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Ein neues spannendes Abenteuer mit Commander John Quentin.
Frankreich, im Jahre 1801: Napoleon Bonaparte hat eine riesige Armee in Boulogne-sur-Mer zusammengezogen, mit der er nach England übersetzen will. Admiral Nelson gibt den Befehl, die französischen Landungsboote anzugreifen - obwohl John Quentin ihm dringend davon abrät. Die Folgen sind verheerend: Unter dem Kanonenfeuer der Franzosen explodieren ganze Schiffe, und englische Soldaten finden reihenweise den Tod. Doch John Quentin hat einen Plan, um die drohende Invasion zu verhindern - einen Plan, der ihn tief ins Feindesland führt ...
Die spannende Seefahrerreihe um den jungen John Quentin für alle Fans von Frank Adam, Patrick O'Brian, C.S. Forester und Sean Thomas Russell.
Band 1: John Quentin - Im Auftrag des Admirals
Band 2: John Quentin - Kampf um Malta
Band 3: John Quentin - Im Auge des Sturms
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Seitenzahl: 532
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Handelnde Personen
1. Boulogne-sur-Mer
2. Lorient
3. Frankreich
4. Friedensverhandlungen
5. Orinoko
6. Flottenkampf
7. Im Hurrikan
Karten
Boulogne-sur-Mer
Biskaya vor Lorient
Karibik und südamerikanische Küste
Erklärung der seemännischen Begriffe
Über den Autor
Alle Titel des Autors
Impressum
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Im Jahr 1800: John Quentin ist als Protegé von Admiral Nelson vom Fähnrich zum Commander in der Royal Navy aufgestiegen. In Nelsons Auftrag kämpft er gemeinsam mit den Maltesern gegen die französischen Besatzer. Doch statt Ruhm erntet er nur Undank. Sein Rivale Admiral Lord Keith spinnt eine Intrige, die in Quentins Entlassung aus der Navy gipfelt. Als seine Besatzung davon erfährt, meutert sie gegen den neuen Kommandanten – ein Vergehen, das mit dem Tod bestraft wird. Kann Quentin seine Ehre wiederherstellen und seine Männer vor dem Galgen retten?
Erwin Resch
John Quentin
Im Auge des Sturms
Historischer Abenteuerroman
Nahezu ohne jedes Geräusch tauchten die mit Lappen umwickelten Riemenblätter ins Wasser. Das Heulen des Windes im Rigg der »Revolution« war jedoch an Bord des wild stampfenden Bootes schon in fünfzig Yards Entfernung vom Schiff nicht mehr zu hören. Eigentlich war bei diesem Wetter in der stockdunklen Nacht das Umwickeln der Riemenblätter gar nicht nötig, aber Quentin wollte ganz sicher sein, dass seine nächtliche Anlandung an der französischen Küste völlig unbemerkt blieb.
Die Rudergasten kämpften schwer, die Barkasse zur Küste hin zu rudern, die sich allmählich aus der Schwärze der Nacht etwas abhob. Oben auf den Dünen brannte irgendwo ein Feuer und gab Sarson, dem Bootssteuerer, einen gewissen Anhaltspunkt, wohin er die Barkasse lenken musste, um nicht in der Nähe des Feuers zu landen.
Endlos erschien Quentin die Zeit, doch schließlich knirschte der Bug der Barkasse auf den sandigen Ufergrund. Quentin zog die Strickjacke über dem einfachen geblümten Kleid enger und fröstelte trotz der warmen Augustnacht.
Nun war es wieder einmal so weit, dass er allein in Feindesland eindrang. Er packte sein Bündel, in dem er ein weiteres Kleid, ein Paar Schuhe, etwas französisches Geld, eine gestrickte grüne Decke, seinen gefälschten spanischen Pass und ein wenig Verpflegung hatte.
Einer der muskulösen Bootsgasten war ins seichte Wasser gesprungen, packte ihn mit kräftigen Armen und trug ihn die wenigen Schritte zum sandigen Ufer.
»Viel Glück, Sir«, wünschte er und kehrte zur Barkasse zurück, die sofort ablegte und zur »Revolution« zurückgerudert wurde.
Quentin ging in Deckung einiger Büsche und setzte sich dort erst einmal auf den Boden. Tief atmete er den würzigen Geruch der Sträucher ein und horchte angestrengt in die Nacht hinein.
Alle hatten ihm von diesem Abenteuer abgeraten, seine Mutter, seine Offiziere, ja selbst Lord St. Vincent, der Erste Lord der Admiralität, hatte bedenklich den Kopf geschüttelt. Doch Nelsons Wunsch, dass Quentin die Situation in Boulogne erkunden sollte, war für ihn, wie bei allen vorhergehenden Aufträgen des Admirals, Befehl gewesen.
Bonaparte war, wenn man den Aussagen von Schmugglern, Fischern und Aufklärungskuttern glauben durfte, nahe davor, eine Invasion in England durchzuführen. Angeblich sollten sich über einhunderttausend Soldaten an der Küste aufhalten, um über den Kanal zu setzen. Eine Menge Prähme, Landungsboote, Kutter, Kanonen- und Fischerboote waren im Laufe eines Jahres hier zusammengezogen oder in improvisierten Werften gebaut worden.
Nelson plante in den nächsten Tagen eine Landung in Boulogne, um diese Boote zu zerstören. Dagegen sprach, dass nahezu alle Landungsunternehmen Nelsons bisher entweder misslungen waren oder große Verluste gekostet hatten. Wie hatte St. Vincent gesagt? Er sei der beste Seestratege, den England je gehabt habe, aber bei Landoperationen versage er regelmäßig.
Dennoch konnte England nicht einfach tatenlos zuschauen, wie die Invasionsgefahr von Tag zu Tag wuchs. So hatte der Oberkommandierende eher halbherzig zugestimmt, dass Nelson diese Aktion leiten sollte.
Wie schon bei den vorhergehenden Operationen ging Quentin ein hohes Risiko ein. Als emigrierter französischer Adliger gab es für ihn nur ein denkbares Ende, falls man ihn entdeckte: die Guillotine. Doch er hoffte, dass seine zweideutige Geschlechtsidentität ihn wiederum schützen würde.
Bis zu seinem unfreiwilligen Eintritt in die Royal Navy vor etwas über zwei Jahren hatte er ein wohlbehütetes Leben als Mädchen geführt, zuerst auf Schloss Pissy in der Picardie, nach der Emigration seiner Familie dann in Blamford House nahe Dartford an der Themse. Noch immer war er sich nicht im Klaren darüber, wie sein Leben eigentlich weitergehen sollte. Natürlich war er biologisch ein junger Mann von fast neunzehn Jahren. Doch seine schmächtige, geradezu zierliche Gestalt, sein weich geschnittenes Gesicht und das fast vollständige Fehlen jeglicher Körperbehaarung ließen ihn ohnehin eher weiblich, zumindest nicht sehr männlich wirken, selbst wenn er seine Commanderuniform trug.
Sein Fühlen und Denken hatte sich in der letzten Zeit von seinem äußeren Erscheinungsbild unabhängig entwickelt. In den wenigen Wochen, die er in den letzten Jahren zu Hause verbracht hatte, war er wieder öfter in der Mädchenrolle aufgegangen. Und doch konnte sich das von einer auf die andere Sekunde ändern. Wie bei einer wohlig schnurrenden Katze konnte sein Jagdfieber plötzlich ausbrechen, und sofort war er wieder in der männlichen Rolle und Marineoffizier. Und in dieser Rolle wiederum sah er manchmal die Männer seiner Besatzung mit den Augen einer Frau und es kam zu Gedanken, die einem kommandierenden Offizier nicht anstanden. Unter allen Umständen musste er vermeiden, dass sein Denken auch nur ansatzweise in der Marine bekannt wurde. Er hatte von einigen Fällen gehört, in denen Offiziere, deren homosexuelle Neigungen bekannt wurden, sofort unehrenhaft aus der Navy entlassen worden waren. Diese innere Zerrissenheit hatte ihn immer wieder zu quälenden Selbstzweifeln getrieben, doch mittlerweile begann er, das innere Chaos als unabänderlich zu akzeptieren.
Nichts war in der Nacht zu hören, so stand er auf, umging das Feuer oben auf den Dünen weiträumig und wanderte etwa eine Meile landeinwärts. Dort ging das sandige Gelände in Buschwerk über, und Quentin suchte sich in den Büschen einen Platz zum Schlafen. Er riss einige Zweige von den Sträuchern, richtete sich ein einfaches Lager und rollte sich schließlich in seine Decke ein. Es gelang ihm tatsächlich, ein wenig zu schlafen.
