John Calhouns Geheimnis - Alfred Wallon - E-Book

John Calhouns Geheimnis E-Book

Alfred Wallon

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Beschreibung

William Calhoun feiert seinen 68. Geburtstag mit der Familie und einem großen Barbecue auf Rancho Bravo in der Nähe von San Angelo. Vom Gouverneur erfährt er, dass man neue Ölvorkommen in der Region entdeckt hat, und vermutlich befindet sich Öl auch auf dem Rancho-Bravo-Land, und die Möglichkeit zu schnellem Reichtum ist greifbar nahe. William hat seinem Vater jedoch schwören müssen, dass er die Ranch auch für spätere Generationen auf traditionelle Weise weiter nutzt und nicht nach Öl bohrt. Auch wenn seine finanzielle Situation im Moment ziemlich angespannt ist.Am nächsten Morgen erhält William einen Anruf aus San Antonio: Sein Bruder John ist schwerkrank und wird bald sterben. John hat Rancho Bravo vor vielen Jahren verlassen und ist eigene Wege als Transportunternehmer gegangen. All die Jahre über hat John ein Geheimnis bewahrt, und dieses erfährt William erst kurz vor Johns Tod. Dies ist aber erst der Beginn einer verhängnisvollen Kette von Ereignissen, in die William Calhoun und seine Familie verwickelt werden...

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Seitenzahl: 501

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JOHN CALHOUNS GEHEIMNIS

DIE CALHOUNS - EINE TEXAS-DYNASTIE - BAND 01

ONLY EBOOK - WESTERN

BUCH 9

ALFRED WALLON

IN DIESER REIHE BISHER ERSCHIENEN

e101  Alfred Wallon Die letzten Tage von Stonewall Jacksone102  Alfred Wallon Das Gewissen eines Killerse103  Alfred Wallon Stahlspur nach Leadvillee104  Alfred Wallon Die Pioniere von Kentuckye105  Alfred Wallon Tod am little big Horne106  Alfred Wallon Geistertanze107  Alfred Wallon Die Expeditionen des Jedediah Smithe108  Alfred Wallon Die Expeditionen des Meriwether Lewis und William Clarke109  Alfred Wallon John Calhouns Geheimnis - Die Calhouns - Eine Texas-Dynastie - Band 1e110  Alfred Wallon Revolver-Rache

© 2024 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a,  51570 Windeck

Redaktion: Alfred Wallon

Titelbild: Mario Heyer

Umschlaggestaltung: Mario Heyer

Satz: Torsten Kohlwey

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 978-3-7579-4754-5

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INHALT

Erstes Buch: Die Dollarwölfe von Abilene

Zweites Buch: Revolver-Sam

Drittes Buch: Aufstand der Kiowas

Viertes Buch: Grubline-Reiter

Nachwort

Über den Autor

ERSTES BUCH: DIE DOLLARWÖLFE VON ABILENE

Rancho Bravo, West-Texas

20 Mai 1921

William Calhoun nahm sein Glas Whiskey in die Hand und lächelte kurz, als er mit Gouverneur Pat Morris Neff anstieß.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Pat«, sagte der 68jährige Rancher zu seinem Gast. »Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Sie überhaupt Zeit hatten, um zu meinem Geburtstag zu kommen.«

»Es gibt Termine, die in keinem Kalender stehen – die man aber trotzdem wahrnehmen muss, William«, erwiderte Neff, der vor einem halben Jahr sein Amt als Gouverneur von Texas angetreten hatte. »Männer wie Sie sind ein untrennbarer Bestandteil der Geschichte von Texas.«

»So spricht man von einem Mann, der schon seit Jahrzehnten auf dem Friedhof liegt, Pat«, sagte der weißhaarige Rancher, der heute mit seiner Familie und einigen guten Freunden seinen 68. Geburtstag auf Rancho Bravo feierte. »Ich lebe aber noch, und wenn Gott will, dann lässt er mich noch eine Zeit lang hier. Es gibt noch so viel zu tun. Die Arbeit ist mit den Jahren nicht weniger geworden – auch wenn viele technische Entwicklungen wahr geworden sind, die ich als junger Mann niemals für möglich gehalten hätte.«

»Da kann ich schlecht mitreden, William«, erwiderte Neff. »Als Sie schon im Alter von 18 Jahren eine Viehherde nach Abilene getrieben haben, wurde ich gerade erst geboren. Die wilden Jahre von Texas kenne ich nur aus Büchern und Zeitungen – und natürlich das, was Sie mir erzählt haben.«

William Calhoun trank sein Glas aus, goss sich ein zweites ein und schaute mit einem fragenden Blick zum Gouverneur. Der nickte nur und gab dem Rancher zu verstehen, dass er nicht abgeneigt war, einen zweiten Drink zu sich zu nehmen.

»Ein guter Tropfen ist das«, schmunzelte er, nachdem ihm Calhoun das Glas gereicht hatte. »Bei manchen Dingen kann man einfach nicht nein sagen.«

»Da haben Sie in der Tat recht«, pflichtete ihm der Rancher bei und hörte, wie im großen Wohnzimmer des Ranchhauses verschiedene Stimmen erklangen. Männer und Frauen, und auch einige Kinder. Wenn ein einflussreicher Rancher wie William Calhoun seinen Geburtstag feierte, dann war das ein Ereignis, an dem man teilnehmen musste. Deshalb waren zum Barbecue auch einige Nachbarn sowie bekannte Geschäftsleute aus dem nahen San Angelo und sogar aus Austin gekommen.

»Sie sind aber sicher nicht hier, um nur einen guten Whiskey mit mir zu trinken, oder?«, fragte William Calhoun. »Ein Mann wie Sie verbindet doch immer das Nützliche mit dem Angenehmen. Also – was haben Sie auf dem Herzen?«

»Man kann Ihnen einfach nichts vormachen«, meinte der Gouverneur. »Aber sprechen sollten wir darüber – und zwar je früher, desto besser.«

»Und über was?«, wollte der Rancher wissen.

»Es geht um viel Geld, William. Es gibt eine begründete Annahme, dass sich unter großen Teilen Ihres Besitzes etwas befindet, das mehr wert ist als jede Rinderherde.«

»Daher weht der Wind also«, sagte William Calhoun, dessen Lächeln auf einmal erstarrt war. »Sie sprechen von Öl?«

»Ja«, musste Neff nun zugeben. »Einer Ihrer Nachbarn hat auf seinem Land Öl entdeckt, und die ersten Untersuchungen haben ergeben, dass sich dieses Vorkommen wahrscheinlich auch auf Ihr Land erstreckt. Sie sollten sich darüber Gedanken machen, ob Sie nicht auch nach Öl bohren wollen.«

»Pat, Sie haben gesagt, dass ich ein Teil der Geschichte von Texas bin«, setzte der Rancher nun zu einer Erklärung an. »Mein Vater Tom Calhoun hat diese Ranch aus dem Boden gestampft. Er hat seine letzte Ruhe oben auf dem Hügel gefunden. Ich musste ihm versprechen, dass ich Rancho Bravo auch für spätere Generationen erhalte, nachdem mein älterer Bruder John von hier wegging. Ein solches Versprechen breche ich nicht, Pat. Meine Söhne James und Robert denken genauso. Falls Sie gekommen sind, um mich irgendwie umzustimmen, dann war Ihr Weg vergeblich. Aber das dürfte Sie nicht wirklich überraschen, oder?«

»Nicht wirklich«, sagte Neff. »Aber genau so habe ich Sie auch eingeschätzt. Sie sind konsequent Ihren Weg gegangen. Richten Sie sich nur darauf ein, dass es unter Umständen Druck von außen geben könnte.«

»Inwiefern?«

»Nun, Sie haben noch einige längerfristige Kredite laufen, William«, sagte Neff und bemerkte, wie der Rancher argwöhnisch die Stirn runzelte. »Sollten Sie in einen Engpass geraten und Ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen, dann könnte es Leute geben, die – sagen wir mal – Sie davon überzeugen würden, dass es besser wäre, Ihre Weiden für die Suche nach Öl freizugeben.«

»Niemals!«, schnaufte Calhoun. »Wer sowas plant, der weiß nicht, mit wem er sich einlässt, Pat. Ich kenne noch die Gesetze der Weide – und ich weiß, was man tun muss, wenn man in die Enge getrieben wird.«

»Wir befinden uns im Jahr 1921, William«, erinnerte ihn der Gouverneur. »Die alten Zeiten, in denen Sie groß geworden sind, gibt es nicht mehr.«

»Für mich hat sich dieses Thema erledigt, Pat«, sagte der weißhaarige Rancher in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Warum gehen Sie nicht wieder zurück ins Wohnzimmer und amüsieren sich ein wenig? Genießen Sie die Zeit auf Rancho Bravo und denken Sie nicht zu viel an Politik und Geschäfte...«

Der Gouverneur erwiderte nichts darauf, sondern verließ das Arbeitszimmer, in das sich Calhoun immer dann zurückzog, wenn er mit sich und seinen Gedanken allein sein wollte. Seine Frau Clara gab ihm diesen Freiraum, wann immer es nötig war, und seine beiden Söhne James und Robert hatten dieses, für sie eigenbrötlerische Verhalten ihres Vaters längst akzeptiert. Auch wenn sie das nicht ganz verstehen konnten, denn sie waren in einer Zeit geboren worden, als die Ära des Wilden Westens sich bereits dem Ende zuneigte.

Sein Blick fiel auf das große Buchregal an der gegenüberliegenden Wand. Sein Vater Tom Calhoun hatte schon damit begonnen, sich eine umfangreiche Sammlung zuzulegen, und William hatte diese Neigung in späteren Jahren ebenfalls fortgesetzt.

