Zehn Tage, die die Welt erschütterten - John Reed - E-Book

Zehn Tage, die die Welt erschütterten E-Book

John Reed

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Beschreibung

Zehn Tage, die die Welt erschütterten, im englischen Original Ten Days that Shook the World, ist ein Roman des US-amerikanischen Journalisten und überzeugten Sozialisten John Reed (1887–1920) über die Oktoberrevolution von 1917. Reed beschreibt die Schicksale vieler Revolutionäre wie Grigori Sinowjew und Karl Radek, die er persönlich kannte und damals begleitete. Reed betont in seinem Vorwort (Januar 1919), dass er es den Lesenden durch gewissenhafte journalistische Arbeit ermöglichen will, den Einzelheiten nachzuspüren, "was sich im November 1917 in Petrograd zutrug, welcher Geist die Menschen beseelte, wie ihre Führer aussahen, wie sie sprachen und wie sie handelten." Reeds Vorwort bietet eine kurze Einführung zur russischen Revolution in ihrem weltgeschichtlichen Zusammenhang. Das Bucherschien 1919 und wurde in der russischen Ausgabe von Stalin später wegen der angeblichen Sympathien für Leo Trotzki zensiert. Mit dem Buch wurde Reed weltbekannt. Eine deutsche Übersetzung des Buchs erschien 1922 im Verlag der Kommunistischen Internationale, Hamburg von Willi Schulz.

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Seitenzahl: 439

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John Reed

Impressum

Texte:             © Copyright by John Reed

Umschlag:       © Copyright by Gunter Pirntke

Übersetzer: © Copyright by Willi Schulz

Verlag:

Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag

Gunter Pirntke

Mühlsdorfer Weg 25

01257 Dresden

[email protected]

 

Inhalt

Impressum

Vorwort des Autors

I. Hintergrund

II. Der heraufziehende Sturm

III. Am Vorabend

IV. Der Sturz der Provisorischen Regierung

V. Im Sturmschritt voran

VI. Das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution

VII. Die revolutionäre Front

VIII. Die Konterrevolution

IX. Sieg

X. Moskau

XI. Festigung der Macht

XII. Der Bauernkongreß

Vorwort des Autors

Dieses Buch ist ein Stück geballte Geschichte – Geschichte wie ich sie selbst erlebt habe. Es will nichts anderes sein als ein eingehender Tatsachenbericht der Novemberrevolution, in der die Bolschewiki an der Spitze der Arbeiter und Soldaten die Staatsmacht in Rußland ergriffen und in die Hände der Sowjets legten.

Natürlich beschäftigt es sich zum größten Teil mit dem „Roten Petrograd“,der Hauptstadt und dem Herzen des Aufstandes. Aber der Leser muß verstehen, daß alles, was in Petrograd geschah, früher oder später, mehr oder weniger machtvoll, überall in Rußland seine Wiederholung fand.

In diesem Buch, dem ersten einer Serie, an der ich arbeite, muß ich mich auf eine Chronik jener Ereignisse beschränken, die ich selbst gesehen und erlebt habe oder von denen ich zuverlässige Berichte erhielt. An den Anfang stelle ich zwei Kapitel, die in großen Zügen den Hintergrund und die Ursachen der Novemberrevolution umreißen. Ich bin mir darüber klar, daß diese beiden Kapitel schwer zu lesen sind, aber sie sind notwendig, um die späteren Ereignisse zu verstehen.

Beim Leser werden eine ganze Reihe Fragen auftauchen. Was ist Bolschewismus? Wie sah die von den Bolschewiki aufgestellte Regierung aus? Wenn die Bolschewiki vor der Novemberevolution die Konstituierende Versammlung forderten, warum lösten sie sie nachher mit Waffengewalt auf? Und wenn die Bourgeoisie gegen die Konstituierende Versammlung war, bevor die Gefahr des Bolschewismus für sie offensichtlich wurde, warum setzte sie sich nachher so energisch dafür ein?

Diese und viele andere Fragen können in diesem Buch nicht beantwortet werden. In einem weiteren Band, Von Kornilow bis Brest-Litowsk, verfolge ich den Lauf der Revolution bis zum Friedensschluß mit Deutschland. Dort erkläre ich auch den Ursprung und die Tätigkeit der revolutionären Organisationen, die Entwicklung im Denken und Fühlen der Massen, die Auflösung der Konstituierenden Versammlung, die Struktur des Sowjetstaates, den Verlauf und das Ergebnis der Verhandlungen von Brest-Litowsk ...

Wenn wir den Aufstieg der Bolschewiki betrachten, müssen wir verstehen, daß das Wirtschaftsleben Rußlands und die russische Armee nicht am 7. November 1917 desorganisiert wurden, sondern schon Monate früher, als logisches Ergebnis eines Prozesses der schon 1915 einsetzte. Die korrupten Reaktionäre, die am Zarenhof das Regiment führten, untergruben Rußland ganz systematisch, um einen separaten Friedensvertrag mit Deutschland herbeizuführen. Der Waffenmangel an der Front, der im Sommer1915 zum großen Rückzug führte, der Lebensmittelmangel an der Front und in den Großstädten, der Zusammenbruch der Industrie und des Verkehrswesens 1916 – all das waren, wie wir heute wissen, einzelne Phasen einer gewaltigen Sabotageaktion. Allein die Märzrevolution schob ihr in letzter Minute einen Riegel vor. Bei einer großen Revolution, in der hundertsechzig Millionen der am schwersten unterdrückten Menschen in der Welt plötzlich ihre Freiheit errangen, konnte es begreiflicherweise nicht ohne Verwirrung abgehen. Und dennoch besserte sich in den ersten Monaten des neuen Regimes die innere Lage und erhöhte sich auch die Kampfkraft der Truppen.

Aber die „Flitterwochen“ waren kurz. Die besitzenden Klassen wollten eine ausschließlich politische Revolution, die dem Zaren die Macht nähme und sie ihnen gäbe. Sie wollten aus Rußland eine konstitutionelle Republik machen wie Frankreich oder die Vereinigten Staaten; oder eine konstitutionelle Monarchie wie England. Die Massen des Volkes dagegen wollten eine wirkliche Revolution in Industrie und Landwirtschaft. William English Walling beschreibt in seinem Buch Rußlands Botschaft die Stimmung der russischen Arbeiter, die später fast ausnahmslos den Bolschewismus unterstützten.

„Sie (die Arbeiter) sahen, daß sie selbst unter einer freien Regierung, wenn sie in die Hand anderer Gesellschaftsklassen fiel, unter Umständen weiter Hunger leiden würden ...

Der russische Arbeiter ist revolutionär, aber er ist weder gewalttätig noch dogmatisch, noch unintelligent.

Er ist bereit, auf die Barrikaden zu gehen, aber er hat die Barrikaden auch studiert, und er als einziger unter den Arbeitern der ganzen Welt hat sie aus eigener Erfahrung kennengelernt. Er ist bereit und gewillt, seinen Unterdrücker, die Kapitalistenklasse, bis zum Ende zu bekämpfen. Aber er übersieht nicht das Bestehen anderer Klassen ,nur verlangt er, daß die anderen Klassen sich in dem herannahenden erbitterten Kampf klar auf die eine oder andere Seite stellen. Sie (die Arbeiter) waren sich darüber einig, daß unsere (die amerikanischen) politischen Institutionen besser sind als ihre eigenen, aber sie hatten keine Lust, einen Despoten gegen einen anderen (d.h. die Kapitalistenklasse)auszutauschen ...

Die Arbeiter Rußlands ließen sich nicht dafür zu Hunderten erschießen und hinrichten, in Moskau, in Riga, in Odessa, ließen sich nicht zu Tausenden in jedes russische Gefängnis sperren, in die schlimmsten Einöden und arktischen Gebiete verbannen, um dafür das zweifelhafte Glück eines Arbeiters in Goldfields oder Cripple Creek einzutauschen ...“

Und so entwickelte sich in Rußland, inmitten eines Weltkrieges, aus der politischen Revolution heraus die soziale Revolution, die mit dem Sieg der Bolschewiki ihren Höhepunkt erreichte.