Am frühen Morgen packte er wieder alles in die aus Stroh geflochtene Tasche und machte sich auf den Weg nach Boulogne. Er hatte sich intensiv mit der Karte dieses Landstrichs beschäftigt und selbst den offenen Strand bei Wimereux, etwa drei Meilen nördlich seines Ziels, ausgesucht, an dem er in der vergangenen Nacht an Land gegangen war und wo die Barkasse ihn um Mitternacht wieder erwarten würde.
Das setzte natürlich voraus, dass er unentdeckt blieb. Doch seine bisherigen Landgänge als Mädchen in Brest oder Ferrol waren fast gefahrlos gewesen. Niemand traute einem so hübschen Mädchen zu, dass sich dahinter ein britischer Seeoffizier verbarg, und so war er erstaunlich ruhig.
Der Weg schlängelte sich durch das Buschwerk auf Boulogne zu. Es schien ein warmer Sommertag zu werden. Wäre nicht Krieg, so hätte er diesen Spaziergang sicher genossen.
Von einem Höhenrücken sah er rechts die See vor sich und weit an der Kimm erkannte er einige Segel. Das waren vier Linienschiffe und zwei Fregatten der Themseflotte, die hier ihren Wachdienst versahen und jedes Übersetzen der Franzosen als Erste verhindern sollten. Das Segel weit im Norden musste die »Revolution« sein, seine »Revolution«, eine Korvette mit sechzehn Kanonen, darunter auch 24-Pfünder-Karronaden.
Genau von Norden her näherte er sich nun der Stadt. Die Mauern der Zitadelle in der Oberstadt leuchteten hell in der Sonne. Schon von Weitem sah er die Zelte. Die Stadt war von Zeltlagern geradezu umgeben. Vor allem südlich des Hafens, also auf der anderen Seite der Mündung des Flüsschens La Liane, bedeckten sie die ganze Ebene. Quentin versuchte sie zu zählen, doch er gab schnell auf. Es mussten Tausende sein.
Zwei lange künstliche Molen bildeten vor der Flussmündung mit der Küste ein großes Dreieck. Zur See hin war das Dreieck offen, die Einfahrt war etwa eine Kabellänge breit. Etwa in deren Mitte lag eine winzige Felseninsel mit einer Batterie, und Quentin vermutete, dass es von dort aus sicherlich eine Balken- oder Kettensperre zu den beiden Molenköpfen hin gab.
Überall in dem Dreieck, auf den Stränden, in der Flussmündung und dem Hafen von Boulogne lagen die Landungsboote. Im Hafen lagen sie so dicht beieinander, dass man das Hafenbecken trockenen Fußes überqueren konnte. An einer weiteren, mittleren Mole lag verlassen die mastlose Hulk eines Linienschiffes an zwei kurzen Ankerleinen. Sie lag anscheinend schon lange da, denn Quentin konnte nicht einmal mehr Reste eines Anstrichs erkennen. Offenbar waren keine Kanonen mehr an Bord, denn sie ragte hoch aus dem Wasser. Außerdem schien sie bei der derzeit herrschenden Ebbe festzusitzen, wie er an den fehlenden Bewegungen des Rumpfes erkennen konnte.
Überhaupt schien bei Niedrigwasser nur ein schmales Fahrwasser im gesamten Vorhafen befahrbar zu sein. Der Rest hatte offenbar nur einen halben bis einen Faden Wassertiefe.
An den Ufern waren hinter einer Menge Geschützstellungen provisorische Werften entstanden, um weitere Landungsboote zu bauen. Doch offenbar war den Handwerkern das nötige Holz ausgegangen, und so liefen dort zwar eine Menge Leute herum, doch gearbeitet wurde wenig.
Es gab verschiedene Bootstypen. Beim Näherkommen sah er, dass die meisten Boote etwa fünfunddreißig Fuß lang und rund zehn Fuß breit waren. Neben zehn Riemenpaaren hatte jedes Boot noch einen kleinen Mast, an dem eine Lateinsegelrah festgemacht war. Er schätzte, dass etwa fünfzig Männer in jedes Boot passten. Sie waren sehr flach und sehr einfach gebaut. Zwei Seitenschwerter, die ins Wasser gelassen werden konnten, sollten beim Segeln die Abdrift verhindern. Sie ermöglichten aber gleichzeitig, bis in flache Gewässer von wahrscheinlich zwei Fuß Tiefe zu segeln. Bei einigen Prähmen konnte er Drehbassen erkennen. Bei allen Bootstypen war im Bug genug Platz, dass mindestens zehn Musketenschützen dort nach vorn feuern konnten.
Die Bauweise war äußerst einfach und Quentin bezweifelte, dass sie dem Seegang der Straße von Dover überhaupt gewachsen waren. Außerdem litt die französische Marine unter Personalmangel. Wegen der engen Blockade der französischen Häfen durch die Royal Navy hatten selbst die Besatzungen der Kriegsschiffe kaum Segelpraxis. Wahrscheinlich sollten diese Boote von Landsoldaten bedient werden, denen man die Handhabung der Boote nur einmal kurz zeigen würde. Selbst wenn es den Franzosen gelänge, diese riesige Armada aufs Wasser zu schicken, so bezweifelte er doch, dass alle in England ankommen würden.
Vor den ersten Häusern hielt Quentin sich links und ging am östlichen Stadtrand entlang zu den beiden Häfen hinunter. Er wollte sich die Boote aus der Nähe ansehen, doch eine Straßensperre hinderte ihn daran, den direkten Weg zu nehmen. Obwohl er sich bemühte und mit dem Wachtposten flirtete, ließ der ihn nicht durch.
Bei diesem Gespräch hatte er die Gelegenheit, sich die Lage der beiden Batterien zu merken, die ein Eindringen in den Stadthafen verhindern sollten. So schlenderte er auf einem Weg entlang, der etwas entfernt vom Hafen zur Schleuse führte. Als er über das geschlossenen Schleusentor ging, sah er, dass in dem Fluss La Liane ebenfalls eine Menge Landungsboote lagen oder gebaut wurden.
Auf der anderen Seite der Schleuse hielt er sich nördlich und gelangte zu der Ebene, in der die Zeltstädte der Soldaten standen. Hier herrschte viel Betrieb, doch niemand nahm in der Menge wirklich Notiz von ihm. Auf scherzhafte Bemerkungen der Soldaten oder Pfiffe beim Vorübergehen reagierte er nicht.
Er hielt sich nahe am Wasser und kam nun zur inneren Hafenbatterie, die provisorisch errichtet worden war. Ein Steinwall und aufgeschütteter Sand umgaben nur vier schwere Kanonen und einige leichte Feldgeschütze. Aber auf die nahe Entfernung deckten sie das Fahrwasser und die Hafeneinfahrt ab. Gegen die Mauern war mit Schiffsgeschützen wohl leicht anzukommen.
Das zweite Fort, etwas entfernt auf der gegenüberliegenden Seite, bestand aber aus massiven Steinmauern. Quentin schätzte, dass sich etwa 15 schwere Geschütze dort befinden müssten. Das war neben sicherlich 100 bis 150 einzeln aufgestellten leichten Feldgeschützen die Hauptverteidigung des Hafens. Eine angreifende Flotte hatte es also mit etwa zwanzig schweren Geschützen zu tun. Wie die Menge leichter Geschütze einzuschätzen war, wusste er nicht, aber er befürchtete, dass sie einem Angreifer erheblichen Schaden zufügen würden. Wenn es nicht gelang, das kleine Fort am Strand auszuschalten, würde ein Angriff sehr verlustreich sein. Und bei etwa sechzigtausend Soldaten in unmittelbarer Umgebung, so groß schätzte Quentin die Armee ein, war eine Einnahme völlig unmöglich. Einem englischen Landungstrupp stünde ein ganzes Heer entgegen.
Er ging weiter und stieg den kleinen Deich hoch, der die Ebene mit den Zelten vom Meer trennte. Dahinter überblickte er eine weitere Bucht. Auch diese offene Bucht lag voller Landungsboote und weiter draußen lagen etliche Kanonenboote vor Anker.
Er kehrte um und nahm den gleichen Weg, den er gekommen war. Auf dem Rückweg schaute er sich die beiden voll besetzten Hafenbecken genauer an.
Der Flusslauf war wohl ausgebaggert worden, damit auch hier Schiffe liegen konnten. Ein halbrunder Hafen war offenbar ganz neu angelegt. Hier war erstaunlicherweise kein Posten. Dort lagen ein Linienschiff, zwei Fregatten, mehrere Korvetten, Briggs, Fischkutter und Kanonenboote. Sie hatten keine Nationalflagge gesetzt, aber eine der beiden Fregatten schien von der Bauart und der üppigen Goldverzierung her spanisch zu sein. Die Besatzungen waren offenbar vollzählig an Bord und mit diversen Arbeiten beschäftigt.