Er zog ein bestimmtes Buch aus dem Regal. Es war sein persönliches Tagebuch, das er auch jetzt noch in unregelmäßigen Abständen fortführte. Manche Einträge waren sehr kurz, andere wiederum dokumentierten das, was er als junger Mann erlebt hatte. Dazu gehörten auch seine Erlebnisse in Abilene 1871. Damals war er noch sehr jung gewesen, gerade mal 18 Jahre alt. Trotzdem hatte er in diesen jungen Jahren bereits mehr erlebt als so manch anderer. Die Jahre, in denen er bei den Comanchen gelebt hatte, prägten ihn ebenfalls zusätzlich - bis heute.

Er begann zu lesen und sich zu erinnern. Einiges davon hatte ihm Jay Durango, der frühere Vormann von Rancho Bravo, erzählt. Und auch wenn viele Jahrzehnte seitdem vergangen waren, so wurden diese Erinnerungen wieder so gegenwärtig, als sei alles erst gestern geschehen...

* * *

8. Juni 1871

In der Nähe von Abilene / Kansas

Wind kam auf, als die drei Reiter ihre Pferde auf der Anhöhe zügelten. Vor den Augen der Männer breitete sich das Dickinson County aus. Ihre Blicke schweiften über die Ebene. Zu ihren Füßen verlief der Schienenstrang der Kansas & Pacific Railroad nach Osten – dann weiter nach Abilene, dessen Häuser sich schwach und grau, wie geisterhafte Schemen, vom Horizont abhoben.

Der mittlere der drei Männer schob sich den schwarzen Texanerhut weit in den Nacken und wischte sich mit der linken Hand den Schweiß von der Stirn.

»Wir haben es geschafft, Freunde«, sagte er und wandte sich an den Mann, der rechts von ihm verharrte. »Reit’ zurück zur Herde, Gus – und sag’ den Jungs, dass sie hier Halt machen sollen. Wir wollen erst abwarten...«

»Geht in Ordnung, Jay«, erwiderte der Cowboy und wendete sein Pferd. »Die Mannschaft wird sich höllisch freuen, dass wir endlich da sind!«

Dann stieß er einen schrillen Rebellenschrei aus und riss sich den Hut vom Kopf, als er auf die Herde zu galoppierte. Der Mann mit dem flachkronigen Texanerhut lächelte stumm, als er den zurückreitenden Cowboy beobachtete.

»Sie sind wie Kinder, wenn sie eine schwere Arbeit hinter sich gebracht haben«, sagte er zu dem zweiten Reiter, einem noch jungen Mann mit blonden gewellten Haaren, die bis auf den Kragen seines verwaschenen Hemdes fielen. »Billy – du wirst Dinge sehen, dass dir Hören und Sehen vergeht!«

Der junge Cowboy stieß ein raues Lachen aus.

»Bei Gott, was werden diese Pfeffersäcke ihre Augen aufreißen, wenn wir die Rancho Bravo-Herde in die Corrals treiben, Jay. Fünftausend Longhorns auf einen Schlag! Mann, wir stellen ganz Abilene auf den Kopf!«

Jay Durangos Lächeln schwand, als er Tom Calhouns Sohn musterte. Billy war noch jung – erst 18 Jahre – und wusste nichts von dem gefährlichen Reiz, der von einer Rinderstadt ausging. Er sah im Augenblick nur das Geld, das sie für die Herde bekommen würden. Aber Tom Calhoun hatte Durango ans Herz gelegt, auf den Jungen zu achten, und der Vormann hatte es ihm versprochen. Es war Billys erster großer Trail nach Norden, auf dem er sich bewähren und Erfahrungen sammeln sollte.

Trotz seines vergleichsweise jungen Alters durfte man sich in Billy Calhoun nicht täuschen. Der blonde Rancherssohn hatte schon Dinge hinter sich, die manch anderer nicht in 50 Jahren erlebt hätte. So war er vor knapp acht Jahren von Quanah Parkers Comanchen entführt worden und hatte mehr als drei Jahre bei den Indianern verbracht. Das war eine Zeit, die Spuren bei Billy hinterlassen hatte und der Grund dafür war, dass der Junge manchmal sehr zurückhaltend war und bestimmte Dinge erst einmal sehr gründlich beobachtete, bevor er sich zum Handeln entschloss.

»Wir sind nicht die erste Mannschaft in Abilene, Billy – und wir werden auch nicht die letzte sein! Es gibt noch ein hartes Stück Arbeit, bis wir den Kaufvertrag in der Tasche haben«, sagte Durango und dämpfte Billys Optimismus. »Aber das wirst du schon noch mitbekommen, Junge...«

»Jetzt bist du genau wie Pa«, entrüstete sich der blonde Billy. »Glaubst du nicht, dass ich langsam alt genug bin, um selbst zu wissen, was ich tue?«

»Wenn du mich so fragst, Billy – nein!«, erwiderte Jay Durango. Und bevor Billy antworten konnte, wies der Vormann in Richtung Stadt: »Siehst du – sie haben uns schon gesehen, Billy! Kein Wunder, die riesige Staubwolke war schon meilenweit zu erkennen. Ich wette, das ist das Empfangskomitee. Hol die anderen herbei, Junge!«

Billy gab seinem Hengst die Zügel frei und ritt zur Herde.

Er hat erst wenige Jahre auf dem Buckel und bereits den gleichen Dickschädel wie sein Vater, dachte Durango und wandte dann seine Aufmerksamkeit dem Reitertrupp zu, der auf ihn zuhielt. Sicherlich hatten die Bewohner von Abilene ein Begrüßungskommando entsandt, um die Cowboys willkommen zu heißen.

Von der Herde löste sich ein kleiner Trupp der RB-Cowboys, die Jay entgegenritten.

»Sie kommen uns schon entgegen, Jungs!«, rief Durango. »Sie können es gar nicht mehr abwarten. Kommt – wollen wir mal sehen, was sie uns zu sagen haben!«

Der Reitertrupp kam schnell näher und verhielt vor den Männern aus dem Süden. Der Anführer der Männer war von großer Statur und trug einen schwarzen Bart.

»Willkommen in Abilene, Jungs!«, sagte er mit dunkler, volltönender Stimme. »Ich bin Bürgermeister Theodore C. Henry und begrüße euch im Namen der Einwohner. Wir freuen uns mächtig, dass ihr gekommen seid – und ich verspreche euch, dass ihr hier alles bekommen werdet, was ihr euch wünscht...«

Die Cowboys ließen ihn nicht ausreden. Ihre Jubelrufe machten die vorbereitete Rede des Bürgermeisters zunichte. Die Männer von Rancho Bravo waren wild und ehrlich und zeigten ihre Freude offen. Gar mancher hatte sich in den langen einsamen Nächten in den Camps vorgestellt, was er in Abilene alles unternehmen würde.

»Mein Name ist Jay Durango«, sagte der Vormann. »Die Herde gehört Tom Calhoun von Rancho Bravo aus Texas, und der Junge dort ist sein Sohn Billy. Wir sind lange geritten und haben einen harten Trail hinter uns. Mr. Henry – zeigen Sie uns, wo wir die Herde hintreiben sollen, damit wir es hinter uns haben!«

»Aber natürlich, Jungs!«, antwortete der Bürgermeister. »Am Rand der Stadt direkt am Schienenstrang befinden sich die großen Verladecorrals. Treibt das Vieh dort hinein und wartet, bis die Aufkäufer kommen!«

Jay Durango drehte sich im Sattel um und musterte die Männer. »Ihr habt gehört, was Mr. Henry gesagt hat. Bringen wir es hinter uns!«

Und wenige Augenblicke später waren die anfeuernden Rufe der Cowboys zu hören, die die Herde in Bewegung setzten, hinunter nach Abilene...

* * *

Abilene hatte eine Entwicklung durchgemacht, die typisch für alle Rinderstädte des Westens war. Am 7. Juni 1861 wurde sie von Charles H. Thompson am Ostufer des Mud Creek gegründet und bald darauf am 5. August zur Kreishauptstadt gewählt. Im Frühling des Jahres 1867 war Abilene noch ein kleines unbedeutendes Nest, das aus einem Dutzend Blockhütten bestand. Erst als die Kansas- und Pacific Railroad den Ort im Sommer des gleichen Jahres erreichte und der Viehhändler Joseph G. McCoy Abilene auf eigenes Risiko zum ersten Verladebahnhof Amerikas, einer feudalen Raststätte für texanische Rinderzüchter und Viehhändler aus dem Norden, zu einem Einkaufszentrum und umfangreichen Amüsierbetrieb für Cowboys ausgebaut hatte, wurde aus Abilene ein Brennpunkt des Viehhandels.

Historiker sollten später diesen Ort einmal »die sündige Stadt, das Gomorrha der Steppe und die Sixshootertown« nennen.

Vor nun schon drei Jahren erreichten die ersten großen Herden aus Texas die Stadt. McCoys Organisation war zu diesem Zeitpunkt bereits perfekt: Für die Rinder waren Verladerampen, Sammelgatter und große Weidewartezonen vorgesehen. Das ›Drovers Cottage Hotel‹ war der Treffpunkt der Viehzüchter und Viehhändler, und hier wurden auch die Kaufverträge perfekt gemacht.

Für Kaufleute und Treibherdenführer gab es zahlreiche Hotels zu beiden Seiten der Texas Street, die viele Übernachtungsmöglichkeiten boten. Barbiere, Kaufhäuser, Sattlergeschäfte, Büchsenmacher, Läden, Saloons, Tanzhallen, Spielhöllen, Stundenhotels und ein abgeschlossener Rotlichtbezirk mit mehr als hundert Prostituierten im Süden der Stadt lockten die texanischen Cowboys mit noch nie da gewesenem Vergnügen.