Mr. A.J. Sack, der Direktor des russischen Informationsbüros in den Vereinigten Staaten und ein Gegner der Sowjetregierung, hat in seinem Buch Die Geburt der russischen Demokratie folgendes zu sagen:

„Die Bolschewiki bildeten ihr eigenes Kabinett mit Nikolaj Lenin als Premier und Leo Trotzki als Außenminister: Schon bald nach der Märzrevolution war es klar, daß es so kommen mußte. Die Geschichte der Bolschewiki nach der Revolution ist eine Geschichte ihres ständigen Wachstums ...“

Ausländer, ganz besonders die Amerikaner, sprechen gern von der „Unwissenheit“ der russischen Arbeiter. Es ist wahr, sie hatten nicht die politischen Erfahrungen der Völker des Westens, aber sie waren Meister im freiwilligen Zusammenschluß.1917 gab es mehr als zwölf Millionen Mitglieder der russischen Konsumgenossenschaften; und die Sowjets selbst sind ein hervorragender Beweis für ihr Organisationstalent. Außerdem gibt es wahrscheinlich in der ganzen Welt kein anderes Volk, das so gut in der sozialistischen Theorie und ihrer praktischen Anwendung geschult ist. William English Walling charakterisierte es folgendermaßen:

„Die russischen Werktätigen können meist lesen und schreiben. Seit langem herrscht im Land eine so große Unzufriedenheit, daß die Arbeiter ihre Führer nicht nur unter den intelligentesten aus ihrer eigenen Mitte suchen müssen ,sondern auch auf einen großen Teil der nicht minder revolutionären gebildeten Klasse rechnen können, die sich mit ihren Gedanken über die politische und soziale Umgestaltung Rußlands den Arbeitern zugewandt hat ...“

Viele Schriftsteller und Journalisten behaupten, um ihre Gegnerschaft zur Sowjetregierung zu begründen ,die letzte Phase der Revolution sei nichts anderes gewesen als ein Kampf der „anständigen“ Elemente gegen die brutalen Angriffe der Bolschewiki. Tatsächlich war es aber so, daß die besitzenden Klassen, als sie die ständig steigende Macht der revolutionären Organisationen des Volkes erkannten, alles versuchten, um sie zu vernichten und der Revolution Einhalt zu gebieten. Dazu war ihnen jedes, auch das verzweifeltste Mittel recht. Um die Kerenskiregierung und die Sowjets zugrunde zu richten, wurde das Verkehrswesen desorganisiert, wurden innere Unruhen heraufbeschworen. Um die Fabrikkomitees zu vernichten, wurden Fabriken geschlossen, Brennstoff und Rohmaterial beiseite geschafft. Um die Armeekomitees an der Front zu sprengen, wurde die Todesstrafe wieder eingeführt und alles getan, um eine militärische Niederlage heraufzubeschwören .Das alles war ein guter Nährboden für die Bolschewiki. Sie riefen zum Klassenkampf auf und verkündeten die Überlegenheit der Sowjets. Zwischen diesen beiden Extremen standen die sogenannten gemäßigten Sozialisten, die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, und einige kleinere Parteien und Splittergruppen, die sie aus ganzem oder halbem Herzen unterstützten. Auch diese Gruppen wurden von den besitzenden Klassen angegriffen, aber durch ihre Theorien hatten sie selbst ihre Widerstandskraft gelähmt.

Allgemein kann man sagen, daß die Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Meinung vertraten, Rußland sei für eine soziale Revolution wirtschaftlich noch nicht reif – nur eine politische Revolution sei möglich. Ihrer Meinung nach waren die russischen Massen noch zu ungebildet , um die Macht zu übernehmen; jeder Versuch in diese Richtung müsse unvermeidlich eine Reaktion hervorrufen, die von skrupellosen Opportunisten dazu ausgenutzt werden könnte, das alte Regime wieder herzustellen. Als nun die „gemäßigten“ Sozialisten zwangsläufig die Macht übernehmen mußten, konnte es unter diesen Umständen nicht ausbleiben, daß sie sich fürchteten, sie auszuüben.

Sie glaubte, Rußland müsse alle Phasen der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung durchlaufen, die auch Westeuropa durchgemacht hatte, um schließlich zusammen mit der ganzen Welt in den fertigen Sozialismus einzutreten. So stimmten sie natürlich mit den besitzenden Klassen darin überein, daß Rußland zunächst einmal ein parlamentarischer Staat werden müsse – allerdings mit gewissen Fortschritten gegenüber den westlichen Demokratien. Deshalb bestanden sie auch auf Teilnahme der besitzenden Klassen an der Regierung. Von einer solchen Position zur eindeutigen Unterstützung der Besitzenden war nur noch ein Schritt. Die „gemäßigten“ Sozialisten brauchten die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie dagegen brauchte die „gemäßigten“ Sozialisten nicht. So mußten also die sozialistischen Minister nach und nach ihr gesamtes Programm preisgeben, während die besitzenden Klassen immer mehr verlangten. Und schließlich, als die Bolschewiki diesem ganzen faulen Kompromiß den Todesstoß versetzten, standen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre im Kampf auf der Seite der besitzenden Klassen...In fast jedem Land der Welt erleben wir heute das gleiche. Statt, wie so oft behauptet wird, eine zerstörende Kraft zu sein, waren die Bolschewiki meines Erachtens die einzigen in Rußland, die ein konstruktives Programm aufzuweisen hatten und auch über die Macht verfügten, um es durchzusetzen. Hätten sie nicht in dem Augenblick die Regierungsgewalt ergriffen, zweifle ich nicht im mindesten daran, daß die Truppen des deutschen Kaiserreiches noch im Dezember in Petrograd und Moskau einmarschiert wären und Rußland wieder den Zaren auf dem Nacken gehabt hätte ...

Noch heute, ein Jahr nach der Konstituierung der Sowjetregierung, gehört es zum sogenannten guten Ton, den bolschewistischen Aufstand ein „Abenteuer“ zu nennen. Ein Abenteuer war es, und eines der herrlichsten, das die Menschheit aufzuweisen hat. Die arbeitenden Massen haben die Geschichte in die Hand genommen und alles ihren gewaltigen und doch leichtverständlichen Wünschen untergeordnet. Der Apparat war vorhanden, mit dessen Hilfe der Großgrundbesitz unter die Bauern aufgeteilt werden konnte. Es gab die Fabrikkomitees und Gewerkschaften, um die Kontrolle der Arbeiter über die Industrie in Gang zu bringen. In jedem Dorf, in jeder Stadt, in jedem Bezirk, in jedem Gouvernement gab es Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, bereit, die örtliche Verwaltung in die Hand zu nehmen. Was man auch vom Bolschewismus denken mag, unbestreitbar ist, daß die russische Revolution eine der größten Taten in der Geschichte der Menschheit ist und der Aufstieg der Bolschewiki ein Ereignis von weltweiter Bedeutung. Ebenso wie die Historiker jeder Einzelheit aus der Pariser Kommune nachspüren, werden sie auch wissen wollen, was sich im November 1917 in Petrograd zutrug, welcher Geist die Menschen beseelte, wie ihre Führer aussahen, wie sie sprachen und wie sie handelten. Das hat mich bewogen, dieses Buch zu schreiben.

Im Kampf waren meine Sympathien nicht neutral. Aber in meiner Schilderung der Geschichte dieser großen Tage habe ich versucht, die Ereignisse mit den Augen eines gewissenhaften Reporters zu sehen, der nichts anderes will als die Wahrheit schreiben.

New York, 1. Januar 1919

J.R.

I. Hintergrund

Gegen Ende September 1917 besuchte mich ein ausländischer Professor der Soziologie in Petrograd. Ihm war von Männern der Wirtschaft und von Intellektuellen erzählt worden, daß die Revolution im Abebben sei. Der Herr Professor schrieb darüber einen Artikel und durchreiste dann das Land; er besuchte Fabrikstädte und Dorfgemeinden, wo zu seinem großen Erstaunen die Revolution ihren Schritt eher zu beschleunigen schien. Unter den Lohnarbeitern und der werktätigen Landbevölkerung ertönte immer öfter der Ruf: „Alles Land den Bauern!“ „Alle Fabriken den Arbeitern!“ Wenn der Herr Professor die Front besucht hätte, so hätte erhören können, wie in der ganzen Armee von nichts als dem Frieden die Rede war ...

Der Herr Professor war verwirrt; ohne Grund; beide Beobachtungen waren richtig. Die besitzenden Klassen wurden konservativer, die Volksmassen radikaler.

In den Reihen der Geschäftswelt und in der Intelligenz herrschte allgemein das Gefühl, daß die Revolution weit genug gegangen sei und schon zu lange währe; daß es an der Zeit sei, Ruhe zu schaffen. Dieser Auffassung waren auch die herrschenden „gemäßigten“ sozialistischen Gruppen, die Menschewiki-„Oboronzy“ und Sozialrevolutionäre, die die Provisorische Kerenskiregierung unterstützten.

