Johann Sebastian Bach MESSE H-MOLL - Günther Zedler - E-Book

Johann Sebastian Bach MESSE H-MOLL E-Book

Günther Zedler

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Beschreibung

Sowie Betrachtungen zu ausgewählten Werken der Geistlichen Musik Mozart: Messe c-moll und Requiem Beethoven: Messe C-Dur und Missa Solemnis Schubert: Messen As-Dur und Es-Dur Mendelssohn-Bartholdy: Motetten, Psalmen Brahms: Ein deutsches Requiem Verdi: Requiem

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Neben der h-moll Messe Bachs sind mir die anschliessend besprochenen Werke besonders wichtig. Sie gehören zu meinen Favoriten. Dies sollte aber keine Bewertung des Schaffens weiterer geistlicher Werke der genannten und weiterer Komponisten sein.

Beispielsweise sind die Passionen Bachs nicht aufgeführt, weil es dazu umfangreiche Literatur gibt, daher habe ich das Meiste meiner Gedanken dazu für mich behalten.

Weiter fehlen:

Mendelssohn-Bartholdy: Elias, Lobgesang,

Bruckner: Messen e-moll und f-moll,

Dvorak: Stabat mater,

Janacek: Glagolytische Messe

und weitere.

INHALT

Definition: Die Teile A bis H heißen Kapitel, die Teile darin Abschnitt.

Literatur zu den einzelnen Kapiteln befindet jeweils am Ende des Kapitels.

Das Manusscript der h-moll Messe P 180 besteht aus 4 Nummern. Die einzelnen Nummern waren höchstwahrscheinlich Mappen, die lose Blätter (Faszikeln, Hefte?) enthielten. Die Besprechung der einzelnen Nummern sind im Kapitel A in den Abschnitten 4(mit 5,6), 7(mit 8), 9 und 10 zu finden.

Vorwort

Johann Sebastian Bach H-MOLL MESSE

Messe allgemein

Überlieferungsgeschichte bis 1955

Aufführungsgeschichte ab 1955

Missa (Kyrie und Gloria) allgemein

Kyrie

Gloria

Symbolum allgemein

Erläuterung zum Credo (Symbolum)

8.1 Symbolum Artikel I

8.2 Symbolum Artikel II

8.3 Symbolum Artikel III

8.3.2 Vertiefung Adagio im Confiteor

Sanctus

Osanna, Benedictus, Agnus dei, Dona nobis

Text lateinisch – deutsch

Literatur

Wolfgang Amadeus Mozart MESSE C-MOLL - REQUIEM

Allgemein zur geistlichen Musik Mozarts

Entstehungsgeschichte der Messe c-moll KV 427

Die Sätze der Messe

Einleitung Requiem

Die Sätze des Requiems

Literatur

Ludwig van Beethoven MESSE C - MISSA SOLEMNIS

Allgemein zur Chormusik Beethovens

Einleitung Messe C-Dur op. 86

Die Sätze der C-Dur Messe

Einleitung zur Missa solemnis

Die Sätze der Missa solemnis

Literatur

Franz Schubert MESSE AS DUR UND ES DUR

Allgemein

Einleitung Messe As -Dur

Die Sätze

Einleitung Messe Es-Dur

Die Sätze

Literatur

Felix Mendelssohn-Bartholdy AUSGEWÄHLTE GEISTLICHE WERKE

Allgemein zur geistlichen Musik Mendelssohn-Bartholdys

Tabelle der betrachteten Werke

Psalm 42

3 Motetten op. 78, Psalm 114, Hymne

Lauda Sion

Literatur

Johannes Brahms EIN DEUTSCHES REQUIEM

Einleitung

Entstehung

Text des deutschen Requiems

Die Sätze

Literatur

Giuseppe Verdi REQUIEM

Allgemein

Requiem

Die Sätze des Requiems

Literatur

Anton Bruckner ADAGIO (Sinfonie Nr. IX, d-moll)

Glossar

Vorwort

Nach meiner eingehenden Befassung mit Bachs Kantatenwerk (s. die entsprechenden Bücher bei Bod) ist Kern des vorliegenden Buches eine Einführung in Bachs h-moll Messe. Meine Beschäftigung hiermit ist älter als jene mit den Kantaten. Ausgangspunkt war das nähere Kennenlernen des Werks im Jahre 1956 auf der Basis der seinerzeit gerade erschienenen Neu-Ausgabe, herausgegeben von Friedrich Smend.

Zu Näherem verweise ich auf das entsprechende Kapitel, s. A 1. Dort ist auch eine kurze allgemeine Erläuterung zu Mess-Kompositionen zu finden. Dies bezieht sich nicht nur auf die h-moll Messe, sondern auf die Vertonung des Mess-Ordinariums schlechthin und kann damit auch als Einleitung zu den Messen der weiteren Komponisten dieses Buches angesehen werden.

Mein Musik-Interesse war nie singulär auf J. S. Bach fokussiert. Es sind vor allem Mozart und die Romantiker zu nennen. Und wegen meiner besonderen Neigung zu geistlicher Musik lag es beispielsweise bei Mozart nahe, dass ich die beiden für mich bedeutendsten geistlichen Werke aus seiner Feder, die beiden unvollendeten Kompositionen Messe c-moll (KV 427) und sein Requiem (KV 626) gründlicher betrachtet habe.

Wenn ich dann aber auf mein Musikbücher-Regal schaue, das einen Hinweis auf mein seit langem bestehendes Interesse an bestimmter Musik zeigt, sehe ich, dass zwei weitere Komponisten - außer Bach und Mozart - noch mit besonders umfangreicher Literatur vertreten sind. Es sind Beethoven und Schubert. Auch von ihnen habe ich ihre Hauptwerke zur geistlichen Musik nach und nach näher betrachtet, bei Schubert sind es die As- und Es-Dur Messe und bei Beethoven natürlich die Missa solemnis und gleichsam als Einstimmung seine C-Dur Messe.

Damit nicht genug. Ergänzt habe ich meine Aktivitäten noch durch eingehende Beschäftigung mit einigen geistlichen Stücken von Mendelssohn-Bartholdy, mit dem Deutschen Requiem von Brahms und Verdis Requiem. Als Ergänzung sind einige Gedanken zu Bruckners letzter vollendeter Komposition, dem Adagio aus der Sinfonie Nr. 9, d-moll, beigefügt.

Grundsätzlich möchte ich zu meinem besonderen Interesse an geistlichen Texten folgendes anführen:

Die jeweiligen Komponisten haben sich bei der Form der erfundenen Musik in der Regel ernsthaft von der jeweiligen Aussage dieser Texte inspirieren lassen. Und ein vorliegender Text macht es generell natürlich viel einfacher, etwas zum Affekt, zur Gefühlswelt der Musik zu schreiben, als es bei reiner Instrumentalmusik der Fall ist. Man ist nicht nur auf Spekulation angewiesen, wie es in der Regel bei Musik ohne Text der Fall ist, sofern nicht vom Komponisten ein eindeutiger Hinweis vorliegt. Beispiele für letztere sind zumeist die sogenannten symphonischen Dichtungen (Liszt, Dvorak, Strauss und weitere).

Die Beschäftigung mit den geistlichen Texten mag auch etwas über die Haltung des jeweiligen Komponisten zur Religion aussagen. Und dies interessiert mich, auch um über meine eigene Position zu diesem Komplex Klarheit zu bekommen.

Die Messetexte sind sehr alt und wohl immer wieder auf ihre Wirkung, auf ihre Bedeutung zur „Andacht“ geprüft worden. (s. hierzu meine Reflexion am Schluss dieses Vorworts.)

Nicht zuletzt hatte ich selbst den Plan, Kirchenmusiker zu werden und dafür auch die ersten Schritte mit einem ca. 18-monatigen Studium begonnen.

Schließlich fällt in der Musik-Literatur vielfach auf, dass den geistlichen Werken vieler Komponisten in Monographien relativ wenig Raum gegeben wird. Im Zusammenhang mit Mozart hat dies Alfred Einstein sogar zu der Aussage provoziert: Wer Mozarts geistliche Musik nicht kennt, kennt Mozart nicht.

Es werden in diesem Buch ergänzend Aspekte vertieft, die zunächst bei der Diskussion der h-moll Messe aber dann auch bei den Werken von Verdi und Bruckner-Adagio entstanden sind. Es gibt dabei jeweils Überlegungen zum „Jüngsten Gericht“. Es ist jener Vorgang, den jeder gläubige Christ im Artikel 2 des Glaubensbekenntnises im Zusammenhang mit Christi Wiederkehr nach seiner Auferstehung anspricht: „…von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten.“.

Nun könnte jemand mutmaßen, ein inzwischen Achtzigjähriger macht sich darüber Gedanken, was wohl nach seinem irdischen Ableben passieren wird. Nun muss ich aber sagen, dass dies mitnichten mein ursprünglicher Ansatz war. Natürlich kam nach und nach auch die Frage, wie ich wohl selbst hierzu stehe. Dazu finde ich bei Matthäus im Kapitel 25 mich überzeugende Aussagen zur Nächstenliebe, s. Einzelheiten bei der Betrachtungen zum Jüngsten Gericht (s. A 8.3.2, S.83).

Die Anregungen für Überlegungen zu diesem Komplex liegen lange zurück.

Aus dem Verdi-Requiem ist mir seit dem ersten Bekanntwerden (Anfang der 60er Jahre) die Klage „Quid sum miser“ (Was werde ich Armer sagen) rein ästhetisch ein Höhepunkt gewesen und deshalb habe nach dem Grund dafür gesucht.

Was will Bach mit dem Adagio-Abschnitt im Confiteorsatz des Credo der h-moll Messe sagen? Darüber habe ich eine ausführliche Reflexion im entsprechenden Teil dieses Buches geschrieben (s. A 8.3.2 A)

Schon eigentlich immer war mir bei Bruckner in seiner letzten Sinfonie der Takt 206 des Adagio ein Rätsel. Und nach meiner inzwischen gewonnenen Methode der Annäherung, nach Gründen mit Hilfe einer möglichst genauen Analyse zu suchen, gelange ich zu der jetzt als Ergänzung meiner Ausführung zu den christlichen Texten niedergeschriebenen Einsicht. Dabei verlasse ich mein Prinzip, mich eigentlich nur zu äußern, wenn es einen Text zu der angesprochenen Musik gibt.