Billy Calhoun hatte schon davon gehört. Jay und die anderen hatten ihm viel von Abilene erzählt, aber was er mit seinen eigenen Augen sah, war mehr, als jeder mit Worten beschreiben konnte. Die Verladecorrals im Norden der Stadt waren eine weite Fläche von Rinderherden. Viele Tausende standen hier und warteten auf den Zug, der sie weiter nach Norden transportieren würde.

Der junge Rancherssohn trieb sein Pferd weiter an und ritt an der Flanke der Herde. Zusammen mit Gus und den anderen brachten sie die vom langen Trail erschöpften Rinder in die Corrals. Die Herde roch das Wasser, das auf sie wartete – und so bereitete es den Cowboys keinerlei Schwierigkeiten, die Rinder in die Sammelgatter zu treiben. Störrische Rinder wurden mit Lassohieben zum Laufen gebracht. Doch schließlich hatte es die RB-Mannschaft geschafft. Die Staubwolke, die sich während des Treibens gebildet hatte, sank – und die Rinder beruhigten sich allmählich.

Die ganze Zeit über waren die Cowboys beobachtet worden. Zuerst kamen nur wenige Neugierige, aber dann schlenderten langsam die Aufkäufer herbei, die ein erfolgreiches Geschäft witterten.

»He, Jay!«, rief Chris Gentry – ein hagerer schwarzhaariger Cowboy, »siehst du die Geier, die schon auf ihre Beute warten?«

»Was meint er denn damit?«, fragte Billy den Vormann, der die Bemerkung des erfahrenen Weidereiters nicht verstanden hatte. Jay Durango lächelte kurz und wies hinüber zum Verwaltungsgebäude der Verladestation.

»Siehst du die Männer in den dunklen Anzügen, Billy? Das sind unsere Geschäftspartner. Sie streichen wie Wölfe um unsere Herde – und jeder will der Erste sein, der unsere Rinder für sich in Anspruch nehmen kann!«

»Dann wollen wir sie noch etwas zappeln lassen, Jay«, erwiderte er. »Vielleicht bringt das den Preis etwas höher...«

Durango schüttelte den Kopf.

»Wir wollen es nicht zu weit treiben, Billy. Wir sind dieses Jahr ziemlich spät, und die wirklich großen Geschäfte sind schon gemacht. Ich möchte wetten, dass Shanghai Pierce schon vor uns hier war. Im letzten Jahr war er auch die Nummer eins. Ah, da kommen schon die Ersten. Jetzt gilt es, Billy!«

Die Cowboys hatten sich mittlerweile um Jay und Billy versammelt und musterten gespannt die Viehhändler, die sich ihnen näherten. Die Cowboys blickten in harte Gesichter, die mit allen Mitteln versuchten, einen Gewinn herauszuholen.

»Wer ist der Besitzer dieser Herde?«, fragte ein dicker grauhaariger Mann in einem dunklen Tweedanzug.

»Tom Calhoun von Rancho Bravo, Texas. Ich bin Jay Durango, sein Vormann und Trailboss dieser Herde. Und wer sind Sie, Mister?«, fragte er gelassen zurück.

»Ich bin Charlie Swenson, Mann«, erwiderte der Viehhändler. »Ich habe schon von den Calhouns gehört. Ein Freund von mir, Ben Hickory, hat ebenfalls RB-Vieh gekauft, und er war sehr zufrieden. Ich glaube, dass ihr auch in diesem Jahr wieder gute Rinder habt. Wie groß ist die Herde, Vormann?«

»Es sind fünftausend Stück beste Texas-Longhorns, Mr. Swenson«, antwortete Billy anstelle von Durango. »Was bieten Sie uns?«

Der Viehhändler lächelte. »Würdest du die Katze im Sack kaufen, ohne sie zuvor gesehen zu haben, Junge?« Die rings um den Corral herumstehenden Männer stießen ein raues Gelächter aus, und Billy merkte, wie verlegen er wurde. Aber die Männer meinten es nicht böse, und Billy selbst wusste das auch. Schließlich lachte er mit.

Die RB-Mannschaft beobachtete nun die Viehhändler, die dicht an die Corrals herankamen und das Vieh genauestens begutachteten. Jay Durango selbst hatte keinen Zweifel, dass die Herde gut und kräftig war. Die Rinder brauchten nur jetzt etwas Ruhe und nach dieser großen Durststrecke vor allem viel Wasser – und sie würden einen guten Preis bringen!

In jenen Tagen war das Longhornrind für die Prärieregion das Symbol des Cowboys. Diese Rinderrasse war auf sieben andalusische Kälber zurückzuführen, die der Spanier Gregorio de Villalobos nach Amerika brachte. Schon vor Jahrhunderten hatten die Spanier auf der Suche nach den ›Sieben goldenen Städten von Cibola‹ eine Rinderherde dabei, die unterwegs durch einen Hagelsturm in alle Winde zerstreut wurde. Aus diesen andalusischen Rindern bildete sich dreihundert Jahre später eine millionenstarke eigene Rasse – die Longhorns.

Diese Rinder zeichneten sich vor allem durch Schlankheit, Kraft und Anspruchslosigkeit aus und machten sie dadurch den Büffeln, Elchen und Wapitihirschen überlegener. Ihr riesiges Gehörn von oft mehr als zwei Meter Breite hatte auf den langen und gefährlichen Trails schon so manchen Reiter und auch sein Pferd angegriffen und lebensgefährlich verletzt. Die zum größten Teil fast wilden Rinder waren in der Brasada zu Hause – einer Dornbuschwüste in West-Texas, die die Rinder schon wegen ihrer natürlichen Beschaffenheit stählte.

Jay Durango erinnerte sich an die Bücher im Haus der Calhouns, denen er diese Angaben entnommen hatte. Tom Calhoun besaß zahlreiche Bände über Viehzucht, denn ein guter Rinderzüchter musste über sehr viel Einfühlungsvermögen und Fachkenntnisse verfügen. Der Rancher erwartete dasselbe natürlich von seinem Vormann. Durango erinnerte sich an die Tage nach Ende des Bürgerkrieges, als er nach Rancho Bravo gekommen war. Tom Calhoun und sein ältester Sohn John hatten ihm damals eine Chance gegeben, die er genutzt hatte.

Die Stimme von Charlie Swenson riss ihn aus seinen Gedanken.

»In Ordnung, Freunde«, sagte er. »Ich biete euch achtzehn Dollar pro Stück!«

Und damit begann das Feilschen um die Herde. Die anderen Viehaufkäufer überboten sich gegenseitig, doch für Jay Durango stand fest, dass er die Herde Charlie Swenson verkaufen würde. Swenson bot schließlich zwanzig Dollar, und darauf einigten sie sich.

Die Cowboys stießen laute Rufe der Begeisterung aus, denn sie wussten, dass ihnen jetzt die Stadt offen stand. Tage des Vergnügens und der Ausgelassenheit warteten auf die rauen Männer aus Texas!

»Ich werde mich so volllaufen lassen, dass ich eine Woche vollkommen dicht bin!«, sagte Rio Shayne, ein weißblonder hünenhafter Cowboy, und stieß seinem Nachbarn Gus in die Seite. »Ich habe gehört, dass es hier einen abgeschlossenen Rotlichtbezirk gibt...«

»Natürlich, Mann«, erwiderte daraufhin Gus. »Hast du nicht die vielen Zelte und Behausungen oben im Norden gesehen? Da wohnen sie, die Girls!«

»Oh, Mann – ich sage dir, da müssen wir heute noch hin, Gus!«, brüllte Rio und klopfte sich auf die Schenkel. »Mich juckt’s ganz gewaltig. Ein sicheres Zeichen dafür, dass ich es nicht mehr abwarten kann!«

»Du Idiot, da kannst du doch nicht hingehen! Wovon ich sprach, das ist nur der Wohnbezirk. Arbeiten tun sie im Süden der Stadt, und der ist ebenso abgeschlossen wie die Zeltstadt im Norden – verstehst du das?«

»Was – sie wohnen und arbeiten an zwei verschiedenen Orten, Gus?«

»Na klar, was glaubst du Kindskopf denn, wo du hier bist, hm? Das ist eine Großstadt mit Kultur, Junge. Hier hat alles seine Ordnung, das wirst du schon noch sehen!«

»Du kennst das wohl alles bereits, wie?«, fragte Rio, der als einer der letzten Cowboys zur Ranch der Calhouns gestoßen war und bis zu diesem Zeitpunkt Texas noch nie verlassen hatte.

»Natürlich, Mann – im letzten Jahr war es doch genauso! Was du nicht weißt, ist, dass sie hier sogar feste Regeln haben, wann sie sich in der Öffentlichkeit zeigen dürfen!«

»Willst du Hundesohn mir etwa weismachen, dass diese Schnepfen am helllichten Tag in der Stadt spazieren gehen? Ja, ist das denn erlaubt?«

»Na klar! Jeden Tag zwischen vier und fünf Uhr nachmittags dürfen sie in der Stadt spazieren gehen. Dann ist natürlich keiner dieser üblichen anständigen Bürger auf der Straße...«

»Ich werd’ noch verrückt, Gus«, antwortete Rio. »Hier ist das reinste Paradies auf Erden!«

Gus grinste.

