeit war erwacht und brachte mir sofort eine schallende Ohrfeige ein.«109

Aber anderes stellt sich ein, erst einmal ohne Zurückweisung: »Künstlerische Sachen begannen.«110 Er fängt an zu malen und, auch hier dem Vater nacheifernd, dazu heitere Verse zu verfassen und kleine Geschichten zu erfinden, auch eine »mystische« für seine Geschwister, in der ein Hausgeist namens Pinko auftritt, den Hans Bötticher aus Holzknauf und Bettpfosten zusammenbastelt. Viel später wird eines seiner ersten Schriftstellerpseudonyme »Pinko Meyer« lauten,111dessen innere Bewandtnis Hans Böttichers Rätsel geblieben ist. Mit neun Jahren schenkt er dem Vater zu Weihnachten ein erstes, selbst geschriebenes und eigenhändig illustriertes Büchlein als Präsent. Die lustigen Verschen »Die Landpartie der Tiere« und »Töpfermarkt in Wurzen« sind übermächtig angelehnt an das Schaffen Georg Böttichers wie Wilhelm Buschs.112

Er darf auch seinem Vater in dessen Atelier bei einfachen Sachen zur Hand gehen, zum Beispiel Linien eines Musters, das auf Durchpauspapier aufgezeichnet ist, mit einer Stecknadel durchstechen.

»Wenn ich träume, dann immer Schlimmes, das heißt Beängstigendes, Quälendes. Trostlos und hilflos erlebe ich in dem Zustand unlogische, peinvolle Situationen. Meistens leide ich darin als Soldat unter Vorgesetzten oder als Schüler unter Lehrern. Mein erster Schultag – in der Vierten Bürgerschule in Leipzig – war durch eine übliche große Zuckertüte versüßt. Der zählt also nicht mit.«113

Die Schulzeit wird für ihn bis zum Ende beängstigend sein und quälend, eine Last und eine Tortur. Er lernt, aber er lernt nicht leicht, noch leichthändig. Alles kommt ihm hässlich vor, abscheulich, bedrückend ist das Einleben in Pünktlichkeit, niederträchtig der Rohrstock.

Nach der Volksschule kommt er wie sein Bruder auf das Königliche Staatsgymnasium. Der Eindruck ist noch rigider, noch düsterer, hinzukommen »das grausige Latein« und andere Fächer, »vorgetragen, eingepaukt und abgefragt von respektfordernden Dunkelmenschen, vor denen sich mein Herz sich von Anfang an verschloß«.114