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John Reed: Zehn Tage, die die Welt erschütterten - Reportage aus der Mitte der russischen Oktoberrevolution | Neu editierte 2021er-Ausgabe, in aktualisierter Rechtschreibung, mit Vorworten und einem ausführlichen Begleitwort zum Autor | Der journalistisch brillanteste Zeitzeugenbericht über die Russische Revolution stammt von einem Amerikaner: John Reed (1887-1920) war ein linksgerichteter Journalist aus Portland, der bereits über die Revolution in Mexiko berichtet hatte und im Ersten Weltkrieg als Kriegsberichterstatter für diverse Medien tätig war. Er spürt, dass sich im Jahr 1917 in Russland eine große Machtverschiebung anbahnt, reist nach St. Petersburg und wird die Revolution gegen das ausbeuterische zaristische System so hautnah miterleben, wie kein anderer Berichterstatter. Er interviewt die Mächtigen, spricht mit dem Volk, den Arbeitern, Matrosen, Marktleuten. Mit einem außerordentlichen Gefühl für die Psyche der Handelnden seziert er diese Zeit des Aufbruchs, die in der Luft schwebenden Visionen, den Enthusiasmus, die Atmosphäre des Umsturzes. | Die New York Times wählte »Ten Days that shook the World« auf Platz sieben der hundert bedeutendsten journalistischen Werke aller Zeiten.
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Seitenzahl: 466
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Vorbemerkung des Herausgebers
Zehn Tage, die die Welt erschütterten
Vorwort zur amerikanischen Ausgabe
Vorwort zur russischen Ausgabe
Vorwort des Autors
Einführende Bemerkungen und Erklärungen
Hintergrund
Der heraufziehende Sturm
Am Vorabend
Der Sturz der provisorischen Regierung
Im Sturmschritt voran
Das Komittee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution
Die revolutionäre Front
Die Konterrevolution
Sieg
Moskau
Festigung der Macht
Der Bauernkongress
Über den Autor
DER JOURNALISTISCH BRILLANTESTE ZEITZEUGENBERICHT über die Russische Revolution stammt von einem Amerikaner: John Reed (1887–1920) war ein linksgerichteter Journalist aus Portland, der bereits über die Revolution in Mexiko berichtet hatte und im Ersten Weltkrieg als Kriegsberichterstatter für diverse Medien tätig war. Er spürt, dass sich im Jahr 1917 in Russland eine große Machtverschiebung anbahnt, reist nach St. Petersburg (damals Petrograd) und wird die Revolution gegen das ausbeuterische zaristische System so hautnah miterleben, wie kein anderer Berichterstatter. Er interviewt die Mächtigen, spricht mit dem Volk, den Arbeitern, Matrosen, Marktleuten. Mit einem außerordentlichen Gefühl für die Psyche der Handelnden seziert er diese Zeit des Aufbruchs, die in der Luft schwebenden Visionen, den Enthusiasmus, die Atmosphäre des Umsturzes – wie sie einem Menschen selten mehr als einmal im Leben begegnen.
»Die besitzenden Klassen wollten eine ausschließlich politische Revolution, die dem Zaren die Macht nähme und sie ihnen gäbe. Sie wollten aus Russland eine Republik wie Frankreich oder den USA machen. Die Massen des Volkes dagegen wollten die wirkliche Revolution in Industrie und Landwirtschaft«, schreibt Reed später.
Die New York Times wählte ›Ten Days that shook the World‹ im Jahr 1999 auf Platz sieben der hundert bedeutendsten journalistischen Werke aller Zeiten. © Redaktion Kallisto-Books, 2021
Lesen Sie mehr über den Autor im Anhang
MIT GRÖßTEM INTERESSE und nicht erlahmender Aufmerksamkeit las ich John Reeds Buch ›Zehn Tage, die die Welt erschütterten‹, und ich möchte es den Arbeitern in aller Welt von ganzem Herzen empfehlen. Dies ist ein Buch, das ich in Millionen von Exemplaren verbreitet und in alle Sprachen übersetzt wissen möchte. Es gibt eine wahrheitsgetreue und äußerst lebendige Darstellung der Ereignisse, die für das Verständnis der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats von größter Bedeutung sind. Diese Probleme werden gegenwärtig weit und breit diskutiert, aber bevor man diese Ideen annimmt oder verwirft, muss man die ganze Bedeutung einer solchen Entscheidung begriffen haben. Ohne Zweifel wird John Reeds’ Buch zur Klärung dieser Frage beitragen, die das Grundproblem der internationalen Arbeiterbewegung ist.
Geschrieben 1919.
N. Lenin [Wladimir Iljitsch Lenin]
›ZEHN TAGE, DIE DIE WELT ERSCHÜTTERTEN‹ hat John Reed sein ausgezeichnetes Buch benannt. Hier sind die ersten Tage der Oktoberrevolution ungewöhnlich eindrucksvoll und stark beschrieben. Es ist keine einfache Aufzählung von Tatsachen, keine Sammlung von Dokumenten, es ist eine Reihe lebendiger, derart typischer Szenen, dass jedem Teilnehmer der Revolution die analogen Szenen, deren Zeuge er war, in Erinnerung kommen müssen. All diese aus dem Leben gegriffenen Bilder können die Stimmung der Massen gar nicht besser wiedergeben – eine Stimmung, auf deren Hintergrund jeder Akt der großen Revolution besonders klar verständlich wird.
Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, wie ein Ausländer, ein Amerikaner, der die Sprache und den Alltag des Volkes nicht kannte, dieses Buch schreiben konnte. Ausländer schreiben über Sowjetrussland anders. Sie verstehen die sich vollziehenden Ereignisse entweder überhaupt nicht oder greifen einzelne Tatsachen heraus, die nicht immer typisch sind, und verallgemeinern diese.
Es hat freilich sehr wenige Augenzeugen der Revolution gegeben.
John Reed war kein gleichgültiger Beobachter, er war ein leidenschaftlicher Revolutionär, ein Kommunist, der den Sinn der Ereignisse, den Sinn des großen Kampfes erfasst hat.
Dieses Verstehen gab ihm jenen scharfen Blick, ohne den er ein solches Buch niemals hätte schreiben können. Die Russen schreiben auch anders über die Oktoberrevolution: sie geben entweder eine Einschätzung der Revolution oder schildern jene Episoden, die sie selbst miterlebt haben. Das Buch John Reeds vermittelt das allgemeine Bild einer echten Volksrevolution, und daher wird es eine besonders große Bedeutung für die Jugend haben, für die künftigen Generationen, für diejenigen, für die die Oktoberrevolution bereits Geschichte sein wird. Das Buch John Reeds ist ein Epos eigener Art. John Reed hat sich mit der russischen Revolution ganz verbunden. Sowjetrussland wurde ihm vertraut und nahe. Er starb hier am Typhus und wurde unter der Roten Mauer bestattet. Derjenige, der die Bestattung der Opfer der Revolution so geschildert hat wie John Reed, ist dieser Ehre würdig.
N. Krupskaja
DIESES BUCH ist ein Stück geballte Geschichte – Geschichte wie ich sie selbst erlebt habe. Es will nichts anderes sein als ein eingehender Tatsachenbericht der Novemberrevolution, in der die Bolschewiki an der Spitze der Arbeiter und Soldaten die Staatsmacht in Russland ergriffen und in die Hände der Sowjets legten.
Natürlich beschäftigt es sich zum größten Teil mit dem ›Roten Petrograd‹, der Hauptstadt und dem Herzen des Aufstandes. Aber der Leser muss verstehen, dass alles, was in Petrograd geschah, früher oder später, mehr oder weniger machtvoll, überall in Russland seine Wiederholung fand.
In diesem Buch, dem ersten einer Serie, an der ich arbeite, muss ich mich auf eine Chronik jener Ereignisse beschränken, die ich selbst gesehen und erlebt habe oder von denen ich zuverlässige Berichte erhielt. An den Anfang stelle ich zwei Kapitel, die in großen Zügen den Hintergrund und die Ursachen der Novemberrevolution umreißen. Ich bin mir darüber klar, dass diese beiden Kapitel schwer zu lesen sind, aber sie sind notwendig, um die späteren Ereignisse zu verstehen.
Beim Leser werden eine ganze Reihe Fragen auftauchen. Was ist Bolschewismus? Wie sah die von den Bolschewiki aufgestellte Regierung aus? Wenn die Bolschewiki vor der Novemberevolution die Konstituierende Versammlung forderten, warum lösten sie sie nachher mit Waffengewalt auf? Und wenn die Bourgeoisie gegen die Konstituierende Versammlung war, bevor die Gefahr des Bolschewismus für sie offensichtlich wurde, warum setzte sie sich nachher so energisch dafür ein?
Diese und viele andere Fragen können in diesem Buch nicht beantwortet werden. In einem weiteren Band, ›Von Kornilow bis Brest – Litowsk‹ [dieses Buch konnte J. R. nicht beenden. Es ist nie erschienen. Anm. d. Red.], verfolge ich den Lauf der Revolution bis zum Friedensschluss mit Deutschland. Dort erkläre ich auch den Ursprung und die Tätigkeit der revolutionären Organisationen, die Entwicklung im Denken und Fühlen der Massen, die Auflösung der Konstituierenden Versammlung, die Struktur des Sowjetstaates, den Verlauf und das Ergebnis der Verhandlungen von Brest-Litowsk ...
