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Im revolutionären Vormärz von Wien im Jahre 1848 gründete Johann von Horwarth, Student der philosophischen Fakultät Wien, mit vier Freunden die revolutionäre Zelle "Die Legion der Wiener Aula". Gemeinsam mit anderen revolutionären Zellen kämpften sie in den Barrikaden von Wien gegen den Polizei- und Spitzelstaat des Fürsten Metternich und dessen Polizeichef Sedlnitzky. Das Scheitern im Barrikadenkampf führte zu seiner Festnahme und Verurteilung zu zweijährigen Festungshaft verbunden mit der Aberkennung seiner Deutsch-Österreichischen Staatsbürgerschaft. Nach zunächst gelungener Flucht geriet er in die Arme des kaiserlichen Staatssicherheitsdiensts und wurde durch Repressalien selbst ein Teil dieses einst bekämpften Systems. Als rekrutierter Agent wurde er in Österreich-Ungarn zum Spielball krimineller Machenschaften internationalen Ausmaßes die bis in die höchsten Regierungsspitzen reichten.
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Roman Ludwig Lukitsch
Johann von Horwarth, der österreichische Nicht-Österreicher
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Impressum neobooks
Oberstudiendirektor Ferdinand Sedlinger mit Professur an der Universität Wien, war ein sehr guter Freund meines Vaters Karl von Horwarth, welcher im Vorstand der Österreichischen Eisenbahngesellschaft tätig war. Beide verband eine große Liebe zu den verschiedenartigen Möglichkeiten welche die neue technische Erfindung Dampfeisenbahn, zu bietet hatte. Dennoch, gegensätzlicher konnten wohl keine Männer sein als Sedlinger und mein Vater. Die Stimme des Ferdinand Sedlinger, dieses großen, breiten und unförmigen Mannes war schon merkwürdig genug. Meist war sie weibisch erregt, schrill und hoch, fast hysterisch wirkend. Seine feminine Hand zu weiß, blass, zu feingliedrig. Zusammengefasst, keine Attribute die bei meinem Vater zu finden waren. Stolz war Ferdinand Sedlinger auf seinen Vornamen Ferdinand, den auch unser Kaiser Ferdinand der Gütige, Kaiser von Österreich, sein eigen nannte, doch für diesen Kaiser fand mein Vater nicht die geringsten Sympathien. Beide liebten diese neue Technik des Eisenbahnwesens, und dass verband sie. Auch ich teilte mit ihnen meine Sympathie zu dieser neuen Technik.
Mein Name ist Johann von Horwarth, zurzeit Student der Philosophischen Fakultät an der Universität zu Wien, im Januar des Jahres 1848. Unsere Universität stellte vier Fakultäten, die Fakultäten der Mediziner, Juristen, Techniker und Philosophen, und ist nebenbei erwähnt, so morbid wie unsere Stadt Wien, wo aus dem Verfall schon längst eine höhere Daseinsform zelebriert wird. Die Hauptaufgabe unserer Universität war mehrheitlich die Erziehung nutzbringender Untertanen, welche für Staat und Klerus ihre Pflicht zu erfüllen haben.
Und selbst die Buchwürmer in unseren Bibliotheken nagten im vollen Bewusstsein ihrer kultur-historischen Verantwortung an dem nutzlosen Inventar. Ich wollte nicht die Philosophische Fakultät besuchen und Griechische Philosophie und Alt-Griechische Sprache studieren, denn ich muss zugeben, dass mir hierzu jeglicher Intellekt fehlte. Es wurde jedoch per Erlass eines dieser unzähligen kaiserlichen Hofämter beschlossen, dass ich, Johann von Horwarth, die Philosophische Fakultät der Universität Wien zu absolvieren habe. Es gab keine Lehr- und Lernfreiheit, und so musste ich mich damit abfinden nicht die Technische Fakultät belegen zu dürfen. Ein Ingenieur in der Familie sei ausreichend, so in der Begründung stehend, da mein Vater bereits ein Ingenieur sei. Die Interventionen meines Vaters und auch die seines Freundes Sedlinger, welcher eine Professur in der technischen Fakultät innehatte, und der mich gerne als sein Student gesehen hätte, und nebenbei sich als mein persönlicher Mentor zu berufen glaubte, ergaben kein besseres Ergebnis als dass ich als neuer Student des Philosophischen im Personenverzeichnis der Universität geführt wurde. Also studierte ich Alt-Griechische Sprache und Griechische Philosophie, und nicht Maschinenbau oder Eisenbahntechnik, dabei interessierte ich mich nur für die Eisenbahn, schwarzen Dampf, Bahnhof, Trillerpfeife und Abfahrt. Von Griechische Philosophie verstehe ich wenig bis gar nichts. Meine Semesterabschlussprüfung in Griechischer Philosophie war eine einzige Katastrophe, und hatte den Griechischen Philosophen Spinoza zu behandeln. Ich gebe hiermit den Wortlaut meiner schriftlichen Semesterabschlussarbeit:
Semesterabschlussarbeit in Griechischer Philosophie. „Die Attribute der Substanz Geist und Körper“. Allhier in Behandlung: Aussagen des griechischen Philosophen Spinoza.
Eine Ausarbeitung des Herrn Studenten Johann von Horwarth, Wien im Februar 1848.
Wenn ein Dreieck sprechen könnte, würde es sagen, Gott ist dreieckig. Ein Kreis wiederum würde darauf beharren, dass das Wesen Gottes vor allem kreisförmig ist.
(Mehr ist mir nicht eingefallen und so habe ich eine persönliche Anmerkung für Proedler geschrieben.)
„Persönliche Anmerkung für den geehrten Herrn Professor Proedler!“
Spinoza hat Unrecht Herr Professor Proedler, Dreieck und Kreis schließen sich als Wesen Gottes aus, diese Geometrie birgt kein Platz für die immaterielle Seele. Herr Professor Proedler, ein Loch als Wesen Gottes aber ist die Idealform! Wenn ein Loch sprechen könnte würde es sagen – Der liebe Herr Gott ist ein Loch! Ein Loch hat den materiellen Rand – den Menschen, und das immaterielle NICHTS – die Seele. Das geht aber nur Herr Proedler, wenn das Loch unendlich ist, denn das Immaterielle muss unendlich, unsterblich sein. Das Loch beherbergt aber auch das Materielle, den Rand, den sterblichen, endlichen Rand. Wenn der Rand stirbt oder besser, durch den Tod eine Veränderung der Materie bewirkt, wo bleibt dann das Immaterielle? Wird der Rand, also der Mensch ein immaterielles Loch, wie Gott? Ein immaterielles Loch mit ebenso einem immateriellen Rand, da der Rand zur unsichtbaren Seele geworden ist. Ein Loch ist ein Loch und doch kein Loch! Ein Nicht-Loch - oder besser ein Über-Loch! Wenn Sie Herr Professor einmal Tod sind, reisen Sie oder wir alle wenn wir einmal tot sind, als immaterielle Nicht-Löcher oder besser, als Über-Löcher von Wien nach Triest oder Krakau, ohne Eisenbahn?
Johann von Horwarth
***.
Mehr fiel mir über Spinoza nicht ein. Zugebend kann ich sagen, dass Dreiecke und Kreise an sich sehr interessante Gebilde darstellen. Dies habe ich selbstverständlich in meine Semesterabschlussprüfung nicht zu Papier gebracht, auch nicht die Gedanken die ich hegte, währenddessen ich im Klassenraum vor meiner Prüfungsaufgabe saß. Meine Gedanken kreisten während meiner Aufgabe nur um das rechtwinklige Dreieck, und ich knabberte dabei genüsslich an meinem Fingernägel. Interessante Gedanken, dachte ich. Meine Gedanken kreisten um ein Dreieck, ein Gedankenkreis, ein kreisendes Gedankendreieck. Ein Dreieck Kreist - was gebärt es? Ein geometrisches Wunder?