Zu der von mir gewählten Form der Darstellung:

Vielfach stört mich beim Lesen von Fachliteratur der zuweilen bei den Verfassern anzutreffende Alleinvertretungsanspruch in einem objektiven Gewand. Ich lasse mich von folgenden Gedanken leiten, den ich im Übrigen bei Eggebrecht bestätigt fand. In einem Aufsatz mit dem Thema Mythos Bach schreibt er zum Schluss: „Jedes Sehen und Verstehen ist in der Wissenschaft ein perspektivisches Sehen. Und die Perspektive ist immer und immer die eines Subjekts, eines Ichs. Das Verstehen ist ohne das Ich nicht möglich. Deshalb ist auch in der Wissenschaft die heute wuchernde Tendenz zur Ausschaltung des Ichs zugunsten einer idealisierten Objektivität (über alle Bachfoschung hinaus) der größte Mythos im negativen Sinn, den es geben kann.“ (H.H. Eggebrecht: Geheimnis Bach, S. 104ff, Heinrichshofen-Bücher, Wilhelmshaven 2001)

Diese Sicht hat mich von Beginn meiner Niederschriften der Gedanken zur Musik geleitet. Ich habe bestimmte Vorstellungen, die ich aus vielen Bausteinen gewinne. Dabei ist der ästhetische Eindruck die wesentliche Triebfeder. Wenn ich Literatur benenne, dann überwiegend solche, die mir - das sei zugegeben - in meiner Sicht bestätigt. Warum soll ich jemand anführen, dessen Ansichten ich nicht teilen kann, den ich aber nicht mit meiner subjektiven Kritik verletzen möchte. Zumal ich ja auch gar nicht sicher sein kann, wer sich eigentlich irrt. Natürlich gibt es auch hin und wieder Anlässe, wo ich entsprechende Gedanken kommentiere.

Hauptmerkmale des subjektiven Vorgehens sind in diesem Buch neben der schon in den Kantatenbüchern verfolgten Ichform das Einstreuen von sich zuweilen ergebenden persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen. Ich könnte mir dabei auch vorstellen, dass manchen Leser interessieren könnte, was ich in vielen Jahren gerade zur Musik, der ich mich besonders zugeneigt fühle, erleben durfte. Es muss aber angemerkt werden, dass meine Kommentare individuelle Stellungnahmen zu einem musikalischen Thema sind.

Betrachtung zum Stichwort Andacht:

Da bei den betrachteten geistlichen Texten die jeweils angesprochene Andacht mit Religion verknüpft ist, zitiere ich aus einer allgemeine Beschreibung bei wikipedia: „Andacht bezeichnet sowohl eine „religiöse Versenkung“ wie auch einen Gebetsgottesdienst.“ Und weiter: „Gleichzeitig entwickelte sich aus diesem Gebrauch auch der allgemeine Sinn als ‚Hingabe, innere Sammlung‘ heraus“.

Mir war das Wort Andacht schon bei der Arbeit an den Bachkantaten und ganz allgemein im Zusammenhang mit geistlicher Musik aufgefallen. Man kann lesen, dass die entsprechende Musik die Zuhörer, die Besucher von Gottesdiensten in eine andachtsvolle Stimmung versetzen soll. Offenbar sind sie dann empfänglicher für das Wort Gottes. Und die Musik soll gleichsam als Mittel zum Zweck dienen. Ich nehme dies eingedenk meiner eigenen Empfindungen eigentlich verständnislos zur Kenntnis. Ich kann dies für mich nicht in Anspruch nehmen. Zwei Gründe:

Mich interessiert die Musik, die möchte ich mit ganzem Herzen und Gemüt aber auch mit wachem Verstand hören.

Ein Bedürfnis, Gott nahe zu sein, gibt es für mich nicht. Eigentlich empfinde ich diese vermutlich beabsichtigte Kombination Musik - religiöse Andacht als Anmaßung. Man findet dieses Unbehagen bei vielen Komponisten. Und es war auch einer der Beweggründe, dass ich mein Studium der Kirchenmusik aufgegeben hatte. Man erwartete von einem Kirchenmusiker solche Unterordnung.

Andererseits muss ich aber auch gestehen, dass dies meine ganz individuelle Sicht ist. Dafür höre ich Musik zu absolut. Aber nicht in dem Sinn, dass ich sie unter dem Terminus „absolute Musik“ einordne. Ich schätze Symbolik, Musikrhetorik usf. Aber da hat die Musik das Primat, sie ist und bleibt die Hauptsache. Dabei nehme ich zur Kenntnis, dass es vielen Menschen offenbar anders geht. Wahrscheinlich fehlt mir überhaupt der Zugang zu einer Empfindung, die allgemein Andacht genannt wird. Abgesehen von dem geschilderten geistlichen Umfeld könnte ich mich damit aber anfreunden, dass gewisse Bilder, Eindrücke, in eine entsprechende Gemütsverfassung versetzten können und damit auch eine andächtliche Stimmung herbeiführen. Ich denke an Gemeinsamkeiten mit dem geliebten Menschen. Aber auch an Eindrücke aus der Natur, Bilder wie besondere Bäume, Sonnenauf/-untergänge, Waldesrauschen, Regenfall, Meeresrauschen und weiteres. Und dies wirkt unmittelbar. Auch wenn ich häufig bei Sinneseindrücken nach dem Warum frage, so tue ich es in solchen Fällen nicht.

Günther Zedler

Seeheim-Jugenheim im Oktober 2018

Kapitel A

Johann Sebastian Bach H-MOLL-MESSE BWV 232

1 Die Messe

1.1 Allgemein

Da sich der Begriff Messe in der katholischen Kirche bis heute als Bezeichnung für den sonntäglichen Gottesdienst erhalten hat, sind mit dieser Bezeichnung zwei unterschiedliche Formen angesprochen, der katholische Gottesdienst und eine Komposition, die die fünf feststehenden Abschnitte eines Gottesdienstes, das ordinario missae, vertont.

Als Luther, veranlasst durch die sich seiner Zeit zeigenden Auswüchse und die umgreifende Verweltlichung der Kirche, deren Erneuerung proklamierte, wollte er keineswegs alles abschaffen, was sich in den christlichen Gemeinden in Jahrhunderten herausgebildet hatte. So sind auch im protestantischen Gottesdienst die gleichsam standardisierte Folge von Handlungen, wie Anrufung, Lob und Preis, Christi Wirken, Glaubensbekenntnis und vieles weitere beibehalten worden. Auch wenn es Luther wichtig war, zu einem besseren Verständnis beispielsweise im deutschen Sprachraum der deutschen Sprache mehr Gewicht zu verleihen, so sind insbesondere alte liturgische Gesänge auch in lateinischer Sprache keineswegs verschwunden. Sie behielten bei besonderen Festtagen ihren Platz.

Sympathisch ist mir, was Spitta - der Nestor der Bachforschung - im Zusammenhang mit dem lateinischen Text auch im protestantischen Gottesdienst schreibt. Nachdem er den protestantischen Gehalt der Bachschen geistlichen Musik betont hat, heißt es, dass hinsichtlich der h-moll Messe die Wurzeln tiefer greifen. Obwohl die Komposition in Sachsen entstand, jenem Land, in dem sich die Gegensätze Katholizismus - Protestantismus besonders gegensätzlich zeigten, schreibt er: „An der H moll Messe wird offenbar, wie unermesslich weiter und tiefer Bachs kirchliches Empfinden war, als das seiner Zeit. In ihm lebte der Geist des Reformationszeitalters mit all seiner Streitfreudigkeit und Gefühlsinnigkeit, aber auch mit seiner ganzen umfassenden Kraft.“ Später lesen wir: „Auch stand den Reformatoren ein Bruch mit der katholischen Kirche fern. Sie nahmen das nicänische Glaubensbekenntnis in die symbolischen Bücher auf, und mit dem Credo <unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam>, zum Zeichen ihrer Glaubensgemeinschaft mit dem echten Katholizismus.“ (s. Spitta 2, S. 525 - Literatur am Ende von A, S. 108)

Ich empfinde den Text von Spitta als wohltuend, wenn ich mir vergegenwärtige, dass einige Protestanten glauben, Bachs Sakralmusik als ureigenste protestantischer Verkündigung vereinnahmen zu müssen.

1.2 Das Messordinarium

Aus dem ordinarium missae hat sich insbesondere für die kirchmusikalische Praxis eine grundlegende Satzfolge herausgebildet.

Es sind die folgenden 5 Teile:

I Kyrie eleison: Herr erbarme dich (alter Bitt- und Huldigungsruf aus vorchristlicher Tradition)

II Gloria in excelsis: Ehre sei Gott in der Höhe (Lobpreis aus der griechischen Kirche des 4./5. Jh.)

IV Sanctus: Dreimal heilig (in der Frühzeit der Kirche aus dem jüdischen Morgengebet übernommen)

V Agnus dei: Lamm Gottes (Anrufung des am Kreuz geopferten Herrn; aus der syrischen Kirche des 7. Jh.)

Im einfachen Gottesdienst kommen diese 5 Teile nicht immer deutlich zur Geltung. Wichtig ist jedoch, dass ein Wechsel zwischen Celebrant (Prediger) und Gemeinde entsteht, um eine Gemeinsamkeit der Beteiligten zu unterstreichen. Bei festlichen Anlässen kann dann der Chor - a cappella oder figural (d.h. mit Instrumentalbeteiligung) - mit einbezogen werden. Dadurch werden die einzelnen Teile jeweils mit entsprechendem Gesang ausgeschmückt. Zu betonen ist, dass die Musik zu den einzelnen Teilen nicht in unmittelbarer Folge erklingt. Die einzelnen Abschnitte werden über den Verlauf der Agende verteilt dargeboten. Wenn man also heute eine Messkomposition als geschlossenes Werk aufführt, entspricht dies nicht deren ursprünglichem Zweck. Bis zum Ende des 18. Jh. waren solche Messen Kirchenmusik im ursprünglichen Sinn, d. h. sie waren eingebunden in den vorgegebenen Ablauf des Gottesdienstes. Dies schließt die Werke Mozarts, Haydns, Schuberts usf. mit ein. Selbst die Missa solemnis Beethovens war ursprünglich für den Inthronisationsgottesdienst seines Gönners Erzherzog Rudolph zum Erzbischof von Olmütz gedacht. (Da das Werk aber nicht fertig wurde, erklang stattdessen eine Messe von Hummel.)