Wenn wir den Aufstieg der Bolschewiki betrachten, müssen wir verstehen, dass das Wirtschaftsleben Russlands und die russische Armee nicht am 7. November 1917 desorganisiert wurden, sondern schon Monate früher, als logisches Ergebnis eines Prozesses der schon 1915 einsetzte. Die korrupten Reaktionäre, die am Zarenhof das Regiment führten, untergruben Russland ganz systematisch, um einen separaten Friedensvertrag mit Deutschland herbeizuführen. Der Waffenmangel an der Front, der im Sommer 1915 zum großen Rückzug führte, der Lebensmittelmangel an der Front und in den Großstädten, der Zusammenbruch der Industrie und des Verkehrswesens 1916 – all das waren, wie wir heute wissen, einzelne Phasen einer gewaltigen Sabotageaktion. Allein die Märzrevolution schob ihr in letzter Minute einen Riegel vor. Bei einer großen Revolution, in der hundertsechzig Millionen der am schwersten unterdrückten Menschen in der Welt plötzlich ihre Freiheit errangen, konnte es begreiflicherweise nicht ohne Verwirrung abgehen. Und dennoch besserte sich in den ersten Monaten des neuen Regimes die innere Lage und erhöhte sich auch die Kampfkraft der Truppen.
Aber die ›Flitterwochen‹ waren kurz. Die besitzenden Klassen wollten eine ausschließlich politische Revolution, die dem Zaren die Macht nähme und sie ihnen gäbe. Sie wollten aus Russland eine konstitutionelle Republik machen wie Frankreich oder die Vereinigten Staaten; oder eine konstitutionelle Monarchie wie England. Die Massen des Volkes dagegen wollten eine wirkliche Revolution in Industrie und Landwirtschaft. William English Walling beschreibt in seinem Buch ›Russlands Botschaft‹ die Stimmung der russischen Arbeiter, die später fast ausnahmslos den Bolschewismus unterstützten.
»Sie (die Arbeiter) sahen, dass sie selbst unter einer freien Regierung, wenn sie in die Hand anderer Gesellschaftsklassen fiel, unter Umständen weiter Hunger leiden würden ...
Der russische Arbeiter ist revolutionär, aber er ist weder gewalttätig noch dogmatisch, noch unintelligent.
Er ist bereit, auf die Barrikaden zu gehen, aber er hat die Barrikaden auch studiert, und er als einziger unter den Arbeitern der ganzen Welt hat sie aus eigener Erfahrung kennengelernt. Er ist bereit und gewillt, seinen Unterdrücker, die Kapitalistenklasse, bis zum Ende zu bekämpfen. Aber er übersieht nicht das Bestehen anderer Klassen, nur verlangt er, dass die anderen Klassen sich in dem herannahenden erbitterten Kampf klar auf die eine oder andere Seite stellen. Sie (die Arbeiter) waren sich darüber einig, dass unsere (die amerikanischen) politischen Institutionen besser sind als ihre eigenen, aber sie hatten keine Lust, einen Despoten gegen einen anderen (d. h. die Kapitalistenklasse) auszutauschen ...
Die Arbeiter Russlands ließen sich nicht dafür zu Hunderten erschießen und hinrichten, in Moskau, in Riga, in Odessa, ließen sich nicht zu Tausenden in jedes russische Gefängnis sperren, in die schlimmsten Einöden und arktischen Gebiete verbannen, um dafür das zweifelhafte Glück eines Arbeiters in Goldfields oder Cripple Creek einzutauschen ...«
Und so entwickelte sich in Russland, inmitten eines Weltkrieges, aus der politischen Revolution heraus die soziale Revolution, die mit dem Sieg der Bolschewiki ihren Höhepunkt erreichte.
Mr. A. J. Sack, der Direktor des russischen Informationsbüros in den Vereinigten Staaten und ein Gegner der Sowjetregierung, hat in seinem Buch ›Die Geburt der russischen Demokratie‹ Folgendes zu sagen:
»Die Bolschewiki bildeten ihr eigenes Kabinett mit Nikolaj Lenin als Premier und Leo Trotzki als Außenminister: Schon bald nach der Märzrevolution war es klar, dass es so kommen musste. Die Geschichte der Bolschewiki nach der Revolution ist eine Geschichte ihres ständigen Wachstums ...«
Ausländer, ganz besonders die Amerikaner, sprechen gern von der ›Unwissenheit‹ der russischen Arbeiter. Es ist wahr, sie hatten nicht die politischen Erfahrungen der Völker des Westens, aber sie waren Meister im freiwilligen Zusammenschluss 1917 gab es mehr als zwölf Millionen Mitglieder der russischen Konsumgenossenschaften; und die Sowjets selbst sind ein hervorragender Beweis für ihr Organisationstalent. Außerdem gibt es wahrscheinlich in der ganzen Welt kein anderes Volk, das so gut in der sozialistischen Theorie und ihrer praktischen Anwendung geschult ist. William English Walling charakterisierte es folgendermaßen: »Die russischen Werktätigen können meist lesen und schreiben. Seit langem herrscht im Land eine so große Unzufriedenheit, dass die Arbeiter ihre Führer nicht nur unter den intelligentesten aus ihrer eigenen Mitte suchen müssen, sondern auch auf einen großen Teil der nicht minder revolutionären gebildeten Klasse rechnen können, die sich mit ihren Gedanken über die politische und soziale Umgestaltung Russlands den Arbeitern zugewandt hat ...«
Viele Schriftsteller und Journalisten behaupten, um ihre Gegnerschaft zur Sowjetregierung zu begründen, die letzte Phase der Revolution sei nichts anderes gewesen als ein Kampf der ›anständigen‹ Elemente‹ gegen die brutalen Angriffe der Bolschewiki. Tatsächlich war es aber so, dass die besitzenden Klassen, als sie die ständig steigende Macht der revolutionären Organisationen des Volkes erkannten, alles versuchten, um sie zu vernichten und der Revolution Einhalt zu gebieten. Dazu war ihnen jedes, auch das verzweifeltste Mittel recht. Um die Kerenski-Regierung und die Sowjets zugrunde zu richten, wurde das Verkehrswesen desorganisiert, wurden innere Unruhen heraufbeschworen. Um die Fabrikkomitees zu vernichten, wurden Fabriken geschlossen, Brennstoff und Rohmaterial beiseite geschafft. Um die Armeekomitees an der Front zu sprengen, wurde die Todesstrafe wieder eingeführt und alles getan, um eine militärische Niederlage heraufzubeschwören. Das alles war ein guter Nährboden für die Bolschewiki. Sie riefen zum Klassenkampf auf und verkündeten die Überlegenheit der Sowjets. Zwischen diesen beiden Extremen standen die sogenannten gemäßigten Sozialisten, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, und einige kleinere Parteien und Splittergruppen, die sie aus ganzem oder halbem Herzen unterstützten. Auch diese Gruppen wurden von den besitzenden Klassen angegriffen, aber durch ihre Theorien hatten sie selbst ihre Widerstandskraft gelähmt.
Allgemein kann man sagen, dass die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Meinung vertraten, Russland sei für eine soziale Revolution wirtschaftlich noch nicht reif. – Nur eine politische Revolution sei möglich. Ihrer Meinung nach waren die russischen Massen noch zu ungebildet, um die Macht zu übernehmen; jeder Versuch in diese Richtung müsse unvermeidlich eine Reaktion hervorrufen, die von skrupellosen Opportunisten dazu ausgenutzt werden könnte, das alte Regime wieder herzustellen. Als nun die ›gemäßigten Sozialisten‹ zwangsläufig die Macht übernehmen mussten, konnte es unter diesen Umständen nicht ausbleiben, dass sie sich fürchteten, sie auszuüben.
Sie glaubten, Russland müsse alle Phasen der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung durchlaufen, die auch Westeuropa durchgemacht hatte, um schließlich zusammen mit der ganzen Welt in den fertigen Sozialismus einzutreten. So stimmten sie natürlich mit den besitzenden Klassen darin überein, dass Russland zunächst einmal ein parlamentarischer Staat werden müsse – allerdings mit gewissen Fortschritten gegenüber den westlichen Demokratien. Deshalb bestanden sie auch auf Teilnahme der besitzenden Klassen an der Regierung. Von einer solchen Position zur eindeutigen Unterstützung der Besitzenden war nur noch ein Schritt. Die ›gemäßigten Sozialisten‹ brauchten die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie dagegen brauchte die ›gemäßigten Sozialisten‹ nicht. So mussten also die sozialistischen Minister nach und nach ihr gesamtes Programm preisgeben, während die besitzenden Klassen immer mehr verlangten. Und schließlich, als die Bolschewiki diesem ganzen faulen Kompromiss den Todesstoß versetzten, standen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre im Kampf auf der Seite der besitzenden Klassen ... In fast jedem Land der Welt erleben wir heute das gleiche. Statt, wie so oft behauptet wird, eine zerstörende Kraft zu sein, waren die Bolschewiki meines Erachtens die einzigen in Russland, die ein konstruktives Programm aufzuweisen hatten und auch über die Macht verfügten, um es durchzusetzen. Hätten sie nicht in dem Augenblick die Regierungsgewalt ergriffen, zweifle ich nicht im mindesten daran, dass die Truppen des deutschen Kaiserreiches noch im Dezember in Petrograd und Moskau einmarschiert wären und Russland wieder den Zaren auf dem Nacken gehabt hätte ...