Die Zeit verrann, das Papier war noch leer. Heerscharen an Weisen der Antike, ob aus dem Babylonischen oder dem Griechischen haben sich mit dem rechtwinkligen Dreieck, dem wahren, edlen klar durchdachten Dreieck aller Dreiecke beschäftig. Ich jedoch bekam nichts gebacken, das leere weiße Papier war lange Zeit noch leer. Das leere Papier glotzte mich blöde an, dabei hatte ich gute Gedanken. Meine Finger, schöne geformte musische lange Finger – den Griffel haltend, brachten auf dem Papier nichts zuwege. Pythagoras von Samos schenkte dem edlen rechtwinkligen Dreieck seinen Pythagoreischen Satz. Ein Grund alleine schon für sich, einem Dreieck, dem rechtwinkligen, eine gewisse Berechtigung zur Aussage,– wenn es denn sprechen könnte, zu behaupten, dass Gott ein Dreieck ist. Proedler, Professor der Philosophie würde mich ob meiner philosophischen Gedanken loben, lieben, mich weinend mit seinen behaarten Affen-Armen an seinen verbauten unförmigen Körper drücken, oder der von mir für ihn erwünschte Schlagfluss treffen. Die Zeit verrannte, kein göttliches Dreieck konnte die Zeit bremsen und das Papier beschriften. Meine Gedanken konnten auch die kräftigsten Bremsklötze nicht bremsen, auch solche nicht wie sie an Kutschen vorhanden waren mit denen Bierfässer transportiert wurden. Ein schön gefüllter Krug mit Bier wäre jetzt zu dieser Stunde auch nicht zu verachten, dachte ich. Nun war in meinen Gedanken, Herr Archimedes der griechische Mathematiker und Physiker aus Syrakus an der Reihe. Archimedes und der Kreis. Welcher Mensch lässt sich schon eines Kreises wegen die Spitze eines Schwertes an die Gurgel drücken und schlimmer, sie von dessen durchschneiden zu lassen? Auch Kreise nicht, sollte Gott ein Kreis sein wie Kreise behaupten könnten wenn sie denn sprechen könnten. Auch Kegel, Halbkugel, ganze Kugeln und Zylinder, nicht. Spinoza hat Unrecht, keines dieser Figuren, Gestalten, Gebilden und Formen kann von sich behaupten, Gottgleich zu sein. Ich dachte, dass hierfür am ehesten die Archimedische Schraube seine Berechtigung haben würde. Die Archimedische Schraube ist unendlich in seinem Ablauf - ohne Anfang und ohne Ende. Einen aus Materie bestehenden Anfang zwar, und ein ebenso aus Materie bestehendes Ende. Endlich in seiner Funktion, doch in der zu bewältigenden Aufgabe allerdings unendlich. Wie die archimedische Schraube im Fleischwolf meiner Mutter, wenn sie Fleisch zu Hackfleisch verarbeit. Würde ein Philosoph Überlegungen anstellen die eine sprechende Archimedische Schraube zum Inhalt habe, und würde er soweit in seinen Überlegungen gehen, dass diese sprechende Archimedische Schraube die Legimitation besäßen, sie sei gleich Gott oder annähernd ähnlich, ich würde als junger Studios der philosophischen Fakultät der von Philosophie soviel versteht wie Professor Proedler vom Ei legen, ich würde gesagt haben, jenem Philosophen brennt gewaltig der Dachstuhl. Wahrscheinlich hat es bei dem griechischen Philosophen Spinoza auch gebrannt. Die Semesterabschlussprüfung habe ich selbstverständlich nicht bestanden, eigentlich wollte ich sie gar nicht bestehen.
Professor Proedler war einige Tage zu sehen mit einem angeschwollenen roten Hals, einem Truthahn nicht unähnlich. Ich war immer noch der Hoffnung, dass sie mich mit einem Tritt hinaus aus dieser Universität jagen, und ich das Technikum für das Eisenbahnwesen besuchen dürfe. Mein gestrenger Herr Vater, bekam einen gesalzenen Brief von Professor Proedler mit dem Zusatz, dass ich, der missratene Sohn, nur Versuchsweise in das nachfolgende Semester eingetragen werde. Meinem ansonsten sehr gestrenge Herrn Vater, überkamen heftige Lachanfälle, gemeinsam mit meinem Mentor, dem Herrn Professor Sedlinger, beim abendlichen französischen Cognac. Sedlinger, der mich im Privaten im Eisenbahnwesen unterrichtet, fiel mit seiner weibisch schrillen Stimme in das Lachkonzert mit ein. Bariton- und Furiengelächter in Freude vereint. Ich habe meinen Vater noch niemals zuvor weinen gesehen, an diesem Abend ist es geschehen - wenn auch nur aus freudiger Erregung. Es ergossen sich unzählige gesalzene Wassertropfen aus dem Augenwinkel über die Wangen in seinen ergrauten Backenbart und von den Spitzen seines Bartes in die ohnehin sehr dünne Hühnerknochensuppe die wir an jenem Tag, gemeinsam mit dem Freund meines Vaters, Sedlinger, eingenommen haben. Bei meinem Vater gab es nur Hühnerknochensuppe, wenn es denn Hühnersuppe gab. Meine Mutter verwendete für derartige Suppen immer ordentliche Stücke Fleisch darin. Mein Vater war ein rechter Knauser, auch dies ein Grund warum meine Mutter ihn verlassen hatte.
Meine Semesterabschlussprüfung war in aller Munde. Ich fand es weniger lustig denn immerhin habe ich die Thesen Spinozas für mein Verständnis als Diskussionswürdig empfunden. Es war meinem selbstbewussten Wesen zu verdanken, meiner Ausstrahlung und meiner gelegentlich aufkeimenden Autorität, und meiner angesehenen Stellung bei den Mädchen und Frauen meines Bekanntenkreises, dass ich nicht als das reisende Über-Loch von Wien durch alle Kronländer Österreichs bezeichnet wurde. Dieses Prädikat war fortan Herrn Professor Proedler zuteil geworden. Proedler, das Über-Loch.
Mein Vater war im Vorstand der Österreichischen Eisenbahn Gesellschaft tätig, im Beruf wie auch im Privaten ein Tyrann, hat er es nie verstanden, warum ihn seine Frau Hella, meine Mutter, eine geborene Stavanger aus Stockholm die Küchenschürze vor die Füße geworfen hat. Vater bestand darauf, dass für meine Mutter nur diese drei „K“ zu gelten haben - Küche, Kirche, Kinder.
Mit der Küche hatte es meine Mutter nicht, denn ihre Familie, die Stavangers aus Schweden, eine uralte einflussreiche und vor Geld stinkende vornehme Sippe hatte schon Personal, als Wallensteins Großvater noch in die Windeln schiss; so jedenfalls drückte sich mein etwas robuster Opa Stavanger oftmals aus wenn es um die Darstellung der Stavangers anderen gegenüber galt. Opa Stavanger erhielt schier einen Schlagfluss als er von meiner Mutter hörte, dass sie Küchenarbeiten zu erledigen habe. Dafür habe man schließlich Personal! Wir hatten es nicht. Mit der Kirche hatte es meine protestantisch erzogene Mutter noch weniger als mit der Küche und am wenigsten mit dem verlogenen katholischen Wiener Klerus. Auch hier hatte mein Opa Stavanger seine eigene Meinung. Für ihn waren alle Pfaffen elende Kuttenpiesler. Ich schäme mich etwas für ihn, zumindest für seine Ausdrucksweise. Mit Kinder? Sie hatte mich, das genügte ihr. Ich war und bin ihr Herzipinkerl, auch wenn sie uns verlassen hat und überwiegend bei ihrer Sippe in Stockholm weilte. Zuweilen machte ich auch Ferien in Stockholm bei meiner Mutter und bei meiner Großmutter, die sich so herrlich über die deftige Ausdrucksweise ihres Mannes amüsieren konnte, und natürlich bei Opa Stavanger, und zuweilen besuchten sie uns auch hier in Wien.
Dann gab es noch eine Schwester, die ich haben soll, Lisa ihr Name. Lisa entstand aus einer Liaison meines Vaters mit einer Italienerin aus der Lombardei. Sie soll sich etwa in meinem Lebensalter befinden. Ich durfte sie nie kennen lernen. Einmal fragte ich in absoluter Unwissenheit nach Lisa, ich wusste aus einem Streitgespräch meiner Eltern heraus, dass es eine Lisa geben solle, und als folge meiner Frage erhielt ich die erste Backpfeife von meiner Mutter. Ich wusste zwar nicht warum ich eine Maulschelle bekam, doch das war schon in Ordnung, von seiner Mutter gelegentlich eine geschmiert zu bekommen ist halb so schlimm. Mütter machen es auf tausend Weise wieder ungeschehen. Mein Vater hat mir später, nachdem meine Mutter ihn verlassen hatte, von Lisa erzählt. Eines Tages werde ich Lisa besuchen in der Lombardei.