Eine Reihe kundiger Interpreten macht die ursprüngliche Trennung der einzelnen Teile auch heute wieder deutlich, indem sie den jeweiligen Teil mit der dazu eingeführten Antiphon einstimmig - solistisch oder chorisch - beginnen (s. auch meinen Hinweis auf die Einspielung des Thomanerchors bei dem Sanctus, Abschnitt 9).

Die Texte der fünf Teile sind wie gezeigt altchristlichen Ursprungs und seinerzeit im Kirchenlatein verfasst worden. Jede Messkomposition, wenn sie allgemein gültig sein soll, stützt sich auf diesen alten Wortlaut. In der protestantische Kirche sind an gewöhnlichen Sonntagen die fünf Abschnitte ebenfalls erkennbar, allerdings geschieht dies in deutscher Sprache, unterstützt mit deutschen Liedern, die zum entsprechenden Teil zumeist von Luther selbst stammen.

Luther wollte aber die lateinische Sprache nicht gänzlich verbannen, daher werden wie gesagt an Festtagen auch Teile in der überlieferten lateinischen Version ausgeführt.

Die genannten Messetexte müssen sich aber auch nicht generell auf die lateinische Sprache stützen. Es gibt eine Reihe sogenannter „Deutschen Messen“, in denen sich die fünf genannten Teile wiederfinden. Weiter ist für mich z. B. eine ganz hervorragende Komposition dieses Genres die sogenannte „glagolytische Messe“ von Janáček, worin der Messetext in altslawischer Sprache erscheint, allerdings ist dort nicht der komplette Text vertont worden. Und natürlich gibt es entsprechende Werke auch in anderen Sprachen.

1.3 h-moll Messe

Ich beginne hier als Vorbemerkung mit meinem ersten Kennenlernen der Bach Messe.

Anfangs hatte ich nach meiner Pensionierung meine näheren Betrachtungen von geistlicher Musik auf das Kantatenwerk Johann Sebastian Bachs gerichtet. Dabei war ein wesentlicher Beweggrund der Gedanke, meine seit vielen Jahren häufig vorgenommenen schriftlich niedergelegten Betrachtungen zu den Kantaten in eine zu veröffentlichende Form zu bringen. Ich habe ähnliche Gedanken natürlich auch zu den längeren oratorischen Werken aus Bachs Feder: Die beiden Passionen, das Weihnachtsoratorium und die h-moll Messe.

Zu diesen Werken gibt es aber umfangreiche Literatur. Da braucht es m. E. nicht noch ein neues Buch. Lediglich bei der h-moll Messe möchte ich eine Ausnahme machen.

Dazu folgendes: Meine Beschäftigung mit der h-moll Messe ist älter, als jene mit den Kantaten. Ausgangspunkt waren die Aufführungen in den Jahren 1956 und 1957 in Schwerin unter meinem Lehrer Kirchenmusikdirektor Walter Bruhns. Damals war gerade die Ausgabe der Neuen Bachgesellschaft (NBG) erschienen sowie der kritische Bericht des Herausgebers Friedrich Smend. Bruhns hatte mich mit seiner Begeisterung über diese Arbeit Smends angesteckt. So blieb einerseits das Interesse zu einigen auch heute nicht erschöpfend geklärten Fragen zur Messe, andererseits gelang später ein näherer Kontakt zu Smend. Ich konnte während meiner Studienzeit in Berlin an einem Privatissimum mit dem Schwerpunkt seiner Arbeit zu einer möglichen Urfassung der Johannes-Passion von Bach teilnehmen. Daraus erhielt ich wesentliche Anregungen für meine späteren Annäherungen an das Bachsche Œuvre und Kenntnisse zu Methoden der wissenschaftlichen Arbeit.

In meinem letzten Buch behandelt ein Kapitel die Chronologie der Bachkantaten, die Alfred Dürr und Georg von Dadelsen in den 1950er Jahren erarbeitet haben. Dabei komme ich zu dem Schluss, dass mit dieser Methode, d.h. Ermittlung des Zeitpunkts der Niederschrift der überlieferten Notenblätter, nicht alle Datierungsfragen hinsichtlich der Entstehung einer Komposition und im speziellen Fall des Symbolums (Nummer 2 in der überlieferten Sammelmappe der Messe) geklärt werden könnten. So lag es für mich nahe, mich nach dem Abschluss der Kantatenstudien näher mit dem Credo zu befassen. Nach den für mich doch überraschenden und erhellenden Ergebnissen habe ich dann auch die übrigen Teile der Messe eingehender betrachtet.

Nach dem einführenden Text weiter oben wenden wir nun den Blick auf Bachs h-moll Messe als Gesamtheit. Die fünf bezeichneten Teile sind deren Abschnitte. Zwei Aspekte seien betont. Einmal konnte die lateinische Sprache wie gesagt auch im evangelischen Gottesdienst benutzt werden. Dies betrifft nicht nur die obengenannte 5 Teile sondern auch u. a. das Magnificat und das Benedictus. Und zum Zweiten sind getrennte Darbietungen von Kyrie und Gloria, Credo und Sanctus in den Leipziger Gottesdiensten für die Bachzeit belegt.

In den folgenden Abschnitten 2 und 3 gehe ich näher auf die Aufführungsgeschichte der Messe ein. Lediglich als kurzer Vorgriff daraus sollte das unmittelbare Folgende verstanden werden.

Aus der Geschichte der Rezeption der h-moll Messe als Gesamtwerk geht hervor, dass es erste Aufführungen davon erst seit dem 19. Jh. gegeben hat. Allerdings hatte sich dann daraus eine feststehende Tradition entwickelt. Der Musiklehrer und Chordirigent Carl Friedrich Zelter sprach überschwänglich von dem „… wahrscheinlich größtem musikalischen Kunstwerk, das die Welt gesehen hat“, (s. Literatur [5], S.44 - Literatur zu Bach S. →).

100 Jahre nach Bachs Tod kam es zu einer ersten Gesamtausgabe aller verfügbaren Bachwerke. Für diese Aufgabe war 1850 eigens die Bachgesellschaft gegründet worden, s. den folgenden Abschnitt.

Im Jahr 1950 dann - 200 Jahre nach Bachs Tod - und 100 Jahre nach der ersten inzwischen nicht mehr aktuellen ersten Edition wurde eine Neu-Ausgabe aller verfügbaren Bachwerke ins Auge gefasst (NBA). Für die h-moll Messe wurde der Bachforscher Friedrich Smend mit deren Herausgabe betraut. In einigen Punkten, z. B. die Datierung einiger zuvor nicht einordbarer Manuskripte, waren für ihn die Angaben von Spitta maßgebend.

Ab Ende der 1950er Jahre konnten dann aber der Papierhistoriker Wisso Weiß mit Papierdatierungen und die Bachforscher Alfred Dürr und Georg von Dadelsen mit Studien an den Handschriften Bachs und besonders seiner Notenkopisten viele Angaben Spittas besonders zur Datierung korrigieren. Damit waren auch die meisten zeitlichen Zuordnungen Smends als unrichtig erkannt worden. Leider hat man dann aber die ganze Arbeit Smends als unzutreffend angesehen. Erst allmählich stellen sich jedoch einige Punkte, die von Smend zum ersten Mal formuliert worden sind, als richtig heraus. Besonderes Aufsehen hatte damals seine These hervorgerufen, dass die h-moll Messe von Bach nicht als ein geschlossenes Werk gedacht worden sei. Smend verwunderte die Musikwelt weiter mit der Tatsache, dass auch die Bezeichnung h-moll Messe, Hohe Messe oder was auch immer nicht authentisch ist.

Noch heute gibt es immer wieder Andeutungen, womit diese Erkenntnisse angezweifelt werden. Zu fest hat sich die Tradition des 19. Jh. mit geschlossenen Messekonzerten eingeprägt. Und es soll jetzt nicht der Eindruck entstehen, dass eine geschlossene Darbietung der missa tota zu verneinen sei. Dann müsste auch Entsprechendes für die Werke dieses Genres von Mozart, Haydn usf. gelten. Aber es fiel vielen Musikfreunden schwer - davon sind anerkannte Forscher nicht ausgenommen -, zu akzeptieren, dass die heutzutage üblichen Darbietungen von Messen bis in die Zeit der Romantik nicht üblich waren. Es lässt sich vermuten, dass für die Tradition, Messen als geschlossene Werke aufzuführen, auch das Bekanntwerden der Oratorien Händels in Mitteleuropa am Ende der 18. Jh. zu nennen ist. Dies sind - wenn auch auf der Basis von geistlichen Texten komponiert - Werke, die nicht für die Liturgie entstanden sind, sondern in Form von Chorkonzerten nicht ausschließlich für den sakralen Raum bestimmt waren. Und es ist daher wahrscheinlich, dass man diese Aufführungspraxis dann auch auf Messkompositionen übertragen hat.

Wir sind in der glücklichen Lage, die autographe Partitur aller Teile der h-moll Messe zu besitzen. Sie lagert im Nachfolgeinstitut der ehemaligen Staatsbibliothek zu Berlin unter den Bachmanuskripten und trägt dort die Bezeichnung P 180. Dieses Dokument ist im Jahre 2017 in das Unesco-Weltdokumentenerbe aufgenommen worden. Hierin sind nur ganz wenige Dokumente von Weltrang aufgeführt.