Noch heute, ein Jahr nach der Konstituierung der Sowjetregierung, gehört es zum sogenannten guten Ton, den bolschewistischen Aufstand ein ›Abenteuer‹ zu nennen. Ein Abenteuer war es, und eines der herrlichsten, das die Menschheit aufzuweisen hat. Die arbeitenden Massen haben die Geschichte in die Hand genommen und alles ihren gewaltigen und doch leicht verständlichen Wünschen untergeordnet. Der Apparat war vorhanden, mit dessen Hilfe der Großgrundbesitz unter die Bauern aufgeteilt werden konnte. Es gab die Fabrikkomitees und Gewerkschaften, um die Kontrolle der Arbeiter über die Industrie in Gang zu bringen. In jedem Dorf, in jeder Stadt, in jedem Bezirk, in jedem Gouvernement gab es Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, bereit, die örtliche Verwaltung in die Hand zu nehmen. Was man auch vom Bolschewismus denken mag, unbestreitbar ist, dass die Russische Revolution eine der größten Taten in der Geschichte der Menschheit ist und der Aufstieg der Bolschewiki ein Ereignis von weltweiter Bedeutung. Ebenso wie die Historiker jeder Einzelheit aus der Pariser Kommune nachspüren, werden sie auch wissen wollen, was sich im November 1917 in Petrograd zutrug, welcher Geist die Menschen beseelte, wie ihre Führer aussahen, wie sie sprachen und wie sie handelten. Das hat mich bewogen, dieses Buch zu schreiben.
Im Kampf waren meine Sympathien nicht neutral. Aber in meiner Schilderung der Geschichte dieser großen Tage habe ich versucht, die Ereignisse mit den Augen eines gewissenhaften Reporters zu sehen, der nichts anderes will als die Wahrheit schreiben.
New York, 1. Januar 1919 | J. R.
DEM DURCHSCHNITTSLESER wird es schwerfallen, sich durch die Vielfalt der russischen Organisationen – politische Gruppen, Komitees, Zentralkomitees, Sowjets, Dumas und Verbände durchzufinden. Deshalb möchte ich hier einige kurze Definitionen und Erklärungen dazu geben.
Bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung gab es in Petrograd siebzehn Listen und in einigen Provinzstädten bis zu vierzig; die folgende Übersicht über die Ziele und die Zusammensetzung einiger politischer Parteien und Gruppen beschränkt sich jedoch auf die in diesem Buch erwähnten. Ich kann hier über ihr Programm und den allgemeinen Charakter ihrer Anhänger nur das Wesentlichste sagen ...
1. Monarchisten verschiedener Schattierungen, Oktobristen usw. Diese ehemals so mächtigen Gruppen bestanden als legale Parteien nicht mehr; sie arbeiteten entweder illegal, oder ihre Mitglieder schlossen sich den Kadetten an, die dem politischen Programm der Monarchisten immer näher kamen. Ihre in diesem Buch genannten Vertreter sind Rodsjanko und Schulgin.
2. Kadetten. Diese Bezeichnung leitet sich von den Anfangsbuchstaben des Namens »Konstitutionelle Demokraten« ab. Ihr offizieller Name lautet »Partei der Volksfreiheit«. Unter dem Zaren eine Partei der Liberalen aus den Reihen der besitzenden Klassen, traten die Kadetten damals als die große Partei der politischen Reformen auf und entsprachen damit mehr oder weniger der Fortschrittspartei in Amerika. Als im März 1917 die Revolution ausbrach, bildeten die Kadetten die erste Provisorische Regierung. Das Kabinett der Kadetten wurde im April gestürzt, weil es sich für die imperialistischen Ziele der Alliierten aussprach, einschließlich der imperialistischen Ziele der Zarenregierung. Je mehr die Revolution einen sozialen und ökonomischen Charakter annahm, desto konservativer wurden die Kadetten. Ihre Vertreter in diesem Buch sind Miljukow, Winawer, Schazki.
2a. Bund von Männern der Öffentlichkeit. Nachdem die Kadetten durch ihre Verbindung zur Konterrevolution Kornilows jede Popularität verloren hatten, wurde in Moskau der »Bund von Männern der Öffentlichkeit gebildet. Delegierte dieser Gruppe erhielten Ministerposten im letzten Kabinett Kerenskis. Die Gruppe gab sich als überparteilich aus, aber ihre intellektuellen Führer waren Männer wie Rodsjanko und Schulgin. Dieser Gruppe gehörten die »modernen« Bankiers, Kaufleute und Fabrikanten an, die klug genug waren, um einzusehen, dass man die Sowjets mit ihren eigenen Waffen bekämpfen musste – mit der wirtschaftlichen Organisation. Typisch für diese Gruppe sind Lianosow und Konowalow.
3. Volkssozialisten oder Trudowiki (Gruppe der Arbeit). Zahlenmäßig eine kleine Partei. Zu ihren Mitgliedern gehörten gemäßigte Intellektuelle, die Führer der Genossenschaften und konservativen Bauern. Obwohl sie vorgaben, Sozialisten zu sein, unterstützten die Volkssozialisten in Wirklichkeit die Interessen des Kleinbürgertums – der Beamten, Gewerbetreibenden usw. Sie übernahmen als direktes Erbe die kompromisslerischen Traditionen der »Gruppe der Arbeit« in der zaristischen Duma, der vor allem Bauernvertreter angehört hatten. Kerenski war der Führer der Trudowiki in der zaristischen Duma, als die Märzrevolution 1917 ausbrach. Die Volkssozialisten sind eine Nationalistische Partei. Ihre Vertreter in diesem Buch sind Pschechonow und Tschaikowski.
4. Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands. Ursprünglich eine marxistische Partei. Auf ihrem Parteitag von 1903 spaltete sie sich über Fragen der Taktik in zwei Gruppen – die Mehrheit (Bolschinstwo) und die Minderheit (Menschinstwo). Daraus ergaben sich die Bezeichnungen »Bolschewiki« und »Menschewiki« – »Angehörige der Mehrheit« und »Angehörige der Minderheit«. Diese beiden Flügel entwickelten sich zu voneinander unabhängigen Parteien, die sich aber beide »Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands« nannten und beide für sich in Anspruch nahmen, marxistisch zu sein. Seit der Revolution waren die Bolschewiki zahlenmäßig in der Minderheit und wurden erst im September 1917 wieder die Mehrheit.
a) Menschewiki. Dieser Partei gehören Sozialisten aller Schattierungen an, die der Meinung sind, die Gesellschaft müsse durch eine natürliche Evolution zum Sozialismus gelangen und die Arbeiterklasse müsse zunächst die politische Macht erobern. Auch sie ist eine nationalistische Partei. Von jeher war sie die Partei der sozialistischen Intellektuellen, die sich, unter dem Bildungsmonopol der besitzenden Klassen erzogen, diesem Einfluss nicht entziehen konnten und sich letzten Endes auf ihre Seite stellten. Zu ihren Vertretern in diesem Buch gehören Dan, Liber, Zereteli.
b) Menschewiki – Internationalisten. Der radikale Flügel der Menschewiki, Internationalisten und Gegner jeder Koalition mit den besitzenden Klassen. Trotzdem waren sie nicht bereit, sich völlig von den konservativen Menschewiki zu lösen. Sie sind Gegner der von den Bolschewiki vertretenen Diktatur des Proletariats. Trotzki war lange Mitglied dieser Gruppe. Zu ihren Führern gehören Martow und Martynow.
c) Bolschewiki. Heute nennen sie sich »Kommunistische Partei«, um ihre völlige Loslösung von der Tradition des »gemäßigten« oder »parlamentarischen« Sozialismus zu dokumentieren, der bei den Menschewiki und den sogenannten Mehrheitssozialisten aller Länder vorherrscht. Die Bolschewiki forderten den sofortigen proletarischen Aufstand, die Machtergreifung, um durch die gewaltsame Übernahme der Industrie, des Bodens, der Naturschätze und Finanzinstitutionen die Herbeiführung des Sozialismus zu beschleunigen. Diese Partei vertritt in der Hauptsache den Willen der Industriearbeiter, aber auch großer Teile der armen Bauern. Der Name »Bolschewiki« darf keinesfalls mit »Maximalisten« übersetzt werden. Die Maximalisten sin eine besondere Gruppe (Siehe Absatz 5b). Zu den Führern der Bolschewiki gehören Lenin, Trotzki, Lunatscharski.
d) Vereinigte Sozialdemokraten – Internationalisten, auch als Gruppe »Nowaja Shisn« (Neues Leben) nach ihrer sehr einflussreichen Zeitung bekannt. Eine kleine Gruppe von Intellektuellen. Außer den persönlichen Anhängern Gorkis, des Führers dieser Gruppe, gehören ihr kaum Arbeiter an. Die Gruppe vertritt fast das gleiche Programm wie die Menschewiki – Internationalisten, unterscheidet sich aber von ihnen dadurch, dass sie sich weder den Bolschewiki noch den Menschewiki anschlossen.
e) Jedinstwo. Eine sehr kleine, im Verschwinden begriffene Gruppe, der fast nur die persönlichen Anhänger Plechanows angehören Plechanow war einer der Pioniere der russischen sozialdemokratischen Bewegung in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und ihr größter Theoretiker. Als alter Mann nahm Plechanow eine extrem patriotische Haltung ein und war sogar den Menschewiki zu konservativ. Nach dem bolschewistischen Aufstand löste sich die Gruppe Jedinstwo auf.
