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Die Schweizer Alpen bei Genf. Hier lebt der junge Adrienne Viroux allein mit seinem Hund auf einem kleinen, abgelegenen Hof. Ein hartes, aber auch idyllisches und friedvolles Leben. Dann findet er eines Morgens in seinem Stall eine junge Frau, bewusstlos und unbekleidet. Er kümmert sich um die Unbekannte - und beide verlieben sich ineinander!
Doch was als Romanze beginnt, droht in nacktes Grauen umzuschlagen! Denn Adrienne ahnt nicht, dass sich seine Geliebte einmal im Monat - bei Vollmond - in eine blutgierige Bestie verwandelt!
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Seitenzahl: 143
Cover
Werwolf-Liebe
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Werwolf-Liebe
Von Marlene Klein
Vollmondnacht
Trotz des hell leuchtenden Vollmondes am sternenklaren Nachthimmel war es düster. Durch den dicht bewachsenen Tannenwald drang so gut wie kein Licht.
Doch die Kreatur, die teils auf zwei Beinen, dann wieder auf allen vieren durch den Wald preschte, brauchte kein Licht, um zu sehen. Diese Kreatur ließ sich nicht in die Lehren der Wissenschaft einordnen, sie war weder Mensch noch Tier, sie vereinte Teile von beidem in sich.
Ein Werwolf!
Der massige Körper schlug sich durchs Gebüsch und drückte kleinere Äste mühelos zur Seite. Getrieben einzig von dem Instinkt, einen Menschen zu finden, ihn zu töten und sich an seinem Fleisch zu laben.
Das Untier stoppte seinen Lauf, als sich der Bewuchs etwas zurückzog. Es war keine große Lichtung, lediglich eine Lücke zwischen den dicht stehenden Tannen. Hier war der Blick in das funkelnde Firmament frei.
Wie eine blankgeputzte silberne Münze stand der Erdtrabant leuchtend in einem Sternenmeer.
Der Werwolf richtete sich auf, bis er wie ein Mensch auf zwei Beinen stand. Der kühle Wind fuhr ihm ins dichte, grau-schwarze Fell und ließ die feinen Härchen erzittern. Er legte den Kopf in den Nacken, breitete die Arme aus und stieß ein markerschütterndes Heulen aus.
Dann blickte er hinunter ins Tal. Unten sah er eine hell erleuchtete Stadt am Ufer einer gewaltigen Wasserfläche. Im Nachtschatten war sie nur als eine glatte, schwarze Ebene erkennbar und wirkte wie ein überdimensionaler Tintenfleck. Die pulsierende Großstadt entlang des Sees schmiegte sich bis in die Ausläufer der Berge, die sie umgaben.
Genf.
Ein Opfer hatte er sich heute Nacht bereits geholt. Doch der Hunger blieb, verschwand nie ganz in einer Vollmondnacht. Und so hoffte er, die Witterung eines weiteren Menschen auszumachen, um seine tödlichen Triebe zu befriedigen.
Was nun an seine feinen Ohren drang, war nicht menschlich, jedoch direkt an ihn gerichtet, und es überraschte ihn. Sein Heulen wurde erwidert. Plötzlich war die Absicht, inmitten der Natur der Schweizer Berge auf gut Glück die Witterung eines Menschen aufzunehmen, vergessen. Mit einem Mal hatte er ein konkretes Ziel.
Er ließ sich auf die gewaltigen Vorderpranken fallen, auf vier Beinen kam er deutlich schneller voran als auf zweien. Erneut stürmte er davon, diesmal in Richtung des Heulens. Erneut wurden Zweige geknickt und gebogen, junge Pflänzchen unter den Pranken zermalmt.
Dann erreichte ihn der Geruch. Ein Duft, wie ihn ein wildes Tier verströmte und doch seinem eigenen sehr ähnlich. Von dieser Marke geleitet rannte er auf die Quelle zu, brach durchs Unterholz, verlangsamte seinen Lauf, als der Geruch übermächtig wurde.
Er hörte tierische Laute, ein Wimmern und Jaulen, knurren und bellen, das aus dem dichten Unterholz drang.
Er lauschte, schnüffelte. Die Laute klangen ab, bis sie ganz verstummten, die Tiere schienen sich zu beruhigen. Offenbar hatten auch sie ihn gewittert.
Er richtete sich auf und schob mit den gekrümmten Krallen vorsichtig die dünnen Zweige einer Tanne zur Seite.
Er erblickte ein Rudel Wölfe. Sechs Tiere, alle sahen gebannt in seine Richtung und starrten ihn aus gelben Raubtieraugen an. Ein Rüde, eine Fähe und vier jüngere Tiere, vermutlich ihre Brut. Noch nicht ganz ausgewachsen, aber schon fast so groß wie ihre Eltern. In der Welt, aus der er kam, hätte man sie Teenager genannt.
Aufrecht war er doppelt so groß wie der Rüde, selbst auf allen vieren kamen die Wölfe nicht an seine Größe heran. Sein Körper war muskulöser, und er wusste, dass er kräftiger war als die Tiere vor ihm.
Inmitten des Wolfsrudels lag ein frisch gerissenes Reh, anscheinend ging das vorherige Balgen darum, wer den ersten Bissen bekam. Das war in der Regel der Stärkste, der Anführer, das Alpha-Tier.
Der Werwolf knurrte, legte dann seinen Kopf in den Nacken und heulte erneut. Daraufhin zogen sich die jüngeren Wölfe und der Rüde zurück. Die Fähe knickte in den Hinterbeinen ein und zog den Schwanz ein, legte die Ohren an. Vorsichtig näherte sie sich dem bedeutend größeren Werwolf.