Wie schon erwähnt, wollte ich nicht die Philosophische Fakultät besuchen und Griechische Philosophie und Alt-Griechische Sprache studieren, sondern Maschinenbau in der Technischen Fakultät. Auf meinen Wunsch gab mir der Freund meines Vaters, Professor Sedlinger, im Privaten verschiedenartige Aufgaben gehörend zum Maschinenbau mit Schwerpunkt zum Eisenbahnwesen. Zu eine dieser Aufgaben zählte die mathematische und statische Berechnung zum Bau einer Eisenbahnbrücke welche als wenig gelungen bezeichnet werden kann. Es war eine Hausarbeit die mir Professor Ferdinand Sedlinger zur Aufgabe gab, und ich fand in meiner Unwissenheit, dass eine mathematische und statische Berechnung zum Bau einer Eisenbahnbrücke nicht unbedingt zu den Aufgaben eines Technikers der Fachrichtung Eisenbahnwesen gehört, dass wäre wohl eher die Aufgabe des edlen Handwerks der Brückenbaukonstrukteure. Dennoch wollte ich beweisen, dass ich es ebenso könne, doch Sedlinger konnte ich nicht überzeugen.
»Horwarth! Herr Johann von Horwarth!« Immer wenn mich Sedlinger „siezt“, bedeutete das nichts Gutes. Er hielt mir mein Machwerk auf wenige Zentimeter genau vor die Nase und ich konnte nur rote Striche erkennen, quer gezogen über mein Opus Dei, nur der liebe Gott war an dem Tag der auferlegten Klausur auf Urlaub zu einer entlegenen Galaxie und konnte mir deshalb nicht behilflich sein.
Ich bin erst zwanzig Jahre alt und auch ich werde eines Tages die mathematische Erleuchtung erhalten, bestimmt. Eine Eisenbahnbrücke habe ich konstruiert, mit Streben und Auflagen, Pfeiler und Drahtseile und alles was sonst eine Eisenbahnbrücke ausmacht. Sogar bestes Eisen welches in deutschen Landen produziert wurde habe ich in meiner Konstruktion und Berechnung verwendet. Alle Kräfte der Statik habe ich berücksichtigt und mein „Bruckerl“ hält, dessen war ich mir sicher. Sogar auftretende Kräfte einer eventuellen entgleisenden Eisenbahn mitten auf meiner Brücke habe ich berechnet, und um dem Werk noch eine individuelle Note zu geben, habe ich eine kleine Taube, sich im Sturzflug befindend eingefügt.
»Horwarth, was soll die von ihnen gezeichnete Taube über der Eisenbahnbrücke, die im Sturzflug auf dieselbige scheißt?«
»Herr Professor Sedlinger, man kann nicht alles berechnen, wenn zu allem Elend noch dazu eine Taube auf das Bruckerl scheißt, dann stürzt das Bruckerl ein!« Ich sagte es in tiefster Überzeugung.
Während seiner Frage, was mein scheißendes Kunstwerk von Taube über der Brücke zu suchen habe, kam sein Gesicht immer näher, so dass ich schon seinen unangenehmen Atem riechen konnte. Ich drücke mich hier etwas vornehm aus bezüglich seiner Ausdünste aus seinem Munde, man könnte es durchaus auch anders genannt haben. Seine Nase kam immer mehr auf mich zu und ich konnte deutlich erkennen, dass die Nasenhaare vollständig die beiden Löcher seiner Nase bedeckten. Es schien mehr ein Drahtverhau als ein Haarbewuchs, und ich bin sicher, dass ein Rotz unmöglich durch dieses Geflecht ins Freie gelangen konnte. Wahrscheinlich rotzte Sedlinger durch die Ohren, oder was wahrscheinlicher ist, es sammelte sich in seinem Hirnskasten und übernahm im Laufe der Jahre die Funktion seines Hirns. Dann sagte er, dass ich das Elend dieses Universums sei. Ich nahm es gelassen zur Kenntnis, denn Sedlinger, mein Mentor und Idiot, ist schon mit sich selbst und seiner Hässlichkeit gestraft genug. Sedlinger liebte mich, dass hatte ich schon oft genug gefühlt, wahrscheinlich träumte er nächtens, dass er ein griechischer Held sei, und ich sein gefügiger Apoll. Für die Rolle des Gefügigen wäre eher mein Freund Kurt Kazmann geeignet obwohl Kazmann nicht so hübsch ist wie ich.
Man sagt in Wien, dass der Kaiser Ferdinand der Gütige, den Dampf der Eisenbahn besonders bevorzugt, ja, dass er ihn regelrecht einschnüffelt. Das musste ja im Hirnskasten für Verwirrung sorgen und unser Kaiser Gütinand der Fertige soll ja etwas verwirrt sein, sagen die Leute. Als Bub bin ich oft zum Wiener Nordbahnhof gegangen. Die Lokomotiven von Georg Stephenson und Tayleur & Co. haben es mir angetan. Die mir fremde Sprache der englischen Ingenieure hat mich fasziniert, und wo immer es mir ermöglicht wurde, habe ich mich in der Nähe der Engländer aufgehalten. Diese dominante Sprache, die Zielgerichteten Anweisungen an die österreichisch Fachleute und Arbeiter. Ich wollte diesen Beruf eines Ingenieurs für das Eisenbahnwesen erlernen.
Im Alter von nicht einmal zehn Jahren, ich weiß es noch wie heute, nahm mich mein Vater mit zum Wiener „Kaiser Ferdinand Nordbahnhof“. An diesem Tag, es war der 6. Januar 1838, und es war 9Uhr30, da erlebte ich zum ersten Mal wie eine Eisenbahn mit Waggons und Passagieren, den Bahnhof verließ. Von Wien bis nach Krakau solle sie mal fahren, sagte mein Vater. Krakau lag für mich irgendwo am Ende der Welt und damals überlief mich ein Schauer, Gedankens wie groß und stark unser Kaiserreich Österreich ist. Österreich, die europäische Großmacht. Zehn Jahre später erfuhr ich erstmals von staatlicher Zensur gegen schriftstellerisch arbeitenden Menschen, hörte von Prügelstrafen, habe Menschen gesehen, wenn es auch welche waren die den unter privilegierten Unterschichten angehörig waren, die öffentlich an den Pranger gestellt wurden und anschließend mit der Karbatsche gestreichelt, wie es besonders sadistische veranlagte Schergen des Polizeipräsidenten Sedlnitzky zum Ausdruck bringen und die nicht müde werden, öffentlich von ihrem Heilbringenden tun zu berichten. Selbst erlebte polizeiliche Willkür und die Erfahrung, dass es keine Lehr- Lernfreiheit gibt. Keine Zulassung der Frauen an den Fakultäten der Universität. Vom Elend der Erdarbeiter und Erdarbeiterinnen wobei letztere noch schlechter für gleiche Arbeiten entlohnt werden. Ich hörte von Unterdrückungen der Menschen in den Kronländern. Dies alles war mir als kleiner Bub nicht bekannt, damals 1838, behütet in einem repräsentativen großen Haus meiner Eltern in der Paumgartnerpromenade, direkt am Mirabellepark. Menschen in den Kronländern, die nach dem Verständnis absolutistischer Machtfülle von Wien mit Soldatenstiefeln niedergedrückt werden. Dies ist das Großreich Österreich seiner kaiserlichen Hoheit.