Quentin setzte sich auf eine kleine Mauer und packte etwas von dem Schinken und dem Käse aus, den er in seiner Tasche hatte. Dabei betrachtete er das Treiben im Hafen. Eine solche Rast eines Mädchens schien den Franzosen völlig normal und unverfänglich zu sein. Das gab ihm ausreichend Gelegenheit, sich das Bild des Hafens einzuprägen.
Die Kriegsschiffe konnten nicht auslaufen, ehe die Landungsboote nicht die Hafeneinfahrt geräumt hatten. In einen Kampf zur Zerstörung der Prähme konnten sie also nicht eingreifen. Bei einer eventuellen Invasion konnten sie nur als Letzte auslaufen und den Booten keinerlei Deckung geben. Vielleicht hoffte Bonaparte, dass ein Linienschiffgeschwader aus Brest ausbrechen könnte, um die Überfahrt zu decken. Doch trotz der Menge der Boote konnte der Korse nicht darauf hoffen, dass eine ausreichende Zahl ungeschoren an der Blockadeflotte vorbeikommen würde.
Aus der Stadt sprengte ein Tross Reiter heran. Schon von Weitem erkannte Quentin Uniformen von Marine- und Heeresoffizieren. Als die Gruppe näher kam, erkannte er den Offizier, der an der Spitze ritt, und sofort wurde ihm eiskalt.
Admiral de Bruix!
Zum Weglaufen oder Verstecken war es zu spät. So tauchte er mit seinem Kopf tief in seine Strohtasche und tat so, als ob er etwas darin suchen würde. Aus den Augenwinkeln sah er, dass der Admiral ihn kurz musterte, ihn aber nicht wiedererkannte. Auf einem Schimmel folgte ihm Leutnant Espartin, sein Flaggleutnant. Quentin fühlte seine Schlagader am Halse schlagen, doch der Admiral ritt mit seinem Tross weiter. Weder er noch der Leutnant hatten Quentin erkannt.
Vor zwei Jahren war er ebenfalls als Mädchen nach Brest gekommen und hatte sich auch kurz im Haus des Oberbefehlshabers der französischen Atlantikflotte aufgehalten. Damals war es ihm gelungen, durch einen Brandsatz drei französische Linienschiffe im Hafen zu zerstören, und das war die Grundlage seiner bisher einzigartigen Karriere bei der Navy gewesen.
Nur langsam beruhigte sich sein Atem wieder und er nahm sich vor, solchen Situationen künftig aus dem Weg zu gehen. Aber wie sollte das gehen, wie ließ sich so etwas vermeiden? So blieb er noch auf der Mauer sitzen und verzehrte seine mitgebrachten Lebensmittel.
Ein kleiner Trupp Soldaten marschierte an seinem Platz vorbei; die Soldaten blieben stehen und alberten mit ihm herum.
»Wollen Sie uns nicht begleiten, Mademoiselle, und uns den Weg nach Boulogne zeigen? Wir verlaufen uns nämlich immer.«
»Das wird die Engländer freuen, wenn Sie statt ihrer Insel womöglich Calais angreifen.«
»Haha, wenn man uns die Führung überließe, könnte das vielleicht passieren. Aber Bonaparte soll angeblich selbst die Aktion leiten und gibt uns sicher jemanden mit, der den Weg kennt.«
»Der General scheint mir als Heerführer ja bisher ganz erfolgreich zu sein, aber übers Wasser nach England? Ich weiß nicht, meine Herren.«
»Mit Bonaparte werden wir die ganze Welt erobern. Der General ist genial. Ob der Admiral was taugt, weiß ich nicht so recht«, sagte einer der Soldaten.
»Wie lange liegt ihr denn eigentlich schon hier herum? Sicher ist schon halb Boulogne schwanger«, scherzte Quentin.
»Wir sind erst seit einer Woche hier, wir haben bisher unsere Fähigkeiten den Frauen von Calais zukommen lassen«, prahlte ein anderer. »In neun Monaten wird es dort einen Segen toller Kinder geben.«
»Ist es von Calais nicht viel näher nach England? Wieso müsst ihr den weiteren Weg nehmen?«
»Das wüssten wir auch gerne. Zumal mir in einem Boot immer speiübel wird«, sagte jetzt wieder der Erste. »Wir werden England wohl nicht erobern, sondern einfach zukotzen.«
Sein Kamerad gab ihm einen Knuff in die Seite.
»Verzeihung, Mademoiselle. Aber es ist doch wahr. Da haben sie Unmengen Boote über die ganze Küste verteilt und statt von Calais muss unser Regiment ein paar Stunden länger übers Meer. Wir sind doch keine Fische.«
»Dann bräuchten die Engländer auch keine Gewehre, sondern nur Angeln, um die Eroberung abzuwehren. Und Sie sagen, ich könnte jetzt meine Cousine in Calais besuchen, ohne Gefahr zu laufen, schwanger zu werden?«
»Ich fürchte nein, Mademoiselle. Ein paar Tausend sind noch da. Und in den nächsten Tagen soll noch eine ganze Armee künftiger Väter dort ankommen. Am besten, Sie bleiben bei uns und begleiten uns jetzt auf dem Weg nach Boulogne. Wir würden Sie gerne auf ein Glas Wein einladen.«
»Danke, meine Herren. Aber ich habe vor, auf den richtigen Mann fürs Leben zu warten.«
»Schade, Mademoiselle. Auf Wiedersehen.«
»Ich wünsche euch viel Erfolg. Möge Gott euch beschützen!«
Fröhlich zogen die Soldaten weiter. Somit wusste er alles, was nötig war, und seine Mission hier war eigentlich schon erledigt.
Als die Soldaten zwischen den Häusern verschwunden waren, packte er seine wenigen Habseligkeiten und folgte ihnen in die Stadt. Er trank am Marktbrunnen etwas Wasser und spazierte durch die Unterstadt.
Überall sah er nur Soldaten, die Einwohner hielten sich wohl überwiegend in ihren Häusern auf. In einer Gasse, durch die er zum Ortsrand gehen wollte, fand er sich plötzlich zwischen zwei Soldatengruppen wieder. Die eine Gruppe versperrte die Gasse und pöbelte ihn anfangs harmlos, dann, als er nicht darauf reagierte, immer unflätiger an. Die andere Gruppe hinter ihm wollte ihm offenbar helfen. So gerieten die beiden Soldatengruppen miteinander in Streit, und kurz darauf kam es zu einer handfesten Prügelei.
Quentin flüchtete in eine Seitenstraße, doch einige der prügelnden Soldaten liefen ebenfalls in diese Seitenstraße, und so drückte er sich eng in einen Hauseingang. Die Prügelei setzte sich in der Seitengasse fort, und als er vom Ende der Gasse einen Trupp Soldaten in geschlossener Formation vorrücken sah, rannte er ein paar Yards weiter und schlüpfte durch ein schweres Eichentor in eine kleine Kirche. Dort wollte er abwarten, bis es draußen wieder ruhiger würde.
Eine alte Frau saß in der vordersten Bank und betete ihren Rosenkranz. Quentin schaute sich in der Kirche um, setzte sich im Mittelschiff in eine Bank und döste vor sich hin. Ein paar Soldaten kamen ebenfalls in die Kirche, warteten kurz an der Tür und verschwanden dann wieder.
Offenbar war er eingeschlafen, als plötzlich jemand an seinem Ärmel zupfte. Quentin schaute erschrocken auf. Ein Trupp Soldaten war in der Kirche und hatte, während er schlief, seine Tasche durchsucht. Alles, was darin gewesen war, lag auf der Kirchenbank. Unschlüssig hielten sie seinen Pass in den Händen und debattierten darüber.
»Was machen Sie als Spanierin hier in Boulogne?«, fragte einer, der offenbar Korporal war. Quentin wurde nervös. Wie sollte er seine Anwesenheit erklären? Sollte er seine alte Geschichte von der Suche nach dem Vater wiederholen?
»Ich suche meinen Vater«, sagte er in einem französisch-spanischen Kauderwelsch. Der Unteroffizier blieb skeptisch.
»Bitte kommen Sie mit!«, befahl er.
In diesem Moment betrat der Pfarrer aus der Sakristeitür die Kirche.
Sofort steuerte er auf die Soldaten zu.