Am 14. Oktober erklärte das offizielle Organ der „gemäßigten“ Sozialisten:

„Das Drama der Revolution hat zwei Akte: Die Zerstörung der alten Ordnung und die Schaffung der neuen. Der erste Akt hat lange genug gedauert. Jetzt ist es an der Zeit, den zweiten zu beginnen und ihn so schnell als möglich zu Ende zu führen. Von einem großen Revolutionär stammt das Wort: ‚Eilen wir uns Freunde, die Revolution zu beenden. Wer sie zu lange währen läßt, läuft Gefahr, um ihre Früchte zu kommen‘ ...“

Die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernmassen waren dagegen der festen Überzeugung, daß der „erste Akt“ noch lange nicht zu Ende gespielt war. An der Front stießen überall Armeekomitees mit den Offizieren zusammen, die sich noch immer nicht gewöhnen konnten, die Soldaten als Menschen zu behandeln; im Hinterland wurden die von den Bauern gewählten Bodenkomitees eingesperrt, wo sie sich unterfingen, die von der Regierung angeordneten Bestimmungen über den Grund und Boden durchzuführen; und die Arbeiter in der Fabriken mußten einen schweren Kampf gegen schwarze Listen und Aussperrungen führen. Die zurückkehrenden politischen Verbannten wurden als „unerwünschte Bürger“ nicht ins Land hineingelassen, und in manchen Fällen wurden Menschen, die aus dem Auslande in ihre Dörfer zurückkehrten, wegen der im Jahre 1905 begangenen politischen Handlungen verfolgt und eingekerkert.

Auf die mannigfaltige Unzufriedenheit des Volkes hatten die „gemäßigten“ Sozialisten nur eine Antwort: Die Konstituierende Versammlung abzuwarten, die im Dezember zusammentreten sollte. Aber die Massen waren damit nicht zufrieden. Die Konstituierende Versammlung war gut und schön, doch es gab gewisse klar umrissene Dinge, um derentwillen die russische Revolution gemacht worden war, für die die revolutionären Märtyrer, die in den Massengräbern des Marsfeldes lagen, ihr Blut vergossen hatten; diese galt es zu verwirklichen, mit oder ohne Konstituierende Versammlung: Frieden, Land, Kontrolle der Arbeiter über die Industrie. Die Konstituierende Vesammlung war bisher immer wieder vertagt worden – und würde wahrscheinlich noch einmal vertagt werden, so lange vielleicht, bis das Volk ruhig genug geworden war, um auf einen Teil seiner Forderungen zu verzichten. Acht Monate Revolution waren bereits ins Land gegangen, und wenig genug zu sehen ...

Inzwischen begannen die Soldaten, die Friedensfrage auf eigene Faust zu lösen, indem sie einfach desertierten; die Bauern brannten die Gutshäuser nieder und setzten sich in den Besitz der großen Güter; die Arbeiter streikten ... Die Fabrikanten, Gutsbesitzer und Offiziere der Armee setzten ihren ganzen Einfluß ein, um jedes demokratische Zugeständnis zu verhindern ...

Die Politik der Provisorischen Regierung schwankte zwischen wertlosen Reformen und brutaler Unterdrückung. Ein Befehl des sozialistischen Arbeitsministers ordnete an, daß die Arbeiterkomitees fortan nur nach Feierabend zusammentreten dürften. Bei den Truppen an der Front wurden die „Agitatoren“ der oppositionellen politischen Parteien verhaftet, die radikalen Zeitungen verboten und die Todesstrafe gegen revolutionäre Propagandisten angewandt. Versuche wurden unternommen, die Roten Garden zu entwaffnen. Kosaken wurden in die Provinzen geschickt, damit sie dort die Ordnung wiederherstellten ...

Diese Maßnahmen wurden von den „gemäßigten“ Sozialisten und ihren Führern im Ministerium, die die Zusammenarbeit mit den besitzenden Klassen für notwendig hielten, gutgeheißen. Die Volksmassen wandten sich in schnellem Tempo von ihnen ab und gingen zu den Bolschewiki über, die für Frieden, Land für die Kontrolle der Arbeiter über die Industrie und für eine Regierung der Arbeiterklasse waren. Im September 1917 spitzten sich die Dinge zur Krise zu. Gegen den überwältigenden Willen des Landes gelang es Kernski und den „gemäßigten“ Sozialisten, eine Koalitionsregierung mit den besitzenden Klassen zu errichten; das Resultat war, daß die Menschewiki und Sozialrevolutionäre das Vertrauen des Volkes endgültig verloren.

Ein Artikel im Rabotschi Put (Der Arbeiterweg) um die Mitte des Oktobers unter dem Titel Die sozialistischen Minister brachte die Meinung der Volksmassen wie folgt zum Ausdruck:

“Hier eine Liste ihrer Leistungen:

Zereteli: entwaffnete die Arbeiter mit Hilfe des Generals Polowzew, brachte den revolutionären Soldaten eine Niederlage bei und stimmte der Todesstrafe in der Armee zu.

Skobelew: begann mit dem Versprechen, eine hundertprozentige Steuer auf die Profite der Kapitalisten zu legen, und endete – und endete mit dem Versuch, die Arbeiterkomitees in den Werkstätten und Fabriken aufzulösen.

Awxentjew: warf einige Hundert Bauern ins Gefängnis, die Mitglieder der Bodenkomitees, und unterdrückte Dutzende von Arbeiter- und Soldatenzeitungen.

Tschernow: unterzeichnete das Kaiserliche Manifest, das die Auflösung des finnischen Landtages anordnete.

Sawinkow: schloß ein offenes Bündnis mit dem General Kornilow. Wenn es diesem Retter des Landes nicht gelang, Petrograd zu verraten, so ist das auf Gründe zurückzuführen, die seinem Einfluß nicht unterlagen.

Sarudny: kerkerte mit Zustimmung Alexinskis und Kerenskis Tausende revolutionäre Arbeiter, Soldaten und Matrosen ein.

Nikitin: handelte als ordinärer Polizist gegen die Eisenbahner.

Kerenski: über den sagt man am besten gar nichts. Die Liste seiner Leistungen würde zu lang werden ...“

Ein Delegiertenkongress der Baltischen Flotte in Helsingfors beschloß eine Resolution, die wie folgt begann:

„Wir fordern die sofortige Entfernung des ,Sozialisten‘ und politischen Abenteurers Kerenski aus der Provisorischen Regierung, der die große Revolution und mit ihr die revolutionären Massen durch seine schamlosen politischen Erpressungen im Interesse der Bourgeoisie zugrunde richtet ...“

Das unmittelbare Ergebnis alles dessen war der Aufstieg der Bolschewiki ...

Seit dem März 1917, als der Ansturm der Arbeiter und Soldaten auf den Taurischen Palast die widerstrebende Reichsduma zwang, die Macht in Rußland zu übernehmen, waren es die Massen des Volkes, die Arbeiter, Soldaten und Bauern, die jeden Wechsel im Fortgang der Revolution erzwangen. Sie stürzten das Ministerium Miljukows; ihr Sowjet war es, der der Welt die russischen Friedensvorschläge verkündete: „Keine Annexionen, keine Entschädigungen, Selbstbestimmungsrecht der Völker!“ und wieder, im Juli, war es die spontane Erhebung des unorganisierten Proletariats, das zum zweiten Male den Taurischen Palast stürmte und die Forderung erhob: Übernahme der Regierungsgewalt in Rußland durch die Sowjets.

Die Bolschewiki, zu der Zeit eine kleine politische Sekte, stellten sich an die Spitze der Bewegung. Das Ergebnis des völligen Mißerfolgs der Erhebung war, daß sich die öffentliche Meinung gegen sie kehrte. Ihre führerlosen Massen fluteten in das Wiborgviertel zurück, das Saint Antoine von Petrograd. Dann folgte eine wilde Bolschewistenhetze: Hunderte wurden eingekerkert, darunter Trotzki, Frau Kollontai und Kamenew; Lenin und Sinojew mußten sich verbergen, gehetzt von der Justiz; die bolschewistischen Zeitungen wurden unterdrückt. Provokateure und Reaktionäre wurden nicht müde, die Bolschewiki als deutsche Agenten zu bezeichnen, bis sich in der ganzen Welt Leute fanden, die das glaubten.

Aber die Provisorische Regierung konnte ihre Anklagen nicht beweisen; die Dokumente, die die prodeutsche Verschwörertätigkeit der Bolschewiki beweisen sollten, wurden als Fälschungen enthüllt. Und die Bolschewiki wurden, einer nach dem anderen, aus den Gefängnissen entlassen, ohne jeden Prozeß, gegen nominelle oder ohne jede Bürgschaft, bis nur sechs Verhaftete übrigblieben. Die Machtlosigkeit und Unentschlossenheit der ständig wechselnden Provisorischen Regierung war allein schon ein unwiderlegbares Argument. Die Bolschewiki stellten erneut die den Massen so wertvolle Losung auf: „Alle Macht den Sowjets!“, und sie taten das nicht aus Selbstsucht; zu der Zeit gehörte die Mehrheit in den Sowjets den „gemäßigten“ Sozialisten, ihren wütendsten Gegnern.

Doch mehr noch; sie übernahmen die elementaren, einfachen wünsche der Arbeiter, Soldaten und Bauern und schufen daraus ihr Aktionsprogramm. Und während die sozialpatriotischen Menschewiki und Sozialrevolutionäre sich in der Politik des Kompromisses mit der Bourgeoisie verwirrten, eroberten die Bolschewiki schnell die russischen Massen. Im Juli waren sie noch gehetzt und verachtet, im September waren die Arbeiter der Hauptstadt, die Matrosen der Baltischen Flotte und die Soldaten bereits fast ganz auf ihrer Seite. Die Kommunalwahlen, die im September in den großen Städten stattfanden, waren dafür bezeichnend; nur acht Prozent der Gewählten waren Menschewiki und Sozialrevolutionäre gegenüber mehr als siebzig Prozent im Juni ...