»Das glaubst auch nur du, Rio. Du kannst hier nicht alles tun, was du willst! Vor zwei Jahren, da hättest du die Town auf den Kopf stellen können, aber jetzt...«

Unruhe kam bei den Viehaufkäufern auf, als sich vom Eisenbahndepot her eine große muskulöse Gestalt näherte. Rio hörte, wie die Männer unwillkürlich die Köpfe zusammensteckten und der Lärm einer plötzlichen Stille wich.

»Das ist Bear River Tom Smith, Jungs«, sagte Chris mit leiser Stimme. »Ich kenne ihn von Ellis her, und da hat er schon ganz gehörig aufgeräumt...«

Jay Durango sah ebenfalls den großen Mann, der gerade das Holzlager der Stadt passierte. Das war also Tom Smith, den man Bear River Tom Smith nannte. Durango hatte ihn selbst noch nie gesehen, aber schon viel von ihm gehört. Gerüchte besagten, dass der gebürtige Ire seine Laufbahn als Polizist in New York begonnen und dann seinen Weg als Schwergewichtsboxer fortgesetzt hatte. Als Tom Smith näher kam, erkannten die Männer sein braunes Haar und die eisblauen Augen, von denen Härte ausging.

»Das ist der Grund, weshalb hier jeder kuscht, Rio«, sagte Gus und stieß den Hut weit in den Nacken. »Dieser Mann dort ist erst wenige Monate hier und hat schon so manches Wunder vollbracht...«

Der Marshal von Abilene verharrte und musterte die Texas-Cowboys genau. Mancher blickte unwillkürlich zu Boden – so, als könne er dem harten Blick des Iren nicht widerstehen.

»Ich bin Marshal Tom Smith, Jungs!«, sagte er mit kräftiger Stimme. »Man nennt mich auch Bear River Tom Smith, und einige von euch werden schon sicherlich von mir gehört haben. Wer seid ihr und wo kommt ihr her?«

Billy Calhoun ergriff das Wort und klärte Tom Smith mit wenigen Worten über die Mannschaft und die Herde auf. Der Marshal nickte und näherte sich dem Gatter. Sein Blick schweifte über die Longhornherde.

»Es sind gute Rinder, Jungs«, sagte er, als er sich wieder zu Billy und den Cowboys umdrehte. »Ich glaube, ihr habt hier ein prima Geschäft gemacht. Jeder von euch wird wahrscheinlich in Kürze eine Menge Dollars in seinen Händen halten – und ich freue mich für euch!«

Sein Blick blieb auf Jay Durango hängen.

»Ich nehme an, dass Sie der Vormann dieser prächtigen Jungs sind, Mister. Sie können in Abilene tun und lassen, was Sie wollen, solange es nicht gegen die Gesetze und Vorschriften dieser Stadt verstößt. Sollte dies allerdings der Fall sein, werde ich jeden einsperren, und wenn er Gott weiß wer ist!«

Jay Durango nickte zum Zeichen seines Einverständnisses.

»Ich und die Männer haben Sie gut verstanden, Marshal«, antwortete er. »Wir werden uns anständig benehmen!«

Tom Smith lächelte.

»Ich sehe, ihr versteht, was ich meine, Jungs! Nun – die Stadt ist offen für euch. Das Drover’s Cottage und der Rotlichtbezirk warten auf euch. Und lasst euch nicht von den Kartenhaien das Fell über die Ohren ziehen!«

Dann wandte er sich den Viehaufkäufern zu.

»Ich hoffe, ich habe Ihre Geschäfte nicht allzu sehr gestört, Gentlemen«, sagte er und ging.

»Verstehst du jetzt, was ich gemeint habe, Rio?«, fragte Gus den weißblonden Cowboy. Dieser nickte stumm.

»Das ist ein Feuerfresser, wie er im Buch steht«, antwortete er. »Ob dieser Mann wohl Spaß vertragen kann...?«

* * *

Die Dämmerung kam, und wie auf ein geheimes Zeichen erwachte Abilene. Die Stadt am Mud Creek öffnete ihre Pforten der Verheißung. Entlang der Texas Street begann das Leben zu pulsieren. In zahlreichen Saloons herrschte Hochbetrieb, und der Alkohol floss in Strömen. In den heißen Dampf, der Tag und Nacht aus den Badehäusern drang, mischte sich der Küchendunst zahlreicher Speiselokale, der schwarze Rauch von Lokomotiven und der feine Staub des durch Tausende von Rinderhufen aufgewirbelten Präriebodens.

Zum ersten Mal seit Beendigung des Bürgerkrieges prallten hier in Abilene die polaren Gegensätze Nord-Süd wieder aufeinander: der wilde freiheitsliebende Texas-Cowboy, für den das Leben nur dann einen Sinn hatte, wenn er es sich um den Hals hängen konnte, und der Geldgierige, der Yankee-Dollarwolf aus dem Norden, für den Geld und Erfolg die einzige Rechtfertigung menschlichen Strebens bedeutete.

Zwar verursachte der Zusammenprall zwischen diesen beiden Gruppen Erschütterungen, doch die ›feindlichen Brüder‹ versöhnten sich schnell wieder miteinander. Typische Ordnungshüter wie Bear River Tom Smith, der die Cowboys mit den Fäusten lähmte, wirkten nicht minder prägend als der abenteuerliche Texas-Reiter.

Die Menschen sind doch alle gleich, dachte Jay Durango, als er den Vorhang wieder beiseiteschob, nachdem er lange Zeit das bunte Treiben auf der Texas Street beobachtet hatte. Den Kaufvertrag hatte er zusammen mit Billy unterzeichnet, und viel Geld hatte den Besitzer gewechselt. Charlie Swenson hatte mit den beiden das Geschäft in der hiesigen Bank abgewickelt. In Durangos Hemdtasche steckte die Quittung, die ihn dazu berechtigte, jederzeit über diesen Geldbetrag zu verfügen.

Dann waren sie zum Drover’s Cottage Hotel gezogen – dem besten am Ort, wo sie die luxuriösesten Zimmer, eine ganze Etage für sich, gemietet hatten. Danach hatte Jay die Cowboys ausbezahlt und ihnen viel Spaß für die nächsten Tage gewünscht. Eine Woche wollten sie in der Stadt bleiben. In den nächsten Tagen würde die Herde verladen werden.

Jay Durango ging zum Spiegel und fuhr sich flüchtig über die Haare, die ihm auch schon bis auf den Kragen fielen. Vor einer Stunde hatte er sich rasiert und gebadet, sodass auch er sich jetzt etwas in der Stadt umsehen wollte. Die RB-Mannschaft hatte sich schon längst in den Trubel gestürzt, und Billy hatte sich ihnen angeschlossen.

Für den Jungen war es eine willkommene Gelegenheit, das Neue, das Unbekannte zu erforschen. Tom Calhoun hatte Durango nahegelegt, auf den Jungen zu achten, aber inmitten der Cowboys würde er sicher sein wie in Abrahams Schoß.

Während Durango seine Zimmertür abschloss und die breite, geschwungene Treppe hinunterging, dachte er an den Rancher, an John und die wenigen Cowboys, die auf Rancho Bravo geblieben waren. Sie warteten bestimmt schon bald auf Nachricht von Jay, denn für die RB bedeutete der Verkauf der Herde sehr viel. Tom Calhoun hatte in den letzten Jahren hart kämpfen müssen, um seine Existenz in diesen Jahren zu sichern, und der Erlös dieser Herde bedeutete eine weitere Sicherheit für ihn. Hinzu kam jetzt noch die Tatsache, dass Billy zum ersten Mal nach seiner Zeit bei den Comanchen Rancho Bravo verlassen hatte.

Der Boss kann ihn nicht ewig an der Leine halten, dachte Durango. Egal, was früher passiert ist – Billy ist jetzt alt genug, um zu wissen, was er tut. Und je früher er das lernt, desto besser ist es...

Aus den Augenwinkeln registrierte er, wie ihn der schmächtige Hotelclerk ausgiebig musterte. Er wollte schon weitergehen, als ihn die Stimme des Angestellten noch einmal zurückhielt.

»Vergessen Sie nicht, Ihren Colt abzugeben – egal, welches Haus Sie betreten, Mister«, ertönte die heisere Stimme des Mannes. »Sie wollen doch keinen Ärger mit Marshal Smith, oder?«

Jay Durango murmelte etwas Unhöfliches vor sich hin und verließ grußlos das Hotel. Von der seltsamen Vorschrift, die Waffen bei Betreten eines Saloons oder Vergnügungslokals abzugeben, hatte er schon gehört – und er ahnte, welche Schwierigkeiten Tom Smith haben würde, um diese von ihm erlassene Vorschrift durchzusetzen.

Jetzt befand er sich auf der Texas Street, der Hauptstraße von Abilene, auf der sich alles abspielte. Er passierte die beiden Gebäude, in denen Bürgermeister T. C. Henry wohnte und auch der Stadtrat seine Versammlungen abhielt.

Ein Betrunkener rempelte den Vormann an und murmelte eine hastige Entschuldigung vor sich hin, während er weiter ins Dunkel torkelte und den Vorgang wohl schon wieder vergessen hatte.

Aus dem Pearl Saloon klang das Hämmern eines Pianos, das nur sehr undeutlich ›Yellow Rose of Texas‹ wiedergab. Das Kreischen der Flittergirls und das Grölen der betrunkenen Männer klang in seinen Ohren, als er am Saloon vorbeiging und sah, wie die Rausschmeißer einen Besoffenen an die Luft setzten, der sich im hohen Bogen überschlug und bewegungslos am Straßenrand liegen blieb.

Vor dem Alamo-Saloon hatte sich eine kleine Menschenmenge angesammelt, und Jay Durango sah die bullige Gestalt des Marshals mitten unter ihnen. Gleichzeitig bemerkte er den großen hageren Cowboy auf dem Gehsteig, der dort lässig verharrte.