»Was geht hier vor, meine Herren?«
»Die Dame ist Spanierin. Weil sie möglicherweise draußen an einem Streit unter den Soldaten beteiligt war, haben wir ihre Tasche durchsucht und einen seltsamen spanischen Pass gefunden. Wir werden sie mitnehmen.«
»Das werden Sie nicht tun, meine Herren. Bedenken Sie, dass Sie hier in einem Gotteshaus sind, und hier sorge ich für Frieden. Bitte verlassen Sie sofort meine Kirche, ehe ich den Frieden beende und Ihrem Offizier von Ihrem unerlaubten Eindringen berichte.«
Die Soldaten schauten sich ratlos an und zögerten.
»Ich warte, meine Herren.«
Drohend baute sich der Pfarrer vor den Soldaten auf, und es schien, als wolle er sie mit Gewalt aus der Kirche drängen.
»Schätzchen, wir erwarten dich draußen«, sagte einer der Soldaten, und der Trupp wandte sich zur Tür hin. Sofort sprang der Pfarrer hinzu und nahm dem Korporal Quentins Pass ab.
»Hier in der Kirche dulde ich das nicht«, knurrte er.
Der Korporal wollte aufbegehren, besann sich dann aber eines Besseren. Der Pfarrer ging hinter ihnen her zur Tür und verriegelte die Tür von innen, nachdem sie weg waren. Dann kam er zu Quentin zurück.
»So, nun erzählen Sie mir mal, was los ist.«
»Ich fürchte, die Soldaten wollen mir etwas antun. Sicher hielten sie das für eine günstige Gelegenheit«, säuselte er wieder in seinem Kauderwelsch.
»Was machen Sie hier um diese Uhrzeit in der Kirche? Haben Sie keine Arbeit?«
»Nein, Abbé. Ich bin auf der Suche nach meinem Vater. Er soll hier in Boulogne sein. In die Kirche kam ich, weil ich draußen einem Streit unter den Soldaten entgehen wollte.«
Der Pfarrer schaute ihn skeptisch mit zusammengekniffenen Augen von oben bis unten an.
»Ich glaube Ihnen kein Wort, Mademoiselle.«
Würde der Pfarrer ihn den Soldaten ausliefern?
»Darf ich bei Ihnen beichten, Herr Pfarrer?«
Der Pfarrer nickte und ging zu einem Beichtstuhl voraus. Quentin stopfte die verstreuten Sachen in seine Strohtasche, folgte dem Priester und kniete im Beichtstuhl nieder.
»Ich habe gelogen, Herr Pfarrer. Ich bin nicht Spanierin, sondern Französin. Mein Name ist Jeanette Quentin. Doch ich lebe in England. Nach der Revolution ist meine Familie dorthin emigriert. Die Engländer wollen wissen, ob eine Invasion zu befürchten ist, und so habe ich den Auftrag erhalten, mich hier umzusehen. Wenn die Soldaten dort draußen davon erfahren, so werden sie mich sofort erschießen. Ich möchte nicht sterben, ich bin doch erst achtzehn Jahre alt.«
Das Gesicht des Pfarrers war nahe an die Gitterstäbe des Beichtstuhls gekommen, und Quentin erkannte im Halbdunkel die großen, abschätzenden Augen des Priesters.
»Du sollst vor mir und Gott nicht lügen, Jean Baptiste François Comte de St. Quentin.«
Jedes Wort des Pfarrers wirkte auf ihn wie ein Peitschenhieb. Quentin zuckte zusammen. Wie konnte das sein? Der Abbé hatte ihn erkannt, wusste sogar seinen vollständigen Namen, aber woher kannte ihn der Priester? Nie zuvor in seinem Leben war er in Boulogne-sur-Mer gewesen. Quentin stotterte vor sich hin.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Erkennst du mich nicht wieder? Abbé Boniface. Ich war Kaplan in Pissy. Ich habe dich auf diesen Namen getauft.«
»Sie schickt mir der Himmel, Abbé.«
»Ego te absolvo! Komm mit!«
Der Pfarrer verließ den Beichtstuhl und Quentin folgte ihm in die Krypta der kleinen Kirche. Dort öffnete der Abbé die Tür eines Wandschranks, öffnete eine geheime Klappe an der Rückseite und wies Quentin an, in den kleinen Gang hineinzugehen, der sich dahinter befand.
Nachdem der Pfarrer die Tür wieder verschlossen hatte, tastete sich Quentin in völliger Dunkelheit weiter. Seine Hände spürten dabei sandigen rauen Fels. Nach etlichen Metern, er wusste nicht, wie weit er sich so vorgearbeitet hatte, endete der Gang an einer Holztür. Sie war verschlossen, und so setzte er sich auf den Boden vor der Tür. Würde der Abbé ihn verraten? War Quentins Familie gut mit ihm umgegangen oder hatte er einen Grund, jetzt für irgendetwas Rache zu nehmen? Er schien recht freundlich gewesen zu sein, nachdem er ihn erkannt hatte. Da er diesem Pfarrer jetzt aber ohnehin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, beschloss er, sich darüber vorläufig keine Gedanken mehr zu machen. Wenn sich die Tür öffnete, wüsste er über sein weiteres Schicksal Bescheid.
Nach sicher mehr als einer Stunde hörte er vom anderen Ende des Ganges, dass offenbar Soldaten die Kirche und die Krypta durchsuchten, aber nach wenigen Minuten wieder abzogen. Es dauerte sicher eine weitere Stunde, bis die Tür von der anderen Seite geöffnet wurde. Der Pfarrer brachte ihm eine Decke, etwas zu essen, eine Flasche Wein und einen Krug Wasser.
»Jeanette, du musst noch hier bleiben. Die Soldaten sind noch da. Heute Abend, im Schutz der Dunkelheit, bringe ich dich von hier fort. Ich muss wieder hoch, damit die Soldaten nicht misstrauisch werden. Ich habe gesagt, dass du die Kirche verlassen haben musst, als ich einmal kurz in der Sakristei war. Aber das glauben sie natürlich nicht, weil sie dich nicht haben herauskommen sehen. Ich stelle jetzt noch ein Regal vor diese Tür, falls sie das Pfarrhaus durchsuchen. Keine Angst, hier bist du sicher.«
Damit verschloss der Pfarrer die Tür wieder und Quentin hörte, dass etwas Schweres davor gerückt wurde. Er konnte sein Glück kaum fassen, streckte wohlig seine Glieder auf der Decke aus und aß etwas von dem, was der Pfarrer ihm mitgebracht hatte. Es war kühl, ja geradezu kalt in dem stockdunklen Gang, und so wickelte sich Quentin in die mitgebrachte Decke ein.
Nach einiger Zeit hörte er sowohl in der Kirche als auch im Keller des Pfarrhauses Geräusche. Offenbar suchten die Soldaten erneut alles ab. Genau in diesem Moment reizte ihn seine Nase zu niesen. Nein, nur das nicht! Es kostete ihn alle Anstrengung, das Niesen zu unterdrücken. Doch endlich kehrte wieder Ruhe ein und Quentin nutzte die Gelegenheit, etwas zu schlafen.
Er wurde durch ein Geräusch und Stimmen an der Tür geweckt. Quentin wurde plötzlich ganz heiß. Hatten die Soldaten den Pfarrer gezwungen, sein Versteck zu verraten? Doch dann erkannte er, dass es sich bei einer der Stimmen um eine Frauenstimme handelte.
Der Schrank auf der anderen Seite wurde weggerückt und die Tür geöffnet. Eine Lampe wurde in den Gang hineingehalten, und nachdem sich Quentin ein wenig an das plötzliche Licht gewöhnt hatte, erkannte er den Pfarrer und eine kleine rundliche Frau.
»Die Luft scheint fürs Erste rein zu sein«, meinte der Pfarrer. »Wir sollten aber trotzdem vorsichtig sein.«
Quentin packte seine Sachen zusammen und folgte den beiden hinauf in eine Dachstube. Dort stand bereits eine Wanne bereit, und die Frau, offenbar die Haushälterin des Pfarrers, versprach, dass in einer halben Stunde das Badewasser warm wäre.
Quentin setzte sich mit dem Pfarrer auf ein gemütliches Sofa und musste nun von seiner Familie und seinem weiteren Werdegang seit der Flucht aus Frankreich erzählen.
Irgendwann schleppte die Haushälterin mehrere Eimer mit heißem Wasser nach oben. Der Pfarrer drehte sich betont schamhaft zur Seite, als Quentin das Kleid auszog und sich in die Wanne setzte. Dann führten sie jedoch während des Bades ihre Unterhaltung weiter. Quentins Erlebnisse bei der Navy interessierten ihn weniger als die Erzählungen über die zerrissene Geschlechtsidentität, von der Quentin stockend erzählte.