Besonders hinsichtlich der ganz spät (etwa 1747-49) geschriebenen Notenblätter dieser Partitur treffen die Beobachtungen von Dadelsen (s. [3]) sicherlich für den Zeitpunkt der Niederschrift der Nummern 2 bis 4 (Bezeichnung in P 180), die die Teile Credo, Sanctus und vier abschließende Stücke enthalten, einigermaßen zu. Daraus wurde dann aber - für mich vorschnell - geschlossen, dass die autographe Zusammenstellung aller Teile als geschlossenes Gesamtwerk anzusehen sei. Weitere Folgerung war, dass die Nummern 2 (Symbolum) und 4 (Osanna, …) in P 180 auch erst zur Zeit der Niederschrift komponiert worden seien. Meiner Ansicht nach vermittelt aber diese späte Niederschrift hinsichtlich des Symbolum keine Auskunft darüber, ob und wenn ja, welches Aufführungsmaterial früherer Darbietungen für die Erstellung der Handschrift benutzt wurde. Trotzdem wurden in späteren Veröffentlichungen vielfach in blindem Vertrauen auf die neuen Daten schnell alle früheren Mutmaßungen als unzutreffend abgetan. Dies betrifft besonders Smends kritischen Bericht. Dessen Ausgangsdaten und die sich daraus ergebenen Vermutungen zu viel früheren Entstehungs- bzw. Aufführungszeiten waren allerdings aufgrund der neuen Erkenntnissen Makulatur geworden.

Zu seiner These, dass die Teile des Manuskripts nicht als Gesamtkunstwerk zu interpretieren seien, mag hingegen Folgendes beitragen: Bach wollte möglicherweise mit dieser Zusammenstellung von Musik für alle fünf feststehenden Stücke der Messe, deren Texte ja seit alters her zum Bestandteil der christlichen Kirchen gehören, zeigen, dass er dazu gute Musik zu machen vermochte. Auch konnte mit der Vertonung der tradierten lateinischen Texte im Vergleich mit den Kirchenkantaten eine universellere Einsatzmöglichkeit seiner Musik - weder beschränkt auf den deutschen Sprachraum noch auf konfessionelle Einengungen - verwirklicht werden. Und nicht zuletzt sollte auch die Nachwelt erfahren, dass Bach sich in die Reihe der bekannten Messkompositionen, die auf einer italienischen Tradition basieren, einordnen konnte.

Im Übrigen mag auch für das Konvolut der Messeteile, die P 180, gelten, was für die meistens Werke aus Bachs späten Jahren zu nennen ist. Es sind Sammlungen von Musikstücken, die einer bestimmten Kategorie zuzuordnen sind. Dafür seien die Kunst der Fuge, das musikalische Opfer, die Sammlung der sog. 18 Leipziger Choräle, ja bereits der 1739 erschienene dritte Teil der Clavierübung: „bestehend in verschiedenen Vorspielen über die Catechismus- und andere Gesänge vor die Orgel“ genannt. Alle diese Zusammenstellungen fassen Kompositionen, die zu einer bestimmten Form gehören, zusammen, ohne dass sie für eine geschlossene Darbietung gedacht waren. Schon Smend weist auch für die h-moll Messe auf eine derartige Möglichkeit hin. In seinem Vorwort zur Studienpartitur aus dem Jahre 1955 steht: „Wie in anderen Sammlungen vereinigte Bach auch hier gleichartige, formal und inhaltlich miteinander verwandte Einzelkompositionen.“

Heute gibt es von den genannten Sammlungen komplette Gesamtdarstellungen, gegen die nichts einzuwenden ist. Aber man darf nicht behaupten, dass dies auch von Bach so beabsichtigt gewesen ist.

1.4 Resümee

Die gesamte Messe betreffend stellt Wolff einen zusätzlichen Gesichtspunkt zur Diskussion. Ähnlich wie bei den anderen Sammelwerken aus den späteren Jahren (Klavierübung Teil III und IV, Kunst der Fuge usf.) könnte Bach auch mit der Messe eine didaktische Absicht verfolgt und damit „im Sinne einer exemplarischen Auswahl“ Muster für Vokalmusik hinterlassen haben (s. Literatur am Ende des Kapitels [5], S. 29). Dies bestätigt zwar den Sammelcharakter von Bachs spätem Schaffen, wie ich es weiter oben angedeutet habe, aber für mich ist die theologische Aussage der einzelnen Teile, die sich an den vorgegebenen lateinischen Texten orientiert, ein wichtiger Aspekt. Hierauf gehe ich jeweils in einer kurzen Einführung zu den einzelnen Nummern in den betreffenden Abschnitten näher ein.

Da Smend bei seinen Datierungsversuchen von falschen Voraussetzungen ausgegangen war, die er selbst eigentlich nicht zu vertreten hat, wurde sehr bald nach einer Neufassung im Rahmen der Neuen Bach Ausgabe gerufen. Ich spüre hinter diesen Aktivitäten, dass man grundsätzlich immer noch viele Gedanken Smends nicht akzeptieren wollte. Pikant ist allerdings, dass es inzwischen wohl zwei oder drei Neuausgaben gibt (s. Einleitung zum Text lateinisch – deutsch, Abschnitt 11), ohne dass es hinsichtlich der gedruckten Noten gegenüber Smends Angaben wirklich revolutionär Neues gibt.

Eine Reihe neuerer Untersuchungen hat zwar einige Korrekturen zu Einzelheiten besonders im Symbolum-Teil gezeigt, ich kann aber nicht erkennen, dass sich dadurch für einen unbefangenen Hörer eine neue Sicht ergibt. Ihm kann es doch gleichgültig sein, ob ein bestimmter Ton - angesichts einer fehlenden authentischen Angabe - nicht von Bach selbst sondern von seinem Sohn stammt. Lediglich bei dem Duett im Credo, zu dem es zwei autographe Textversionen gibt, könnte es hinsichtlich seiner Anordnung Änderungen geben. Aber auch dies ist nicht eindeutig bestimmbar, s. meinen Kommentar im Symbolumabschnitt 8.2.1. Und da beide Versionen schon bei Smend vorliegen, bleibt es dem jeweiligen Interpreten vorbehalten, sich für eine zu entscheiden.

1.5 Gedanken zum Parodieverfahren

Eigentlich sollte die Einführung hier enden. Die Tür ist offen für die weiteren Abschnitte 2 und 3.

Da aber Bach besonders bei den späten Vertonungen von lateinischen Texten das Verfahren der Parodie anwendet, möchte ich zu diesem Aspekt im Folgenden einige Anmerkungen anfügen, die man natürlich überspringen kann.

Bekanntlich wird bei einer Parodie vorhandene Musik zu neuem Text wieder verwendet. Und es kann nun belegt werden, dass sich in allen Kompositionen Bachs, die zum lateinischen Messetext entstanden - es sind allein 4 Werke erhalten, die nur die beiden Teile Kyrie und Gloria vertonen (die sogenannten Lutherischen Messen) - in auffällig weitem Umfang Parodien vorfinden, also die ursprünglich zumeist in Kirchenkantaten vertonten deutschen Texte durch solche der lateinischen Messe unter Beibehaltung der Musik ersetzt wurden.

In diesem Zusammenhang beschäftigt mich folgender Gedanke, den ich in meinem letzten Buch beim Stichwort Parodien angesprochen habe (s. Buch IV, S. 62). Der Kern meiner Argumentation ist, dass es eigentlich keine Parodie Bachs - zumindest aus den späteren Jahren - gibt, die als schlicht und unfertig im Vergleich mit der Vorlage - sei sie weltlich oder geistlich - anzusehen ist.

(Ausnahmen sind die Kantaten, die Bach in den Jahren 1724 und 25 zu Ostern und Pfingsten aufgeführt hat. Sie waren ganz offensichtlich wegen anderer Aufgaben - u. a. Passionszeit! - unter Zeitdruck entstanden, sind aber später gründlich überarbeitet worden).

Nach meiner Überzeugung sind dem Komponisten Bach die Ideen nicht einfach zugeflogen - wie man es z. B. Mozart nachsagt. Es war doch immer wieder ein schwieriger Prozess. Und er hat zumeist das jeweilige Resultat nicht aus den ‚Augen’ verloren. War dann in späteren Jahren ein vergleichbarer Affekt, eine ähnliche Situation zu beschreiben, konnte er sich an Früheres erinnern. Da er ja unbestritten ein herausragender Bearbeiter von gutem musikalischem Material war, ist ihm bewusst gewesen, dass aus der einen oder anderen Vorlage aus seiner eigenen Feder noch mehr zu machen ist. Neben vielen anderen bekannten Beispielen in Kantaten und Oratorien trifft dies nicht zuletzt besonders auf die vier Texte zu, die in der P 180 No. 4: „Osanna, Benedictus, Agnus Dei et Dona nobis pacem“ überschrieben sind. Auch mit dem Wissen, dass dabei ältere Vorlagen zu einer neuen Bearbeitung benutzt worden sind, wird heutzutage kaum noch behauptet, dass die jeweilige Parodie minderwertig sei.

Allgemein lassen sich im Gegenteil viele Fälle benennen, die eher das Gegenteil bestätigen, dass nämlich die neue Bearbeitung der früheren Musik dem angesprochenen Affekt noch angemessener ist. Diese Erkenntnis konnte sich erst allmählich durchsetzen. Angefangen bei Spitta bis zu Smend wurden in der Regel Parodien nicht als vollwertige Musik angesehen. Dies entsprach der allgemeinen Auffassung des 19. Jh. Rust hält manches aus dem weltlichen Bereich, das später parodiert wurde, für einen ‚vorübergehende Probestoff’. Spitta glaubt, erst mit dem kirchlichen Text komme der Gehalt der entsprechenden Musik zur vollen Geltung. Schering schreibt in pejorativem Ton, Bach habe für seine Mess-Kompositionen - gemeint sind die sogenannten Lutherischen Messen - deutsche Kirchenkantaten „geplündert“, statt „originale Musik zu bieten“ (s. BJ 1936, S. 27).

Insbesondere zu Spitta ist aber hinzuzufügen, dass die Einwände sich hauptsächlich gegen die Parodierichtung weltlich zu geistlich richteten. So lobt Spitta bei den Parodien innerhalb der h-moll Messe, sofern sie Vorlagen mit geistlichem Text haben, den musikalischen Gewinn. Er spricht von Edelsteinen, die in der neuen Umgebung noch besser glänzen (s. Spitta 2, S. 527).

Anders als Rust und Spitta bezweifelt heute niemand mehr die musikalische Qualität der meisten „Originale“ - auch wenn sie auf säkulare Texte komponiert wurden. Doch hatten die Ansichten der oben genannten Forscher scheinbar besondere Bestätigung bei den meisten Sätze des Weihnachtsoratoriums erhalten. Die endgültigen Fassungen sind derart überzeugend, dass man den weltlichen Originalen, die lange bekannt sind, nur eine Entwurfsform zugestehen mochte.