Es bleibt ein Umstand, der geeignet ist, den nichtrussischen Beobachter zu verwirren: das Zentralexekutivkomitee der Sowjets, die zentralen Armee- und Flottenkomitees und die Zentralkomitees einiger Gewerkschaften, vor allem die der Post – und Telegrafenarbeiter und der Eisenbahner, waren den Bolschewiki entschieden feindlich. Alle diese Zentralkomitees waren in der Mitte des Sommers oder sogar vorher gewählt worden, als die Menschewiki und Sozialrevolutionäre noch eine ungeheure Anhängerschaft hatten; jetzt schoben sie Neuwahlen immer wieder hinaus oder verhinderten sie sogar. So hätte beispielsweise den Bestimmungen der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten gemäß der Gesamtrussische Sowjetkongreß zum September einberufen werden müssen; doch das Zentralexekutivkomitee wollte ihn nicht zusammentreten lassen unter dem Vorwand, daß die Konstituierende Versammlung in spätestens zwei Monaten tagen würde, womit, so deuteten sie an, die Aufgabe der Sowjets erledigt wäre und sie abzutreten hätten. Mittlerweile eroberten die Bolschewiki im ganzen Lande einen nach dem anderen die örtlichen Sowjets, die lokalen Gewerkschaftsorganisationen und die unteren Soldaten- und Matrosenmassen. Die Bauernsowjets blieben noch konservativ, weil in den rückständigen ländlichen Gebieten das politische Bewußtsein sich nur langsam entwickelte; außerdem hatte seit einer ganzen Generation die Agitation in den Händen der Sozialrevolutionäre gelegen ... Doch selbst unter den Bauern begann sich ein revolutionärer Flügel zu bilden. Das zeigte sich klar im Oktober, als sich der linke Flügel der Sozialrevolutionäre abspaltete und eine neue politische Partei bildete, die Partei der linken Sozialrevolutionäre.

Gleichzeitig waren allenthalben Anzeichen vorhanden, daß die Reaktion wieder Selbstvertrauen gewann. In der Troizki-Komödie in Petrograd wurde beispielsweise eine Burleske mit dem Titel Die Sünden des Zaren von einer Monarchistengruppe gestört, die die Schauspieler zu lynchen drohte, weil sie „den Zaren beleidigt“ hatten. Gewisse Zeitungen begannen nach einem „russischen Napoleon“ zu rufen. Es war damals bei der bürgerlichen Intelligenz üblich, die Arbeiterdeputierten als „Hundedeputierte“ zu bezeichnen.

Am 15. Oktober hatte ich eine Unterhaltung mit einem russischen Großkapitalisten, Stepan Georgijewitsch Lianosow, bekannt als der „russische Rockefeller“, seiner politischen Parteizugehörigkeit nach ein Kadett.

„Die Revolution“, sagte dieser, „ist eine Krankheit. Früher oder später werden die fremden Mächte eingreifen müssen, gerade so, wie man eingreifen muß, um ein krankes Kind zu heilen oder es laufen zu lehren. Natürlich wird das mehr oder weniger unangenehm sein, aber die Nationen müssen sich klarwerden über die Gefahr des Bolschewismus in ihren eigenen Ländern, über die Gefährlichkeit so ansteckender Ideen wie die der proletarischen Diktatur und der sozialen Weltrevolution ... es besteht eine Möglichkeit, daß das Eingreifen nicht notwendig ist: das Transportwesen ist zerstört, die Fabriken schließen ihre Tore, die Deutschen sind im Vormarsch. Der Hunger und die Niederlage möchten vielleicht das russische Volk zur Vernunft bringen ...“

Herr Lianosow erklärte entschieden, daß sich die Kaufleute und Fabrikanten unter keinen Umständen mit der Existenz der Fabrikkomitees abfinden oder zugeben könnten, daß die Arbeiter irgendeinen Einfluß auf die Leitung der Industrie gewinnen.

„Was die Bolschewiki anbelangt, so könnte man mit ihnen auf zweierlei Art fertig werden: die Regierung kann Petrograd räumen, dann den Belagerungszustand erklären, womit der Militärkommandant des Gebietes die Möglichkeit erhalten würde, mit diesen Herrschaften, ungehindert durch gesetzliche Formalitäten, abzurechnen ... Oder aber, falls die Konstituierende Versammlung irgendwelche utopischen Neigungen zeigen sollte, kann sie mit Waffengewalt auseinandergetrieben werden ...“

Der Winter rückte heran – der schreckliche russische Winter. Ich hörte Kapitalisten über ihn wie folgt sprechen:“Der Winter war immer Rußlands bester Freund. Vielleicht wird er uns jetzt von der Revolution befreien.“ An der frierenden Front fuhren die Armeen fort, zu hungern und zu sterben, ohne Begeisterung. Der Eisenbahnverkehr brach zusammen, die Lebensmittel wurden knapp, die Fabriken schlossen die Tore. Die verzweifelten Massen beschuldigten die Bourgeoisie, das Leben des Volkes zu sabotieren und die Niederlage an der Front herbeizuführen. Riga war preisgegeben worden, unmittelbar nachdem der General Kornilow in aller Öffentlichkeit erklärt hatte: „Vielleicht ist Riga der Preis, den wir zahlen müssen, um das Land zum Bewußtsein seiner Pflicht zu bringen.“

Für Amerikaner mag es unglaublich klingen, daß der Klassenkampf sich dermaßen zuspitzen kann. Aber ich habe persönlich an der Nordfront mit Offizieren gesprochen, die offen den militärischen Zusammenbruch der Zusammenarbeit mit den Soldatenkomitees vorzogen. Der Sekretär der Petrograder Organisation der Kadettenpartei erzählte mir, daß der Zusammenbruch des ökonomischen Lebens des Landes ein Teil der Kampagne war, die die Revolution diskreditieren sollte. Ein Ententediplomat, dessen Namen ich zu verschweigen versprochen habe, bestätigte mir dies aus eigener Kenntnis. Ich weiß von gewissen Kohlenbergwerken in der Nähe von Charkow, die von ihren Besitzern in Brand gesteckt und unter Wasser gesetzt wurden, von Textilfabriken in Moskau, deren Ingenieure die Maschinen vor ihrer Flucht zerstört hatten, von hohen Eisenbahnbeamten, die von den Arbeitern dabei ertappt wurden, als sie die Lokomotiven zu zerstören im Begriff waren ...

Ein großer Teil der besitzenden Klasse zog die Deutschen der Revolution vor – selbst der Provisorischen Regierung – und zögerte nicht, dies auszusprechen. In der russischen Familie, bei der ich wohnte, war der Gegenstand der Unterhaltung bei Tisch fast immer das Kommen der Deutschen, die „Ruhe und Ordnung“ bringen würden ... Ich verlebte einmal einen Abend im Hause eines Moskauer Kaufmanns; beim Tee fragten wir die elf Personen am Tisch, wen sie vorzögen, „Wilhelm oder die Bolschewiki“. Zehn stimmten für Wilhelm ...

Die Spekulanten nützten die allgemeine Desorganisierung aus, um Reichtümer anzuhäufen, die sie in phantastischen Schwelgereien vergeudeten oder dazu verwendeten, die Staatsbeamten zu bestechen. Lebensmittel und Brennmaterial wurden versteckt oder im geheimen nach Schweden verkauft. In den ersten vier Monaten der Revolution beispielsweise wurden die Lebensmittelreserven fast in voller Öffentlichkeit aus den großen städtischen Speichern Petrograds geplündert, bis von den Getreidevorräten, die für zwei Jahre bestimmt waren, kaum genug übrig war, um die Stadt einen Monat lang zu versorgen ... Nach dem offiziellen Bericht des letzten Ernährungsministers in der Provisorischen Regierung wurde der Kaffee in Wladiwostok im Großeinkauf für zwei Rubel das Pfund gekauft, während die Konsumenten in Petrograd dreizehn Rubel zahlen mußten. In den Geschäften der großen Städte waren große Mengen an Lebensmitteln und Kleidung; aber nur die Reichen konnten sie kaufen.