Meine Freunde hielten mich für etwas verrückt, besonders mein Freund Kazmann, dabei war er selbst halbverrückt. Kurt Kazmann, Jude und Mitglied der Akademischen Legion, ausgerechnet er, ein Jude der sich Winters in der katholischen Kirche zum Heiligen Michaelis, die Knochen aufwärmte weil es bei den Katholischen ein paar Grad wärmer war als in seiner Synagoge. Ausgerechnet er hielt mich für verrückt. Kurt Kazmann mein Freund war überzeugter Jude, wenn auch nicht Orthodox verseucht. Er war ebenfalls Student und von einer brillanten Intelligenz heimgesucht – wie bei wohl vielen Juden. Einen Schaden im Gehirn besaß er dennoch, wenn auch von anderer Art. Protestanten wie mich akzeptierte er, denn Protestanten haben im Gegenzug zu den Katholiken kein Fegefeuer; dessen bin ich mir aber nicht so sicher, Kurt Kazmann schon.
Neulich besuchte er wieder einmal die katholische Kirche zum Heiligen Michaelis, ich auch, der Protestant, und so saßen wir nebeneinander im Gestühle. Einige alte Weiber in schwarzen Kleidern und schwarzen Kopftüchern, Krähen gleich, den Rosenkranz vorwärts und wie es uns schien, konnten sie es auch rückwärts leiern. Gebenedeite, Gebenedeite und noch fünfzig Mal Gebenedeite, und kein einziges Mal haben sie sich versprochen, sagte ich zu Kurt Kazmann. Wenn sich die Gebenedeite bei jedem Gebenedeite auf ihrer Wolke im Himmel einmal um sich herum drehen müsse, dann käme die Gebenedeite Marie aus den Rotationen nicht mehr zum Stillstand, auch das sagte ich zu Kazmann, von dem ich darauf hin gar keine Antwort erhielt. Kazmann hustete stattdessen und seine rote Nase triefte und rotzte und innerlich wird er wohl mit dem Allmächtigen diskutiert haben, der Lieblingsbeschäftigung aller Juden. Ich hatte trotz meiner Ausführungen über den Rosenkranz und der Erwartung einer Antwort von Kurt Kazmann bezüglich meiner Ausführungen ganz andere Sorgen, wie zum Beispiel ich meine Bierrechnung bezahlen sollte, im Gasthaus Zum Hirschen bei der vollbusigen Nanni, ihres Zeichen Chefin des Gasthauses und Chefin ihres Ehegespons, dem Redouten-Schani. Ein brutales Weib, die vollbusige Nanni. Bierzapferin, Wucherin und Rausschmeißerin in eine Person einträchtig vereint. Nanni die personifizierte fleischgewordene Dreifaltigkeit: Im Anfang war ihr Bier dann folgte ihr Wucherzins und über allem schwebte der Rausschmiss aus ihrem Gasthaus.
Kazmann fragte mich mitten in meinen Überlegungen bezüglich der offenen Rechnungen die ich habe, was ich als Lutheraner in einer katholischen Kirche zu suchen habe, ich gab ihm gar keine Antwort, ich war noch am Rechnen, was zehn Bierkrüge nebst einem Zinssatz von fünfzehn Prozent mich kosten werden, und ob ich das Geld meinem Vater abbetteln soll oder von dem weibischen Professor Sedlinger, meinem Mentor. Sedlinger liebt mich! Eine Antwort habe ich meinem Spezi Kurt Kazmann, gegeben, nämlich ob er als Jude nicht Nasenbluten bekäme, beim Besuch einer katholischen Kirche, wie der Teufel beim Inhalieren von Weihrauch.
Nach unserem Kirchgang, der nicht wirklich einer war, lud er mich auf ein Bier zum Goldenen Ochsen ein. Zum Bier und einer Ochsenknochensuppe. Leicht angetrunken, es wurden mehr als ein Krug Bier, unterhielten wir uns über die verschiedenen Religionen oder besser, er unterhielt sich darüber. Die Jüdische Religion war seiner Meinung nach die Beste, klar doch, dass ich mit dem Kopf nickte, immerhin zahlte mein Spezi Kurt Kazmann die Rechnung.
Den zweiten Rang erhielten die Evangelischen, war mir auch recht. Den Letzten Platz belegten die Katholischen, das war mir nach dem dritten Krug Bier eh schon egal. Immerhin, sagte ich zu Kurt, die Kirchen der Katholischen haben dichte Fenster und Türen, bei den Evangelischen zieht es durch alle Ritzen. Wenn’s bei uns Evangelische in der Kirche wenigstens Judenkäppis geben würde, dann würde es uns nicht am Hirnskasten frieren, wenn auch der Anus auf eiskalten Holzbänken gebettet ist. Betrunken meinte Kurt Kazmann, dass er nur zu den Katholischen gehe, weil die Fenster dicht sind, und weil in ihrer Synagoge die Fenster ausgetauscht werden. Die Spendengelder aus Jerusalem für neue Fenster sind aber noch nicht bereitgestellt worden, und kein Jude geht in eine Synagoge mit alten Fenstern, wenn er schon weiß, dass neue Fenster in Aussicht stehen.
Die Familie Kazmann war sehr wohlhabend, eigentlich reich zu nennen, und mit hohen Einfluss in der Wiener Gesellschaft gesegnet. Unsere Familie, die von Horwarth, war es inzwischen weniger, bedingt der Scheidung meiner Eltern. Unsere Stellung in der Wiener Gesellschaft hat sich ein wenig verändert. Der Vater Kazmann war ein bekannter und geschätzter Bankier in Wien. Er besaß ein kleines und feines Bankhaus, rein äußerlich betrachtet feines Bankhaus, denn ob es innen so fein zuging, entzog sich meiner Kenntnis. Immerhin kann ich soviel sagen, Kurt Kazmann hat es mir erzählt, dass der alte Kazmann eine Geliebte, Hannah Solomon aus St. Pölten unterhält und das im hohen Alter von siebzig Jahren. Esther Kazmann, Ehefrau des alten Kazmann, Wissende von der Geliebten ihres Mannes, und Mutter von Kurt meinem Freund, war eine Alt-Biblische Schönheit, im Alter von nahe vierzig Jahren. So stellte ich mir jedenfalls die Frauen des jüdischen Altertums vor - wie Esther Kazmann. Vielleicht interessiert es sie, wie ich Esther Kazmann kennen gelernt habe? Nicht über ihren Sohn Kurt, meinen Freund, sondern an einem Abend in der Oper. Es gabL'elisir d'amore von Donizetti und irgendein Kreti und Pleti in ein und der gleichen Person hat das Stück über die verstohlene Träne, diesesuna furtiva lagrima, gesungen. Kreti-Pleti in Personalunion wurde bestimmt in einem Hühnerstall gezüchtet, so krähte er das Stück rauf und runter, bis dass es mir langweilig wurde. Ich saß im ersten Stock, in einer Loge, Reihe vier, direkt an der Balustrade, mit Blick abwärts, wenn ich denn nach unten sehen wollte, und ich wollte, denn unter mir sah ich die tief ausgeschnittenen Dekolletes der Damen. Man kann natürlich nicht so lange in die tief ausgeschnittenen Dekolletes der Damen schauen, dass verbietet die Etikette. So lehnte ich mich in meinem Gestühle bequem zurück und überlegte, dass es bis heute keinem Wissenschaftlicher gelungen sei, im Weltall die wahre Senkrechte zu bestimmen. Es gibt sie auch nicht hier auf Erden, überlegte ich, denn die Oberfläche der Erde ist ja gekrümmt.
Kreti-Pleti, krähte noch immer und ich dachte, wenn ich doch jetzt über die Brüstung, Senkrecht nach unten sehe, dann ist das doch eine Senkrechte. Stimmt, überlegte ich, es ist aber nicht die wahre Senkrechte. Ich sah nochmals hinunter, und genau unter mir sah ich Esther Kazmann. Ihren Namen wusste ich damals noch nicht. Senkrecht unter mir – sie - und ich sah ihren tiefen Ausschnitt und die beiden Kurven in ihrem Dekollete, und dazwischen, die wahre Senkrechte, wie ich erfreut feststellte. Ich hatte sie gefunden!