f) Sozialrevolutionäre Partei. Ihren Anfangsbuchstaben nach nannte man sie »SR«. Ursprünglich war sie die revolutionäre Partei der Bauern, die Partei der »Kampforganisationen« – der Terroristen. Nach der Märzrevolution strömten ihr viele Mitglieder zu, die niemals Sozialisten waren. Nunmehr traten sie dafür ein, dass lediglich das Privateigentum an Grund und Boden abgeschafft werden solle. Die Eigentümer sollten irgendwie entschädigt werden. Schließlich zwang die immer revolutionärer werdende Stimmung unter den Bauern die Sozialrevolutionäre, ihre »Entschädigungsklausel« fallenzulassen. Daraufhin verliessen im Herbst 1917 die jüngeren und stürmischeren Intellektuellen die Partei und schlossen sich zur »linken sozialrevolutionären Partei« zusammen. Die alte Partei, die später von den radikalen Gruppen immer die »rechte sozialrevolutionäre Partei« genannt wurde, verfolgte die gleiche Politik wie die Menschewiki und arbeitete mit ihnen zusammen. Schließlich wurden die rechten Sozialrevolutionäre zu Vertretern der wohlhabenden Bauern, der Intellektuellen und der politisch ungeschulten Bevölkerung entlegener ländlicher Gebiete. Es gab unter ihnen jedoch eine größere Vielfalt politischer und ökonomische Schattierungen als unter den Menschewiki. Zu ihren in diesem Buch erwähnten Führern zählten: Awxentjew, Goz, Kerenski, Tschernow, »Babuschka« Breschowskaja.
g) Linke Sozialrevolutionäre. Obwohl sie theoretisch dem bolschewistischen Programm der Diktatur des Proletariats zustimmten, zögerten sie anfangs, sich der rücksichtslosen Taktik der Bolschewiki anzuschließen. Die linken Sozialrevolutionäre blieben jedoch in der Sowjetregierung und übernahmen Posten im Kabinett, insbesondere das Volkskommissariat für Landwirtschaft. Sie verließen die Regierung mehrere Male, kehrten aber immer wieder zurück. Die Bauern, die in immer größerer Zahl die rechten Sozialrevolutionäre verließen, schlossen sich den linken Sozialrevolutionären an, die somit zur großen Bauernpartei wurden. Sie unterstützten die Sowjetregierung und traten für die entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes und seine Übergabe an die Bauern ein. Zu ihren Führern gehören Spiridonowa, Karelin, Kamkow, Kalagajew.
h) Maximalisten. Eine Splittergruppe der Sozialrevolutionären Partei in der Revolution von 1905. Damals führten sie eine machtvolle Bauernbewegung, die für die sofortige Durchführung eines sozialistischen Maximalprogramms eintrat. Jetzt eine unbedeutende Gruppe bäuerlicher Anarchisten.
Die Verfahrensregeln bei russischen Versammlungen und Kongressen sind den kontinentalen Gepflogenheiten ähnlicher als den unseren. Die erste Handlung ist im allgemeinen die Wahl eines Präsidiums. Das Präsidium ist ein Komitee, das den Vorsitz über die Versammlung innehat. Ihm gehören Vertreter der an der Versammlung teilnehmenden Gruppen und politischen Parteien im Verhältnis zu ihrer Mitgliederzahl an. Das Präsidium stellt die Geschäftsordnung auf, und jedes seiner Mitglieder kann vom Vorsitzenden aufgefordert werden, zeitweise die Versammlung zu leiten. Jede Frage wird erst allgemein aufgeworfen und dann diskutiert. Zum Abschluss der Debatte bringen die verschiedenen Parteien Resolutionen ein, über die einzeln abgestimmt wird. Es kann geschehen, und geschieht auch meistens, dass die Geschäftsordnung schon in der ersten halben Stunde über den Haufen geworfen wird. Unter Berufung auf besondere »Dringlichkeit«, die von der Versammlung fast immer anerkannt wird, kann jeder aufstehen und sich zu jedem beliebigen Thema äußern. Die Versammlung wird von den Massen der Teilnehmer beherrscht. Dem Versammlungsleiter bleibt weiter nichts zu tun, als mit einer Glocke Ordnung zu schaffen und die Redner anzusagen. Die Hauptarbeit der Tagungen wird in den Fraktionssitzungen der verschiedenen Gruppen und Parteien geleistet, die fast immer geschlossen abstimmen und von Fraktionsführern vertreten werden. Das führt jedoch dazu, dass bei jeder neuen wichtigen Frage, bei jeder Abstimmung, die Tagung unterbrochen werden muss, damit sich die verschiedenen Gruppen und Parteien zu einer Fraktionsbesprechung zusammenfinden können. Die Versammlungsteilnehmer sind sehr laut, bekunden den Rednern ihren Beifall oder ihr Missfallen und machen jede vom Präsidium festgelegte Ordnung zunichte. Zu den üblichen Zurufen gehören »Prossim!« (Bitte! Weitermachen!),»Prawilno!« »Eto werno!« (Sehr richtig! Sehr wahr!), »Dowolno!« (Genug!), »Doloi!« (Abtreten!), »Posor!« (Schande!) und »Ticho!« (Ruhe!).
1. Sowjets. Das Wort Sowjet bedeutet »Rat«. Unter dem Zaren wurde der Reichsrat »Gossudarstwenny Sowjet« genannt. Seit der Revolution versteht man aber unter Sowjet immer mehr ein von den Mitgliedern der wirtschaftlichen Organisationen der Werktätigen gewähltes Parlament den Sowjet der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten. Ich habe also nur diese spezifischen Organisationen mit dem Wort Sowjet bezeichnet und an allen anderen Stellen das Wort mit »Rat« übersetzt. Neben den örtlichen Sowjets, die in jeder Stadt und jedem Dorf Russlands gewählt werden – in den Großstädten außerdem Sowjets der Stadtbezirke (Rayons) –, gibt es auch Bezirks- und Gouvernements-Sowjets (oblastnyje oder gubernskije) und das Zentralexekutivkomitee der Gesamtrussischen Sowjets in der Hauptstadt, nach den Anfangsbuchstaben ZEK genannt (siehe auch weiter unten »Zentralkomitees«). Fast überall vereinten sich nach der Märzrevolution die Sowjets der Arbeiterdeputierten und die der Soldatendeputierten. In besonderen Fragen, die sich auf ihre spezifischen Interessen bezogen, traten die Sektionen der Arbeiter und Soldaten auch weiterhin gesondert zusammen. Die Sowjets der Bauerndeputierten schlossen sich den anderen erst nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki an. Auch sie waren wie die Arbeiter und Soldaten organisiert, mit einem Gesamtrussischen Exekutivkomitee der Bauernsowjets in der Hauptstadt.
2. Gewerkschaften. Obwohl meist in Form von Industriegewerkschaften organisiert, nannten sich die russischen Gewerkschaften noch immer Fachverbände. Zur Zeit der bolschewistischen Revolution hatten sie vier Millionen Mitglieder. Auch die Gewerkschaften waren in einem gesamtrussischen Verband zusammengeschlossen, einer Art Russischer Arbeiterföderation, mit einem Zentralexekutivkomitee in der Hauptstadt.
3. Fabrikkomitees. Diese waren spontan entstandene Organisationen, von den Arbeitern in den Fabriken gebildet, um die Kontrolle über die Industrie auszuüben. Sie nutzten das administrative Chaos, das die Revolution mit sich gebracht hatte, um sich eine feste Position zu schaffen. Ihre Funktion bestand darin, durch revolutionäre Aktionen die Fabriken in die eigenen Hände zu nehmen und zu leiten. Die Fabrikkomitees hatten auch ihre gesamtrussische Organisation mit einem Zentralkomitee in Petrograd, das mit den Gewerkschaften zusammenarbeitete.
4. Dumas. Das Wort Duma bedeutet mehr oder weniger »beratende Körperschaft«. Die alte zaristische Duma, die in etwas demokratisierter Form noch sechs Monate nach der Revolution bestand, starb im September 1917 eines natürlichen Todes. Die Stadtduma, die in diesem Buch eine Rolle spielt, war der reorganisierte Stadtrat, häufig auch »städtische Selbstverwaltung« genannt. Sie wurde in direkter und geheimer Wahl gewählt, und wenn sie während der bolschewistischen Revolution die Unterstützung der Massen verlor, dann liegt das hauptsächlich daran, dass mit der aufsteigenden Macht der Organisationen, die sich auf ökonomische Gruppen stützten, alle rein politischen Vertretungen an Einfluss verloren.
5. Semstwos. Dieser Name lässt sich mehr oder weniger mit »Landräte« übersetzen. Unter dem Zaren waren die Semstwos halb politische, halb soziale Körperschaften, mit verschwindend kleinen administrativen Funktionen. Sie wurden zum größten Teil von intellektuellen Liberalen aus der Grundbesitzerklasse beherrscht. Ihre wichtigste Funktion war die Schaffung von Schulen und sozialen Einrichtungen für Bauern. Während des Krieges nahmen die Semstwos allmählich die gesamte Versorgung der Armee mit Lebensmitteln und Kleidung sowie die Käufe aus dem Ausland in die Hand. Sie leisteten unter den Soldaten eine Arbeit, die mehr oder weniger der Tätigkeit des Christlichen Vereins junger Männer an der Front entspricht. Nach der Märzrevolution wurden die Semstwos demokratisiert, weil man beabsichtigte, ihnen die örtlichen Regierungsorgane in den ländlichen Gebieten zu übertragen. Sie konnten aber ebenso wenig wie die Stadtdumas gegen die Sowjets aufkommen.