Ich kannte in einer Provinzstadt eine Kaufmannsfamilie, die sich der Spekulation zugewandt hatte. Marodeure werden solche von den Russen genannt. Die drei Söhne hatten sich vom Militärdienst gedrückt. Der eine spekulierte in Lebensmitteln. Der zweite verkaufte im geheimen Gold aus den Lena- Gruben an geheimnisvolle Interessenten in Finnland. Der dritte besaß die Aktienmehrheit in einer Schokoladenfabrik, die die örtliche Genossenschaften versorgte – unter der Bedingung, daß die Genossenschaften ihm lieferten, was er brauchte . Während die Volksmassen auf ihre Brotkarten ein Viertelpfund Schwarzbrot erhielten, hatte er im Überfluß Weißbrot, Zucker, Tee, Kuchen und Butter ... Das hinderte diese saubere Familie nicht, die erschöpften Soldaten, die an der Front infolge der Kälte und des Hungers nicht mehr kämpfen konnten , als „Feiglinge“ zu beschimpfen, und daß sie sich „schämten“ „Russen“ zu sein ... Und als die Bolschewiki große Mengen versteckter Vorräte entdeckten und beschlagnahmten, bezeichneten sie diese als „Räuber“.

Unter all dieser äußeren Korruptheit arbeiteten die alten reaktionären Kräfte, die sich seit dem Sturz Nikolaus’ II. Nicht geändert hatten, im geheimen still und sehr aktiv. Die Agenten der berüchtigten Ochrana waren noch immer in Funktion, für und gegen den Zaren, für und gegen Kerenski – je nachdem, von wem sie bezahlt wurden ... Geheime Organisationen aller Art, wie die Schwarzhunderter, waren eifrig bemüht, in der einen oder anderen Weise die Reaktion wiederherzustellen.

In dieser Atmosphäre der Fäulnis, der halben Wahrheiten ließ sich, tagaus, tagein, nur ein klarer Ton vernehmen, der Ruf der Bolschewiki: „Alle Macht den Sowjets!“, „Alle Macht den Vertretern der Millionen und aber Millionen Arbeiter, Soldaten und Bauern!“, „Land, Brot!“, „Schluß mit dem sinnlosen Krieg!“, „Schluß mit der Geheimdiplomatie!“, „Schluß mit der Spekulation und dem Verrat!“ ... „Die Revolution ist in Gefahr und mit ihr die Sache des Volkes in der ganzen Welt!“

Der Kampf zwischen dem Proletariat und dem Bürgertum, zwischen den Sowjets und der Regierung, der in den ersten Märztagen begonnen hatte, war seinem Gipfel nahe. Rußland, das mit einem Satze aus dem tiefsten Mittelalter ins zwanzigste Jahrhundert gesprungen war, bot der erstaunten Welt das Schauspiel des tödlichen Kampfes zweier Systeme der Revolution – der formal politischen und der sozialen.

Was für eine unglaubliche Lebenskraft offenbarte diese russische Revolution, nach all den Monaten des Hungers und der Enttäuschung! Die Bourgeoisie hätte ihr Rußland besser kennen sollen. Lange noch wird es dauern, bis die „Krankheit“ der Revolution in Rußland ihren Lauf genommen hat ...

Blickt man zurück, so scheint Rußland vor dem Novemberaufstand einem anderen Zeitalter anzugehören, fast unglaublich konservativ. So schnell haben wir uns dem neuen, schnelleren Leben angepaßt. In dem Maße, wie das russische politische Leben sich radikalisierte, bis die Kadetten als Volksfeinde geächtet wurden, wurde Kerenski „ein Konterrevolutionär“; die „gemäßigten“ sozialistischen Führer, Zereteli, Dan, Liber, Goz und Awxentjew, waren zu reaktionär für ihre Gefolgschaft, und Männer wie Wiktor Tschernow, ja sogar Maxim Gorki gehörten zum rechten Flügel ...

Gegen Mitte Dezember 1917 besuchte eine gruppe sozialrevolutionäre Führer privatim Sir George Buchanan, den britischen Gesandten, und sie baten ihn inständig, nichts davon zu erwähnen, daß sie bei ihm gewesen waren, weil sie als „zu weit rechts stehend“ betrachtet wurden.

„Man bedenke“, sagte Buchanan, „daß noch vor einem Jahr die englische Regierung mir Anweisung gab, Miljukow nicht zu empfangen, weil er so ein gefährlicher Linker war.“

Der September und der Oktober sin die schlimmsten Monate im russischen Jahr, besonders in Petrograd. Aus einem trostlos grauen Himmel, der die kürzer werdenden Tage noch dunkler machte, strömte unaufhörlicher Regen. Der Schmutz in den Straßen lag tief, schlüpfrig, von schweren Stiefeln zerfurcht, schlimmer als gewöhnlich, weil die Stadtverwaltung völlig zusammengebrochen war. Vom finnischen Meerbusen her fegte ein feuchter wind, die Straßen waren in kalten Nebel gehüllt. Des Nachts waren aus Gründen der Sparsamkeit und aus Furcht vor Zeppelinen die Straßen nur ganz unzureichend beleuchtet; in den Privatwohnungen und Mietshäusern brannte das elektrische Licht von sechs Uhr bis Mitternacht. Wollte man außer dieser Zeit Licht haben, so war man auf Kerzen angewiesen, die fast zwei Rubel das Stück kosteten. Petroleum war kaum zu haben. Dabei war es von drei Uhr nachmittags bis zehn Uhr vormittags finster. Überfälle und Einbrüche nahmen zu. In den Mietshäusern mußten die Männer jede Nacht mit geladenen Gewehren Wachdienst verrichten. Dies alles schon unter der Provisorischen Regierung.

Mit jeder Woche wurden die Lebensmittel knapper. Die tägliche Brotration fiel von anderthalb russischen Pfund auf ein Pfund, dann auf drei viertel, auf ein halbes und auf ein viertel. Gegen Ende gab es eine Woche, wo Brot überhaupt nicht ausgegeben wurde. Auf Zucker hatte man Anrecht von zwei Pfund im Monat, vorausgesetzt, daß man überhaupt welchen erhielt, was selten der Fall war. Eine Schokoladentafel oder ein Pfund Bonbons, ohne jeden Geschmack, kostete allenthalben sieben bis zehn Rubel, das entspricht mindestens einem Dollar. Milch gab es für die Hälfte der Säuglinge in der Stadt; die Mehrzahl der Hotels und Privathaushaltungen bekam sie monatelang nicht zu Gesicht. In der Obstsaison wurden Äpfel und Birnen für etwas weniger als einen Rubel das Stück an den Straßenecken verkauft ...

Um Milch, Brot, Zucker und Tabak mußte man stundenlang im kalten Regen anstehen. Als ich einmal aus einer die ganze Nacht währenden Versammlung nach Hause kam, sah ich, wie die Menschen, meist Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm, sich bereits vor Morgengrauen anzustellen begannen ... Carlyle hat in seiner Geschichte der Französischen Revolution das französische Volk als das Volk bezeichnet, das in der Kunst des Anstehens alle anderen Völker übertreffe. Rußland hatte schon im Jahre 1915, unter der gesegneten Regierung Nikolaus’, Gelegenheit, sich in dieser Kunst zu üben, und dann, ohne Unterbrechung, bis zum Sommer 1917, wo das Anstehen um alle Dinge der gewöhnliche Zustand wurde. Man muß sich die ärmlich gekleideten Menschen vorstellen, wie sie mitten im russischen Winter oft den ganzen Tag in den froststarren Straßen Petrograds standen! Ich habe in den Schlangen zugehört und den bitteren Unterton der Unzufriedenheit vernommen, wenn er sich hier und da sogar durch die wie ein Wunder anmutende Gutmütigkeit des russischen Volkes Bahn brach.

Dabei hatten alle Theater Abend für Abend, auch des Sonntags, Hochbetrieb. Die Karsawina zeigte sich in einem neuen Ballett im Marientheater, und alle tanzbegeisterten Russen gingen hin, sie zu sehen. Schaljapin sang. Im Alexandratheater wurde Meyerholds Inszenierung von Tolstois Der Tod Iwans des Schrecklichen gegeben. Und bei dieser Vorstellung erinnere ich mich, einen Zögling der Kaiserlichen Pagenschule in Galauniform beobachtet zu haben, der in den Pausen jedesmal aufstand und vor der leere, ihrer Adler beraubten kaiserlichen Loge seine Ehrenbezeugungen machte ... Das Kriwoje-Serkalo-Theater brachte eine prunkvolle Aufführung von Schnitzlers Reigen.

Obgleich die Eremitage und andere Gemäldegalerien nach Moskau übergeführt worden waren, gab es wöchentlich Gemäldeausstellungen Scharen von Studentinnen liefen zu den Vorlesungen über Kunst, Literatur und Philosophie. Es war eine ausnehmend günstige Zeit für Theosophen. Und die Heilsarmee, die zum erstenmal in Rußland zugelassen war, bedeckte die Mauern mit Einladungen zu ihren Versammlungen, die die russischen Hörer amüsierten und in Erstaunen versetzten ...