»Du brauchst dich deshalb nicht zu schämen. Ich habe einen solchen Fall hier in meiner Pfarrei. Dieses Mädchen ist ebenfalls als Junge geboren, doch die Eltern zwingen sie, als Junge zu leben. Sei also froh, dass du dein Leben eher ungezwungen leben kannst und deine Umgebung und sogar die Marine dich respektieren. Suche deinen Weg. Nur du kannst wissen, wie deine Gefühle sind und wo deine Bestimmung liegt. Dabei kann dir leider niemand helfen. Ich glaube auch nicht, dass es in deinem Fall eine endgültige Entscheidung geben kann. Gott liebt alle seine Schafe so, wie sie sind, mit allen Fehlern, Schwächen und Stärken. Egal, wie du dich entscheidest, er wird bei dir sein. Frage ihn, wenn du nicht weiter weißt. Er wird dir helfen.«
Quentin räkelte sich wohlig in der Wanne. Das erste heiße Bad seit mehreren Tagen! Schließlich jedoch riss er sich von der angenehmen Wärme los und zog sich wieder an.
»Wie spät ist es, Abbé?«
Der Pfarrer zog seine Taschenuhr.
»Zehn Uhr. Weshalb?«
»Um Mitternacht erwartet mich ein Boot am Strand kurz vor Wimereux, etwa vier Meilen nördlich von hier. Das schaffe ich nicht mehr. Morgen Nacht kommt das Boot wieder. Kann ich irgendwo bis morgen Abend bleiben?«
»Wimereux, sagst du? Mein Amtsbruder dort scheint mir einigermaßen vertrauenswürdig. Wir werden noch etwa zwei Stunden warten, dann gehen wir dorthin. Ich ziehe mein Ornat an und du gehst im Messdienergewand mit mir. Sollten wir angehalten werden, so sind wir unterwegs, um einem Sterbenden das letzte Sakrament zu bringen. Das ist am unauffälligsten. Du bist seinerzeit vor deiner ersten heiligen Kommunion nach England geflüchtet. Hast du dort die Kommunion erhalten?«
»Nein, Abbé. Dort, wo wir in England leben, gibt es weit und breit keine katholische Kirche. Meine Mutter leidet sehr darunter und geht nur gelegentlich in die englische Kirche.«
»Möchtest du durch dieses Sakrament in den Schoß der Kirche aufgenommen werden?«
Quentin überlegte nur kurz. Bis jetzt hatte er nur durch seine Mutter von Christus und der christlichen Religion erfahren. Obwohl er selbst an jedem vierten Sonntag an Bord den traditionellen Gottesdienst abhielt, so geschah das doch eher mit wenig Vorbereitung, und die Bibeltexte, die er dabei vortrug, hatte ihm Markham, der alte Sailingmaster, immer herausgesucht. Bei der Marine konnte ihn jederzeit eine Kugel treffen. Das Sakrament und die offizielle Aufnahme in die katholische Kirche konnten zumindest nicht schaden.
So kam es, dass der Pfarrer in der Kirche Hostien holte, in der Dachkammer eine kurze Andacht hielt und Quentin die Hostie reichte. Kurz darauf zog er das Messgewand an, und Quentin streifte das Gewand eines Messdieners über sein Kleid.
Sie verließen das Haus. Quentin trug eine Laterne und der Pfarrer ein Kreuz. So gingen sie durch menschenleere Gassen aus Boulogne hinaus. Am Ortsrand war eine Straßensperre. Quentin fühlte seinen Puls schneller schlagen, als der Pfarrer unbeirrt mit ruhigem Schritt auf die Soldaten zuging. Doch die Wachtposten bekreuzigten sich nur beim Anblick der beiden und hielten sie nicht auf. Zwar war das neue Regime unter Bonaparte deutlich antichristlich eingestellt, doch in der Bevölkerung war eine starke Religiosität noch tief verwurzelt.
Spät in der Nacht kamen sie in Wimereux an und klopften an die Tür des dortigen Pfarrhauses. Unwirsch über die nächtliche Störung, öffnete der Pfarrer nach mehrmaligem Klopfen, wurde aber sofort freundlicher, als er den Abbé erkannte, und ließ die beiden herein.
»Lieber Amtsbruder, Sie mögen unseren Besuch als Überfall betrachten, und so etwas Ähnliches ist es ja auch. Dieser Messdiener hier bei mir ist tatsächlich ein Mädchen, und sie muss sich vor den Soldaten verstecken, weil sie dem General nicht zu Willen war. Darüber ist er so erbost, dass er sie aller möglichen Vergehen bezichtigt und sie suchen lässt. In der übernächsten Nacht kann sie weiter nach Calais. Doch bis dahin bitte ich Sie, sie bei sich unauffällig unterzubringen.«
Bei dem Wort übernächsten hatte er Quentin mit einem kurzen warnenden Blick gestreift. Wenn der Pfarrer seinen Kollegen wissentlich belog, so zeigte dies, dass er ihm nicht vollständig vertraute. Quentin verstand die Warnung.
Nach einer kleinen Stärkung machte sich Abbé Boniface wieder auf den Heimweg nach Boulogne, und die Haushälterin des hiesigen Pfarrers bereitete ihm ein Bett in einem kleinen Gartenhaus der Pfarrei. Der Morgen dämmerte schon, als er sich dort auf eine Strohmatratze ausstreckte und sofort einschlief.
Am späten Vormittag brachte ihm der Pfarrer persönlich ein Frühstück, setzte sich auf einen Stuhl und blieb, während Quentin sich im Bett aufrichtete, etwas aß und dazu warme Milch trank.
»Warum wirst du gesucht?«
Das plumpe Du erschreckte Quentin und ließ ihn vorsichtig werden.
»Bitte haben Sie Verständnis dafür, Hochwürden, dass ich darüber nicht reden möchte. Die Erlebnisse waren zu unangenehm.«
»Du verlangst viel von mir. Ich weiß nicht, was du angestellt hast. Ich soll dir blind vertrauen, ohne zu wissen, ob ich mich eventuell strafbar mache. Was war los?«
Quentin blickte ihn nur stumm an und schüttelte den Kopf.
»Bitte, Abbé. Es ist für uns beide besser, wenn ich schweige. Ihr Kollege aus Boulogne weiß genau Bescheid. Er vertraut mir, und ich bitte Sie, das auch zu tun.«
Statt einer Antwort stand der Pfarrer von dem Stuhl auf und setzte sich auf Quentins Bettrand. Unvermittelt begann er, Quentins Arme zu streicheln.
»Bitte, Monsieur, tun Sie das nicht.«
Quentin nahm die Hand und schob sie weg. Der Pfarrer ließ sich jedoch nicht beirren und begann aufs Neue.
»Monsieur, nehmen Sie sofort Ihre Hand da weg!«
Nun griff der Pfarrer unter die Decke und versuchte die Stelle zu erreichen, an der er Quentins Busen vermutete.
»Du könntest ruhig etwas freundlicher zu mir sein und dich dankbar erweisen«, meinte er mit einem unverschämten Grinsen.
Quentin nahm die Tasse, die noch halb voll mit Milch war, und schüttete sie ihm ins Gesicht. Abrupt stand der Pfarrer auf und schaute ihn mit böse funkelnden Augen an.
»Das wird dir noch leid tun!«
Der Pfarrer machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Gartenhaus. Hastig schlang Quentin das restliche Frühstück hinunter und packte rasch seine Sachen zusammen. Das Gartenhaus hatte auf der dem Pfarrhaus abgewandten Seite ein Fenster. Quentin öffnete es und stieg hinaus. Nach wenigen Yards erreichte er die niedrige Gartenmauer und kletterte hinüber. Dort führte ein Weg entlang, der an der Rückseite der Kirche zu einem kleinen Fluss führte.
In der Hitze des Vormittags lag der Uferweg zur Küste hin verlassen, und mit ausgreifenden Schritten verließ er den kleinen Ort. Am Strand stapfte er etwa zweihundert Yards durch den Sand in nördlicher Richtung. Dann ging er zum Wasser und ging so weit hinein, bis es ihm fast zu dem Knien reichte. Dort kehrte er um und ging in südlicher Richtung.
Nach etwa einer Meile mündete ein kleiner Bach ins Meer. Er folgte dem Bachlauf weg vom Strand. Nach weiteren etwa dreihundert Yards begann seitlich dichtes Ginstergestrüpp. Sollten Polizei oder Soldaten ihm mit Hunden folgen, so sollten sie am Meer schon seine Spur verloren haben. Dennoch brach er von einigen Bachpflanzen ein paar riesige Blätter ab und wickelte sie um seine Füße, ehe er den Bachlauf verließ und sich seitlich durch das Gestrüpp vorarbeitete.
Nach etwa weiteren zweihundert Yards erreichte er eine kleine Anhöhe. Auf der anderen Seite erkannte er die Bucht, in der er in der vorletzten Nacht gelandet war. Quentin kauerte sich nieder und tarnte sich mit der grünen Decke. Die Bucht lag völlig verlassen da, und Quentin konnte nirgendwo Wachtposten entdecken.