6. Genossenschaften. Darunter sind die Konsumgenossenschaften der Arbeiter und Bauern zu verstehen, die vor der Revolution in Russland mehrere Millionen Mitglieder hatten. Von Liberalen und »gemäßigten« Sozialisten gegründet, wurden die Genossenschaften nicht von den revolutionären sozialistischen Gruppen unterstützt, da sie eine Ersatzlösung gegen über der völligen Übernahme und der Verteilung in die Hände der Werktätigen darstellten. Nach der Märzrevolution vergrößerten sich die Genossenschaften rasch. Sie wurden von den Volkssozialisten, Menschewiki und Sozialrevolutionären beherrscht und spielten bis zur bolschewistischen Revolution die Rolle einer konservativen politischen Kraft. Trotzdem darf man nicht übersehen, dass die Genossenschaften Russland mit Lebensmitteln versorgten, als der alte Handelsund Verkehrsapparat zusammengebrochen war.
7. Armeekomitees. Die Armeekomitees wurden von den Soldaten an der Front gebildet, um den reaktionären Einfluss der Offiziere des alten Regimes zu bekämpfen. Jede Kompanie, jedes Regiment, Jede Brigade und Division, jedes Korps hatte ein eigenes Komitee. Als Dachorganisation wurde ein Armeekomitee gewählt. Das Zentrale Armeekomitee arbeitete mit dem Generalstab zusammen. Der durch die Revolution verursachte administrative Zusammenbruch in der Armee lud fast die gesamte Arbeit der Quartiermeister und in einigen Fällen sogar den Befehl der Truppen auf die Schultern des Armeekomitees.
8. Flottenkomitees. Die entsprechende Organisation in der Flotte.
Im Frühjahr und Sommer 1917 wurden in Petrograd gesamtrussische Kongresse der verschiedenartigsten Organisationen abgehalten. Es gab Nationalkongresse der Arbeiter-, der Soldaten- und der Bauernsowjets, der Gewerkschaften, der Fabrikkomitees, der Armee- und Flottenkomitees – außerdem Kongresse jedes Zweiges innerhalb der Armee und Flotte, Kongresse der Genossenschaften, der Nationalitäten usw. Jeder dieser Kongresse wählte ein Zentralkomitee oder ein Zentralexekutivkomitee, um die besonderen Interessen seiner Organisationen am Sitz der Regierung zu wahren. Als dann die Provisorische Regierung von Tag zu Tag schwächer wurde, mussten die Zentralkomitees eine immer größere administrative Macht in ihre eigenen Hände nehmen.
Die wichtigsten in diesem Buch erwähnten Zentralkomitees sind:
1. Der Verband der Verbände. Während der Revolution von 1905 bildeten Professor Miljukow und andere Liberale Verbände freiberuflicher Intellektueller – Ärzte, Juristen usw. Diese vereinigten sich zu einer zentralen Organisation, dem Verband der Verbände. 1905 kämpfte der Verband der Verbände auf der Seite der revolutionären Demokratie; 1917 dagegen wandte er sich gegen den bolschewistischen Aufstand und stellte sich an die Spitze der Regierungsangestellten, die gegen die Autorität der Sowjets streikten.
2. Zentralexekutivkomitee. Gesamtrussisches Zentralexekutivkomitee der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten.
3. Zentroflot. »Zentralflotte« – das zentrale Flottenkomitee.
4. Wikshel. Gesamtrussisches Exekutivkomitee des Eisenbahnerverbandes. Genannt nach seinen Anfangsbuchstaben.
Rote Garden. Die bewaffneten Fabrikarbeiter Russlands. Die Roten Garden entstanden zum ersten Mal in der Revolution von 1905 und erschienen erneut in den Märztagen 1917 auf dem Schauplatz, als eine Kraft gebraucht wurde, um Ruhe und Ordnung in den Städten zu wahren. Sie waren bewaffnet, und jeder Versuch der Provisorischen Regierung, sie zu entwaffnen, blieb mehr oder weniger erfolglos. In jeder großen Krise der Revolution erschienen die Roten Garden auf der Straße, ungeschult und undiszipliniert, aber von revolutionärem Elan erfüllt.
Weiße Garden. Freiwillige aus den Kreisen der Bourgeoisie, die in den letzten Etappen der Revolution in Erscheinung traten, um das Privateigentum, das die Bolschewiki abschaffen wollten, zu verteidigen. Sehr viele von ihnen waren Studenten.
Jekinzy. Die sogenannte Wilde Division in der Armee Sie bestand aus Angehörigen mohammedanischer Stämme aus Mittelasien, die Kornilow persönlich zugetan waren. Sie waren wegen ihres blinden Gehorsams und ihrer grausamen Kriegsführung bekannt.
»Todesbataillone« oder »Stoßbataillone«. Im allgemeinen ist das Frauenbataillon in der Welt als Todesbataillon bekannt, aber es gab auch Männerbataillone dieser Art. Sie wurden im Sommer 1917 von Kerenski gebildet, um durch Beispiele von Heldentum die Disziplin und Kampfkraft in der Armee zu erhöhen. Die Todesbataillone wurden zumeist aus fanatisch patriotischen jungen Menschen gebildet. Zum größten Teil waren es Söhne aus den besitzenden Klassen.
Offiziersverband. Eine Organisation der reaktionären Offiziere in der Armee, dazu bestimmt, die wachsende Macht der Armeekomitees politisch zu bekämpfen.
Ritter des heiligen Georg. Das Georgskreuz wurde für hervorragende Verdienste in der Schlacht verliehen. Die Träger dieses Ordens waren automatisch Georgsritter. Diese Organisation spielte hauptsächlich als Vorkämpfer militärischer Ideale eine Rolle.
Bauernverband. 1905 war der Bauernverband eine revolutionäre Bauernorganisation. 1917 war er jedoch zum politischen Interessenvertreter der wohlhabenden Bauern geworden und bekämpfte die wachsende Macht und die revolutionären Ziele der Sowjets der Bauerndeputierten.
Ich habe in diesem Buch überall unseren Kalender benutzt und nicht den russischen, der dreizehn Tage zurückliegt. In der Schreibweise der russischen Wörter und Namen habe ich nicht versucht, mich an wissenschaftliche Transkriptionsregeln zu halten, sondern habe eine Schreibweise gewählt, die dem englischen Leser die Aussprache am leichtesten klarmachen kann.
Das Material in diesem Buch stammt zu einem großen Teil aus meinen eigenen Notizen. Darüber hinaus habe ich mich aber auch auf ein wahllos zusammengetragenes Archiv mehrerer Hundert russischer Zeitungen gestützt, die über fast jeden Tag der geschilderten Zeitspanne Meldungen enthalten. Außerdem benutzte ich eine Sammlung der englischen Zeitung »Russian Daily News« und der beiden französischen Zeitungen »Journal de Russie« und »Entente«. Viel wertvoller als diese Zeitungen ist allerdings das »Bulletin de la Presse«, täglich vom französischen Informationsbüro in Petrograd herausgegeben, das über alle wichtigen Ereignisse, Reden und Kommentare der russischen Presse berichtet. Von diesem Bulletin habe ich eine nahezu vollständige Sammlung vom Frühjahr 1917 bis Ende Januar 1918. Daneben habe ich fast jede Proklamation, jedes Dekret und jede Ankündigung, die von Mitte September 1917 bis Januar 1918 in den Straßen Petrograds angeschlagen wurden, gesammelt; ebenso die offiziellen Veröffentlichungen aller Dekrete und Befehle der Regierung, sowie die offizielle Veröffentlichung der Geheimabkommen und anderer Dokumente, die im Außenministerium gefunden wurden, als es die Bolschewiki übernahmen.
GEGEN ENDE SEPTEMBER 1917 besuchte mich ein ausländischer Professor der Soziologie in Petrograd. Ihm war von Männern der Wirtschaft und von Intellektuellen erzählt worden, dass die Revolution im Abebben sei. Der Herr Professor schrieb darüber einen Artikel und durchreiste dann das Land; er besuchte Fabrikstädte und Dorfgemeinden, wo zu seinem großen Erstaunen die Revolution ihren Schritt eher zu beschleunigen schien. Unter den Lohnarbeitern und der werktätigen Landbevölkerung ertönte immer öfter der Ruf: »Alles Land den Bauern!« »Alle Fabriken den Arbeitern!« Wenn der Herr Professor die Front besucht hätte, so hätte erhören können, wie in der ganzen Armee von nichts als dem Frieden die Rede war ... Der Herr Professor war verwirrt; ohne Grund; beide Beobachtungen waren richtig. Die besitzenden Klassen wurden konservativer, die Volksmassen radikaler.