Genauso wie es Bach bekanntermaßen im instrumentalen Bereich ein Anliegen war, verschiedenste Möglichkeiten der Bearbeitung von gutem musikalischen Material vorzulegen - s. Goldbergvariationen, Musikalisches Opfer, Kunst der Fuge, auch Choralbearbeitungen für die Orgel und vieles mehr - lässt sich entsprechendes auch in zahllosen textgebundenen Beispielen belegen. Und hier liefern die „Parodien“ der h-moll-Messe beste Muster. Daher ist für mich in diesem Kontext auch die Argumentation, Bach seien später die Einfälle zu etwas Neuem ausgegangen, nicht angebracht (s. u. a. die von Martin Geck in seinem Bachbuch, S. 483ff, verzeichnete Literatur. Im Übrigen ist einiges von meinen Gedanken zu den Parodien auch bei Martin Geck zu finden.)

Sicher sind die „Einfälle“ Bachs weniger zahlreich als jene viele seiner Zeitgenossen. Aber nur die Bachsche Musik ist heute noch allgegenwärtig. Der Grund kann doch nur in der musikalischen und auch in einer nicht immer rational zu erfassenden Qualität liegen.

Ergänzung:

In diesem Punkt ließe sich u. a. ein Vergleich mit Händel anbringen. Auch er hat in großen Umfang einmal erfundene gute Musik wieder verwendet und damit der Nachwelt vielleicht manches Wertvolle erhalten. Dabei sei an die Arie „Lascia, ch’io pianga“ erinnert. Die Musik dazu war Händel schon in seinen jungen Jahren eingefallen und er hat sie mehrfach wiederbenutzt, weil sich damit einerseits genau der Affekt ausdrücken ließ, der z. B. in der Oper Orlando zu beschreiben war. Andererseits wird es in London wohl kaum einen Hörer gegeben haben, der sich an die entsprechende Hamburger Urform erinnern konnte, die ja ungedruckt war. Geradezu absurd ist in dem Zusammenhang, was vor ein paar Jahren durch die Musikwelt geisterte, dass nämlich Händel einer der größten Plagiatoren aller Zeiten sei, allerdings habe er zugegebenermaßen sich überwiegend selbst bestohlen. Nun, mit „Enthüllungsjournalismus“ lässt sich immer trefflich Aufmerksamkeit erzielen.

Auch Monteverdi ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Sein Klagegesang, das Lamento d’Ariana, hat er neu textiert zum Pianto della Madonna: „Lasciami morire“. Gibt es eine ergreifendere Klage? Warum hätte er sie nicht wieder verwenden dürfen? Sie entspricht dem beabsichtigten Affekt und eine Verfügbarkeit zuvor geschaffener Werke - wie wir sie heute gewohnt sind - gab es nicht.

(Von den sogenannten Vielschreibern besonders aus der Vorklassik sind bisher entsprechende Anleihen aus ihren früheren Werken weniger bekannt. Überspitzt ließe sich sagen, dass ihnen das Komponieren so leicht fiel, dass es für sie mühsamer gewesen wäre, nach passenden Vorlagen zu suchen und sie zu bearbeiten. Vielleicht werden aber deshalb deren Werke im Vergleich mit Bach und Händel auch nicht in gleicher Weise geschätzt.)

2 Überlieferungsgeschichte der Messe bis 1955

2.1 Allgemein

Verglichen mit vielen anderen Komponisten sind bei dem erhaltenen Originalmaterial Bachscher Werke schmerzhafte Verluste zu beklagen. Dies gilt bei den Stücken der h-moll Messe allerdings nur teilweise, weil eine handgeschriebene Partitur eines „Gesamtwerks“ überliefert ist. Indes fehlen zu vielen Detailfragen Belege. Und hier ist insbesondere der musikalisch wohl wertvollsten Teil: das Credo, von Bach Symbolum nicenum zu nennen.

Der Nestor der Bachforschung Philipp Spitta fasst das Wissen zum Notenbefund mit dem Stand von 1880 wie folgt zusammen:

„Originalhandschriften zur H moll Messe sind drei vorhanden: die vollständige autographe Partitur (auf der königlichen Bibliothek zu Berlin), die Originalstimmen Kyrie und Gloria (in der Musikbibliothek des Königs von Sachsen zu Dresden), die autographe Partitur des Sanctus in seiner älteren Gestalt (wieder in Berlin).“

Weiter heißt es: „Verloren gegangen sind die Stimmen der Gesamtpartitur und zum Sanctus, sowie die Einzelpartitur zum Kyrie und Gloria. …“ (Spitta II, S. 828, Anm. 54)

Anmerkung: Die vollständige Partitur hat in der Berliner Bibliothek die Signatur <Mus. Ms. Bach P 180> erhalten. Ich werde in meinen weiteren Ausführungen deshalb dafür die Bezeichnung P 180 benutzen. Es ist ohne Zweifel die wichtigste Quelle.

(Sie ist dankenswerterweise in mehren Auflagen als Faksimile erhältlich, die erste erschien bereits 1924. Ich habe bei meinen bisherigen Studien noch bei keinem anderen Werk mit derartigem Gewinn eine Handschrift auswerten können, wie in diesem Fall meiner Beschäftigung mit Bachs Vokalmusik.)

Die Angaben Spittas zeigen also, dass von einem der größten Werke der Musikgeschichte Fragen zu den Originalquellen offen waren und teilweise noch heute sind. Andererseits haben aber die beiden Attribute: bedeutendes Werk und Unklarheiten bei der Überlieferung umso mehr die Fachwelt zumindest seit Spittas Feststellung zu Forschungen herausgefordert.

Zu Spittas Text unter <Weiter heißt es> lässt sich mit heutigem Wissensstand ergänzen:

Stimmen zur Gesamtpartitur hat es vermutlich nie gegeben. Dies schließt jedoch Entsprechendes zu einzelnen Teilen nicht aus. Hierzu habe ich meine persönliche Sicht das Credo betreffend im Abschnitt Symbolum mitgeteilt.

Stimmen zum Original-Sanctus sind vermutlich beim Grafen Sporck verblieben und inzwischen verschollen. Er muss sie entgegen Smends Vermutung auch nicht erst kurz vor seinem Ableben in den Jahren 1736-38, sondern bereits Mitte der 1720iger Jahre erhalten haben. (Nähere Angaben zum Grafen Sporck, der wohl auch als Mäzen Bachs anzusehen ist, sind hoch interessant, sollen hier aber nicht Gegenstand weiterer Betrachtungen sein.)

Es ist ein Verdienst von Smend, herausgefunden zu haben, dass die vermisste Einzelpartitur der Missa (Kyrie und Gloria) mit der No. 1 in der P 180, inklusive zahlreicher - z. T. auch nur geringfügiger Korrekturen - identisch ist. (s. weiter unten 2.2.2 zu den Drucken.)

2.2 Überlieferungsgeschichte zu Aufführungen der h-moll Messe.

Ich möchte jetzt insbesondere der Frage nachgehen, seit wann sich eine Tradition zu Aufführungen der vollständigen Messe etabliert hat.

Es mussten mindestens 100 Jahre nach Bachs Tod vergehen, bis Aufführungen der h-Messe überhaupt allgemein möglich wurden, abgesehen von einigen Teildarbietungen einzelner Stücke, wozu aber das erforderliche Notenmaterial nur handschriftlich verfügbar war.

Die ersten beiden Kapitel des kritischen Berichts von Smend benennen seine umfangreichen Studien zu:

Die handschriftlichen Überlieferungen und Die Drucke.

Beide Formen sind als Material zu Aufführungen zu betrachten.

2.2.1 Handschriften

In größerer Zahl hat es vor der Drucklegung Abschriften der Bachmesse oder von Teilen daraus gegeben. Ob Smend an alle Kopien gekommen ist, müssen weitere Studien zeigen. Die Zahl entsprechender Abschriften für gelegentliche Aufführungen oder auch nur zu Studienzwecken - auch für Haydn und Beethoven? - ist nicht genau bestimmbar.

Es ist bekannt, dass professionelle Kopisten auftragsgemäß Material herstellten. Dabei hat C. P. E. Bach den Zugang zu der in seinem Bestitz befindlichen Partitur ermöglicht. Dies geschah sowohl in Hamburg, als auch in Berlin, hier u.a. für die Amalien-Bibliothek.

Belegt ist die erste Aufführung des „Credo, oder das nicänische Glaubensbekenntnis“ durch C. P. E. Bach im Jahre 1786 in Hamburg.

(Aus dem Programmzettel des dortigen Konzerts ist übrigens ersichtlich, dass nach dem Bachschen Credo die Händel-Arie: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ dargeboten wurde; schon damals erkannte C. P. E. die außerordentliche Qualität dieser Arie aus dem Messias.)

Auch die Berliner Singakademie hatte, angeregt durch Zelter, immer wieder einzelne Teile geprobt. Eine Aufführung der Singakademie als öffentlich zugängliches Ereignis kam aber nicht zustande. Dagegen hatte aber der Operndirektor Gaspare Spontini bereits 1828 in der Berliner Oper ein Chorkonzert mit dem Kyrie und Gloria der Missa Solemnis von Beethoven gemeinsam mit den ersten 6 Sätzen des Credos aus der Bach-Messe dargeboten. Die Besetzung orientierte sich dabei auch für die Bachmusik an Beethoven, die Ausführenden waren Berufsmusiker der Oper.

Auch von den Bemühungen Schumanns in Düsseldorf wird berichtet und dass die Realisierung als sehr schwierig empfunden wurde. Einige Sänger und Sängerinnen sollen sich sogar geweigert haben, überhaupt die Noten zu singen und hätten deshalb die Singevereinigung verlassen.

Smend hebt hervor, dass sich mit den beiden genannten Orten Hamburg und Berlin schon frühzeitig eine Tendenz hinsichtlich des Gesamtbildes der Messe erkennen lasse. Mit Hamburg ist Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel (C.P.E.) verbunden, dem man doch sicherlich einige Autorität hinsichtlich des Wissens um die Bedeutung und auch eine Interpretationskompetenz unterstellen darf. Er hatte vermutlich die ihm aus dem Erbe zugefallene Partitur, die spätere P 180, nicht als Gesamtwerk gesehen. Smend deutet diese Vermutung aus Folgendem: C.P.E. hatte für das Symbolum einen instrumentalen Eingangssatz geschrieben, in dem er in Anlehnung an Pachelbel nach Art eines Choralvorspiels Liedzitate anbringt. Dies entspräche der vom Vater Bach gehandhabten Weise, vor der Hauptmusik auf der Orgel zu präludieren.