Nach etwa einer Stunde verließ ein Trupp uniformierter Reiter Wimereux und ritt in Richtung Calais. Ein zweiter Trupp folgte mit zwei Hunden zu Fuß am Meer entlang.
Ob der Pfarrer sie benachrichtigt hatte? Auch im Ort schienen Soldaten zu sein. Quentin war sich nun sicher, dass sie ihn suchten. Die Reiter schwärmten jetzt aus und bildeten eine breite Suchfront. Weitere Reiter kam aus dem Ort und ritten auf der Straße in Richtung Boulogne. Gut, dass er seinem Instinkt gefolgt war und das Pfarrhaus verlassen hatte!
Den ganzen Nachmittag und Abend verbrachte er inmitten der Büsche unter seiner Decke und schaute immer nur gelegentlich mal darunter hervor. Doch der Ort und die ganze Gegend schienen wieder wie ausgestorben.
Am Abend begannen ein paar Bauern auf ihren kleinen Äckern zu arbeiten, und das ganze Bild sah so friedlich aus, als sei der Krieg weit entfernt. Unvorstellbar, dass ein paar Meilen von dieser Idylle entfernt eine riesige Armee darauf wartete, England zu erobern.
Draußen auf dem Meer sah Quentin immer wieder ein paar Segel. Dort kreuzte sicher Nelsons Geschwader und bereitete den Angriff auf Boulogne vor.
Nun senkte sich langsam die Nacht über die Küste herab, und Quentin konnte schon die ersten Sterne sehen. Breit leuchtete ein Halbmond über dem Horizont. Quentin wusste, dass der Monduntergang eine Viertelstunde nach Mitternacht sein würde. Um Mitternacht würde er jedoch schon so tief stehen, dass sein Licht nicht mehr viel bewirken würde. Da Quentin keine Uhr hatte, würde der Erdtrabant ihm sagen, wann er in der Bucht sein müsse.
Kurz vor Mitternacht verließ er seinen Platz und ging durch die Büsche hinunter in die Bucht. Der kleine Strand schien völlig verlassen, doch Quentin blieb in Deckung der Büsche und schaute angestrengt auf das Wasser hinaus. Mehr als einmal schien er eine Bewegung oder einen Schatten dort zu erkennen, doch immer trog ihn die Einbildung. Der Mond war jetzt untergegangen, nur das Sternenlicht beleuchtete die Bucht. Jetzt hörte er eindeutig das Knirschen eines Bootskiels im Sand. Er lief die etwa zweihundert Yards aus seiner Deckung zum Wasser.
»›Revolution‹!«, rief er halblaut.
»Gut, dass Sie da sind, Sir. Wir hatten uns schon solche Sorgen gemacht«, tönte es aus dem Dunkel in vertrautem Englisch.
Die Stimme zeigte Quentin, wo das Boot gelandet war. Ein paar Schritte durchs Wasser, und er zog sich über das Dollbord der Jolle. Aufatmend ließ er sich auf die Ducht fallen. Die Jolle drehte ab und nahm Kurs auf die dunkle See hinaus.
»Mr. Collins hatte befohlen, dass wir aus Sicherheitsgründen erst nach Monduntergang anlanden sollten, Sir«, sagte Sarson, der Bootssteuerer. »Ich hoffe, das hat Sie nicht in Gefahr gebracht.«
»Nein, Mr. Sarson. Aber seit gestern Nachmittag wurde ich verfolgt. Ich habe mal wieder riesiges Glück gehabt.«
Quentin konnte in der Dunkelheit das Gesicht seines Bootssteuerers und Stewards nicht erkennen, doch der dachte sich seinen Teil. Was bei anderen Offizieren einfach Glück war, war bei seinem Kommandanten Können. Ohne zu wissen, was sich in Boulogne ereignet hatte, war Sarson sich sicher, dass Quentin nicht durch Glück, sondern wegen seiner Erfahrung und seiner Listen überlebt hatte.
Nach einer Viertelstunde Pullen wuchs das Rigg der Korvette aus der Dunkelheit. Obwohl die »Revolution« das kleinste voll getakelte Schiff der Navy war, erschien sie ihm aus der flachen Jolle riesengroß.
Das Zwitschern der Bootsmannspfeifen empfing ihn zu dem traditionellen Ritual des Anbordkommens. Dass es stockfinstere Nacht war und der Commander statt seiner prächtigen Uniform mit einer Schulterepaulette ein Sommerkleid trug, hatte die Mannschaft nicht davon abgehalten, vollzählig an Deck zu erscheinen. Zum einen war es natürlich Neugier, den Kommandanten so zu sehen, aber die meisten hatten ihn ja schon einmal so erlebt. Auf allen Gesichtern und vor allem in dem Mienen von Collins, dem Ersten Leutnant, William Tascoe, dem Zweiten, und Mr. Markham, dem alten Master, sah Quentin deutliche Zeichen der Erleichterung, dass er wieder zurück war.
»Wir hatten uns schon solche Sorgen gemacht, als Sie letzte Nacht nicht kamen. Die Mannschaft wollte schon Boulogne stürmen, um Sie herauszuholen, Sir«, lachte Markham.
»Dann hätten Sie nur eine Armee von etwa fünfzig- oder sechzigtausend Mann niederkämpfen müssen. Aber wie ich diese Männer kenne, hätte selbst ein ganzes Heer sie nicht davon abgehalten. Ich danke Ihnen, danke Ihnen allen.«
Den letzten Satz hatte er so laut gesprochen, dass alle an Deck ihn hören konnten. Soeben wurde die Jolle eingeschwungen und auf die Barkasse an Deck abgefiert, sodass die beiden Boote der Korvette ineinanderpassten.
»So, Mr. Markham, bringen Sie die ›Revolution‹ an den Wind, damit wir morgen früh bei Nelson sind. Ich muss meinen Bericht noch schreiben. Und fragen Sie Mr. Sarson, wenn er mit der Jolle fertig ist, ob noch etwas Essbares an Bord ist.«
Er verließ das Deck und begab sich in seine Kajüte. Dort fertigte er als Erstes mehrere Pläne des Hafens von Boulogne an, zeichnete die Armada von Landungsbooten ein und fertigte auch eine Zeichnung eines dieser Landungsboote an. Dann begann er seinen Bericht:
Mylord, ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen …
Er schrieb alles hinein, was er in Erfahrung gebracht hatte, wer kommandierte, wo Truppen waren und welche Bewaffnung er gesehen hatte. An den letzten Sätzen tat er sich ungeheuer schwer, und er schrieb sie auf ein anderes Blatt mehrfach ins Unreine, verwarf sie wieder und formulierte sie neu. Denn in diesen letzten Sätzen brachte er seine Überzeugung zum Ausdruck, dass ein Angriff auf den Hafen wegen der beiden Batterien, des engen Fahrwassers der Einfahrt und der großen Mengen Soldaten mit 6-Pfünder-Kanonen auf Landlafetten ein ungeheures Risiko darstelle und man mit hohen Menschenverlusten, möglicherweise sogar mit der Aufgabe mehrerer Schiffe rechnen müsse. Er riet von einem solchen Unternehmen ab und empfahl, den Hafen mit Linienschiffen und Fregatten weiter zu blockieren und die tatsächliche Invasion abzuwarten. Auf See hätte eine kleine Flotte keine Probleme, Hunderte der Landungsboote zu versenken.
Nachdem er sich über seine Formulierung im Klaren war, begann dann der letzte Teil mit den vorsichtigen Worten:
Ich stelle untertänigst anheim, meine eigene strategische Einschätzung äußern zu dürfen …
Endlich hatte er ein Exemplar des Berichts fertig gestellt, und nachdem Sarson ihm kalten Schweinebraten gebracht hatte, fertigte er die übliche Kopie an. Dann legte er sich endlich in seine Schwingkoje, um noch ein paar wenige Stunden Schlaf zu finden.
»Soso, Mr. Quentin. Sie raten also von einem Angriff ab.«
Nelson schaute ihn mit dem verbliebenen Auge durchdringend an. In der großen Kajüte des Admirals herrschte atemlose Stille. Nervös scharrten einige der anwesenden Kapitäne der kleinen Blockadeflotte mit den Füßen. Quentin nahm den Plan der Bucht, den er gezeichnet hatte, und hielt ihn hoch, damit nicht nur der Admiral, sondern auch die anderen Kapitäne ihn sehen konnten.