In der Pause habe ich sie angesprochen, eine Antwort habe ich gar nicht erwartet, denn ich weiß, dies ist nicht die übliche Art um Bekanntschaften zu knüpfen. Ich sagte ihr, dass der Kreti-Pleti in Personalunion wahnsinnig sei und sie, die schöne Geheimnisvolle, die wahre Senkrechte zwischen ihren Kurven im Dekollete besäße. Zu meinem Erstaunen antwortete sie, das Geist und Idiotie sehr eng beieinander liegt, und im Hirnskasten nur durch ein kleines Häutchen getrennt wird, und das bei mir wohl besagtes Häutchen ein kleines Loch aufweise und die Idiotie bei meinem Geist wohl ein Dauerbesucher sei. Was soll man als Mann daraufhin antworten? Nicht viel jedenfalls. Ich empfahl mich höflich mit meinem Namen, wünschte eine schöne Zeit, und versicherte ihr, dass ich noch lange von ihr träumen würde.
Einige Tage später lud mich mein Freund Kurt Kazmann zum Mokka ein, und da sah ich sie wieder, die Dame die eine wahre Senkrechte zwischen ihren Busen ihr Eigen nennt. Die Mutter von Kurt Kazmann. Eine Alt-Biblische Schönheit namens Esther Kazmann. Wie ich von Kurt erfuhr, führte sie einen Literarischen Zirkel in Wien und einmal, ein einziges Mal besuchte ich diesen Literarischen Zirkel. Danach hatte ich die Nase voll von Pseudo-Intellektuellen, und wichtigtuerischen Schriftstellern. Allesamt eine aufgeblasene Mischpoke, um es in jiddisch Ausgesprochen zu haben. Sie müssen es sich so vorstellen, einer liest sein Machwerk, sitzt im Sessel aus Plüsch und davor eine Stuhlreihe oder je nach Anzahl der Gäste ein zweite Stuhlreihe, besetzt mit allem was einen Bleistift gerade halten kann und weiß wo es weißes Papier zu kaufen gibt. An diesem Abend war es nur eine Stuhlreihe und der Vorleser gab ein geschriebenes Stück zum Besten, mit der Thematik: Versuch einer Philosophie über das Meer. Ein Gast im Auditorium schaute mit verdrehten Pupillen verzaubert auf den Stuck der sich am Plafond des Herrschaftlichen Anwesens der Familie Kazmann befand, und seufzt wohl innerlich: „Oh Maria, woher haben die Kazmanns diesen Stuck“.
Ein andere hat die langen spindeldürren Extremitäten derart ineinander verschlungen, so dass es mir ein Rätsel war, wie man dieses Verknotete wieder entknoten könne. Wieder einer hat die Hände gefaltet wie Maria vor der unheimlichen Empfängnis - weil Zeus ja unsichtbar ist - und hat das Kinn mit Ziegenbart auf den verkrampften Fingerknöchel liegen. Finger, eines Gichterkrankten nicht unähnlich, und was tat dieser Ziegenbock? er schnarchte! Dann gab es noch welche die sich in Lebemann Manier, die in ihrem Gestühl eher lagen als saßen und, den Blick ebenfalls wie Erstere, gen Himmel gerichtet und als der Vorleser seine Lesung gehalten hatte, ein kräftiges Vivat und ein Hoch erschallen ließen.
Wissen sie was der Vorleser an diesem, meinem einzigen Besuch und Letzten, von sich gegeben hat? Ein eigenes Pamphlet über die Philosophie des Meeres. Ein Tröpfchen ist Wasser und viele Tröpfchen ergeben ein Meer. Klar, dachte ich, und wenn man nicht schwimmen kann, ersäuft man in selbigen wie eine nasse Katze.
Esther Kazmann, die etwa vierzigjährige Mutter meines Freundes lächelte mich derart an, geheimnisvoll wie ich es deutete, so als würde sie meine Qualen bezüglich dieser Vorlesung gut verstehen. Von diesem Moment an liebte ich Esther Kazmann mit jeder Faser meiner Sinnen. Ich liebte die Alt-Biblische Israelin in ihr, ich wusste zwar nicht was dies ausmachen sollte aber so stellte ich es mir vor es sein zu müssen. Biblische Gestalten wie Susanna und Daniel, Judith und Holofernes, Esther Kazmann und Johann von Horwarth, wobei ich doch hoffe, nicht als ein Gemeuchelter in die Analen eingehen zu müssen. Gemeuchelt, vom Gatten meiner schönen Alt-Biblischen.
Zu dem Anwesen der Familie Kazmann, gehörte ein parkähnlichen Garten, in dem ein gläsernes Gewächshaus in Form eines Kubus errichtet war, mit einer dachseitigen Rundkuppel aus Glas - etwa fünf Meter hoch und zehn Meterquadrat im Grundriss. Bepflanzt war dieses Glashaus mit allerlei fremdartigen tropischen Pflanzen und Hochgewächsen. Dies war das Refugium von Esther Kazmann und hier trafen Esther und ich uns so oft es uns möglich war, immer dann wenn der Alte Kazmann in St. Pölten bei seiner Geliebten weilte, und das war nicht sehr selten. Dies war unser beider Refugium zum Diskutieren und zum trinken des tiefschwarzen türkischen Kaffees. Esther rauchte dabei seltsam gewundene lange spindeldürre Zigarren, einem dünnen Haselnusszweig nicht unähnlich.
Wir nannten uns inzwischen mit Vornamen, wobei wir es aber dennoch bei einem respektvollen SIE beließen, selbst nachdem wir uns leidenschaftlich küssten und liebten. Die Philosophie des Meeres jenes Vorlesers der sich bemüßigt sah über dieses Thema ein Referat zu schreiben und im Literarischen Zirkel vorzulesen, nahm ich Tage später in unserem Refugium zum Anlass, Esther mit der Frage zu konfrontieren, ob sie hier in ihrer botanischen Anlage das Meer sehe. Der Dialog entwickelte sich wie im Folgenden:
»Esther, sehen Sie das Meer?«, fragte ich sie.
»Nein mein lieber Johann, wie sollte ich? wir beide sind hier in Wien und befinden uns unter einer Bananenstaude sitzend. Wir trinken türkischen Kaffee, küssen uns ab und an und ich liebe Sie, und dass Meer ist weit von hier. Sie verwirren mich, junger Freund.«
»Aber Esther, liebste Freundin, ich bitte Sie, das Meer müssen Sie doch sehen, es liegt direkt vor ihnen.«
»Ich sehe es nicht, Johann, und es interessiert mich auch nicht. Das Meer scheint blau, und besteht aus Wasser.«
»Liebste Esther, wenn ich ihnen als eine absolute Neuigkeit sagen würde, dass das Meer über Nacht grün geworden ist und anstelle Wasser nun aus Champagner bestünde, würde Sie es interessieren?«
»Ja, für den Moment, Liebster, in denen es Ihre Fantasie frei gibt. Wäre es seit Urzeiten so, würde es mich im Augenblick auch nicht interessieren. Ihr grünes Meer aus Champagner liegt nach wie vor weit weg von Wien. Ich mag keinen Champagner und außerdem, jetzt kommen Sie nicht allzu oft, und ich erwarte Sie mit meinem gleich bleibenden Interesse, und in meiner ungeteilten Liebe.« Eine kleine Pause in ihren Ausführungen entstand und danach redete Esther weiter.
»Ich sehe schon Ihr Meer, Liebster, ich sehe es genau, wie sich die Wellen kräuseln, und ich sehe wie sie an den Ufern und Klippen zerschlagen. Sehe das Meer wie es Leben spendet; ein Hort für unzählige Vielfalt in ihr. Diese Kraft in ihr und wie es den Schwerkräften trotzt, sich erhebt und wieder senkt, Grauen und Geborgenheit in einem. Schön und erschauernd und in seiner Struktur ein einzelnes Tröpfchen das sich mit Myriaden anderer Tröpfchen zu einem Gemisch vereinigt, um das zu sein was es ist, ein Meer. Ich sehe ihr Meer, Johann von Horwarth, es ist viele Meilen weg von hier und doch liegt es direkt vor uns, hier in Wien, und ebenso wie an vielen Orte dieser Welt. Ich weiß jetzt was Sie meinten, als Sie fragten ob ich das Meer sehe. Ihre Meere, Johann, sind Meere aus Menschen und sie bestehen aus Myriaden von einzelnen Tröpfchen, von Menschentröpfchen, und alle gemeinsam bilden sie ein Meer, ein Menschenmeer. Im Einzelnen ein jeder ein kleines Tröpfchen, im Gesamten ein großes Meer in all seiner Vielfalt. Es kann das Grauen sein aber auch Schönheit und Geborgenheit. Hören Sie mir überhaupt noch zu, Johann von Horwarth?«
»Aber ja doch, liebste Esther, ich überlege so eben, wie viele Menschen an diesem Abend in den Theatern anwesend sein mögen, reicht es für ein Meer, schönste Alt-Biblische?«
»Wohl nicht mein blonder schöner Cherub - mein etwas fehl geleiteter gefallener Engel. Es reicht wohl eher für einen Tümpel, aber selbst Tümpel können ihre Reize haben.«
An einem Abend, im März des Jahres 1848. Esther und ich saßen wie so oft in unserem botanischen Refugium als sie mir ein Blatt mit gedruckten Lettern zeigte, die Schrift war in ungarischer Sprache gehalten. Die schwer geschriebene Überschrift lautete: Èljen a Magyar.