Als Jay sich der Menge näherte, hörte er auch schon die dunkle Stimme des Marshals, die sich eindeutig an den hageren Mann wandte, der in lässiger Stellung dort stand und ihn gespannt musterte.

»Big Hank, ich sage es dir jetzt nicht noch einmal!«, rief Tom Smith. »Du hast das Schild dort an der Tür gelesen, Junge – und du hast die Gesetze dieser Stadt zu befolgen. Ist das klar?«

Der Mann namens Big Hank lachte rau auf und spuckte in hohem Bogen aus.

»Mann, Marshal – du glaubst doch selbst nicht, dass ich mein Eisen abgebe, wenn ich in diesen Saloon gehe. Der Colt ist ein Teil von mir! Ohne ihn fühle ich mich nackt, verstehst du?«

»Dann wirf dir doch eine Decke über!«, gab Smith kalt zurück. »Gib mir deinen Colt, Junge, oder ich hole ihn mir – und dann wird es bitter für dich!«

Mit diesen Worten streckte Tom Smith die Hand aus und setzte langsam einen Fuß in Richtung Gehsteig vor. Big Hank zuckte unwillkürlich zusammen, und seine Stimme wurde nun gefährlich leise.

»Ich warne dich, Marshal!«, zischte er. »Wenn du noch weiter näher kommst, dann schieß’ ich dich über den Haufen!«

Tom Smith lächelte grimmig und ging wieder einen Schritt auf Big Hank zu – so, als hätte er die Worte dieses Revolvermannes überhaupt nicht verstanden.

»Du wirst nicht schießen, Junge«, sagte er dann. »Ich werde meine Waffe nicht gegen dich gebrauchen, und solltest du doch ziehen, so wäre es Mord – Mord an einem Gesetzesbeamten. Dafür hängst du, Mann!«

Big Hank stand der Schweiß auf der Stirn. Er befand sich in einem Zwiespalt. Würde er jetzt nachgeben, dann nahm kein Hund mehr einen Brocken von ihm an – und schoss er den Marshal nieder, so würden sie ihn hängen. Eine verfahrene Situation für den Revolvermann, die der Marshal geschickt ausnutzte.

»Ich schieße, Smith«, sagte Big Hank erneut, als der Marshal sich nur noch wenige Schritte von ihm befand und die erste Stufe des Stepwalks betrat.

»Red keinen Unsinn, Junge«, antwortete Smith. »Die Stadt hat ihre eigenen Gesetze, und auch du wirst sie befolgen – hast du mich verstanden?«

Irgendetwas in der Stimme lähmte Big Hank. Sein Arm wurde steif – und er war unfähig, zum Colt zu greifen. Der stahlharte Blick Bear River Tom Smiths bannte den Revolvermann auf der Stelle. Und dies war die Stunde des Marshals! Mit der linken Hand stieß er den Revolverarm Big Hanks beiseite, während er mit der Rechten zu einem wuchtigen Schlag ausholte, der den Mann auf der Stelle niedermähte.

Murmeln war in der Menge zu hören, als Smiths Hieb Big Hank fällte. Etwas Unglaubliches war geschehen. Wieder einmal hatte der Marshal mit bloßen Fäusten einen Ruhestörer bezwungen.

Smiths Blick fiel über die staunende Menge. Schließlich blieb sein Blick auf zwei Männern haften.

»Joe und Curtis, ihr beiden kommt her und bringt ihn ‘rüber ins Jail. Der Mann wird wegen Nichtbeachtens der Stadtgesetze eingesperrt!«

Die beiden Männer beeilten sich, den Anweisungen des Marshals Folge zu leisten. Mit geübten Griffen fassten sie den bewusstlosen Big Hank an Armen und Beinen und schleppten ihn in Richtung des Gefängnisses, das sich nur wenige Yards weiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand.

Der Blick des Marshals fiel erneut auf die Menge.

»Worauf wartet ihr noch?«, fragte er. »Gebt eure Waffen am Eingang ab oder geht nach Hause!«

Die Menge zerstreute sich. Die meisten der Anwesenden leisteten den Befehlen des Marshals Gehorsam. Ohne zu zögern, schnallten sie ihre Holster ab und drückten sie einem Angestellten des Alamo Saloons in die Hände, der sie mit einem bitteren Lächeln entgegennahm. Tom Smith entdeckte den RB-Vormann, der sich das Schauspiel ebenfalls mit angesehen hatte. Grüßend hob er die rechte Hand.

»Ah, Texaner! Haben Sie ein gutes Geschäft mit den Viehhändlern gemacht?«

»Ich denke schon«, antwortete Jay Durango und ging auf den Marshal zu. »Die Herde ist verkauft. Wir warten noch bis zum Verladen, und dann geht es weiter heim in Richtung Süden...«

»Sind Sie zum ersten Mal hier in Abilene, Freund?«, fragte Smith. Der Vormann schüttelte den Kopf. Nein, er war schon im letzten Jahr mit einer RB-Herde auf den Trail gegangen und kannte daher die Stadt schon ein wenig.

»Es hat sich in diesem Jahr eine Menge verändert«, sagte er.

»Darauf können Sie Gift nehmen, Texaner«, erwiderte der Marshal. »Es wird Zeit, dass jemand diese Stadt hier zähmt. Viel zu viele Hyänen und Dollarwölfe treiben hier ihr Unwesen. Aber die wenigen, die hier gezwungen sind zu leben, brauchen Gerechtigkeit!«

»Die Gerechtigkeit scheint mir aus massivem Stein und recht stabil zu sein«, spielte Durango auf das City-Jail von Abilene an.

Der Marshal grinste.

»Im letzten Jahr war das noch nicht der Fall! Stellen Sie sich vor, Mann – das erste Gefängnis ist sogar schon einmal niedergerissen worden!«

Jay Durango hob überrascht den Kopf.

»Wie konnte denn so etwas geschehen, Marshal?«

»Diese halbwilden Treibherdencowboys – was denn sonst?«, gab Tom Smith zurück. »Ein Negerkoch der Driscill-Mannschaft lag betrunken auf der Texas Street und schlief seinen Rausch aus. Die Stadtväter hatten natürlich nichts Besseres zu tun, als ihn ins neu erbaute Jail zu stecken. Als dies die Driscill-Mannschaft, zu der der arme Teufel gehörte, erfuhr, setzten sich die Jungs in die Sättel, ritten in die Stadt, rissen das Jail auseinander und holten ihren Mann wieder heraus!«

»Ich glaube, das geschieht wohl jetzt nicht mehr, oder?«, fragte Durango.

»Worauf Sie spucken können, Mann«, gab Smith zurück. »Ich habe mir vorgenommen, Ruhe in dieses Sodom und Gomorrha zu bringen, und das ist mitunter schwer. Ich habe keine Freunde in diesem Kaff, und jeder möchte mir am liebsten von hinten eine Kugel verpassen. Noch hat es keiner geschafft...«

Im gleichen Moment entdeckte Jay Durango einen Mann, der im Schatten des Salooneinganges stand und die Unterhaltung zwischen ihm und dem Marshal schon eine Zeit lang beobachtet hatte. Jay Durango glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er sich noch einmal vergewisserte, dass er sich nicht getäuscht hatte. Nein, es gab keinen Zweifel mehr!

»Sie entschuldigen mich bitte, Marshal«, sagte er mit gepresster Stimme und nickte Tom Smith kurz zu. Dann näherte er sich dem Eingang des Alamo-Saloons, wo die ihm bekannte Gestalt schweigend verharrte.

Als er sich schließlich auf dem Stepwalk befand, war für Jay Durango der letzte Zweifel endgültig beseitigt. Hier in Abilene hatte ihn die Vergangenheit eingeholt...

* * *

Rio Shayne hob sein Glas und prostete den Freunden zu. »Trinken wir auf unseren Lone-Star-State, Jungs – dort, wo die Männer noch was gelten!«

Begeisterte Jubelschreie seiner Kameraden folgten den Worten des weißblonden Cowboys von Rancho Bravo. Nachdem Durango sie mit genügend Dollars, dem Lohn für ihre Arbeit, versorgt hatte, war es ihr Ziel, die Stadt auf den Kopf zu stellen und nichts dabei auszulassen. So waren sie auch im Bull’s Head Saloon angelangt. Die RB-Mannschaft war zu dieser Stunde fast vollzählig – außer ihrem Vormann, der versprochen hatte, später nachzukommen.

Schon seit einiger Zeit hatten die Cowboys dem Alkohol gehörig zugesprochen. Aber diese rauen Männer aus Texas tranken diesen hochprozentigen Stoff wie Wasser – und Rio Shayne hatte sogar gesagt, dass dieser Whiskey gut genug sei, um in Texas kleine Kinder damit zu versorgen.

Billy Calhoun war noch immer damit beschäftigt, sämtliche Eindrücke um sich herum aufzunehmen. Staunend betrachtete er die großartige Ausstattung des Saloons, von dessen Decke riesige Kristallleuchter herabhingen, die die massive Theke aus Mahagoniholz – hinter der mehrere Keeper beschäftigt waren, den Wünschen ihrer Gäste nachzukommen – in ein grelles Licht tauchten. Die Luft hier war reich an vielerlei verschiedenen Düften, die ein Konglomerat aus Schweiß, Parfüm und Zigarrenrauch bildeten.

»Nun trink doch schon, Billy!«, rief Gus und stellte ein weiteres Glas Whiskey vor Billy Calhoun auf den Tisch. Der blonde Cowboy schluckte unwillkürlich, als er das Wasserglas mit Whiskey vor sich stehen sah. Er klopfte Gus auf die Schulter und nickte dann.