»Jawohl, Mylord. Das Fahrwasser der Einfahrt scheint mir hier so eng, dass nur jeweils ein Schiff hindurchpasst. Dahinter ist kaum Platz, weil die gesamte Bucht vor dem Hafen voller Landungsboote ist. Da passen maximal zwei Linienschiffe oder drei Fregatten hinein und das auch nur bei Flut. Die müssten dort ankern und anschließend wieder mit Booten hinausgeschleppt werden, und zwar unter dem Feuer einer leichten und einer mittelschweren Landbatterie. Die ganze Gegend ist voller Militär. Entlang des ganzen Küstenstreifens von Boulogne und auf den Köpfen der Molen haben die Soldaten ihre Feldgeschütze in Stellung gebracht. Die Schiffe hätten es somit mit etwa zwanzig schweren und hundert bis hundertfünfzig leichten Geschützen zu tun. Auf Fehlschüsse dürfen wir nicht hoffen, da die Entfernungen maximal fünfhundert Yards betragen. Selbst wenn zwei Linienschiffe hineinkommen, ein Herauskommen durch Bootsschlepp unter solchem Feuer dürfte unmöglich sein. Eine Landaktion zur Ausschaltung der Kanonen verbietet sich, da wir es mit mindestens sechzigtausend Soldaten zu tun haben. Eine Branderaktion dürfte ebenfalls wenig Sinn haben, da durch ein brennendes Schiff vielleicht zehn oder zwanzig der Landungsboote zerstört würden, der Rest aber unversehrt bliebe. Ich schätze die Gesamtzahl der Boote auf fünfhundert, wovon die Hälfte an Land liegt. Wenn die Flotte weiter draußen, knapp außerhalb der Reichweite der beiden Batterien mit schweren Kanonen, bliebe und von dort mit größter Rohrerhöhung feuert, könnte man vielleicht eine Menge der Landungsboote in der äußeren Bucht zerstören. Das wären zwar Zufallstreffer, aber sinnvoll, weil die gesamte Bucht voller Boote liegt und man sicher etliche treffen wird. Eine Sicht dorthin hätte man aus den Masttopps, weil von dort oben hinter den Molen die Bucht von See her gut einsehbar ist. Eine Feuerlenkung durch Signale eines gelandeten Trupps auf den Molen verbietet sich wegen der vielen Soldaten. Tut mir leid, Mylord. Abwarten oder Fernbeschuss wäre wirklich die bessere Lösung. Eine Angriff auf Boulogne ist selbstmörderisch.«
»Hm«, sagte der Admiral nur und schaute nachdenklich auf die Karte in Quentins Händen.
»Sicher sieht unser junger Freund die Sache etwas zu pessimistisch«, ließ sich einer der älteren Kapitäne vernehmen. Er war Quentin als Kommandant der »Bellerophon« vorgestellt worden. »Wir haben immerhin den Vorteil, dass sich die Franzosen auf ihren strategischen Vorteil verlassen und nicht mit einem Angriff rechnen. Wenn wir vier Schiffe hineinbringen, von denen die beiden ersten einfach mitten in die Landungsboote hineinsegeln und sie durch Rammen versenken, könnten sie beim Hineinsegeln auf die Zeltlager der Soldaten feuern. Die beiden anderen folgen in deren Kielwasser, und schließlich liegen alle vier in der Bucht. Mit konzentriertem Feuer von vier Linienschiffen gegen Landkanonen müsste doch, verdammt noch mal, den Franzmännern beizukommen sein. Vielleicht schafft die Vorhut so viel Platz, dass noch weitere Schiffe hineinpassen.«
Quentin wollte darauf antworten, besann sich aber, nichts zu sagen. Das Rammen von Landungsbooten hätte ein schnelles Ende. Es würden ein paar zusammengeschoben werden, aber schnell die Fahrt eines Vierundsiebzigers stoppen. Selbst wenn vier Schiffe in der Bucht wären, so hätten sie nur einen schmalen Feuerbereich, um sich nicht gegenseitig zu treffen. Wie wenig Schiffsgeschütze gegen befestigte Landbatterien ausrichten können, hatte er bei der damaligen Aktion in Ferrol erlebt. Selbst stundenlanger Beschuss mit schweren 32-Pfündern hatte den Festungsmauern dort nichts anhaben können.
Sofort redeten die meisten anderen Kapitäne auf den Admiral ein, den Angriff auf jeden Fall zu versuchen.
Quentin hielt sich aus den Diskussionen heraus. Er hatte sich in seiner Meinung festgelegt und dies sogar schriftlich bekundet.
Nach einiger Zeit des Nachdenkens und der Diskussionen bat Nelson mit einem Handzeichen um Ruhe.
»Meine Herren! In den vergangenen beiden Jahren hat Commander Quentin die strategische Situation mehrfach richtiger eingeschätzt als ich selbst. Aber ich habe der Admiralität versprochen, etwas gegen die Invasionsgefahr zu unternehmen. Morgen früh werden wir einen Angriff auf Boulogne und die Bucht davor unternehmen. Im ersten Tageslicht werden die ›Bellerophon‹ und die ›Sparta‹ als Vorhut in den Vorhafen einlaufen, gefolgt von der ›Agamemnon‹ und der ›Elephant‹. Die anderen halten sich bereit, diesen Schiffen eventuell zur Hilfe zu kommen. Denken Sie daran, unser Ziel sind nicht die beiden Batterien, sondern die Landungsboote und die Armee. Also werden die Kanonen mit Bullets gegen die Landungsboote geladen, die kleineren Kanonen mit gehacktem Blei gegen die Armee! Mein Schreiber wird Ihnen Kopien des Hafenplans machen. Darin werden wir auch noch die uns bekannten Wassertiefen einzeichnen. Mr. Quentin, ich sähe es gerne, wenn Sie während des Angriffs bei mir an Bord wären.«
»Aye, aye, Mylord.«
Eine andere Antwort gab es nicht. Es würde eine gefährliche Angelegenheit werden, aber ablehnen konnte er nicht, ohne sich der Feigheit vor dem Feind schuldig zu machen. Die Formulierung ich sähe es gerne umschrieb nur einen klaren Befehl.
Nachdem noch einige technische Fragen besprochen worden waren, ging Quentin zurück an Bord der »Revolution«. Die sollte gemäß Nelsons Befehl ohne ihn den englischen Kanal nach Süden hin sichern und sich aus allen Kampfhandlungen heraushalten. Wortlos betrat er das Deck und ging sofort in seine Kajüte.
Den Nachmittag verbrachte er damit, Briefe zu schreiben und sein Testament zu machen. Am frühen Abend lud er Markham und die beiden Offiziere in seine Kajüte, erzählte in kurzen Worten von seinem Aufenthalt in Boulogne, dem geplanten Angriff und der Aufgabe der Korvette. Er übergab formal das Kommando an Collins.
»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sir, das ist unfair Ihnen gegenüber«, protestierte Markham. »Sie haben schon genug Gefahr bestanden.«
»Das mag sein, Mr. Markham. Doch wir sind nicht auf einer Vergnügungsfahrt, sondern im Krieg, und dort drüben warten zwei Armeen darauf, Whitehall zu besetzen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass uns in Boulogne ein heißer Empfang beschert wird und wir eine Menge Verluste haben werden, wenn nicht gar unserer angreifenden Flotte eine vernichtende Niederlage beigebracht wird. Aber Nelson ist überzeugt, dass der Angriff Boney davon abhalten wird, in London spazieren zu gehen.«
Dann verabschiedete er sich von seinen Leuten. Jede Fröhlichkeit war aus den Gesichtern der Männer verschwunden, und geradezu traurig drückten sie ihm die Hand.
»Möge Gott mit Ihnen sein, Sir«, sagte Tascoe und drückte damit die Gefühle der Mannschaft aus.
»Danke, William. Seinen Schutz kann ich morgen früh mehr denn je gebrauchen.«
Dann ließ er sich zur »Elephant« hinüberrudern und beobachtete von dort, wie die Korvette nach dem Einsetzen der Gig Segel setzte und zu ihrer südlichen Position strebte.
Ein Leutnant des Flaggschiffs hatte seine Kammer für ihn räumen müssen, und so legte sich Quentin für ein paar Stunden hin. Dennoch konnte er nicht einschlafen. Der bevorstehende Kampf ließ ihn sich unruhig auf seinem Lager hin und her werfen. Ja, gestand er sich ein, er hatte Angst, richtige Angst. Immer wieder musste er sich vorstellen, dass ihm ein Bein amputiert würde oder ihn eine ähnlich schwere Verletzung erwartete.
Irgendwann musste er doch eingeschlafen sein, denn die Trommeln, die durchs Schiff hallten und Gefechtsbereitschaft befahlen, weckten ihn aus einem unruhigen Schlaf.