Schon früh hat es auch in England Aktivitäten gegeben, dorthin sind Abschriften von Teilen aus C.P.E.s Partitur gelangt. Es gab sogar Pläne für einen Druck des Credo. Auch zu dem Aufwand bei der Darbietung in Hamburg wird noch von einem kleineren Kreis der Ausführenden berichtet, was den Originalverhältnissen in Leipzig nahe gekommen sein mag.

Dagegen ist in Berlin - wie Spontini zeigt - bei der Darbietung von großer, gleichsam opernhafter Gestaltung ausgegangen worden, wobei mit Sätzen aus dem Credo gemeint sein wird, dass dabei nur Ausschnitte aus einer Gesamtkomposition dargeboten worden seien. Eine gleichzeitige Vermischung mit Sätzen aus der Beethovenschen Missa Solemnis mag dies verdeutlichen. Mit Abschriften, die aus Berliner Beständen stammten, sind diese Ausführungsformen, die ja auf die Idee von einem Gesamtwerk zielten, auch in andere Städte gelangt. Nach dieser „Tradition“, die bei der h-moll Messe von einer Komposition nach katholischem Ritus ausging, bildete sich eine solche Überzeugung schon früh ganz allgemein heraus. Besonderheiten, z. B. Trennung von Sanctus und Osanna nach Luthers Vorgaben sind somit schon früh in Vergessenheit geraten. Von Spontini, der im katholischen Italien aufgewachsen und geformt worden war (er sollte gar Priester werden), konnte dies überhaupt nicht erwartet werden. Zu bemängeln ist allerdings, dass dies vielen protestantischen Gelehrten bis in die heutige Zeit nicht aufgefallen war. Davon muss hingegen Spitta ausgenommen werden (s. II, S. 540), er wusste noch von Luthers Einwänden (s. Abschnitt 10).

Einschub:

Vor dem Hinweis auf die Drucke möchte ich einen kurzen Blick auf eine sich allmählich ab Mitte des 18. Jh. herausbildende Aufführungstradition „geistlicher“ Konzerte richten.

Es hatte sich ganz allgemein bis zum ersten Druck der Bach-Messe durch die Bach-Gesellschaft (BG) in der Mitte des 19. Jh. bereits eine gewisse Tradition zur Aufführung von Oratorien, die überwiegend zu geistliche Texten komponiert worden waren, etabliert. Obwohl sakrale Thematik vorlag, ist ein wesentliches Merkmal solcher Veranstaltungen jedoch, dass sie nicht mit einem Gottesdienst verbunden sind, sondern schon früh gleichsam in säkularem Umfeld Verbreitung fanden. Es waren Konzerte, womit die mehr und mehr aufkommenden bürgerlichen Chorgemeinschaften ihr Können zeigen konnten. Davon war die legendäre Berliner Singakademie (Zelter und sein Schüler Mendelssohn-Bartholdy) nur eine der bekanntesten.

Als Vorläufer solcher Konzerte nicht nur zu geistlichen Texten außerhalb der Kirche hatte es entsprechende Aufführungen bereits in den letzten Lebensjahren von Bach gegeben. Bach selbst war beteiligt bei den Konzerten der Collegia musica (ab 1727). Weiter gab es in Leipzig Veranstaltungen annonciert als „Grosses Konzert“ ab 1743. (s. Arnold Schering: Musikgeschichte Leipzigs von 1723-1800, mehrere Kapitel). Bei letzterem erscheint als Komponist besonders häufig der Dresdner Joh. Adolf Hasse, ferner kamen u. a. Werke der Hamburger Mattheson und Telemann zur Aufführung. Auch in anderen Städten haben sich Konzerte mit entsprechenden Darbietungen, jeweils initiiert von entsprechenden Vereinigungen, etabliert. Die Werke mit christlicher Thematik entstanden als Pendant zu Opernaufführungen. (Der Oper hing auch Ende des 18.Jh. noch ein gewisser Verruf an, der es vielen kirchlich orientierten Menschen schwer machte, dortige Veranstaltungen zu besuchen.)

Kurz nach Bachs Zeit gewann z. B. „Der Tod Jesu“ von Carl Heinrich Graun (1755) Statuscharakter für Veranstaltungen zur Passionszeit. Obwohl es sich dabei um geistliche Texte handelte, waren sie nicht für eine Integration in das Mess-Ordinarium bestimmt.

Bei der Suche nach größerer Vielfalt für entsprechende Aufführungen wurde man auch auf Aktivitäten in Großbritannien aufmerksam. Dort gehörten z. B. die geistlichen Oratorien Händels schon seit deren Entstehung in den 1740er Jahren zum Standardrepertoire der zahlreichen Chorvereinigungen. Und so wurden allmählich (in den 1770er und 80er Jahren) dessen Oratorien auch in Deutschland besser bekannt. Mozart wurde sogar beauftragt, den Messias den Aufführungsbedingungen im deutschsprachigen Raum anzupassen, s. KV 572 (1789). Am Beginn des 19. Jh.s kamen dann Beethovens Missa solemnis, Oratorien von Haydn, Schubert und später Mendelssohn-Bartholdy, Schumann usf. hinzu.

Bachs h-moll Messe in gleicher Weise zu etablieren, gelang erst ganz allmählich. Dazu musste als wichtige Voraussetzung entsprechendes Notenmaterial als Druck verfügbar sein.

2.2.2 Drucke (bis 1950)

Der Züricher Musikverleger Hans Georg Nägeli, der bereits mehrere Bachwerke verlegt hatte, erwarb 1805 schließlich das einzige vollständige Manuskript dieses damals nur in ausgesprochenen Fachkreisen bekannten Werkes aus Carl Philipp Emanuels Nachlass. Seit 1790 war das Manuskript neben anderen Bachnoten mehrfach angeboten worden, ohne bis dato einen Käufer gefunden zu haben. Dieses Konvolut war die heute unter der Bezeichnung P 180 bekannte Partitur der kompletten Messe. Nägeli hatte gehofft, mit dem Druck des Bachwerks für die oben genannten Veranstaltungen der Chorvereinigungen zusätzliche Literatur erschließen zu können. Ob er sich davon auch einen wirtschaftlichen Erfolg versprochen hatte, ist umstritten. Zumindest wurde in der Fachwelt sein Plan, den er 1818 in einer Zeitungsanzeige publik gemacht hatte, als zu lobendes Unterfangen betrachtet. Die Annonce in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung war überschrieben: „Ankündigung des größten musikalischen Kunstwerks aller Zeiten und Völker“. Aber der hiermit gemachte Aufruf zur Subskription als Basis für einen Druck, der zumindest die Unkosten decken könnte, blieb zunächst erfolglos.

Dennoch entschied sich Nägeli - inzwischen gemeinsam mit dem Bonner Verleger Simrock - das Vorhaben zu beginnen. 1833 erschien die erste Hälfte der Bachmesse mit dem Kyrie und Gloria. Nach dem Tode Hans Georgs hat sein Sohn Hermann Nägeli entsprechendes fortgesetzt. Es mussten jedoch weitere 12 Jahre vergehen, bis im Jahre 1845 auch die zweite Hälfte der Messe: Credo, Sanctus und die letzten 4 Stücke im Druck erschienen. Ob hiermit Aufführungen in größerem Umfang zustande kamen, ist z. Z. (noch) nicht herausgefunden worden. Zumindest ist nicht von einem erfolgreichen Projekt zu berichten.

Im 100. Todesjahr Bachs wurde im Jahre 1850 auf Initiative vieler herausragender Repräsentanten des Musiklebens die Bach-Gesellschaft (BG) gegründet. Das ausdrückliche Ziel dieser Gründung war es, eine Gesamtausgabe aller - bis dato für viele nahezu unbekannter - Werke aus Bachs Feder zu ermöglichen, die den neuesten Kenntnissen der Wissenschaft und Forschung entsprechen sollte. Die Gründer der BG hatten ursprünglich gehofft, ihr Jahrhundertvorhaben mit dem Druck der Großen Messe zu beginnen. Hier gab es jedoch Probleme, an die Quellen zu gelangen. Hermann Nägeli gab das Original-Manuskript für eine wissenschaftlich fundierte Ausgabe nicht her. Er erwartete wohl nach wie vor, dass mit diesem Werk, das von Fachleuten (u. a. von Zelter) bereits in höchsten Tönen gelobt worden war, auch ein wirtschaftlicher Erfolg erzielbar sein müsste. Und dafür konnte eine geplante Edition durch die BG nur als unliebsame Konkurrenz angesehen werden, die er nicht unterstützen wollte.

[Smend füllt in seinem kritischen Bericht mehrere Seiten (S. 62 ff) mit dem Briefwechsel, womit sich die Gründer der BG um die Herausgabe des Manuskript bemüht hatten.]

Die BG entschied schließlich, nachdem Nägeli falsche Angaben über den Verbleib des Manuskripts gemacht hatte, sich für die Erstausgabe auf zugängliche Quellen zu stützen:

Für Kyrie und Gloria waren es die Dresdner Stimmen, ohne die Korrekturen in P 180, für die weiteren Teile u. a. die Kopien, die sowohl für den Berliner Hof (Amalien Bibliothek) als auch in Hamburg für C.P.E. Bach gefertigt worden waren. Es waren allerdings z. T. nicht vollständige und auch sich einander widersprechenden Abschriften. Die Partitur erschien 1856 als Band 6, HG Julius Rietz. Es war aber bekannt, dass dafür nicht alle existierenden Quellen herangezogen werden konnten.

Nur ein Jahr später gelang es, die P 180 über Zwischenhändler zu erwerben. Sie kam rasch in den Bestand des Vorläufers der heutigen Berliner Staatsbibliothek und wurde für Korrekturen zugänglich.