»Geht in Ordnung, Gus – bin schon noch dabei!«

Der RB-Cowboy hörte die Worte des blonden Billy schon gar nicht mehr. Vorn an der Theke hatten die Keeper bereits eine neue Reihe gefüllter Gläser aufgestellt – und Gus gab sein Bestes, um die übrigen Anwesenden davon zu unterrichten, dass diese Runde für die RB bestimmt sei. Die meisten der Männer, für die diese Texaner Halbwilde waren, machten sofort Platz.

Billy musste grinsen, als er Gus beobachtete. Er beneidete diese Männer, mit denen er zusammen aufgewachsen war und von denen ihn doch Welten trennten. Nicht zuletzt, weil er lange bei den Comanchen gelebt und dort gesehen hatte, was Whiskey bei Indianern ausrichtete.

Sein Bruder John dagegen war genauso wie diese Männer – hart und wild und bereit für jeden derben Spaß. Wahrscheinlich musste man so sein, um in Texas leben zu können. Aber warum war er nicht mehr so? Er war zwar auch ein Calhoun, aber ganz anders als sein Vater und John. Tom Calhoun hatte ihm einmal eines Abends gesagt, dass er seiner Mutter sehr ähnlich sei, die leider allzu früh verstorben war. Billy war noch zu jung gewesen, als das damals passiert war, und die Erinnerungen daran waren nur noch nebelhaft.

Die Stimme eines fremden Cowboys, der mit ihnen am Tisch saß, riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ihr habt noch nichts von der Stadt gesehen, Jungs«, sagte der Cowboy, der ebenfalls zu einer Treibherdenmannschaft gehörte und schon seit einigen Tagen in Abilene weilte. »Wisst ihr eigentlich, dass es hier sogar ein Opernhaus gibt?«

»Was?«, krächzte Rio Shayne, den der Alkohol schon reichlich im Griff hatte und ihn auch so schnell nicht mehr losließ. »Was sagst du da, Mann?«

»Yeah«, nickte der Cowboy. »Ihr könnt es mir glauben, Jungs! Ein richtiges Opernhaus, nur wenige Schritte von hier entfernt auf derselben Straßenseite. Ihr müsst einmal dort gewesen sein!«

»Was ist ein Opernhaus?«, stotterte Gus vor sich hin, weil er sich schon weit jenseits von Gut und Böse befand. »Gehört es zum Rotlichtbezirk?«

»Du bist ein Idiot, Gus!«, schaltete sich jetzt Billy ein. »Ein Opernhaus ist ein Ort, wo Leute auf einer Bühne ein Stück aufführen und dazu Lieder singen...«

»Ah, das kenn’ ich«, erwiderte Dave Harmon, ein anderer RB-Cowboy. »Bei uns zu Hause in Crackersville gab’s damals auch so was. Mann – die haben schöne Sachen gesungen: ›Green grow the lilacs‹ und ›Sweet Betsy from Pike‹!«

Rio Shayne war sehr still geworden, als er über Billys Worte nachdachte. Er schaute Dave und Gus an und schüttelte dann den Kopf.

»Ich glaube nicht, dass Billy das damit gemeint hat – oder was meinst du, Billy?«

Der jüngste Sohn des RB-Ranchers verneinte und schlug dann mit der Faust auf den Tisch.

»Natürlich nicht, ihr verkommenen Kerle! Ein Opernhaus ist etwas ganz anderes. Dort werden anspruchsvolle Lieder von Chopin vorgetragen, und...«

Die Stimme von Gus unterbrach ihn.

»Wer zum Teufel ist denn dieser Kopäng? So berühmt scheint der doch gar nicht zu sein. Was schreibt der denn für Lieder?«

»Lieder, die deinem Kuhschädel wahrscheinlich für immer und ewig unverständlich bleiben werden, Gus!«, antwortete Billy voller Zorn, der angesichts solcher Ignoranz offener war, als er sich sonst zeigte. »Am besten wäre es, du würdest dir das mal ansehen, sonst verstehst du es doch nicht!«

Rio Shayne strich eine seiner widerspenstigen Locken aus der von Schweiß überströmten Stirn und musterte dann die andern.

»Zum Teufel noch mal, Jungs! Ich glaube, Billy hat recht. Wir gehen jetzt alle ins Opernhaus und hören uns diesen Schopeng oder wie der Kerl heißt, mal an!«

Die Männer nickten zustimmend und erhoben sich von ihren Plätzen. Halb torkelnd und vom vielen Whiskey benebelt, verließen sie den Bull’s Head Saloon...

* * *

Jay Durango verharrte unwillkürlich auf der Stelle, als er im trüben Licht, das aus dem Alamo-Saloon fiel und den Stepwalk nur dürftig beleuchtete, das Gesicht des Fremden erkannte.

»Lee«, flüsterte der Vormann der RB mit rauer Stimme. »Lee Kedrick! Ich hätte nicht gedacht, dich hier in Abilene zu treffen – weiß Gott nicht!«

»Das weiß ich, Jay!« Der Mann, den der Vormann Lee Kedrick genannt hatte, war groß und schlank und ganz wie einer der vielen Kartenhaie der zahllosen Saloons gekleidet, und der Blick aus den grünen Augen war hart.

»Was willst du von mir, Lee?«, fragte Durango, und seine Stimme wurde heiser. »Wir sind fertig miteinander. Lass mich in Ruhe!«

Lee Kedrick lächelte kalt.

»Was regst du dich so auf, Jay?«, fragte er kopfschüttelnd. »Du weißt doch noch gar nicht, was ich will und ob ich überhaupt etwas von dir will! Wer weiß – vielleicht freue ich mich ganz einfach, einen Freund aus alter Zeit wiederzusehen?«

Durango winkte ab.

»In deinem Mund klingen diese Worte wie blanker Hohn, Lee«, antwortete Durango.

Der Spieler lachte.

»Du scheinst gereizt zu sein, Durango – und ich frage mich, woran es liegt. Hat es vielleicht etwas mit den vielen Dollars zu tun, die du heute Mittag verdient hast...?«

Der Vormann betrachtete Kedrick genau. Es ging schon los. Die Dollarwölfe hatten Lunte gerochen. Anscheinend witterte Kedrick eine fette Beute, sonst hätte er sich nicht an ihn herangemacht, denn es war offensichtlich, dass Kedrick Durango wahrscheinlich schon lange beobachtet hatte. Und wie er den großen makellos gekleideten Spieler kannte, glaubte er zu wissen, was bald auf ihn zukommen würde.

»Geh beiseite, Lee, und lass mich in Ruhe! Ich will mit dir nichts zu tun haben, Mann!«

»Wenn du da rein willst, dann geh!«, erwiderte Kedrick. »Ich halt’ dich schon nicht auf. Wie schon gesagt, ich wollte dir nur klarmachen, dass ich mich freue, dich zu sehen...«

Jay Durango betrat den Gehsteig. Jetzt waren die beiden Männer nur wenige Inches voneinander entfernt. Der Vormann registrierte, dass Kedrick keine Waffe trug. Aber das bedeutete bei einem Mann von seinem Ruf überhaupt nichts. Durango kannte viele Glücksritter, die irgendwo am Körper versteckt noch Waffen trugen, die dann – aus heiterem Himmel kommend – hervorgezaubert wurden. Deshalb blieb er wachsam und behielt seine Hand in der Nähe seines Revolvers.

Durango erwiderte nichts mehr und ging an Kedrick vorbei. »Wir sehen uns vielleicht später noch, Jay...«, erklang die heisere Stimme des Spielers hinter ihm.

Durango wusste, dass er mit Lee Kedrick von nun an zu rechnen hatte. Er kannte den Spieler von früher, als er noch nicht für Rancho Bravo geritten war. Schon damals war Kedrick jähzornig und unberechenbar gewesen – ein Mann, der jeden Vorteil skrupellos für sich ausnutzte.

Bevor Durango den Alamo-Saloon betrat, bemerkte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein schwaches Leuchten wie von einer glimmenden Zigarette. Dort musste ungefähr das City-Jail liegen – und Durango glaubte, dass sich dort wohl Tom Smith aufhielt, der wahrscheinlich die Szene vor dem Saloon beobachtet hatte. Er fragte sich, welche Schlüsse der Marshal daraus zog.

Während sich Lee Kedrick langsam vom Alamo Saloon entfernte und irgendwo in einer Seitengasse zwischen den Häusern verschwand, öffnete der Vormann die Tür. Lärm und Musik drangen an sein Ohr, und erst dann bemerkte er den bulligen Mann mit kariertem Hemd, der hinter einem Tisch stand und ihn angrinste. Durango bemerkte die vielen Waffen, die hinter dem Tisch fein säuberlich geordnet deponiert waren. Der Mann deutete Durangos Blick richtig.

»Vorschrift von Bear River Tom Smith, Cowboy«, sagte er. »Auch für Sie! Bitte geben Sie Ihre Waffe ab, bevor Sie reingehen, okay?«

Jay Durango nickte stumm und schnallte das Holster ab. Es war ein neues und ungewohntes Gefühl für ihn, einen Saloon, in dem sich wahrhaftig genug zwielichtige Gestalten aufhielten, ohne Waffe zu betreten. Im letzten Jahr hatte diese Vorschrift noch nicht gegolten. Aber seit Tom Smith hier das Gesetz war, schien sich so manches verändert zu haben. Dies hier war ein Teil davon!