In den Reihen der Geschäftswelt und in der Intelligenz herrschte allgemein das Gefühl, dass die Revolution weit genug gegangen sei und schon zu lange währe; dass es an der Zeit sei, Ruhe zu schaffen. Dieser Auffassung waren auch die herrschenden »gemäßigten« sozialistischen Gruppen, die Menschewiki-»Oboronzy« und Sozialrevolutionäre, die die Provisorische Kerenski-Regierung unterstützten. Am 14. Oktober erklärte das offizielle Organ der »gemäßigten« Sozialisten:
»Das Drama der Revolution hat zwei Akte: Die Zerstörung der alten Ordnung und die Schaffung der neuen. Der erste Akt hat lange genug gedauert. Jetzt ist es an der Zeit, den zweiten zu beginnen und ihn so schnell als möglich zu Ende zu führen. Von einem großen Revolutionär stammt das Wort: »Eilen wir uns Freunde, die Revolution zu beenden. Wer sie zu lange währen lässt, läuft Gefahr, um ihre Früchte zu kommen ...«
Die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernmassen waren dagegen der festen Überzeugung, dass der »erste Akt« noch lange nicht zu Ende gespielt war. An der Front stießen überall Armeekomitees mit den Offizieren zusammen, die sich noch immer nicht gewöhnen konnten, die Soldaten als Menschen zu behandeln; im Hinterland wurden die von den Bauern gewählten Bodenkomitees eingesperrt, wo sie sich unterfingen, die von der Regierung angeordneten Bestimmungen über den Grund und Boden durchzuführen; und die Arbeiter in der Fabriken mussten einen schweren Kampf gegen schwarze Listen und Aussperrungen führen. Die zurückkehrenden politischen Verbannten wurden als »unerwünschte Bürger« nicht ins Land hineingelassen, und in manchen Fällen wurden Menschen, die aus dem Auslande in ihre Dörfer zurückkehrten, wegen der im Jahre 1905 begangenen politischen Handlungen verfolgt und eingekerkert. Auf die mannigfaltige Unzufriedenheit des Volkes hatten die »gemäßigten« Sozialisten nur eine Antwort: Die Konstituierende Versammlung abzuwarten, die im Dezember zusammentreten sollte. Aber die Massen waren damit nicht zufrieden. Die Konstituierende Versammlung war gut und schön, doch es gab gewisse klar umrissene Dinge, um derentwillen die Russische Revolution gemacht worden war, für die die revolutionären Märtyrer, die in den Massengräbern des Marsfeldes lagen, ihr Blut vergossen hatten; diese galt es zu verwirklichen, mit oder ohne Konstituierende Versammlung: Frieden, Land, Kontrolle der Arbeiter über die Industrie. Die Konstituierende Versammlung war bisher immer wieder vertagt worden – und würde wahrscheinlich noch einmal vertagt werden, so lange vielleicht, bis das Volk ruhig genug geworden war, um auf einen Teil seiner Forderungen zu verzichten.
Acht Monate Revolution waren bereits ins Land gegangen, und wenig genug zu sehen ... Inzwischen begannen die Soldaten, die Friedensfrage auf eigene Faust zu lösen, indem sie einfach desertierten; die Bauern brannten die Gutshäuser nieder und setzten sich in den Besitz der großen Güter; die Arbeiter streikten ... Die Fabrikanten, Gutsbesitzer und Offiziere der Armee setzten ihren ganzen Einfluss ein, um jedes demokratische Zugeständnis zu verhindern ... Die Politik der Provisorischen Regierung schwankte zwischen wertlosen Reformen und brutaler Unterdrückung. Ein Befehl des sozialistischen Arbeitsministers ordnete an, dass die Arbeiterkomitees fortan nur nach Feierabend zusammentreten dürften. Bei den Truppen an der Front wurden die »Agitatoren« der oppositionellen politischen Parteien verhaftet, die radikalen Zeitungen verboten und die Todesstrafe gegen revolutionäre Propagandisten angewandt. Versuche wurden unternommen, die Roten Garden zu entwaffnen. Kosaken wurden in die Provinzen geschickt, damit sie dort die Ordnung wiederherstellten ...
Diese Maßnahmen wurden von den »gemäßigten« Sozialisten und ihren Führern im Ministerium, die die Zusammenarbeit mit den besitzenden Klassen für notwendig hielten, gutgeheißen. Die Volksmassen wandten sich in schnellem Tempo von ihnen ab und gingen zu den Bolschewiki über, die für Frieden, Land für die Kontrolle der Arbeiter über die Industrie und für eine Regierung der Arbeiterklasse waren. Im September 1917 spitzten sich die Dinge zur Krise zu. Gegen den überwältigenden Willen des Landes gelang es Kernski und den »gemäßigten« Sozialisten, eine Koalitionsregierung mit den besitzenden Klassen zu errichten; das Resultat war, dass die Menschewiki und Sozialrevolutionäre das Vertrauen des Volkes endgültig verloren. Ein Artikel im »Rabotschi Put« (Der Arbeiterweg) um die Mitte des Oktobers unter dem Titel »Die sozialistischen Minister« brachte die Meinung der Volksmassen wie folgt zum Ausdruck:
»Hier eine Liste ihrer Leistungen:
Zereteli: entwaffnete die Arbeiter mit Hilfe des Generals Polowzew, brachte den revolutionären Soldaten eine Niederlage bei und stimmte der Todesstrafe in der Armee zu.
Skobelew: begann mit dem Versprechen, eine hundertprozentige Steuer auf die Profite der Kapitalisten zu legen, und endete – und endete mit dem Versuch, die Arbeiterkomitees in den Werkstätten und Fabriken aufzulösen.
Awxentjew: warf einige Hundert Bauern ins Gefängnis, die Mitglieder der Bodenkomitees, und unterdrückte Dutzende von Arbeiter- und Soldatenzeitungen.
Tschernow: unterzeichnete das Kaiserliche Manifest, das die Auflösung des finnischen Landtages anordnete.
Sawinkow: schloss ein offenes Bündnis mit dem General Kornilow. Wenn es diesem Retter des Landes nicht gelang, Petrograd zu verraten, so ist das auf Gründe zurückzuführen, die seinem Einfluss nicht unterlagen.
Sarudny: kerkerte mit Zustimmung Alexinskis und Kerenskis Tausende revolutionäre Arbeiter, Soldaten und Matrosen ein.
Nikitin: handelte als ordinärer Polizist gegen die Eisenbahner.
Kerenski: über den sagt man am besten gar nichts. Die Liste seiner Leistungen würde zu lang werden ...«
Ein Delegiertenkongress der Baltischen Flotte in Helsingfors beschloss eine Resolution, die wie folgt begann:
»Wir fordern die sofortige Entfernung des, Sozialisten und politischen Abenteurers Kerenski aus der Provisorischen Regierung, der die große Revolution und mit ihr die revolutionären Massen durch seine schamlosen politischen Erpressungen im Interesse der Bourgeoisie zugrunde richtet ...«
Das unmittelbare Ergebnis alles dessen war der Aufstieg der Bolschewiki ...
Seit dem März 1917, als der Ansturm der Arbeiter und Soldaten auf den Taurischen Palast die widerstrebende Reichsduma zwang, die Macht in Russland zu übernehmen, waren es die Massen des Volkes, die Arbeiter, Soldaten und Bauern, die jeden Wechsel im Fortgang der Revolution erzwangen. Sie stürzten das Ministerium Miljukows; ihr Sowjet war es, der der Welt die russischen Friedensvorschläge verkündete: »Keine Annexionen, keine Entschädigungen, Selbstbestimmungsrecht der Völker!« und wieder, im Juli, war es die spontane Erhebung des unorganisierten Proletariats, das zum zweiten Male den Taurischen Palast stürmte und die Forderung erhob: Übernahme der Regierungsgewalt in Russland durch die Sowjets. Die Bolschewiki, zu der Zeit eine kleine politische Sekte, stellten sich an die Spitze der Bewegung. Das Ergebnis des völligen Misserfolgs der Erhebung war, dass sich die öffentliche Meinung gegen sie kehrte. Ihre führerlosen Massen fluteten in das Wiborgviertel zurück, das Saint Antoine von Petrograd. Dann folgte eine wilde Bolschewistenhetze: Hunderte wurden eingekerkert, darunter Trotzki, Frau Kollontai und Kamenew; Lenin und Sinojew mussten sich verbergen, gehetzt von der Justiz; die bolschewistischen Zeitungen wurden unterdrückt. Provokateure und Reaktionäre wurden nicht müde, die Bolschewiki als deutsche Agenten zu bezeichnen, bis sich in der ganzen Welt Leute fanden, die das glaubten.
Aber die Provisorische Regierung konnte ihre Anklagen nicht beweisen; die Dokumente, die die pro-deutsche Verschwörertätigkeit der Bolschewiki beweisen sollten, wurden als Fälschungen enthüllt. Und die Bolschewiki wurden, einer nach dem anderen, aus den Gefängnissen entlassen, ohne jeden Prozess, gegen nominelle oder ohne jede Bürgschaft, bis nur sechs Verhaftete übrigblieben. Die Machtlosigkeit und Unentschlossenheit der ständig wechselnden Provisorischen Regierung war allein schon ein unwiderlegbares Argument. Die Bolschewiki stellten erneut die den Massen so wertvolle Losung auf: »Alle Macht den Sowjets!«, und sie taten das nicht aus Selbstsucht; zu der Zeit gehörte die Mehrheit in den Sowjets den »gemäßigten« Sozialisten, ihren wütendsten Gegnern. Doch mehr noch; sie übernahmen die elementaren, einfachen wünsche der Arbeiter, Soldaten und Bauern und schufen daraus ihr Aktionsprogramm. Und während die sozialpatriotischen Menschewiki und Sozialrevolutionäre sich in der Politik des Kompromisses mit der Bourgeoisie verwirrten, eroberten die Bolschewiki schnell die russischen Massen.
Im Juli waren sie noch gehetzt und verachtet, im September waren die Arbeiter der Hauptstadt, die Matrosen der Baltischen Flotte und die Soldaten bereits fast ganz auf ihrer Seite. Die Kommunalwahlen, die im September in den großen Städten stattfanden, waren dafür bezeichnend; nur acht Prozent der Gewählten waren Menschewiki und Sozialrevolutionäre gegenüber mehr als siebzig Prozent im Juni ... Es bleibt ein Umstand, der geeignet ist, den nichtrussischen Beobachter zu verwirren: das Zentralexekutivkomitee der Sowjets, die zentralen Armee- und Flottenkomitees und die Zentralkomitees einiger Gewerkschaften, vor allem die der Post – und Telegrafenarbeiter und der Eisenbahner, waren den Bolschewiki entschieden feindlich. Alle diese Zentralkomitees waren in der Mitte des Sommers oder sogar vorher gewählt worden, als die Menschewiki und Sozialrevolutionäre noch eine ungeheure Anhängerschaft hatten; jetzt schoben sie Neuwahlen immer wieder hinaus oder verhinderten sie sogar. So hätte beispielsweise den Bestimmungen der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten gemäß der Gesamtrussische Sowjetkongress zum September einberufen werden müssen; doch das Zentralexekutivkomitee wollte ihn nicht zusammentreten lassen unter dem Vorwand, dass die Konstituierende Versammlung in spätestens zwei Monaten tagen würde, womit, so deuteten sie an, die Aufgabe der Sowjets erledigt wäre und sie abzutreten hätten. Mittlerweile eroberten die Bolschewiki im ganzen Lande einen nach dem anderen die örtlichen Sowjets, die lokalen Gewerkschaftsorganisationen und die unteren Soldaten- und Matrosenmassen.