Da die Erstellung von Drucken seinerzeit relativ aufwendig und damit kostspielig war, hatte man entschieden, die Erwerber des edierten Bandes 6 mit einer Ergänzung - Band 6a - zu informieren über die bei einer Durchsicht der P 180 erkannten Abweichungen im Vergleich mit der gedruckten Partitur.

Die mitgeteilten Korrekturen bestanden:

Aus relativ „geringfügigen Änderungen“ im Kyrie-Gloria-Teil. Es handelte sich um eine Auflistung von nur 15 Variata, bei denen der Druck von der nun zugänglichen Handschrift abwiche. Die jeweiligen Besitzer von Band 6 sollten die Korrekturen in ihren Noten selbst vornehmen.

Die Änderungen in den weiteren Abschnitten, also ab Credo, wären aber derart umfangreich, dass für diese Teile ein Neudruck erforderlich war. Die Besitzer von Band 6 sollten nun schlicht die Seiten 155 bis 306 durch den Neudruck ersetzen.

So musste jemand, der die revidierte Fassung haben wollte, beide Bände in Händen haben und die Korrekturen wie gesagt selbst vornehmen: Teil 1 handschriftlich, bei Teil 2 durch Auswechseln der entsprechenden Seiten.

Smend teilt aber in seinem kritischen Bericht von 1956 (S. 75) mit, dass diese „Korrekturen“ nicht auf einer sorgfältigen Prüfung der nun vorliegenden P 180 basieren. U. a. stellt er fest, dass für die „Missa“ die Variata ein Vielfaches von 15 hätten sein müssen. (Wahrscheinlich war u. a. die berühmte Punktierung im homi-nibus der „Et in terra“- Fuge, s. auch Kap. 6) nicht erkannt worden. Jedenfalls erscheint die neue Lesart erst seit Smends Bericht in neuen Noten.

(Selbst die weit verbreiteten Klavierauszüge von B&H waren davon lange betroffen. Jeder möge seinen Bestand der Noten überprüfen und wird feststellen, dass in älteren Ausgaben z. B. die oben genannte Punktierung nicht enthalten ist. Dazu muss ich aber anmerken, dass bei grober Sicht auf das Thema der Fuge in P 180 die Korrektur ohne Wissen um dieselbe nicht sofort erkennbar ist.)

Und an dem Neudruck für die Teile ab Credo kann Smend überhaupt kein gutes Haar lassen. Vieles hält er für eine „Katastrophe“, es sei eine Verschlechterung des alten Drucks gewesen.

Ich nenne nur zwei Merkmale aus P 180, die im Band 6a keinen Niederschlag fanden:

1. Es ist deutlich, dass das Konvolut aus vier Abschnitten - Bach nennt sie No. - besteht, die jeweils einen Umschlag mit genauer Angabe der jeweils Mitwirkenden enthalten und auf jedem dieser vier Umschläge steht abschließend „di J. S. Bach“. Entsprechende Umschläge sind zu den meisten Bachwerken, z. B. Kantaten, bekannt.

Die vier No. umfassen 1. Missa, 2. Symbolum, 3. Sanctus, 4. Osanna, Benedictus, Agnus dei et dona nobis pacem.

Zum Zeitpunkt von Bachs Tod waren diese einzelnen Nummern höchstwahrscheinlich Loseblatt-Mappen. Ich werde im Folgenden bei dem Bezug auf diese Sammlungen die Bezeichnung Nr. 1…4 in P180 gebrauchen.

Da diese Gliederung nicht direkt zu dem Bild einer (katholischen) Gesamtmesse passt, z. B. Trennung von Sanctus (Nr.3) und Osanna (4), wurde sie einfach nicht beachtet.

2. Der HG von Band 6 der alten Ausgabe wird in der No. 2 (Symbolum) geblättert und gesehen haben, dass sie am Schluss eine Ergänzung betitelt: ‚Due Voces Articuli 2’ zeigt. Dies hat er ohne weitere Prüfung der gesamten Nummer als vermeintlich letztem Willen Bachs übernommen. Einzelheiten hierzu s. Kapitel 8.2.1.

Bei Smend kann man noch viele interessante Details auch zu dem Zustand der Nägeli-Partitur lesen, u. a. die Andeutung, dass Hans Georg Nägeli für den Druck 1733 offenbar nicht die P 180 benutzt hatte.

Da von Drucken die Rede ist, muss natürlich weiter berichtet werden, was nach dem Erscheinen des Bandes 6, ergänzt durch 6a der BG von 1856 bzw. 1857 geschah. Erst 100 Jahre später erschien 1955 die Messe als Band der Neuen BG (NBG).

In dieser Zeit lernte ich selbst dieses Werk kennen. Im folgenden Kapitel sind einige Anmerkungen zu dieser Ausgabe zu finden.

2.3 Resümee.

Angesichts dieser Vorgeschichte konnte sich eine Aufführungstradition für die h-moll Messe, die ja nur möglich ist, wenn das Notenmaterial gedruckt verfügbar ist, erst ab Ende des 19. Jh.s herausgebildet haben.

Aber danach waren Darbietungen für ganz viele Menschen Schlüsselerlebnisse. Dies betrifft beides: die Musik, aber auch die Theologie, die mit Bachs Werk vermittelt wird.

Zu vertiefenden Betrachtungen sei auf die Abschnitte 4 bis 10 verwiesen.

3. Aufführungsgeschichte ab 1955

Neue Bach-Ausgabe (NBA) der NBG

Einziges Ziel der (alten) BG bestand wie gesagt darin, dem damaligen Wissensstand entsprechend eine Gesamtausgabe aller Bachwerke zu realisieren. Dieses Vorhaben konnte mit dem letzten Band der Gesamtausgabe abgeschlossen werden, es war Band 46 im Jahre 1899: ‚Schlussband. Bericht und Verzeichnisse’. Und damit sah die BG den Zweck ihrer Gründung erreicht und löste sich auf. Dies geschah auf der letzten Sitzung am 27. Januar 1900. Jedoch der Musikforscher Hermann Kretzschmar, der HG dieses Schlussbandes, betonte, dass das Vorliegen einer Gesamtausgabe ergänzt werden müsse um Bemühungen, Bachs Musik umfassend bekannt zu machen. Er forderte die Gründung einer neuen Gesellschaft mit diesem Ziel. Dies fand allgemeine Unterstützung. Auf derselben Veranstaltung wurde deshalb die Neue Bachgesellschaft (NBG) gegründet. Deren Aufgabe lautete:

« Der Zweck der NBG ist es, die Musik Johann Sebastian Bachs zu pflegen und zu verbreiten und Leben, Werk und Nachwirken Bachs wissenschaftlich zu erschließen, insbesondere auch seine für die Kirche geschaffenen Werke dem Gottesdienst nutzbar zu machen. »

(Der kursiv gedruckte Zusatz kam erst später hinzu und scheint auf Druck von Protestanten hineingekommen zu sein. Für mich ist dies ein unwürdiger Aspekt in den NBG, mit dem auch heute noch Bachs Musik einseitig polarisiert werden soll. Inzwischen liest sich nämlich der Zusatz als getrennter Satz wie folgt: >Der Bestimmung seiner geistlichen Werke für den Gottesdienst soll besondere Aufmerksamkeit zugemessen werden<. Es ist zu bezweifeln, dass diese Formulierungen im Sinne von Persönlichkeiten waren, die bei der Gründung beratend beteiligt waren, weil darunter Musiker verschiedenster Glaubensrichtungen waren.

Ich glaube, die Betonung der Bestimmung z.B. der Kantaten für einen Gottesdienst ist nicht mehr zeitgemäß. Natürlich sind sie dafür entstanden. Aber dies ist bald 300 Jahre her. Heute haben sich die Formen geändert. Es soll nicht heißen, dass diese sakrale Bestimmung negiert werden sollte. Im Gegenteil sollten bei Aufführungen - in welchem Rahmen auch immer - dazu Zusatzinformationen geben werden. So steht es in meinen Büchern. Aber dies sollte nicht einseitig mit einem Gottesdienst verbunden werden, mit dem heute kaum noch jemand erreicht wird.)

Mit der Zeit zeigte sich dann immer mehr, dass die Ausgaben der BG vielfach durch neuere Erkenntnisse nicht mehr genügen konnten. So wurde anlässlich des 200. Todesjahr Bachs im Jahre 1950 beschlossen, eine neue Aufgabe für die NBG in Angriff zu nehmen. Alle Bachwerke sollten eine Neu-Ausgabe erfahren. Wieder sollte diese Ausgabe mit der h-moll Messe beginnen und wieder gelang dies - wie schon ab 1850 - aus verschiedensten Gründen nicht unmittelbar.

Mit der Herausgabe der Messe wurde Friedrich Smend aufgrund seiner Vorarbeiten zu dem Gegenstand beauftragt (s. [1] Aufsatz im BJ 1937). 1955 erschien in der neuen Bachausgabe (NBA) die Partitur, ein Jahr später der dazu gehörende Kritische Bericht, (Serie II, 1: Messe h-moll (Mass in B minor), HG: Smend, Friedrich).

In dem Bericht hat Smend einige - erst allmählich als korrekt erkannte - Erkenntnisse geäußert.

Es sind hauptsächlich zwei Feststellungen - ja eigentlich Fakten, die unmittelbar miteinander zusammen hängen:

Es gab für eine geschlossene Aufführung eines derart umfangreichen Werkes zur Bachzeit keine Möglichkeit, weder innerhalb noch außerhalb der Kirche.

Die überlieferte Partitur erweist sich nicht als geschlossenes Gesamtwerk. Bereits bei einem groben Durchblättern muss jedem nicht „voreingenommenen“ Betrachter auffallen, dass die Partitur ein Sammelband von 4 Einzelnummern ist, jeweils durch getrennte Umschläge unterteilt und vor allem jeweils durch die Schaffensformeln JJ am Beginn und SDG am Schluss gekennzeichnet. Allerdings fehlt bei dem Symbolum die Schlussformel. Diese No. war und ist aber auch nicht fertig, s. Abschnitt 8.

Bereits in seinem Aufsatz von 1937 hatte Smend auf beide Punkte aufmerksam gemacht. Diese Vermutung hatte aber wohl wegen der folgenden unglückseligen Zeit auch für das Kulturleben im Nazi-Deutschland keinen Nachhall gefunden.