Wie immer in solchen Zeiten, ging das tägliche Leben in der Stadt seinen gewohnten Trott und ignorierte die Revolution soweit wie möglich. Die Poeten machten Verse – doch nicht über die Revolution. Die realistische Maler malten Szenen aus der mittelalterlichen Geschichte Rußlands – alles mögliche, nur nicht die Revolution. Die jungen Damen aus der Provinz kamen in die Hauptstadt um Französisch zu lernen und ihre Stimme zu kultivieren, und die lustigen, jungen Offiziere trugen ihre goldverbrämten Uniformen und ihre kostbar ziselierten kaukasischen Säbel in den Salons der Hotels spazieren. Die Damen der Beamtenschaft trafen sich an den Nachmittagen zum Tee, wobei jede ihr goldenes oder silbernes, mit Edelsteinen besetztes Zuckerdöschen und einen halben Laib Brot in ihrem Muff mit sich brachte – und wünschten sich den Zaren zurück, oder das die Deutschen kommen sollten, oder irgend etwas, was das schwierige Dienstbotenproblem zu lösen geeignet wäre ... Die Tochter eines meiner Bekannten bekam eines Nachmittags einen hysterischen Anfall, weil die Straßenbahnschaffnerin sie „Genossin“ genannt hatte.

Um sie herum war das ganze große Rußland in Bewegung, schwanger mit einer neuen sozialen Ordnung. Die Dienstboten, die man gewohnt war, wie Tiere zu behandeln und mit einem Bettelpfennig zu entlohnen, begannen aufsässig zu werden. Ein Paar Schuhe kostete über hundert Rubel, und da die Löhne in der Regel nicht mehr als fünfunddreißig Rubel im Monat betrugen, weigerten sich die Dienstboten, um Lebensmittel anzustehen und dabei ihr Schuhzeug zu verderben. Aber – was weitaus schlimmer war – in dem neuen Rußland durfte jeder Mann und jede Frau wählen; es gab Arbeiterzeitungen, die ganz neue und erstaunliche Dinge schrieben; es gab Sowjets, und es gab Gewerkschaften. Die Droschkenkutscher hatten einen Verband; sie waren auch im Petrograder Sowjet vertreten. Und die Kellner und Hotelbediensteten waren organisiert und weigerten sich, Trinkgelder zu nehmen. An den Wänden der Restaurants klebten sie Zettel an, auf denen zu lesen stand: „Keine Trinkgelder!“ oder auch: „Die Tatsache, daß ein Mann seinen Lebensunterhalt verdient, indem er bei Tisch aufwartet, gibt niemandem das Recht, ihn durch Trinkgeldgeben zu beleidigen.“

An der Front setzten sich die Soldaten mit den Offizieren auseinander und lernten es, sich mit Hilfe ihrer Komitees selbst zu regieren. In den Fabriken erlangten die Fabrikkomitees, diese einzigartigen russischen Organisationen, Erfahrung und Stärke und kamen zum Bewußtsein ihrer historischen Mission durch den Kampf mit der alten Ordnung. Ganz Rußland lernte lesen. Und es las – Politik, Ökonomie, Geschichte. Das Volk wollte Wissen ... In jeder Großstadt, fast in jeder Stadt, an der ganzen Front hatte jede politische Partei ihre Zeitung, manchmal mehrere. Hunderttausende von Flugblättern wurden von Tausenden Organisationen verteilt, überschwemmten die Armee, die Dörfer, die Fabriken, die Straßen. Der Drang nach Wissen, so lange unterdrückt, brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn. Allein aus dem Smolny-Institut gingen in den ersten sechs Monaten täglich Tonnen, Wagenladungen Literatur ins Land. Rußland saugte den Lesestoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen wurden, keine Geschichtslügen, keine verwässerte Religion oder der billige Roman, der demoralisiert – es waren soziale und ökonomische Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis ...

Und dann das gesprochene Wort, neben dem Carlyles „Flut der französischen Rede“ wie ein armseliges Rinnsal anmutet: Vorlesungen, Debatten, Reden; in Theatern, Zirkussen, Schulen, Klubs, in den Sitzungen der Sowjets, der Gewerkschaften, in den Kasernen ... Versammlungen in den Schützengräben an der Front, auf den Dorfplätzen, in den Fabriken ... Was für ein Anblick, die Arbeiter der Putilow- Werke, vierzigtausend Mann stark, herausströmen zu sehen, um die Sozialdemokraten zu hören, die Sozialrevolutionäre, die Anarchisten – wer immer etwas zu sagen hatte, solange er reden wollte. Monatelang war in Petrograd, in ganz Rußland jede Straßenecke eine öffentliche Tribüne. In den Eisenbahnen, in den Straßenbahnwagen, überall improvisierte Debatten, überall ...

Und die Gesamtrussischen Konferenzen und Kongresse, die die Menschen zweier Kontinente in Verbindung brachten – Kongresse der Sowjets, der Genossenschaften, der Semstwos, der Nationalitäten, der Priester, der Bauern, der politischen Parteien; die Demokratische Beratung, die Moskauer Beratung, der Rat der Russischen Republik. In Petrograd tagten ständig drei oder vier Kongresse. In den Versammlungen wurde jeder Versuch, die Redezeit einzuschränken, abgelehnt. Jedermann hatte vollkommene Freiheit, auszusprechen, was er auf dem Herzen hatte ...

Wir waren bei der Zwölften Armee an der Front, die eben von Riga gekommen war, wo hungernde und barfüßige Soldaten in dem Moder der Schützengräben dahinkrankten; kaum sahen sie uns, als sie auch schon aufsprangen, mit ihren mageren Gesichtern und ihren blaugefrorenen Gliedern, die durch ihre zerrissenen Kleider schimmerten. Und das erste, was sie fragten, war: „Habt ihr was zu lesen?“

Wenn aber auch an äußeren und sichtbaren Zeichen der Wandlung kein Mangel war: zum Beispiel die Statue der „großen Katharina“ vor dem Alexandratheater eine kleine rote Fahne in der Hand hielt und andere – etwas verblichen – von allen öffentlichen Gebäuden herabwehten; die kaiserlichen Insignien und Adler teils heruntergerissen, teils verdeckt waren; an der Stelle der brutalen zaristischen Polizisten in den Straßen eine sanfte unbewaffnete Bürgermiliz patroullierte – so gab es dennoch zahllose wunderliche Anachronismen.

Beispielsweise existierte noch immer die Rangordnung, die Peter der Große Rußland mit eiserner Hand aufgezwungen hatte. Fast jedermann, vom Schulbuben angefangen, hatte seine vorgeschriebene Uniform, mit den Abzeichen des Kaisers auf den Knöpfen und Achselstücken. Von fünf Uhr nachmittags an waren die Straßen gefüllt mit alten Herren in Uniform, die Aktenmappen trugen und von der Arbeit in den riesengroßen kasernengleichen Ministerien oder Regierungsinstitutionen kamen, wo ihre Tätigkeit darin bestehen mochte, auszurechnen, wie lange es währen würde, bis der Tod eines ihrer Vorgesetzten sie zum Rang eines Assessors oder Geheimrats aufsteigen lassen würde mit der Aussicht auf Pensionierung, mit einem einträglichen Ruhegehalt und womöglich mit dem St. Annenkreuz .... Dem Senator Sokolow ist es passiert, in einem Moment, als die Revolution ihre höchste Welle erreicht hatte, daß er eines Tages zu einer Senatssitzung in Zivilkleidung erschien und nicht zugelassen wurde, weil er nicht die vorgeschriebene Livrée des Zarendienstes trug!

Gegen diesen Hintergrund einer ganzen Nation in Gärung und Auflösung rollte die Erhebung der russischen Massen heran ...

II. Der heraufziehende Sturm

Im September 1917 marschierte der General Kornilow auf Petrograd, um sich zum militärischen Diktator über Rußland aufzuschwingen. Hinter ihm wurde plötzlich die Eisenfaust der Bourgeoisie sichtbar, die sich anschickte, mit verwegenem Schlag die Revolution niederzuschmettern. In die Verschwörung waren auch einige sozialistische Minister verwickelt. Selbst Kerenski war verdächtig. Sawkinow, von dem Zentralkomitee seiner Partei, den Sozialrevolutionären, aufgefordert, Aufklärung zu geben, weigerte sich dessen und wurde ausgeschlossen. Soldatenkomitees verhafteten Kornilow, Generale wurden entlassen, Minister ihrer Ämter enthoben, und das Kabinett wurde gestürzt.

Kerenski machte den Versuch, eine neue Regierung zu bilden mit Einschluß der Kadetten, der Partei der Bourgeoisie. Seine eigene Partei, die Sozialrevolutionäre, befahlen ihm den Ausschluß der Kadetten. Kerenski weigerte sich zu gehorchen und drohte mit seinem eigenen Rücktritt aus dem Kabinett, wenn die Sozialisten auf ihrer Forderung beständen. Indessen war die Aufregung der Volksmassen so groß, daß er sich – wenigstens für den Moment – nicht zu widersetzen wagte, und ein provisorisches Direktorium von fünf der bisherigen Minister, mit Kerenski an der Spitze übernahm die Macht bis zur endgültigen Regelung der Frage.