Ich fragte sie was diese ungarischen Worte bedeuten sollen. Sie meinte, dass dies schwer festzulegen wäre. Im Allgemeinen würde man sagen, Éljen a Magyar ist gleich - Hoch lebe Ungarn! Tausende Münder in Ungarn sprechen es, doch alle Übersetzungen drücken nicht das Gefühl aus welches die Ungarn in diesen Tagen uns sagen wollen. Es ist mehr ein Gefühl als je eine Übersetzung oder irgendein Wort zu sagen vermag. Éljen, ist in dieser Zeit mehr ein Schrei nach Freiheit. Nach einem freien unabhängigen Nationalstaat Ungarn. Esther Kazmann fügte noch hinzu, dass alles Bestreben sich Freiheit zu erwerben, vergeblich sei, denn wer kann entscheiden, ob dass, was man Freiheit nennt, auch Freiheit ist, oder ob es nur so scheint?
Freiheit für Ungarn? Freiheit für Deutsch - Österreich, Böhmen, Mähren, Galizien, Kroatien, Slowenien? Freiheit für alle? Freiheit für die Wahl des Lebens, steige man in eine Kutsche ein oder lasse sich von den Kutschpferden zertrampeln.
Es grauste mich an jenem Abend vor Esther Kazmann. Es regnete in strömen, das Wasser prasselte nieder auf das Glasdach unseres botanischen Refugiums, und der Sturm peitschte die Äste umstehender Bäume. Stockfinster war die Nacht geworden, und Esther stand vor mir mit glühenden Wangen. Ihr pechschwarzes Haar, zuvor noch geflochten und gewunden und zu einem Knoten gelegt der am Hinterkopf befestigt ist, hat sich zum Teil gelöst. Gelöst durch wilde Gestik, unvermutete Drehungen ihres Körpers, ihres Kopfes, dazu rasches auf- und abschreiten des Raumes, und auch indem sie das eine oder andere Mal mit ihren Haaren an einer der zahlreichen Stauden und auch Zweigen strandete. Ihren Busen heftig auf- und absenkend, stand Esther vor mir und es fiel mir nichts anderes ein als diese Lippen, heiß glühend, leicht geöffnet, bebend, küssen zu wollen, obwohl, wie erwähnt, es mich an jenem Abend vor Esther Kazmann grauste. Ihren Leidenschaftlichen bebenden Zorn wollte ich mit meinen heißen Küssen in leidenschaftliche Bahnen der Liebe lenken. In ihren Armen liegend zum Teufel fahren, in die unterirdischsten Höllen reisen, wieder aufsteigen in die Wolken – Halleluja schreiend – doch, mich sträuben sich die Nackenhaaren wie bei einem verliebten Dachkater dessen begehrenswerte Dame es sich ausgerechnet in den obersten Wipfeln eines Baumes gemütlich eingerichtet hat und er beim Klettern in die obersten Wipfeln in seinen Eingeweiden spürt, dass er, der Dachkater nicht die notwendige Schwindelfreiheit besitzt. So ähnlich war meine Situation zu nennen. Für Esther, diese Esther, die wilde, zornige, Busenbebende Esther, war ich nicht Schwindelfrei, nicht wenn sie sich in Zorn und Wut erging. Ansonsten war ich es, und oft erschien es mir als wäre Esther in meiner Gegenwart auch nicht Schwindelfrei.
Esther Kazmann, meine Alt-Biblische Israelitin, meine Freundin und Geliebte; in ihr fand ich die Aufklärerin über das wahre Gesicht dieses unnatürlichen Gefüges. Durch sie erfuhr ich aber auch, dass dieser Moloch durch keine Revolution zu besiegen sei oder sogar mit Hilfe der Kronländer seine Auflösung zu betreiben als Absurdum zu betrachten ist. „Eine Illusion“, sagte ich zu Esther. Illusionen sind die Königinnen der Rätsel und verlangen nach wahrhaftig zu werden. Jedoch eine große Veränderung wird von dem Wiener Bürgertum nicht angestrebt. So antwortete Esther Kazmann, an einem unserer häufigen Abende in ihrem botanischen Glashaus.
Einmal, die Nacht lag über dem als Kubus geformten Glashauses und kleinere Wolkenfetzen vom Wind gejagt, stürmten ostwärts, bedeckten zeitweilig den Mond der in seiner Gänze das Glashaus mit den tropischen Pflanzen bescheinen wollte, da war uns das kaiserliche Großreich Österreich so weit entrückt, und Esther und ich gaben uns unseren Fantasien hin, fernab eines Lebens jeglicher Realität. Teils gespenstisch wirkten die verschiedenen tropischen Pflanzen durch das Licht des Mondes. Das Rauchen von Opium mittels einer Wasserpfeife tat ihr übriges hinzu. Eine Mode in den Salons wohlhabender Damen, von der ich erstmals bei Esther, erfuhr. Esther tanzte im Rausch des Opium nach der Melodie der Oper L´elisir d´amore von Donizetti, das una furtiva lagrima, von ihr in Gedanken gesungen, und ich musste es in Gedanken mitsingen. Ich habe es gedanklich gesungen während meine Augen auf ihren schönen Körper starrten. Una, una, una…, mehr konnte ich nicht denken, des Opiums wegen und der nackten Esthers wegen.
Wenn mich Opa Stavanger, der Rustikale, in Stockholm sehen würde, bar jeglicher Fantasien, Wüstensandtrocken im Gehirn, der wohl seiner Gattin niemals gesagt haben würde „Ich liebe dich“, er würde dieses Lied mit einem kräftigen „Halleluja“ abschließen.
Vor mir tanzte die fast nackte Esther nur von einem durchsichtigen Schleier bedeckt. Ich im türkischen Gewand mit Schnabelschuhe und Wasserpfeife. Mir fehlte nur noch ein Beutel an der Gürtelschnalle gefüllt mit türkischem Kümmel. Das Opium tat seine Wirkung. Seltsame Bilder taten sich auf in meinem Hirn. Bunte Bilder, Kreise, verzerrte Gesichter, irreal scheinende Farben in Vorrüberziehenden Wolkenfetzen. Ich schien Purzelbäume zu schlagen, unterhalb des Plafonds, zwei Meter über dem Fußboden. Leichte, schwerelose, elegante Purzelbäume. Dann sah ich im Zustand tiefer Vernebelung Csilla von Radványi, eine Freundin, nackt auf einem Kirschenbaum, bereit zum Start für einen Rundflug durch den Kubus aus Glas. Csilla forderte mich auf zum Flug über fremde Küsten, Länder, Landschaften und Inseln. Ich fiel von einem Stuhl, den ich wohl im Delirium bestieg um im Start und Flug, Csilla zu folgen. Mir erschien dieses Fallen von einem Stuhl, als würde ich in eine hundert Meter tiefe Schlucht stürzen. Mein imaginäres Fallen in den Abgrund der tiefen Schlucht wurde etwas heftig gebremst und ich landete auf einer Wiese mit eigenartigem unirdisch scheinendem Bewuchs. Csilla, bar jeder Bekleidung, ohne Gesicht, ihr Kopf eine Seifenblase, kam auf mich zu während ich Rücklings auf der unirdischen Wiese lag und strampelnd wie ein auf dem Rücken liegender Maikäfer nach Luft rang. Im Opiumdusel sah ich Csilla auf mir sitzend und fühlte, dass sie mich liebte, und mit jeder liebenden heftigen Bewegung ihres Körpers, wurde ihr Seifenblasenkopf größer und größer. Mit ihrem letzten Aufbäumen, begleitet von lauten Schreien in wilder Ekstase, platzte ihr Seifenblasenkopf.