(Das Studium der gedruckten Partitur offenbart ein Manko, dass ich bei allen Druckausgaben Bachs bemängele. Warum unterschlägt man jeweils die wichtigen Buchstaben JJ und SDG?)

Der genannte Fakt a will nicht unterstellen, dass Bach sich nicht eine geschlossene Darbietung gewünscht haben könnte, aber für eine Realisierung gibt es keine Belege. Umso zahlreicher sind aber noch heute Spekulationen zu möglichen Aufführungen als Gesamtwerk in der Mitte des 18. Jh’s. Neben Leipzig im Rahmen der weltlichen Konzerte werden u. a. Wien (Stephansdom) oder auch Berlin (Hedwigskathedrale) jeweils für Darbietungen im Rahmen von Messordinarien genannt. Immer noch gibt es vielfach die Behauptung, die Messe sei als Gesamtwerk konzipiert worden.

Die Reaktion in der musikalischen Welt auf Smends Findungen war ganz überwiegend abweisend, vielfach aus heutiger Sicht sogar böse. Und zu den Kritikern gehörten anerkannte Bachforscher. Damals glaubten viele sich betrogen um ihre tiefsten Erlebnisse. Dabei ging es nicht nur um die musikalische Qualität der „missa tota“, sondern mindestens in gleicher Weise um den theologischen Gehalt in seiner Geschlossenheit. Erst heute - also nochmals etwa 60 Jahre später - glätten sich allmählich die Wogen des Protests.

Die damalige Abwehr hatte noch einen zweiten Grund. Der Papierforscher Wisso Weiß konnte - allerdings erst nach Smends Veröffentlichung - nachweisen, dass Smends „Spekulationen“ zu Aufführungsgelegenheiten, insbesondere des Credoteils, aber auch weiterer Vermutungen zu Entstehungszeiten auf falschen Papierdatierungen basierten. Heute steht fest, dass alle Angaben von Smend zu Entstehungszeiten nur noch für den Kyrie-Gloria Teil angenähert korrekt sind.

(Dass Weiß als Hauptquelle für die neuen Datierungen zu bezeichnen ist, hat man dadurch zum Ausdruck gebracht, dass seine Arbeit im Rahmen der NBA als Katalog der Wasserzeichen: >Neue Bach-Ausgabe. Serie IX, Addenda Band 1< veröffentlicht wurde.)

Die Fehleinschätzungen waren eigentlich nicht ausschließlich Smend anzulasten, weil sie dem damaligen Stand der Wissenschaft entsprachen. Smend hatte es nicht als seine Aufgabe gesehen, die vorliegenden Erkenntnisse hinsichtlich der Datierungen der vorhandenen Manuskripte zu hinterfragen. Aber angesichts der sich anschließend als falsch zeigenden Ausgangsdaten für Smends Vermutungen, konnte dann leicht unterstellt werden, dass dies auch für weitere Erkenntnisse Smends gelten müsse, d. h. viele seiner Aussagen seien Vermutungen, deren Wahrheitsgehalt mit Recht zu bezweifeln sei. Dabei ist jedoch festzuhalten, dass die falschen Angaben zu den Entstehungszeiten der einzelnen Teile eigentlich keinen Einfluss auf das Notenbild, das die neue Partitur zeigt, haben.

Bei der Lektüre von Smends Bericht spüre ich vielfach, dass er immer wieder Fakten betont, die dagegen sprechen, die Messe als Gesamtwerk zu verstehen. Er war sich offenbar bewusst, dass er zu dieser Erkenntnis keine offenen Türen vorfinden würde.

(Ich könnte mir vorstellen, dass es heute für einen Jüngeren lohnend sein müsste, den Bericht um die inzwischen bekannten Irrtümer zu bereinigen. Ich glaube, es würde sich eine ganze Reihe von inzwischen als zutreffend erkannten Aussagen herausschälen.)

Es gab weder von der einen noch von der anderen Seite jemals ernsthafte Zweifel an der allgemeinen Qualität der Komposition: sowohl an jener der Musik noch die theologischen Aussagen betreffend. (Die Irrwege, die einige Forscher in der DDR glaubten, liniengetreu beschreiten zu müssen, seien außen vor gelassen).

Bei meiner Beschäftigung mit den einzelnen Teilen der Messe komme auch ich zu dem Schluss, dass den vielen Stücken neben der musikalische Qualität eine hohe theologische Sinngebung innewohnt mit der sich der tief gläubige Komponist Bach äußert. Hier verweise ich auf die folgenden Abschnitte.

4 Die Missa (Kyrie und Gloria)

4.1 Allgemein

Die mit Missa bezeichnete No. 1 im Manuskript wird heute genauer Kyrie und Gloria genannt.

Es ist dokumentiert (s. Dok. 27, I, S. 74f), dass Bach im Juli 1733 einen Satz Stimmen davon am Hof in Dresden überreicht hat.

(Stimmen eines musikalischen Werkes abzugeben ist nicht außergewöhnlich. Es entsprach allgemeinem Brauch, weil damit eine Aufführung ohne großen Aufwand hinsichtlich Bereitstellung des erforderlichen Notenmaterials zu bewerkstelligen war.)

Schon immer ist aber vermutet worden, dass es möglicherweise auch eine Darbietung in zeitlicher Nähe zur Überreichung gegeben habe. Es ist kaum vorstellbar, dass diese Musik ohne irgendeine Aussicht auf eine baldige Realisierung entstanden sei. Da aber keine Belege für ein solches Ereignis vorhanden sind, haben andererseits manche Forscher unterstellt, dass es zu der Zeit keine Aufführung dieser Musik gegeben habe.

Nachdem der sächsische Kurfürst August der Starke am 1. Februar 1733 gestorben war, hatte dessen Sohn Friedrich August II. den Thron bestiegen. Ihm gegenüber entwickelte Bach in der folgenden Zeit verstärkte Aktivitäten. Der erste größere Schritt war, dass er mit dem Datum 27.07.1733 und Widmung an den Kurfürsten den genannten handschriftlichen Stimmensatz der Missa in Dresden überreicht hat. Das oben Dokument 27 ist ein umfangreiches Gesuch mit der Bitte, zum sächsischen Hofkompositeur („Praedicat von Dero Hoff-Capelle“) ernannt zu werden. Bach wollte sich mit der Überreichung der Missa und seinem Wunsch offenbar größeres Gewicht in Verhandlungen mit Leipziger Behörden verschaffen.

Es ist hervorzuheben, dass Bach dadurch, dass er den lateinischen Text verwendet, eine Musik geschrieben hatte, die ökumenisch, also allgemein christlich zu nennen ist. Sie hat insbesondere hinsichtlich der Teile Kyrie und Gloria einen Platz im Gottesdienst beider Konfessionen. Schließlich war der Dresdener Hof gleichsam bikonfessionell. Der Fürst selbst und sein unmittelbarer Anhang bekannten sich zur katholischen Religion. Dies hatte August der Starke eingeführt, damit er auch die Königskrone Polens tragen konnte. Vielen Angehörigen des Hofstaats war es aber nach wie vor erlaubt, den protestantischen Glauben treu zu bleiben. Die beiden Hauptstätten für die jeweilige Religionsausübung waren die allerdings erst unter August Friedrich II. fertig gestellte Hofkirche für die katholische und neben der Sophienkirche die etwas später fertige Frauenkirche für die evangelischen Seite. (Übrigens ist die Ruine der Sophienkirche nach dem letzten Krieg abgetragen worden.)

4.2 Mögliche Aufführung der Missa in Dresden

Zur Entstehung von Bachs Missa und einer denkbaren Aufführung sind folgende Randbedingungen zu nennen. Nach dem Tod August des Starken wurde ein halbes Jahr Trauer angeordnet. Für Bach bedeutete dies, dass im Leipziger Gottesdienst die Figuralmusik entfiel. Er konnte sich also mit besonderen Plänen beschäftigen. Ein zweiter Umstand ist im Jahre 1733 ebenfalls für die Familie Bach wichtig. Der älteste Sohn Wilhelm Friedemann war inzwischen als fähiger Orgelspieler herangereift und konnte sein erstes Amt am 23. Juni als Organist an der Sophienkirche in Dresden antreten. Nun gibt es gute Gründe anzunehmen, dass der Vater Bach eine Möglichkeit gesehen hat, die in der Zwischenzeit komponierte Missa in Dresden in der Sophienkirche aufzuführen. Anhaltspunkte dafür zeigen sich u. a. darin, dass die Continuo-Stimme in einem von Leipzig abweichenden Ton notiert ist, der aber zu der Orgel der Sophienkirche passt. Ferner fällt auf, dass die Stimmen, die am Hof überreicht wurden, ausschließlich von Mitgliedern der Bachfamilie, d.h. nicht von einem Kopisten, wie allgemein üblich, angefertigt worden sind. Auch die guten Beziehungen, die Bach zur Dresdner Hofkapelle hatte, er kannte einige herausragende Instrumentalisten persönlich, mögen eine Rolle spielen. Ferner ist sein gutes Verhältnis zum Dresdner Kapellmeister Johann Adolf Hasse belegt. Daher gibt es gute Gründe für die Annahme, dass unmittelbar vor der Überreichung der Stimmen am Hof eine Aufführung mit Dresdner Musikern in der Sophienkirche stattgefunden hat.

Zuvor wurde vielfach vermutet, dass es eine erste Darbietung anlässlich der Erb-Huldigung des Leipziger Rates für den neuen Fürsten Ende April 1733 in der Leipziger Nikolaikirche gegeben habe könnte, s. dazu Scherings Argumentation im BJ 1936, S.1ff.

(Übrigens ist erst nach mehrfachen Nachfragen und Protektion durch Bachs Gönner Graf Keyserlingk der erbetenen Ernennung zum Hofkomponisten schließlich Ende 1736 stattgegeben worden.)

Vermutlich ist dann nach 1733 aber lange Zeit die Partitur in Bachs Notenschrank aufbewahrt worden, es hat keine Aufführung der Musik gegeben. Völlig ohne Verwendung auch für den protestantischen Gottesdienst kann aber Musik zum lateinischen Text von Kyrie und Gloria auch weiterhin nicht gewesen sein. Es ist Musik zu 4 kürzeren Kyrie-