Die Kornilow-Affäre hatte alle sozialistischen Gruppen, von den Gemäßigten bis zu den Revolutionären, in einem leidenschaftlichen Impuls der Selbstverteidigung zusammengeführt. Es galt, das Auftauchen neuer Kornilows zu verhindern. Eine neue Regierung mußte gebildet werden, die den der Revolution ergebenen Elementen verantwortlich war. So forderte denn das Zentralexekutivkomitee der Sowjets die Organisationen auf, Delegierte zu einer „Demokratischen Beratung“ zu entsenden, die im September in Petrograd zusammentreten sollte.

Im Zentralexekutivkomitee der Sowjets hatten sich von vornherein drei Richtungen bemerkbar gemacht. Die Bolschewiki forderten die Einberufung eines neuen (zweiten) Gesamtrussischen Sowjetkongresses und die Übernahme der Macht durch die Sowjets. Das von Tschernow geführte Zentrum der Sozialrevolutionäre, die linken Sozialrevolutionäre unter Führung von Kamkow und Spiridowna, die Menschewiki – Internationalisten unter Martow und das Zentrum der Menschewiki, dessen Sprecher Bogdanow und Skobelew waren, traten für eine „rein sozialistische“ Regierung ein. Zereteli, Dan und Liber, die Führer der rechten Menschewiki, und die rechten Sozialrevolutionäre unter Awxentjew und Goz bestanden auf der Hinzuziehung der besitzenden Klassen bei der Bildung der neuen Regierung.

Im Petrograder Sowjet gelang es den Bolschewiki fast sofort, die Mehrheit zu gewinnen. Dem Beispiel Petrograds folgten schnell die Sowjets in Moskau, Kiew, Odessa und anderen Städten.

Aufs höchste bestürzt, kamen die das Zentralexekutivkomitee der Sowjets beherrschenden Menschewiki zu der Schlußfolgerung, daß die Gefahr Lenin mehr zu fürchten sei als die Gefahr Kornilow. Sie revidierten den für die Demokratische Beratung aufgestellten Vertretungsmodus, indem sie den Genossenschaften und ähnlichen konservativen Organisationen eine größere Anzahl von Delegierten zusprachen. Selbst diese gesiebte Versammlung stimmte zuerst für eine Koalitionsregierung ohne die Kadetten. Nur Kerenskis offen Drohung mit dem Rücktritt und das Alarmgeschrei der „gemäßigten“ Sozialisten, daß „die Republik in Gefahr sei“, erreichten, daß die Beratung mit einer geringen Mehrheit sich zugunsten der Koalition mit der Bourgeoisie aussprach und der Errichtung einer Art beratenden Parlaments, ohne gesetzgebende Gewalt, zustimmte, das den Namen „Provisorische Rat der Russischen Republik“ erhielt.

Die neue Regierung wurde praktisch von den besitzenden Klassen beherrscht, und auch in dem neugeschaffenen Rat der Russischen Republik hatten diese eine verhältnismäßig große Zahl von Sitzen inne.

Das Zentralexekutivkomitee der Sowjets hatte faktisch aufgehört, die einfachen Menschen in den Sowjets zu vertreten. Es weigerte sich, den im September fälligen neuen Gesamtrussischen Sowjetkongreß einzuberufen, und war auch nicht gewillt, seine Einberufung durch andere zu dulden. Das offizielle Organ des Komitees. Iswestija, begann sogar anzudeuten, daß die Funktion der Sowjets beendet und ihre baldige Auflösung zu erwarten sei. Zur selben Zeit bezeichnete die neue Regierung als einen wesentlichen Teil ihrer Politik die Liquidierung aller „unverantwortlichen Organisationen“, womit die Sowjets gemeint waren.

Die Bolschewiki antworteten hierauf mit der Aufforderung an die Gesamtrussischen Sowjets, sich am 2. November in Petrograd zu versammeln und die Regierungsgewalt zu übernehmen. Gleichzeitig zogen sie ihre Vertreter aus dem Provisorischen Rat der Russischen Republik zurück mit der Erklärung, daß sie es ablehnten, an einer „Regierung des Volksverrats“ teilzunehmen.

Der Rücktritt der Bolschewiki ließ den unglückseligen Rat jedoch keineswegs zur Ruhe kommen. Die besitzenden Klassen, wider im Besitz einer Machtposition, wurden arrogant. Die Kadetten erklärten, daß die Regierung nicht berechtigt gewesen sei, Rußland zu einer Republik zu proklamieren. Sie forderten strenge Maßnahmen in Armee und Flotte zur Unterdrückung der Soldaten- und Matrosenkomitees und griffen die Sowjets heftig an. Auf der anderen Seite traten die Menschewiki – Internationalisten und die linken Sozialrevolutionäre für den sofortigen Friedensschluß ein, für die Übergabe des Landes an die Bauern und für die Durchführung der Arbeiterkontrolle über die Industrie, was praktisch auf das Programm der Bolschewiki hinauslief.

Ich habe Martows Antwortrede an die Kadetten gehört. Todkrank, wie er war, hielt er sich mit Mühe am Rednerpult aufrecht, und mit einer Stimme, so heiser, daß man ihn kaum zu hören vermochte, drohte er nach den rechten Bänken hinüber:

„Ihr schimpft uns Defätisten; aber die wahren Defätisten sind jene, die um ihrer egoistischen Interessen willen den Friedensschluß so lange hinauszögern möchten, bis von der russischen Armee nichts mehr übriggeblieben sein wird und Rußland nur noch ein Schacherobjekt der verschiedenen imperialistischen Gruppen ist ... Ihr versucht, dem russischen Volk eine von den Interessen der Bourgeoisie diktierte Politik aufzuzwingen. Die Frage des Friedens sollte unverzüglich entschieden werden ... Ihr werdet dann sehen, daß sie nicht umsonst gearbeitet haben, jene, die ihr deutsche Agenten nennt, jene Zimmerwaldler, die in allen Ländern dafür gewirkt haben, daß das Bewußtsein der demokratischen Massen erwacht ...“

Zwischen diesen beiden Gruppen schwankten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre – mit unwiderstehlicher Gewalt nach links getrieben durch den Druck der steigenden Unzufriedenheit der Massen. Eine tiefgehende Feindschaft teilte so den Rat in Gruppen, die miteinander auszusöhnen unmöglich war.

So war die Lage, als die lang erwartete Ankündigung der Pariser Alliiertenkonferenz die brennende Frage der Außenpolitik auf die Tagesordnung setzte.

In der Theorie waren alle sozialistischen Parteien für den schnellstmöglichen Friedensschluß auf demokratischer Grundlage. Schon im Mai 1917 hatte der Petrograder Sowjet, damals noch unter menschewistischer und sozialrevolutionärer Führung, die berühmten russischen Friedensbedingungen proklamiert und die Alliierten aufgefordert, eine Konferenz zur Besprechung der Kriegsziele einzuberufen. Diese Konferenz, für den August versprochen, wurde ein erstes Mal bis zum September, dann bis zum Oktober vertagt und sollte jetzt endgültig am 10. November stattfinden.

Die Provisorische Regierung hatte zwei Vertreter vorgeschlagen, den General Alexejew, einen reaktionären Militär, und Tereschtschenko, den Minister des Auswärtigen. Die Sowjets erwählten Skobelew zu ihrem Sprecher und entwarfen ein Manifest, den berühmten „Nakas„ (Direktiven). Die Provisorische Regierung lehnte Skobelew und seinen „Nakas“ ab. Die Gesandten der Alliierten protestierten, und zu guter Letzt erklärte Bonar Law im englischen Unterhaus in Beantwortung einer an die Regierung gerichteten Anfrage kühl: „Soweit mir bekannt, wird die Pariser Konferenz die Kriegsziele überhaupt nicht diskutieren, sondern nur die Methoden der Kriegsführung ...“

Die konservative russische Presse jubelte, wohingegen die Bolschewiki riefen: „Da seht ihr, wohin die Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit ihrer Kompromißtaktik gelangt sind!“

Mittlerweile waren an der Tausende Kilometer weiten Front die Millionen Soldaten der russischen Armee in Bewegung geraten. Höher und höher gingen die Wogen der Erregung, immer neue Delegationen fluteten in die Hauptstadt mit dem Ruf. Friede, Friede!

Ich ging eines Abends nach dem jenseits des Flusses gelegenen Zirkus „Modern“ in eine der großen Volksversammlungen, die, jeden Abend zahlreicher, in der ganzen Stadt veranstaltet wurden. In dem schmucklosen Amphitheater, von fünf winzigen, an einem dünnen Draht hängenden Glühlampen unzureichend erleuchtet, drängten sich von der Arena bis hoch unterm Dach unübersehbare Massen von Soldaten, Matrosen, Arbeitern und Frauen, alle mit gespanntester Aufmerksamkeit lauschend, als ob es um ihr Leben ginge. Ein Soldat redete von der 548. Division:

„Genossen“ rief er, und tiefe Sorge sprach aus seinem eingefallenen Gesicht und seinen verzweifelten Gesten. „Die an der Spitze verlangen von uns immer neue Opfer und Opfer, aber wir müssen sehen, daß die, die im Besitze sind, völlig ungeschoren bleiben.