Der Alamo-Saloon war total überfüllt. Cowboys von verschiedenen Mannschaften standen teilweise in Dreierreihen an der Theke und schütteten den oft selbst gepanschten Alkohol in sich hinein. Durch den allgemeinen Lärm ertönte im Hintergrund schwach das Klimpern eines alten Pianos, das wohl genau wie der etwa 50- bis 60jährige Mann, der es bearbeitete, schon bessere Zeiten erlebt hatte. Dichter Rauch schwebte unter der Decke. An den Wänden hingen zahlreiche kitschige Bilder, die wohl die Romantik des Cowboylebens verherrlichen sollten. Jay wusste, wie wenig davon der Wahrheit entsprach, denn sowohl er selbst als auch die RB-Mannschaft wussten, wie hart dieses Leben wirklich war.

Mühsam bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Einen Mann, den er unsanft anstieß, nahm er erst spät zur Kenntnis. Dieser wollte gerade zu einer heftigen Rede ansetzen, doch als er den RB-Vormann näher betrachtete, schien er es für besser zu halten, die Flüche stillschweigend hinunterzuschlucken.

Der dicke Keeper stellte unaufgefordert ein Glas Whiskey vor Durango hin. Dieser jedoch schüttelte den Kopf.

»Nimm es mir nicht übel, Freund, aber das Zeug trink’ ich nicht! Ich möchte von der guten Sorte – du verstehst?«

Zur Bekräftigung seiner Worte zeigte er dem Keeper eine Silbermünze, deren Wirkung den Keeper sofort dazu veranlasste, unter den Tresen zu greifen und eine dickbauchige Flasche hervorzuholen.

»Das ist bester Kentucky Straight, Freund!«, sagte er dann. »Nicht ganz billig, aber gut!«

Durango nickte und wollte zum Glas greifen, als er hinter sich Stimmen hörte, die ihm bekannt vorkamen. Er drehte sich um und gewahrte an einem Ecktisch zwei Cowboys seiner Ranch, die dem Alkohol kräftig zusprachen. Als sie Jay entdeckten, winkten sie ihm sofort. Der schwarze Cowboy Bob Rennington und der hünenhafte Tully waren zwei kräftige Burschen, die schon so manchen Saloon von innen gesehen hatten. Mitunter waren sie dann in einige Krawalle verwickelt worden, wobei schon so manche Einrichtung zu Bruch gegangen war. Aber jetzt saßen sie still und friedlich am Tisch und tranken Whiskey.

»Komm rüber und hock dich zu uns, Jay!«, rief der blonde Tully Jenkins. »Wir laden dich zu ‘nem Drink ein!«

Jay lächelte und setzte sich zu den beiden Männern. Bob Rennington schob sich den Hut in die Stirn und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück.

»Mann, Jay – das ist ‘ne Stadt, sag’ ich dir! Ich war schon einmal in Abilene, und doch stößt man immer wieder auf etwas Neues, was vorher noch nicht da war – meinst du nicht auch?«

»Ihr habt recht, Jungs!«, antwortete der Vormann. »Abilene hat schon so manches zu bieten, und ich gönne es euch nach diesem langen Trail...«

»Was hast du denn die ganze Zeit gemacht, Vormann?«, fragte Bob.

»Ich bin jetzt erst aus dem Hotel gekommen und will mich mal umsehen«, antwortete Durango. »Wo sind Billy und die anderen?«

Tully lachte.

»Rio hat unseren Benjamin unter seine Fittiche genommen. Du weißt doch, Jay – Rio ist wie eine Mutter für unseren Jüngsten. Zusammen mit Gus und Dave sind sie in den Bull’s Head Saloon gegangen. Von da kommen wir gerade...«

»Stell dir vor, Jay«, warf Bob ein. »Da hat uns einer was von einem Opernhaus erklärt – und als Billy diesen Hornochsen gesagt hat, was das ist, waren sie nicht mehr zu halten. Sie wollten mit allen dahin gehen!«

»In die Oper?«, fragte Durango sprachlos. »Billy und Rio? Das geht doch nicht gut. Wie können diese Kerle...«

Als hätte der Vormann es geahnt, hörte er auf einmal hinter sich die Stimme Dave Harmons, der wohl in diesem Moment den Alamo-Saloon betreten hatte. Dass er ihn und die anderen gesucht hatte – daran bestand wohl kein Zweifel mehr. Als Dave den Vormann erkannte, stieß er sofort einige Männer beiseite und blieb völlig außer Atem am Tisch stehen.

»Vormann!«, keuchte er, und Schweiß stand auf seiner Stirn. »Du musst sofort mitkommen. Die Jungs sind in der Oper, und es hat Ärger gegeben...«

Jay Durango sprang auf.

»Verdammt – was ist los, Dave?«, fragte er. »Hat Billy was angestellt?«

»Nicht Billy«, flüsterte Dave. »Er trägt keine Schuld! Da ist was Unglückliches passiert, Mann, und jetzt haben sie nach Tom Smith gerufen, weil die Vorstellung unterbrochen wurde...«

»Kein Wort mehr, Dave«, schnitt ihm Durango das Wort ab. »Ich sehe schon, die RB bekommt Ärger. Wir gehen jetzt dahin, und ihr beide da am Tisch kommt auch mit!«

Die energische Stimme des Vormanns ließ keinen Widerspruch zu, sodass sich Bob und Tully hastig von ihren Plätzen erhoben.

»Gnade euch Gott, wenn ihr was angestellt habt!«, sprach der Vormann mehr zu sich selbst, aber die anderen hörten seine Worte trotzdem...

* * *

Kurz bevor Jay Durango das Drover’s Cottage verlassen hatte, waren die Cowboys zum Opernhaus aufgebrochen. Das zweistöckige, vor zwei Jahren erbaute Gebäude befand sich schräg gegenüber des Bull’s Head-Saloon auf der anderen Seite der Texas Street.

Johlend und betrunken taumelten die Cowboys der RB über die Straße – und so mancher Passant, der in die Nähe der Texaner geriet, ging ihnen freiwillig aus dem Weg, um jeden Verdruss zu vermeiden. Dabei war dies das Letzte, was die Männer beabsichtigten. Sie wollten nur einfach Spaß und Vergnügen nach einem langen staubigen Trail, und sie suchten dies auf ihre Weise.

»He, Jungs!«, schrie Gus und klammerte sich dabei an Rios Arm fest. »Da an den Fenstern hängt ein Plakat. Lies doch mal vor, Billy, du weißt doch – bei diesem trüben Licht kann ich nicht so gut lesen!«

Raues Gelächter erscholl, denn die Männer wussten genau, dass Gus nicht gut lesen konnte. Selbst mit dem Schreiben hatte er Mühe – auf der Ranch und bei den Herden jedoch stand er seinen Mann und war ein vollwertiger Cowboy, den alle achteten und respektierten.

»Lilly Davies...«, murmelte Billy. »Da steht, dass Lilly Davies heute Abend singen wird!«

»Das ist gut!«, sagte Rio. »Was singt sie denn, Billy? Steht das auch auf dem Plakat?«

Der jüngste Calhoun nickte stumm. »Sie singt Lieder von Chopin... he, Chopin! Jungs, ich hab’ es ja gesagt. Das ist bestimmt eine bekannte Sängerin, die Lieder von einem noch viel berühmteren Mann singt!«

»Los, gehen wir rein!« schlug der weißblonde Rio vor, und die anderen stimmten zu. Die Cowboys betraten den Gehsteig, und Billy war derjenige, der die Tür öffnete und das Opernhaus betrat.

Eine fremde, ungewohnte Welt breitete sich vor den Augen der Cowboys aus. Den Texanern bot sich der Blick auf ein prachtvoll eingerichtetes Zimmer, dessen Wände mit teuren Teppichen und wertvollen Bildern geschmückt waren. Den Mittelpunkt des Raumes bildete ein massiver Eichentisch, hinter dem ein alter, ehrwürdig aussehender Gentleman saß, der beim Erscheinen der Cowboys erstaunt den Kopf hob.

»Die Vorstellung für die Treibherdencowboys war heute Nachmittag, Leute!«, sagte er mit pikierter Stimme. »Bitte kommen Sie morgen wieder!«

»Was soll denn das heißen, Mister?«, rief der weißblonde Rio und trat einen Schritt vor, so dass der Gentleman unwillkürlich zusammenzuckte. »Steht da draußen auf dem Plakat, dass Lilly Davies hier in diesem Haus singt oder nicht?«

»Schon...«, nickte der Mann, »aber heute Abend sind Cowboys nicht zugelassen! Es sind nur Bürger aus der Stadt hier, die Lieder von Chopin hören wollen...«

»Also, jetzt reicht es, Freund!«, keuchte Shayne und packte den ehrwürdigen Gentleman am Kragen. Mit einer Hand stemmte er ihn ohne Mühe hoch. »Wir sind nicht über Tausende von Meilen umsonst geritten, Mister! Wir haben harte Arbeit geleistet und wollen jetzt einen gerechten Ausgleich dafür haben. Ihr verdammten Aasgeier seid ja auch sonst nicht so zimperlich, wenn ihr unser Geld haben wollt!«

Der große Texaner hatte sich in Wut geredet. Der Gentleman bekam vor Angst einen Schweißausbruch und betonte mehrmals, Rio solle ihn doch wieder herunterlassen. Es sei zwar nicht üblich, aber man könne vielleicht hier einmal eine Ausnahme machen. Das stellte Rio zufrieden, und er ließ daraufhin den Mann los. Unsicher auf den Beinen, stapfte dieser zu seinem Tisch zurück.

»Der Preis für die Vorstellung beträgt einen Dollar für jeden«, keuchte der Mann mit hochrotem Kopf. »Im Voraus bitte!«

Billy war es, der die gespannte Situation zu entschärfen suchte. Er griff in die Hemdtasche seines Flanellhemdes und holte einige Scheine heraus. Er zählte ab und drückte dem Mann den verlangten Preis in die Hand.