Die Bauernsowjets blieben noch konservativ, weil in den rückständigen ländlichen Gebieten das politische Bewusstsein sich nur langsam entwickelte; außerdem hatte seit einer ganzen Generation die Agitation in den Händen der Sozialrevolutionäre gelegen ... Doch selbst unter den Bauern begann sich ein revolutionärer Flügel zu bilden. Das zeigte sich klar im Oktober, als sich der linke Flügel der Sozialrevolutionäre abspaltete und eine neue politische Partei bildete, die Partei der linken Sozialrevolutionäre. Gleichzeitig waren allenthalben Anzeichen vorhanden, dass die Reaktion wieder Selbstvertrauen gewann. In der Troizki-Komödie in Petrograd wurde beispielsweise eine Burleske mit dem Titel »Die Sünden des Zaren« von einer Monarchistengruppe gestört, die die Schauspieler zu lynchen drohte, weil sie »den Zaren beleidigt« hatten. Gewisse Zeitungen begannen nach einem »russischen Napoleon« zu rufen. Es war damals bei der bürgerlichen Intelligenz üblich, die Arbeiterdeputierten als »Hundedeputierte« zu bezeichnen. Am 15. Oktober hatte ich eine Unterhaltung mit einem russischen Großkapitalisten, Stepan Georgijewitsch Lianosow, bekannt als der »russische Rockefeller«, seiner politischen Parteizugehörigkeit nach ein Kadett. »Die Revolution«, sagte dieser, »ist eine Krankheit. Früher oder später werden die fremden Mächte eingreifen müssen, gerade so, wie man eingreifen muss, um ein krankes Kind zu heilen oder es laufen zu lehren. Natürlich wird das mehr oder weniger unangenehm sein, aber die Nationen müssen sich klar werden über die Gefahr des Bolschewismus in ihren eigenen Ländern, über die Gefährlichkeit so ansteckender Ideen wie die der proletarischen Diktatur und der sozialen Weltrevolution ... es besteht eine Möglichkeit dass das Eingreifen nicht notwendig ist: das Transportwesen ist zerstört, die Fabriken schließen ihre Tore, die Deutschen sind im Vormarsch. Der Hunger und die Niederlage möchten vielleicht das russische Volk zur Vernunft bringen ...«
Herr Lianosow erklärte entschieden, dass sich die Kaufleute und Fabrikanten unter keinen Umständen mit der Existenz der Fabrikkomitees abfinden oder zugeben könnten, dass die Arbeiter irgendeinen Einfluss auf die Leitung der Industrie gewinnen. »Was die Bolschewiki anbelangt, so könnte man mit ihnen auf zweierlei Art fertig werden: die Regierung kann Petrograd räumen, dann den Belagerungszustand erklären, womit der Militärkommandant des Gebietes die Möglichkeit erhalten würde, mit diesen Herrschaften, ungehindert durch gesetzliche Formalitäten, abzurechnen ... Oder aber, falls die Konstituierende Versammlung irgendwelche utopischen Neigungen zeigen sollte, kann sie mit Waffengewalt auseinander getrieben werden ...«
Der Winter rückte heran – der schreckliche russische Winter. Ich hörte Kapitalisten über ihn wie folgt sprechen: »Der Winter war immer Russlands bester Freund. Vielleicht wird er uns jetzt von der Revolution befreien.« An der frierenden Front fuhren die Armeen fort, zu hungern und zu sterben, ohne Begeisterung. Der Eisenbahnverkehr brach zusammen, die Lebensmittel wurden knapp, die Fabriken schlossen die Tore. Die verzweifelten Massen beschuldigten die Bourgeoisie, das Leben des Volkes zu sabotieren und die Niederlage an der Front herbeizuführen. Riga war preisgegeben worden, unmittelbar nachdem der General Kornilow in aller Öffentlichkeit erklärt hatte: »Vielleicht ist Riga der Preis, den wir zahlen müssen, um das Land zum Bewusstsein seiner Pflicht zu bringen.«
Für Amerikaner mag es unglaublich klingen, dass der Klassenkampf sich dermaßen zuspitzen kann. Aber ich habe persönlich an der Nordfront mit Offizieren gesprochen, die offen den militärischen Zusammenbruch der Zusammenarbeit mit den Soldatenkomitees vorzogen. Der Sekretär der Petrograder Organisation der Kadettenpartei erzählte mir, dass der Zusammenbruch des ökonomischen Lebens des Landes ein Teil der Kampagne war, die die Revolution diskreditieren sollte. Ein Entente-Diplomat, dessen Namen ich zu verschweigen versprochen habe, bestätigte mir dies aus eigener Kenntnis. Ich weiß von gewissen Kohlenbergwerken in der Nähe von Charkow, die von ihren Besitzern in Brand gesteckt und unter Wasser gesetzt wurden, von Textilfabriken in Moskau, deren Ingenieure die Maschinen vor ihrer Flucht zerstört hatten, von hohen Eisenbahnbeamten, die von den Arbeitern dabei ertappt wurden, als sie die Lokomotiven zu zerstören im Begriff waren ... Ein großer Teil der besitzenden Klasse zog die Deutschen der Revolution vor – selbst der Provisorischen Regierung – und zögerte nicht, dies auszusprechen.
In der russischen Familie, bei der ich wohnte, war der Gegenstand der Unterhaltung bei Tisch fast immer das Kommen der Deutschen, die »Ruhe und Ordnung« bringen würden ... Ich verlebte einmal einen Abend im Hause eines Moskauer Kaufmanns; beim Tee fragten wir die elf Personen am Tisch, wen sie vorzögen, »Wilhelm oder die Bolschewiki«. Zehn stimmten für Wilhelm ... Die Spekulanten nützten die allgemeine Desorganisierung aus, um Reichtümer anzuhäufen, die sie in phantastischen Schwelgereien vergeudeten oder dazu verwendeten, die Staatsbeamten zu bestechen. Lebensmittel und Brennmaterial wurden versteckt oder im Geheimen nach Schweden verkauft. In den ersten vier Monaten der Revolution beispielsweise wurden die Lebensmittelreserven fast in voller Öffentlichkeit aus den großen städtischen Speichern Petrograds geplündert, bis von den Getreidevorräten, die für zwei Jahre bestimmt waren, kaum genug übrig war, um die Stadt einen Monat lang zu versorgen ... Nach dem offiziellen Bericht des letzten Ernährungsministers in der Provisorischen Regierung wurde der Kaffee in Wladiwostok im Großeinkauf für zwei Rubel das Pfund gekauft, während die Konsumenten in Petrograd dreizehn Rubel zahlen mussten. In den Geschäften der großen Städte waren große Mengen an Lebensmitteln und Kleidung; aber nur die Reichen konnten sie kaufen.
Ich kannte in einer Provinzstadt eine Kaufmannsfamilie, die sich der Spekulation zugewandt hatte. Marodeure werden solche von den Russen genannt. Die drei Söhne hatten sich vom Militärdienst gedrückt. Der eine spekulierte in Lebensmitteln. Der zweite verkaufte im geheimen Gold aus den Lena-Gruben an geheimnisvolle Interessenten in Finnland. Der dritte besaß die Aktienmehrheit in einer Schokoladenfabrik, die die örtliche Genossenschaften versorgte – unter der Bedingung, dass die Genossenschaften ihm lieferten, was er brauchte. Während die Volksmassen auf ihre Brotkarten ein Viertelpfund Schwarzbrot erhielten, hatte er im Überfluss Weißbrot, Zucker, Tee, Kuchen und Butter ... Das hinderte diese saubere Familie nicht, die erschöpften Soldaten, die an der Front infolge der Kälte und des Hungers nicht mehr kämpfen konnten, als »Feiglinge« zu beschimpfen, und dass sie sich »schämten« »Russen« zu sein ... Und als die Bolschewiki große Mengen versteckter Vorräte entdeckten und beschlagnahmten, bezeichneten sie diese als »Räuber«. Unter all dieser äußeren Korruptheit arbeiteten die alten reaktionären Kräfte, die sich seit dem Sturz Nikolaus II. Nicht geändert hatten, im geheimen still und sehr aktiv. Die Agenten der berüchtigten Ochrana waren noch immer in Funktion, für und gegen den Zaren, für und gegen Kerenski – je nachdem, von wem sie bezahlt wurden ... Geheime Organisationen aller Art, wie die Schwarzhunderter, waren eifrig bemüht, in der einen oder anderen Weise die Reaktion wiederherzustellen. In dieser Atmosphäre der Fäulnis, der halben Wahrheiten ließ sich, tagaus, tagein, nur ein klarer Ton vernehmen, der Ruf der Bolschewiki: »Alle Macht den Sowjets!«, »Alle Macht den Vertretern der Millionen und aber Millionen Arbeiter, Soldaten und Bauern!«, »Land, Brot!«, »Schluss mit dem sinnlosen Krieg!«, »Schluss mit der Geheimdiplomatie!«, »Schluss mit der Spekulation und dem Verrat!« ... »Die Revolution ist in Gefahr und mit ihr die Sache des Volkes in der ganzen Welt!«
Der Kampf zwischen dem Proletariat und dem Bürgertum, zwischen den Sowjets und der Regierung, der in den ersten Märztagen begonnen hatte, war seinem Gipfel nahe. Russland, das mit einem Satze aus dem tiefsten Mittelalter ins zwanzigste Jahrhundert gesprungen war, bot der erstaunten Welt das Schauspiel des tödlichen Kampfes zweier Systeme der Revolution – der formal politischen und der sozialen. Was für eine unglaubliche Lebenskraft offenbarte diese russische Revolution, nach all den Monaten des Hungers und der Enttäuschung! Die Bourgeoisie hätte ihr Russland besser kennen sollen. Lange noch wird es dauern, bis die »Krankheit« der Revolution in Russland ihren Lauf genommen hat ...