In wieder aufkommender Realität, mit Ende des Rausches, sah ich Esther, die auf mir lag, und nicht Csilla. Esther die noch immer in dieser wilden Ekstase schrie, und das Haupt hin und her schüttelte so dass ihre Haare wirbelnd um ihren Kopf schlugen.
Die Wirkung des Opiums war verschwunden und mit ihm auch Esther. Ich war alleine im Kubus und außerhalb in der tiefschwarzen Nacht blitzte und donnerte es, zuweilen auch gleichzeitig. Die Nacht der Untoten, und so fühlte ich mich. Ich bin ein Untoter, dachte ich. Können Untote kotzen? Ich konnte es und zwar mitten hinein in Esthers Bananenstauden. Ich schwor es mir, dass ich niemals wieder dieses Giftzeug inhalieren werde. Einmal und für alle Zeiten, niemals wieder. Mit einem Staubtuch könnte mich Esthers Kammermädchen Elisa, erschlagen. Ich schleppte mich noch zu einem kleinen Brunnen, mitten in dieser Anlage gelegen, wusch mein Gesicht, spülte meinen Mund aus, und wünschte eine Katze zu sein um mir mit meiner Zunge die Wunden auf meinem Körper zu lecken. Esther, wie immer wenn sie in wilde Ekstasen entrückte, hatte mich wieder ordentlich zerkratzt.
Von Esther war nichts mehr zu sein. Ich suchte meine Kleider zusammen, zog mich an und wie ein krummer fertiger Hund schlich von dannen. Ich bin dann noch in das Gasthaus, ZumOchsen gegangen um einen Krug Bier zu trinken. Kotzen trocknet den Mund aus und ich wollte mit einem Krug Bier die Schleimhäute einschmieren. Im Wirtshaus waren alle meine Freunde anwesend, Franz Laubscher, Josef Scholz, Ignaz von Smolenitz, und Felix Schönfelder. In Ruhe und Gemütlichkeit wollte ich einen Krug mit Bier leeren, doch zur Umkehr war es schon zu spät. Ein lautes Hallo aus allen Mündern machte einen Rückzug nicht mehr möglich.
Diese Nacht im Wirtshaus, im Hinterzimmer um die nächtliche Sperrstunde zu umgehen, endete wie immer mit einem fürchterlichen Besäufnis. Oft trafen wir uns auch im TanzlokalSperl, dem Reich der Halbwelt, mit Halb- und Edeldirnen. Die Welt des Geldes und des Champagners, und der Abenteuer suchenden besseren Gesellschaft. Im Sperl kann zu den neuesten Walzern der Straußens getanzt werden, und man kann sein Hirn versaufen obwohl es dafür auch billigeres Etablissement gab als das Sperl, und man konnte seine Erbschaft verjubeln, das ging aber auch sonst wo. Wir bevorzugten das Gasthaus, Zum Ochsen, denn hier konnten wir nach der Sperrstunde in einem Hinterzimmer gemütlich weiter unsere Krüge leeren. Hier im schweren Dunst von Tabak und Bier, und umnebelter Hirnmasse gründeten wir die revolutionäre Zelle, „Die Legion der Wiener Aula“, im März 1848.
Wir waren bei weitem nicht so radikal eingestellt wie die Legion der Totenköpfe, und auch nicht so Intellektuell beleckt wie die Akademische Legion und dafür wurden wir von beiden oft mitleidig belächelt. Zahlreiche weitere Legionen gab es zu Beginn der Aufstände in Wien, die gar nicht alle genannt werden können. Sie kamen und gingen. Die Legion der Zylinderhüte zum Beispiel, bestand gerade mal eine Woche.
Unsere Legion, die Legion der Wiener Aula, bestand aus Franz Laubscher, ewiger Student aller nur in Frage kommenden Studienfächer. Bohemien und Liebhaber älterer reicher Salondamen. Seine eigene Aussage: „Die werden nicht mehr Schwanger, und folglich erspart man sich die Alimentation“.
Ignaz von Smolenitz, seines Zeichen Poet und verhinderter Schriftsteller, Student der Deutschen Literaturwissenschaften. Rauschmittelsüchtig und schon ein wenig angekratzt im Gehirn, der Suchtmittel wegen. Nennt ein Gespenst namens Chimera sein eigen. Chimera, seine Hass-Liebe, sein persönliches Über-Ich.
Josef Scholz, Medizinstudenten, der besser den Beruf eines Fleischhauer und Metzger ergreifen sollte. Leichenfledderer, der heimlich bei Nacht in das Allgemeine Wiener Krankenhaus einstieg und frische Leichen stahl um sie im heimischen Keller zu medizinische Zwecke aufzuschlitzen. Ich durfte sie hinterher nächtens in der Donau versenken.
Felix Schönfelder, Theologiestudent der nur die heftig gefüllte Blusen der Gastwirtinnen und die mächtige Gesäßteile der Bäuerinnen im Kopf hat. Der künftige Antichrist im Pfaffengewand. Und ich, Johann von Horwarth, Student der Philosophischen Fakultät mit Affinität zum Eisenbahnwesen. Gescheiterte Versuche die Philosophie in einer Lokomotive zu erkennen. Philosophischer Grundsatz in der Möglichkeitsform Wenn: Wenn man von einer Lokomotive überfahren wird, ist man dann selbst ein Teil der Lokomotive?
Zu Beginn wollten wir nur Revoluzzer sein. In ganz Europa wird revoltiert und Wien soll auch seinen Teil davon erhalten. Nicht das wir den leicht verwirrten Kaiser Ferdinand den Gütigen, den wir Gütinand den Fertigen nennen, stürzen wollten, nein, den störte niemand. Metternich und seinen Polizeichef Sedlnitzky, die Spitzel und Denunzianten wollten wir ärgern mehr nicht. Es wurde mehr daraus, in den folgenden Monaten des Jahres 1848, dank der Akademischen Legion.
Es war das Gerücht zu vernehmen, dass unsere Universität bezüglich bestehender Unruhen, in Kürze zum Zwang geschlossen würde. Aufgrund dieser noch nicht bestätigten Information, haben wir bereits im Vorgriff, den Besuch der Universität unter starken Protest verweigert.
Esther Kazmann überreichte mir ein Schriftstück, ein Blatt Papier mit dem ungarischen Titel Èljen a Magyar, welchen ich für mich übersetzt so verstand: „Freiheit für Ungarn“. Sein Inhalt war in ungarischer Sprache gehalten. Zu diesem Schriftstück überreichte mir Esther ein zweites Blatt Papier. Eine Übersetzung in deutscher Schrift. Ein Schriftstück in edler Sentenz geführt. Höchste Literatur, deren ich nicht befähigt bin. Am nächsten Tag habe ich mich bemüßigt gefühlt ein Schriftstück zu verfassen, das für die Belange der Menschen im gesamten Kaiserreich Gültigkeit haben sollte. Eine Zornesschrift ist es geworden über die ich mich selbst erschrak. Der behütete, gehegte und gepflegte Johann von Horwarth! Ein junger Mann und Student mit bester Erziehung dank seiner liberalen Mutter aus dem Schwedischen; Hass und Gewalt nie kennen gelernt hat, trotz eines gestrengen Vater, der seinen Unmut meist in der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit entstanden, niemals an seinem Sohn ausgelassen hat. Ich, der Ingenieur und Techniker werden möchte und auf Grund kaiserlichen Dekretes, Philosophie und Sonstiges wenig Nutzbringendes zu studieren habe, obwohl die Universitäten überquellen von Studierenden dieser Genres. Damit ließ sich keine Berufung finden, kein Geld verdienen, keine Familie gründen und vor allem auch ernähren.
Esther bat mich dieses etwas überlastete Zornesschriftstück (Sie drückte es so aus.)zu Druck bringen und Verteilen zu lassen.
Bürger von Wien, Österreich, allen Kronländern, Menschen Europas!