Er stand auf und ging an Deck. Eine laue Sommernacht mit wenig Südwind erwartete ihn. Wenigstens aus Süd, dachte er bei sich. So konnten die Schiffe hoch am Wind in den Hafen und mit raumem Wind alleine wieder ohne Bootsschlepp hinaus.
Im Osten zeigte sich ein grauer Streifen am Horizont, und Quentin erkannte die französische Küste etwa zwei Meilen voraus. Noch näherte sich die englische Flotte aus dem dunklen Westen, doch bald würden die französischen Wachtposten die Schiffe erkennen und Alarm geben.
Der Steward des Admirals brachte ihm etwas kalten Braten, Brot und einen Krug Bier. Das Bier ließ er ihn wieder mitnehmen, ihn schüttelte es bei der Vorstellung, jetzt Bier zu trinken. Im Stehen aß er das Schweinefleisch. Lieber wäre ihm jetzt eine Tasse Kaffee oder Tee gewesen, doch wegen der Gefechtsbereitschaft war natürlich das Kombüsenfeuer gelöscht worden.
Er schaute über das Deck des Vierundsiebzigers und sah die Mannschaft damit beschäftigt, das Schiff gefechtsbereit zu machen. Die Netze über dem Deck waren bereits gespannt, welche die Männer an den Kanonen des Oberdecks gegen herabfallende Trümmerteile aus dem Rigg schützen sollten. In der Takelage waren die Toppsgasten damit beschäftigt, die Rahen mit zusätzlichen Kettenstropps zu sichern. Das Deck wurde bei den Kanonen mit Sand bestreut, um den Geschützbedienungen mit ihren nackten Füßen einen besseren Halt zu geben.
Vom Land her hallte jetzt der Schuss einer Muskete herüber. Offenbar hatte der Wachtposten die Schiffe entdeckt und warnte die Franzosen. Jetzt konnte Quentin auch die übrigen Schiffe erkennen. Die »Bellerophon« stand nicht auf der verabredeten Position vor der Hafeneinfahrt, sondern viel zu weit südlich, die drei anderen Schiffe liefen jedoch in Kiellinie schon auf die Einfahrt zu. Zwar setzte die »Bellerophon« jetzt mehr Segel, ihre Position als Spitzenschiff würde sie jedoch nicht mehr erreichen.
»Der verdammte Kerl vermasselt noch alles«, hörte er jetzt eine laute Stimme auf dem Achterdeck. Nelson war an Deck gekommen.
Quentin gesellte sich zu ihm.
»Guten Morgen, Mylord.«
»Guten Morgen, Mr. Quentin.«
Mit grimmigem Gesicht hielt Nelson ein Fernglas vor das intakte Auge.
Quentin schaute zu dem anderen Schiff hinüber. Die »Bellerophon« hielt im rechten Winkel auf die Kiellinie der anderen zu. Der Kapitän erkannte wohl, dass ihn sein Kurs an das Ende, statt an die Spitze der Linie bringen würde, und änderte jetzt seinen Kurs zum Land hin, um die Strecke abzukürzen. Er hatte noch etwa fünfhundert Yards bis zur Einfahrt an der kleinen, befestigten Felseninsel. Die beiden vorderen Schiffe geiten jetzt ihre Großsegel auf, damit sie durch das eigene Kanonenfeuer nicht in Brand gerieten, und verlangsamten so ihre Fahrt. Auf dem jetzigen Kurs könnte es der »Bellerophon« gelingen, ganz knapp vor der »Sparta« die Hafeneinfahrt zu erreichen.
»Mein Gott, dieser Idiot«, hörte er Nelsons Stimme.
Ein Aufschrei ging über das Achterdeck. Die »Bellerophon« war in ihrem Bestreben, dicht unter Land zu laufen und doch noch ihre Position zu erreichen, auf Grund geraten. Mit abenteuerlicher Krängung lag sie auf einer Sandbank. Nur der geringen Fahrt bei dem wenigen Wind hatte sie zu verdanken, dass dabei nicht alle Masten über Bord gegangen waren.
Nelson ließ einem der wartenden Schiffe signalisieren, dem Havaristen zur Hilfe zu eilen und ihn freizuschleppen. Nun drehte die »Sparta« kurz vor der winzigen Insel, und die konzentrierte Feuerkraft ihrer Backbordbreitseite richtete sich gegen die kleine befestigte Geschützstellung zwischen den beiden Molenköpfen. Man sah eine Menge Steine hochfliegen, aber der Angriff hatte etwas anderem gegolten.
»So, die Ketten werden uns nicht mehr stoppen«, brummte Nelson.
Die »Sparta« fiel wieder etwas ab und jetzt, da die Halterungen der Sperrketten beseitigt waren, passierte sie die Einfahrt.
Quentin konnte dahinter den Vorhafen mit den Landungsbooten erkennen. Von der kleinen Batterie auf der Insel kam keine Antwort auf den Beschuss. Die Besatzung duckte sich offenbar hinter der niedrigen Mauer, weil sie sah, dass sie gegen die Breitseiten mehrerer Linienschiffe ohnehin keinerlei Chance hatte.
In diesem Moment knickte die Fockbramstenge der »Sparta« herunter, und kurz darauf hörte Quentin den ersten Donner eines französischen Geschützes. Das klang nach einer der schweren Kanonen. Es musste den Franzosen eine gewaltige Befriedigung geben, gleich mit dem ersten Schuss einen Treffer erzielt zu haben.
Nun begann die »Sparta« zu feuern und auch die »Agamemnon« rannte ihre Kanonen aus, als sie die Einfahrt passierte. Die »Sparta« erreichte die ersten Landungsboote und kam dort mit Krachen und Knirschen zum Stillstand. Wie Quentin erwartet hatte, hatte sie nur ein paar Boote zusammengedrückt.
Jetzt erwies sich das Fehlen der »Bellerophon« eher als Vorteil, denn in dem durch die Molen gebildeten Vorhafen hatten wirklich nur drei Schiffe Platz. Lautes Rumpeln der Lafetten verkündete Quentin, dass nun auch die »Elephant« ihre Kanonen ausrannte. Es war seltsam, als Zuschauer dem Geschehen beizuwohnen. Seine Aufgabe war nur, als Ratgeber für Nelson zur Verfügung zu stehen, falls seine Ortskenntnis gebraucht würde.
Jetzt begann auch die »Agamemnon« zu feuern und fuhr ebenfalls in die dicht liegenden Landungsboote hinein. Quentin sah, dass die Kanonen nach unten gerichtet waren. Ihre Schüsse trafen zwangsläufig, doch es war nicht zu erkennen, dass allzu viele Boote sanken.
Auch die »Elephant« eröffnete das Feuer. Kurz hinter der Einfahrt drehte sie in den Wind und warf Anker. Die Luft erzitterte nun von dem Donner der Schiffsgeschütze und der beiden Landbatterien. Und rund um die Hafeneinfahrt herum feuerten offenbar alle Feldgeschütze auf die Eindringlinge.
Beißender Qualm zog über das Deck und dann über das Wasser neben dem Schiff und verhinderte einen klaren Blick auf die Bucht. Langsam senkte sich der Fockmast der »Agamemnon« nach vorn und ging mit allem Gut über Bord. In den Segeln der »Sparta« sah Quentin nun schon etliche Löcher. Jetzt erzitterte auch der Rumpf der »Elephant« mehrfach. Offenbar hatten die französischen Kanoniere ihr Ziel gewechselt und nahmen dieses Schiff wegen des Admiralsstanders als Hauptziel.
Die Treffer im Rumpf zeigten Quentin die französische Taktik. Sollte es ihnen gelingen, die »Elephant« zu versenken, so würde sie hier an ihrem Ankerplatz den beiden anderen englischen Schiffen die Ausfahrt blockieren. Nun hämmerten pausenlos die Geschosse in den Rumpf des Flaggschiffs.
Quentin schaute zum südlichen Ufer des Vorhafens und wies Nelson sofort darauf hin, was sich dort ereignete. Etliche von Pferden gezogene Kanonen wurden dort zusätzlich in Stellung gebracht. In Kürze musste man auch von dort mit noch mehr Beschuss rechnen. Statt einer Antwort schaute Nelson jedoch nur grimmig dorthin.
Ein Rundumblick zeigte Quentin, dass der eigene Beschuss nur sehr wenig bewirkte. Der Vorhafen war immer noch mit Landungsbooten vollständig gefüllt. Sicher waren einige versenkt, doch die Zahl schien Quentin fast unverändert. Hinter Boulogne sah Quentin nun einen Lichtblitz und dachte schon, dass die im Hafen liegenden Kriegsschiffe mit ihren Geschützen eingegriffen hätten. Doch es waren nur die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, die ihm ins Auge gefallen waren.