Blickt man zurück, so scheint Russland vor dem Novemberaufstand einem anderen Zeitalter anzugehören, fast unglaublich konservativ. So schnell haben wir uns dem neuen, schnelleren Leben angepasst. In dem Maße, wie das russische politische Leben sich radikalisierte, bis die Kadetten als Volksfeinde geächtet wurden, wurde Kerenski »ein Konterrevolutionär«; die »gemäßigten« sozialistischen Führer, Zereteli, Dan, Liber, Goz und Awxentjew, waren zu reaktionär für ihre Gefolgschaft, und Männer wie Wiktor Tschernow, ja sogar Maxim Gorki gehörten zum rechten Flügel ... Gegen Mitte Dezember 1917 besuchte eine Gruppe sozialrevolutionäre Führer privatim Sir George Buchanan, den britischen Gesandten, und sie baten ihn inständig, nichts davon zu erwähnen, dass sie bei ihm gewesen waren, weil sie als »zu weit rechts stehend« betrachtet wurden. »Man bedenke«, sagte Buchanan, »dass noch vor einem Jahr die englische Regierung mir Anweisung gab, Miljukow nicht zu empfangen, weil er so ein gefährlicher Linker war.«
Der September und der Oktober sin die schlimmsten Monate im russischen Jahr, besonders in Petrograd. Aus einem trostlos grauen Himmel, der die kürzer werdenden Tage noch dunkler machte, strömte unaufhörlicher Regen. Der Schmutz in den Straßen lag tief, schlüpfrig, von schweren Stiefeln zerfurcht, schlimmer als gewöhnlich, weil die Stadtverwaltung völlig zusammengebrochen war. Vom finnischen Meerbusen her fegte ein feuchter wind, die Straßen waren in kalten Nebel gehüllt. Des Nachts waren aus Gründen der Sparsamkeit und aus Furcht vor Zeppelinen die Straßen nur ganz unzureichend beleuchtet; in den Privatwohnungen und Mietshäusern brannte das elektrische Licht von sechs Uhr bis Mitternacht. Wollte man außer dieser Zeit Licht haben, so war man auf Kerzen angewiesen, die fast zwei Rubel das Stück kosteten. Petroleum war kaum zu haben. Dabei war es von drei Uhr nachmittags bis zehn Uhr vormittags finster. Überfälle und Einbrüche nahmen zu. In den Mietshäusern mussten die Männer jede Nacht mit geladenen Gewehren Wachdienst verrichten. Dies alles schon unter der Provisorischen Regierung.
Mit jeder Woche wurden die Lebensmittel knapper. Die tägliche Brotration fiel von anderthalb russischen Pfund auf ein Pfund, dann auf drei Viertel, auf ein halbes und auf ein Viertel. Gegen Ende gab es eine Woche, wo Brot überhaupt nicht ausgegeben wurde. Auf Zucker hatte man Anrecht von zwei Pfund im Monat, vorausgesetzt, dass man überhaupt welchen erhielt, was selten der fall war. Eine Schokoladentafel oder ein Pfund Bonbons, ohne jeden Geschmack, kostete allenthalben sieben bis zehn Rubel, das entspricht mindestens einem Dollar. Milch gab es für die Hälfte der Säuglinge in der Stadt; die Mehrzahl der Hotels und Privathaushaltungen bekam sie monatelang nicht zu Gesicht. In der Obstsaison wurden Äpfel und Birnen für etwas weniger als einen Rubel das Stück an den Straßenecken verkauft ... Um Milch, Brot, Zucker und Tabak musste man stundenlang im kalten Regen anstehen.
Als ich einmal aus einer die ganze Nacht währenden Versammlung nach Hause kam, sah ich, wie die Menschen, meist Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm, sich bereits vor Morgengrauen anzustellen begannen ... Carlyle hat in seiner Geschichte der Französischen Revolution das französische Volk als das Volk bezeichnet, das in der Kunst des Anstehens alle anderen Völker übertreffe. Russland hatte schon im Jahre 1915, unter der gesegneten Regierung Nikolaus’, Gelegenheit, sich in dieser Kunst zu üben, und dann, ohne Unterbrechung, bis zum Sommer 1917, wo das Anstehen um alle Dinge der gewöhnliche Zustand wurde. Man muss sich die ärmlich gekleideten Menschen vorstellen, wie sie mitten im russischen Winter oft den ganzen Tag in den froststarren Straßen Petrograds standen! Ich habe in den Schlangen zugehört und den bitteren Unterton der Unzufriedenheit vernommen, wenn er sich hier und da sogar durch die wie ein Wunder anmutende Gutmütigkeit des russischen Volkes Bahn brach. Dabei hatten alle Theater Abend für Abend, auch des Sonntags, Hochbetrieb. Die Karsawina zeigte sich in einem neuen Ballett im Marientheater, und alle tanzbegeisterten Russen gingen hin, sie zu sehen. Schaljapin sang. Im Alexandratheater wurde Meyerholds Inszenierung von Tolstois »Der Tod Iwans des Schrecklichen« gegeben. Und bei dieser Vorstellung erinnere ich mich, einen Zögling der Kaiserlichen Pagenschule in Galauniform beobachtet zu haben, der in den Pausen jedes Mal aufstand und vor der leere, ihrer Adler beraubten kaiserlichen Loge seine Ehrenbezeugungen machte ... Das Kriwoje-Serkalo – Theater brachte eine prunkvolle Aufführung von Schnitzlers »Reigen«.
Obgleich die Eremitage und andere Gemäldegalerien nach Moskau übergeführt worden waren, gab es wöchentlich Gemäldeausstellungen Scharen von Studentinnen liefen zu den Vorlesungen über Kunst, Literatur und Philosophie. Es war eine ausnehmend günstige Zeit für Theosophen. Und die Heilsarmee, die zum ersten Mal in Russland zugelassen war, bedeckte die Mauern mit Einladungen zu ihren Versammlungen, die die russischen Hörer amüsierten und in Erstaunen versetzten ... Wie immer in solchen Zeiten, ging das tägliche Leben in der Stadt seinen gewohnten Trott und ignorierte die Revolution soweit wie möglich. Die Poeten machten Verse – doch nicht über die Revolution. Die realistische Maler malten Szenen aus der mittelalterlichen Geschichte Russlands – alles mögliche, nur nicht die Revolution. Die jungen Damen aus der Provinz kamen in die Hauptstadt um Französisch zu lernen und ihre Stimme zu kultivieren, und die lustigen, jungen Offiziere trugen ihre goldverbrämten Uniformen und ihre kostbar ziselierten kaukasischen Säbel in den Salons der Hotels spazieren. Die Damen der Beamtenschaft trafen sich an den Nachmittagen zum Tee, wobei jede ihr goldenes oder silbernes, mit Edelsteinen besetztes Zuckerdöschen und einen halben Laib Brot in ihrem Muff mit sich brachte – und wünschten sich den Zaren zurück, oder das die Deutschen kommen sollten, oder irgend etwas, was das schwierige Dienstbotenproblem zu lösen geeignet wäre ... Die Tochter eines meiner Bekannten bekam eines Nachmittags einen hysterischen Anfall, weil die Straßenbahnschaffnerin sie »Genossin« genannt hatte.
Um sie herum war das ganze große Russland in Bewegung, schwanger mit einer neuen sozialen Ordnung. Die Dienstboten, die man gewohnt war, wie Tiere zu behandeln und mit einem Bettelpfennig zu entlohnen, begannen aufsässig zu werden. Ein Paar Schuhe kostete über hundert Rubel, und da die Löhne in der Regel nicht mehr als fünfunddreißig Rubel im Monat betrugen, weigerten sich die Dienstboten um Lebensmittel anzustehen und dabei ihr Schuhzeug zu verderben. Aber – was weitaus schlimmer war – in dem neuen Russland durfte jeder Mann und jede Frau wählen; es gab Arbeiterzeitungen, die ganz neue und erstaunliche Dinge schrieben; es gab Sowjets, und es gab Gewerkschaften. Die Droschkenkutscher hatten einen Verband; sie waren auch im Petrograder Sowjet vertreten. Und die Kellner und Hotelbediensteten waren organisiert und weigerten sich, Trinkgelder zu nehmen. An den Wänden der Restaurants klebten sie Zettel an, auf denen zu lesen stand: »Keine Trinkgelder!« oder auch: »Die Tatsache, dass ein Mann seinen Lebensunterhalt verdient, indem er bei Tisch aufwartet, gibt niemandem das Recht, ihn durch Trinkgeldgeben zu beleidigen.«