Solange ein Mensch nicht mit dem Titel eines Barons oder Grafen beschlagen ist, ist es kein Mensch sondern ein Menschentier, auf welches die Herrschenden schlagen, treten, ausbeuten dürfen. Kraft Willens der Herrschenden und Besitzenden mit Segnung des Klerus darf man ungestraft den Untertan verhungern lassen, bespitzeln, denunzieren, um seinen verdienten Lohn bringen, 14 Stunden am Tag bis auf das Blut ausbeuten, willkürlich Verhaften, Foltern, hinter Gittern sperren, und unterdrücken. Die arbeitende Bevölkerung, Bauern, Tagelöhner, Erdarbeiter, Dienstboten lebt von der Hand in den Mund. Waisenkinder werden in Anstalten untergebracht und zu nützlichen Fronarbeitern heran gezüchtet.
Wir sind Menschen des 19. Jahrhundert und werden von einem mit Moos überzogenen irrsinnigen Kaiserhaus beherrscht, von einem bis ins Knochenmark Altvorderen Staatskanzler und seinen korrumpierten Ministern unterdrückt und geknebelt, von einem Blutrünstigen Polizeipräsidenten geschlagen und getreten, von einem unfähigen Arbeitsminister bis zum letzten Bluttropfen aus gesogen. Wir kämpfen für unsere Rechte als freie, mündige und unabhängige Bürger!
Die Freie Legion
Die Zornesschrift habe ich mit der Unterschrift „Die Freie Legion“, versehen. Ein reines Produkt meiner Fantasie. Mir ist nichts anderes eingefallen. Sollte es im Untergrund eine solche geben, so habe ich mich wohl für sie nützlich gemacht oder ihnen einige Probleme beschert.
In Wien konnte mein Machwerk nicht gedruckt werden, die Polizei und deren Spitzel und Denunzianten waren an allen Orten. Es musste außerhalb von Wien in Auftrag gegeben werden. Mit einer Freundin, Csilla von Radványi, gebürtig aus dem ungarischen Siófok, fuhr ich mit dem Schiff, dem Marktweiberdampfer, von Wien, Donau abwärts ins Ungarische. Der so genannte Marktweiberdampfer fuhr regelmäßig für die Marktweiber die diesen Dampfer in Anspruch nahmen, um ihre Waren die für die Märkte von Wien bestimmt waren, zu transportieren. Sie trugen ihre Waren in Behältnissen, die über den Rücken befestigt waren Sie wurden auch Hökerinnen genannt. Neben diesem Marktweiberdampfer gab es auch einen Personendampfer, den wir nicht in Anspruch nehmen wollten, da hier die Kontrollen verschärft gehandhabt wurden. An die brutalen, laut und wüst schreienden Marktweiber die mit dem Marktweiberdampfer fuhren, getraute sich kein Polizeischerge. Die üppig ausgestatteten Marktweiber mit überquellendem, gewichtigem Fleisch ausgestatteten, würden jeden Polizisten an der nächst bester Ankerkette binden und in die Donau versenken. Diese Personendampfer besaßen dennoch gegenüber dem Marktweiberdampfer das Vorrecht zuerst an der Anlegestelle abgefertigt zu werden. Ich fragte Csilla, die gebürtige Ungarin, verkleidet als Wiener Hökerin, ob der Marktweiberdampfer schon bereit zum Ablegen sei. Sie verneinte es und sagte in einem breiten Dialekt, der mir spontan ein herzhaftes Lachen entlockte.
»Naiin, ich wartä auf ihm, weil ist Perrsonnendampfer und hat der Bevorrechtigung vor Waiberrdampfer.«
Ob meines Lachanfalles sah mich Csilla von Radványi, aus dem ungarischen Siófok an, als würde sie mich auf der Stelle erwürgen mögen.
Gemeinsam befuhren wir mit dem Marktweiberdampfer die Donau in Richtung Pressburg. In Pressburg kannte Csilla einen Buchhändler, Peter Dvorak. Ein Mann im Alter um die vierzig Jahre. Zu seiner Buchhandlung besaß Peter Dvorak auch eine kleine Druckerei und Schriftsetzerei.
Dvorak entsprach nicht dem was ich mir als einen Buchhändler vorstellen konnte. Ein Hüne in Gestalt, Hände zum Bären erwürgen, wilde lange krause schlecht frisierte Haare und einen Bart wie ein russischer Pope. Im Gegensatz zu seinem Äußeren, die sanften braunen Augen, die elegante leichte Verbeugung mit der er Csilla, begrüßte, die freundliche Stimme die mich Willkommen hieß. Ein Mensch, ruhend in sich selbst. An den Wänden seines Buchhandels hingen Gemälde tschechischer Künstler: in fließenden Gesten gemalte Figuren in kräftigen Farben. In Regale zahlreiche Bücher die zum Verkauf anstehen sowie eine Anzahl Bücher die zum Verleih gedacht sind. Dvorak betätigt neben dem Verkauf auch eine klein gehaltene Leihbücherei. Hinter einem dieser Regale, mit einem geheimen Türöffner versehen, ein kleines Separee in dem Peter Dvorak seine Geheimnisse aufbewahrt: verbotene Schriften, Bücher die der Zensur nicht standgehalten haben, Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels und zu meiner Freude und des Metternichs übel, Schillers „Räuber“. Nach hundert Jahren von den Herrschenden gefürchtet, wie seit Beginn seines Erscheinen. Österreich im Jahre des Herrn 1848, wir befanden uns noch immer im finstersten Mittelalter!
Von Peter Dvorak ließen wir unsere Schriftstücke in ausreichender Anzahl drucken.
Wir kämpften auch für die Lern- und Lehrfreiheit und Csilla kämpfte mit zahlreichen anderen Frauen um die Zulassung der Frauen an den Universitäten. Für die gesellschaftliche Gleichstellung der Frau zum Manne. Für gleiche Entlohnung, für gleiche Arbeit, ins besondere für die Wiener Erdarbeiterinnen, die ungleich weniger Lohn erhielten als die Erdarbeiter. Die rothaarige Csilla von Radványi mit den sanften schwarzbraunen Augen. War es einmal nicht ihr Mund der lachte, dann waren es ihre Augen. Eine vulkanisch gute Laune spannte sie innerlich und schoss bei jeder Gelegenheit aus ihr heraus. Gebürtig aus dem ungarischen Siófok am Südostufer des Balaton, einem kleinen Landadel entstammend, sprach sie in einem fürchterlichen Akzent die deutsche Sprache und wenige Worte genügten um uns ein schallendes Gelächter zu entlocken. Sie ist ein quecksilbriges Wesen, und war in jeder Minute von einer Unruhe befallen die sie fortwährend in Bewegung hielt. Hübsch ist sie, schön zu nennen, und von außergewöhnlichem Charisma.
Ich liebte Csilla - ob sie es wusste? Ich habe es ihr nie gesagt, denn mit meinem Freund Josef Scholz war Csilla, mehr als befreundet. Mit keinem Wort, mit keiner Gestik ließ sie ihre Gefühle erkennen die sie möglicherweise für mich hegt. Doch fühle ich, wenn sich unsere Auren nähern, ich möchte es so ausgedrückt haben, denn eine Berührung unserer Körper gab es nicht. Dann ist da noch etwas. Csilla von Radványi, mit den ähnlich einer Kastanie roten Haaren hat einen Fehler, sie ist die Anführerin einer Legion die sich die Legion der Totenköpfe nennt, eine der zahlreichen studentischen Verbindungen der sie sich angeschlossen hat und die es an unserer Universität in Wien gab. Eine der radikalsten Verbindungen überhaupt. Die Erkennung der Legion der Totenköpfe war ein Breitkrempiger Kalabreser mit einem daran befestigten Totenkopf. Nicht alle Mitglieder der studentischen Verbindungen, der Legionen, waren Studenten, auch Nicht-Studierende konnten sich einer Verbindung anschließen und dies wurde vornehmlich von jungen Frauen wie auch Csilla von Radványi in Anspruch genommen, denn hier sahen sie die Möglichkeit, innerhalb unserer Protestaktionen und Demonstrationsaktivitäten, ihre Belange einer Zulassung zum Studium zu verwirklichen.