Wir führen Krieg gegen die Deutschen. Würde es uns einfallen, die Arbeiten unseres Stabes deutschen Generalen anzuvertrauen? Wir stehen auch mit den Kapitalisten im Kriege, und doch laden wir diese ein, an unserer Regierung teilzunehmen.

Der Soldat sagt: ;Zeigt mir, wofür ich kämpfen soll. Für Konstantinopel oder für ein freies Rußland? Für die Demokratie oder für die kapitalistischen Räuber? Wenn man mir beweisen kann, daß ich die Revolution verteidige, dann werde ich hingehen und kämpfen, auch ohne die Todesstrafe, mit der man mich zwingen will.‘

Wenn das Land den Bauern gehören wird, die Fabriken den Arbeitern, wenn die Sowjets die Macht ausüben werden, dann haben wir etwas zu verteidigen und dann werden wir auch kämpfen!“

Überall in den Kasernen, in den Fabriken, an jeder Straßenecke reden Soldaten zu den Massen. Alle fordern die Beendigung des Krieges und erklären, daß die Truppen die Schützengräben zu verlassen und nach Hause zu gehen entschlossen seien, wenn die Regierung keine ernstlichen Anstrengungen machen würde, zum Frieden zu gelangen.

Ein Vertreter der Achten Armee:

„Wir sind schwach, unsere Kompanien zählen nur noch wenige Mann. Wir brauchen Lebensmittel und Stiefel und Verstärkung, oder die Schützengräben werden bald verlassen sein. Frieden oder Verstärkung ... Die Regierung muß den Krieg beendigen oder der Armee zur Hilfe kommen ...“

Dann ein Redner, der für die Sechsundvierzigste Sibirische Artillerie sprach:

„Die Offiziere lehnten es ab, mit unsern Komitees zu arbeiten, sie verraten uns an den Feind, sie verhängen über unsere Agitatoren die Todesstrafe; die konterrevolutionäre Regierung unterstützt sie Wir glauben, daß die Revolution den Frieden bringen wird. Jetzt aber verbietet die Regierung, von solchen Dingen auch nur zu reden, während sie uns gleichzeitig hungern läßt und die Munition nicht liefert, die wir brauchen, wenn wir kämpfen sollen....“

Dazu kamen aus Europa Gerüchte über einen Friedensschluß auf Kosten Rußlands.

Die allgemeine Unzufriedenheit wurde noch gesteigert durch die Nachrichten über die Behandlung der russischen Truppen in Frankreich. Die 1. Brigade hatte dort versucht, ihre Offiziere durch Soldatenkomitees zu ersetzen, wie das ihre Kameraden zu Hause getan hatten, und sich geweigert, einem Befehl Folge zu leisten, der sie nach Saloniki beorderte. Sie verlangte, nach Rußland geschickt zu werden. Man hatte die Brigade daraufhin eingeschlossen und ausgehungert, dann unter Artilleriefeuer genommen, wobei viele Soldaten getötet wurden.

Am 29. Oktober hörte ich in dem weißmarmornen, rotdekorierten Saal des Marienpalastes die von dem erschöpften und nach Frieden lechzenden Lande mit Ungeduld erwartete Erklärung Tereschtschenkos über die Außenpolitik der Regierung.

Diese äußerst sorgfältig vorbereitete, ganz unverbindliche Rede brachte indessen nichts als die sattsam bekannten Phrasen über die Zerschmetterung des deutschen Militarismus mit Hilfe der Alliierten, über das Staatsinteresse Rußlands, über die durch Skobelews „Nakas„ verursachten Verlegenheiten. Der Schluß war bezeichnend:

„Rußland ist mächtig, es wird mächtig bleiben, was auch geschehen mag. Wir müssen Rußland verteidigen. Wir müssen zeigen, daß wir die Vorkämpfer eines großen Ideals sind und Kinder einer großen Nation.“

Befriedigt war niemand. Den Reaktionären war es um eine starke imperialistische Politik zu tun, und die demokratischen Parteien wollten die Garantie haben, daß die Regierung nichts unversucht lassen würde, um zum Frieden zu gelangen. Hier ein Artikel aus „Rabotschi i Soldat“ (Arbeiter und Soldat), dem Organ des bolschewistischen Petrograder Sowjets:

„Was die Regierung den Schützengräben zu sagen hat!

Der schweigsamste unserer Minister, Herr Tereschtschenko, hat endlich die Sprache gefunden, um den Schützengräben das Folgende mitzuteilen:

Wir sind auf das engste verbündet mit unseren Alliierten (nicht mit den Völkern, sondern mit den Regierungen).

Es ist zwecklos für die Demokratie, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Winterfeldzuges zu diskutieren. Darüber entscheiden die Regierungen unserer Verbündeten.

Die Julioffensive war nützlich, und sie war eine sehr glückliche Sache. (Kein Wort über die Folgen!)

Es ist nicht wahr, daß sich unsere Verbündeten nicht um uns sorgen. Der Minister ist im Besitz sehr wichtiger Erklärungen. (Erklärungen? Wie ist’s mit den Taten? Das Verhalten der britischen Flotte? Die Unterredung des englischen Königs mit dem landesflüchtigen konterrevolutionären General Gurko? Alles dies ließ der Minister unerwähnt.)

Der Nakas Skobelews taugt nichts; unsere Verbündeten wollen davon nichts wissen, auch die russischen Diplomaten wollen ihn nicht. In der Alliiertenkonferenz müssen alle eine Sprache sprechen.

Und das ist alles? – Das ist alles. Wo ist der Ausweg? – Vertrauen zu den Alliierten und zu Tereschtschenko! Wann wird der Friede kommen? – Wenn die Alliierten es erlauben!

Das ist die Antwort der Regierung auf die Frage der Schützengräben nach dem Frieden.“

Da tauchte – vorläufig noch in unklaren umrissen – im Hintergrunde der russischen Politik eine gefährliche Macht auf: die Kosaken. Nowaja Shisn (Neues Leben), die Zeitung Gorkis, machte auf ihre Tätigkeit aufmerksam:

„Zu Beginn der Revolution weigerten sich die Kosaken, auf das Volk zu schießen. Als Kornilow auf Petrograd marschierte, folgten sie ihm nicht. In der letzten Zeit hat sich ihre Rolle etwas geändert. Von der passiven Loyalität zur Revolution sind sie zu einer aktiven politische Offensive (gegen sie) übergegangen ...“

Kaledin, der Ataman der Donkosaken, von der Provisorischen Regierung wegen seiner Beteiligung an dem Kornilowabenteuer seines Postens enthoben, weigerte sich zu gehen, und von drei riesigen Armeen umgeben, lagerte er intrigierend und drohend bei Nowotscherkassk. So groß war seine Macht, daß die Regierung seiner Gehorsamsverweigerung gegenüber die Augen verschließen mußte. Ja, mehr als das, sie sah sich gezwungen, den Rat des Verbandes der Kosakenarmee anzuerkennen und die neugebildeten Kosakensektionen der Sowjets für ungesetzlich zu erklären.

In der ersten Oktoberhälfte erschien eine Kosakendelegation bei Kerenski, die in arrogantem Ton die Niederschlagung der gegen Kaledin gerichteten Anklagen forderte und dem Ministerpräsidenten den Vorwurf machte, zu nachgiebig gegenüber den Sowjets gewesen zu sein. Kerenski erklärte sich bereit, Kaledin ungeschoren zu lassen. Außerdem soll er sich wie folgt geäußert haben:

„In den Augen der Sowjetführer bin ich ein Despot und Tyrann ... Die Provisorische Regierung hängt nicht nur nicht von den Sowjets ab, sie bedauert im Gegenteil, daß diese überhaupt existieren.“

Gleichzeitig erschien eine andere Kosakenabordnung bei dem englischen Gesandten und hatte die Kühnheit, mit ihm als Vertreter des „freien Kosakenvolkes“ zu verhandeln.

Im Dongebiet war eine Art Kosakenrepublik gebildet worden. Das Kubangebiet proklamierte sich als unabhängiger Kosakenstaat. Die Sowjets von Rostow am Don und Jekaterinenburg waren von bewaffneten Kosaken auseinandergejagt und der Hauptsitz des Bergarbeiterverbandes in Charkow überfallen worden. In allen diesen Manifestationen zeigte die Kosakenbewegung ihren antisozialistischen und militaristischen Charakter. Ihre Führer waren Adlige und große Grundbesitzer von der Art Kaledins, Kornilows, des Generals Dutow, Karaulows und Bardishis, sie hatten die Unterstützung der mächtigen Kaufleute und Bankiers Moskaus ...