»Und jetzt lassen Sie uns vorbei, Mister, ja?«, fragte Billy. »Oder wollen Sie noch Ärger haben?«

Der Mann erwiderte nichts darauf und deutete den Cowboys an, ihm zu folgen. Er öffnete eine weitere massive Eichentür, die den Blick auf einen großen Saal freigab, an dessen rechter Seite sich die Bühne befand. Ein schwerer roter Vorhang verhüllte das, was hinter der Bühne war.

Der Saal war bereits gut gefüllt, doch hatte die Vorstellung noch nicht begonnen. Als die Texaner den Saal betraten, wurden sie sofort von der Mehrzahl der Anwesenden genau gemustert. Man erkannte den erstaunten Blick in ihren Augen und zugleich den stillen Vorwurf gegenüber dem älteren Gentleman, dass er diese Kerle überhaupt hereingelassen hatte.

Die RB-Mannschaft jedoch beachtete dies alles überhaupt nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt der Einrichtung und der ungewohnten Umgebung, die wohl jeder der Texaner wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben sah. Der Reiz des Fremden, Unbekannten lockte die Männer und ließ sie sprachlos werden.

Rio Shayne war einer der Ersten, der die peinliche Stille im großen Saal bemerkte. Deshalb war seine Stimme entsprechend leise, als er sich an Billy wandte, der mit diesen Sachen mehr vertraut schien.

»Wo wollen wir uns hinsetzen, Billy?«, fragte Rio.

Der junge Calhoun deutete auf einige noch freie Plätze in den hinteren Reihen, und die Cowboys folgten ihm. Gus, der wegen seiner Trunkenheit unangenehm auffiel, stolperte prompt über seine eigenen Beine und suchte verzweifelt Halt in den Armen einer älteren Dame, die sich in seiner Nähe befand.

»Unverschämtheit!«, murmelte die Frau empört mit hochrotem Kopf.

»Ihr ergebener Diener, Ma’am«, sagte Gus grinsend und ließ sich mit einem ächzenden Laut in die weichen Polster fallen. Schließlich hatten alle ihre Plätze eingenommen und harrten gespannt auf die Dinge, die da kommen sollten.

»Wann fangen die denn da vorne endlich an?«, flüsterte Chris und schaute hinüber zu Billy. Dieser winkte ab und beruhigte Chris.

»Hut ab!«, erklang es da mit einem Mal scharf hinter den Texanern. Rio drehte sich unwillkürlich um, und seine Augen bohrten sich in diejenigen des Mannes, der diese Worte von sich gegeben hätte.

»Was ist los, Freund?«

»Ich habe gesagt: Nehmt den Hut ab! Die Leute hinter euch wollen auch noch was sehen«, sagte der ältere, weißhaarige Herr, der einen teuren Anzug aus dunklem Tuch trug.

»Wer bist du denn, Freund?«, fragte Rio mit leiser Stimme, die ein Zeichen von erneut emporwallender Wut war. »Was soll das Ganze?«

»Ist es zu viel verlangt, wenn ihr kulturlosen Barbaren in diesem vornehmen Haus die Hüte abnehmt, wie es sich gehört?«, zischte der Weißhaarige. »Ich bin Probate Judge Cyrus Kilgore und befehle euch: Benehmt euch hier!«

Auch die anderen Cowboys waren nun mittlerweile auf den weißhaarigen Richter aufmerksam geworden. Sie alle musterten den Herrn, der für sie aus einer anderen Welt zu kommen schien. Billy ahnte Unheil und versuchte Rio zu beschwichtigen, aber dieser schüttelte seinen Arm ab.

»Lass das, Billy!«, sagte er mit gefährlich leiser Stimme. »Wir mussten schon unsere Waffen am Eingang abgeben, und jetzt soll mir keiner einreden, dass unsere Hüte auch noch gefährlich sind. Ich schlage jedem eins aufs Maul, der das behauptet!«

Bevor der Richter sich erneut zu Wort melden konnte, war vorn auf der Bühne eine Bewegung zu erkennen. Hinter dem roten Vorhang trat ein in einen dunklen Frack gekleideter Mann hervor, und bei seinem Erscheinen wurde es still im Saal. Sogar Richter Kilgore beruhigte sich.

»Ladies und Gentlemen«, hob der Mann hervor. »Es ist mir eine ganz besondere Freude, Ihnen eine Persönlichkeit von Weltruhm anzukündigen, die heute Abend bei uns gastiert. Sie hat schon in zahlreichen Häusern mit Rang und Namen Konzerte gegeben und sich auf unsere Einladung hin sofort bereit erklärt, hier in Abilene eine musikalische Aufführung zu veranstalten!« Seine Stimme verharrte einen winzigen Augenblick, dann hob sie sich erneut. »Ich bin dankbar, dass sie heute Abend bei uns ist: Vorhang auf für Lilly Davies aus New York!«

Unter dem Beifall der Zuschauer teilte sich der Vorhang in zwei Hälften und gab das so lange gehütete Geheimnis, die Attraktion des Abends, preis: Auf der Bühne stand eine Frau, ganz in Weiß gehüllt. Beim Anblick ihrer Schönheit war ein erstauntes Murmeln unter den Zuschauern zu vernehmen. Unweit von ihr stand ein riesiges Piano, an dem sich ein grauhaariger Mann mit verklärter Künstlermiene breitgemacht hatte. Die Menge begann bereits zu applaudieren, noch bevor Lilly Davies überhaupt angefangen hatte.

»Mensch, die Kleine ist Spitze«, raunte Gus seinem Nachbarn Rio zu und stieß ihm voller Aufregung in die Seite. Auch der junge Billy musste unwillkürlich schlucken, als er die blonde Sängerin auf der Bühne erblickte. Billy, der in Bezug auf Frauen noch ein ziemlich unbeschriebenes Blatt war, glaubte zu spüren, dass von der Sängerin dort vorn etwas ausging, das die Menge sofort in ihren Bann schlug.

Und dann betätigte der Künstler das Piano. Er spielte eine schwere wehmütige Weise, auf die kurz darauf die Stimme von Lilly Davies einsetzte. Ihre Stimme war ungewohnt hoch und die Melodie fremd und eigenartig. Die Zuschauer lauschten ergriffen der Darbietung, nur bei den Cowboys breitete sich Unruhe aus. Rio blickte Billy an, und dieser zuckte mit den Achseln.

»Das ist doch kein Gesang«, zischte Rio und warf einen Blick zu den anderen, die seine Ansichten bestätigten. »Das ist doch ein einziges Gewinsel da vorne!«

Nicht wenige der Zuhörer drehten sich mit vorwurfsvoller Miene zu dem weißblonden Cowboy um und machten ihm durch Gesten klar, dass er doch endlich schweigen solle. Aber da waren diese verweichlichten Stadtfräcke bei Rio Shayne gerade an den richtigen Mann geraten. Von Gus unterstützt, erhob er sich und deutete in Richtung der Bühne.

»Aufhören, verdammt noch mal!«, schrie er. »Dieses Gekreische ist ja nicht mehr mit anzuhören!«

Die Sängerin Lilly Davies brach sofort mit ihrem Lied ab. Der verklärte Künstler spielte ein paar Takte weiter und wurde erst Augenblicke später aus seiner Traumwelt gerissen, als er bemerkte, dass Lilly ihre Darbietung schon eine Weile beendet hatte. Mit schriller, unmusikalischer Dissonanz beendete auch er sein Können. Entsetzt starrte er auf den Texaner, der von den hinteren Reihen aufgesprungen war und mit drohender Faust in Richtung der Bühne deutete. Entsetzen und Verachtung spiegelten sich im Gesicht des Künstlers wider, und er registrierte gleichzeitig, dass Lilly bleich wurde.

»Das ist doch alles großer Käse«, schrie Rio erneut. »Mädchen – sing uns lieber ›Home on the range‹! Das ist doch wenigstens ein Lied – und nicht so ein Scheiß, den du hier plärrst!«

Andere Zuschauer sprangen erregt auf und versuchten, den Cowboy von der Richtigkeit der Veranstaltung und von der wahren Begabung von Lilly Davies zu überzeugen, doch dieser schüttelte die anderen ab. Als einer der Gäste Rio an der Schulter fasste, packte er ihn am Kragen und stieß ihn zurück. Der Mann verschwand zwischen den Sitzen und tauchte nicht wieder auf.

Die RB-Mannschaft war jetzt vollständig von ihren Sitzplätzen aufgesprungen. Billy ahnte, was nun geschehen würde, und er wusste auch, dass er es nicht mehr zurückhalten konnte. Die Jungs respektierten ihn zwar, aber er war nicht ihr Anführer, und so konnte er nichts unternehmen.

»Werft diese wild gewordenen Texasbüffel an die frische Luft!«, schrie ein erboster Opernliebhaber und krempelte sich die Ärmel hoch.

* * *

Jay Durango, Dave, Tully und Bob hatten den Alamo-Saloon gerade erreicht, als sie auch schon von der anderen Straßenseite her den Lärm und Tumult vernahmen, der sich vom Opernhaus her ausbreitete.

Der Vormann sah die bullige Gestalt des Marshals, der sich von der anderen Straßenseite her dem Gebäude näherte. Und Durango entdeckte auch die Schrotflinte in den klobigen Fäusten Tom Smiths.

Smith sah die Texaner, die vor dem Eingang verharrten. Seine Augen funkelten vor Zorn, als er dem Vormann in die Augen sah.