Der ließ sich zurück auf alle viere fallen. Ließ zu, dass die Wölfin an seiner Schnauze, die um einiges gewaltiger war als die ihre, zu schnüffeln und zu lecken begann.
Die Rollen innerhalb des Rudels wurden neu verteilt. Die Fähe wusste, dieser seltsame Wolf war ihnen allen überlegen.
Der Werwolf kannte die Regeln der Natur nicht, er handelte intuitiv. Er nahm seine neue Rolle an, schnappe nach der Wölfin, biss ihr leicht in die Schnauze und, als sie sich auf den Rücken wälzte, in den ihm dargebotene Hals. Nicht tief, das war kein Biss um Leben und Tod, hier ging es um etwas anderes.
Die Fähe jaulte und zog sich ehrfurchtsvoll zurück.
Das gesamte Rudel stand nun hinter dem gerissenen Reh. Der Werwolf aß Tierfleisch nur in absoluten Notfällen, entschloss sich aber, dass dies einer war. Er kniete vor dem Kadaver, der sogar noch warm war, öffnete mit einem Prankenhieb die Flanke des Tiers und versenkte seine Schnauze darin.
Ab sofort war er der neue Leitwolf des Rudels.
Am Morgen nach der Vollmondnacht
Paula Biggs schlug die Augen auf. Zu ihrer großen Verwunderung lag sie in einem mit sauberer Bettwäsche bezogenen Bett wieder. Aus einem kleinen Fenster mit einem rot-weiß karierten Vorhang davor drang Licht.
Sie schob den Vorhang zur Seite und sah ein umwerfendes Bergpanorama. In der Ferne weiße Gipfel, in der näheren Umgebung dunkle Wälder und Wiesen an steilen Hängen. Direkt vor dem Haus befand sich eine größere Weide mit Schafen, die zu dem Haus zu gehören schien.
Paule bemerkte erst jetzt, dass sie nicht nackt war, sondern einen altmodischen, ebenfalls karierten Herren-Schlafanzug trug, der ihr mindestens drei Nummern zu groß war.
Am Morgen nach dem Vollmond mit einem Blackout aufzuwachen und sich nicht an die vergangene Nacht erinnern zu können, war sie inzwischen gewohnt. Nur geschah das gewöhnlich nackt in einem Waldstück und nicht in seidigen Laken.
Sie versuchte die letzte Nacht zu rekonstruieren. Was war geschehen? Sie hatte sich auf einem Parkplatz in den Bergen rund um Genf ausgezogen und bei Sonnenuntergang verwandelt. Weit weg von der Stadt und hoffentlich von ihren Einwohnern. Nicht dass ihr das Töten als Werwolf mittlerweile noch etwas ausgemacht hätte, moralisch war sie so weit abgestumpft, dass es ihr egal war. Aber noch musste sie vorsichtig sein. Ihr Vater, Sean Harold Biggs, war einige Risiken eingegangen, um ihr die Flucht zu ermöglichen. Der Aufwand sollte nicht umsonst gewesen sein. Sie hoffte, dass sie in wenigen Wochen in Südamerika war und somit endlich frei!
Sie schloss die Augen und versuchte herauszufinden, was in der vergangenen Vollmondnacht geschehen und wie sie hierhergekommen war. Doch alles, was ihre Erinnerung ihr preisgeben wollte, waren gelbe Raubtieraugen in einem grau-braunen Fell. Die Augen von Wölfen.
Die Wände bestanden aus groben Baumstämmen. Eine Holzhütte.
Paula drehte sich herum und sah in einen einzigen großen Raum. Die Einrichtung war gemütlich, wenn auch einfach und rustikal. Holz beherrschte ihren Blick. Die sah ringsum die Stämme der Außenwände, der Boden, ebenfalls aus Holz, war mit Teppichen und Schaffellen bedeckt.
Auf einem von ihnen lag der massige Körper eines Berner Sennenhunds. Er sah zu ihr hoch und schien ihr nicht gerade freundlich zugetan. Er knurrte leise.
Ein Tisch mit vier Stühlen befand sich in einer Ecke, auch ein Sofa und ein altmodischer Ohrensessel in einem Grauton, auf dem einladend eine Kuscheldecke ruhte.
Auf der anderen Seite des Raums, in der kleinen offenen Kochgelegenheit, stand ein Mann. Sie sah ihn nur von hinten. Dunkelblonde Haare, die bis auf die Schultern fielen. Er trug eine Cordhose und ein rotkariertes Holzfällerhemd.
Sie sah nicht genau, was er da tat. Spülen? Kochen? Sie selbst befand sich auf einer Art abgehängter Zwischendecke, die zu einem Hochbett umfunktioniert war. Eine Leiter aus unterschiedlich dicken, entrindeten und behandelten Ästen lehnte an dem eingezogenen Zwischenboden und war damit verschraubt. Sie sah zwar selbst gemacht, aber recht stabil aus. Wer immer sie hergestellt hatte, schien sich mit Holzarbeiten auszukennen.
Sie kletterte auf die Leiter, hangelte sich ein paar Sprossen nach unten und hüpfte, als sie noch etwa einen Meter über dem Boden war.
Der Hund sprang auf und knurrte lauter. Erschrocken wich sie etwas zurück. In ihrer Gestalt als Werwölfin wäre dieser Köter keine Gefahr für sie gewesen, doch das sah jetzt anders aus. Gott sei Dank wurde er von seinem Herrn sofort in die Schranken gewiesen.
»Artur!«
Der Hund zog sich zurück und stellte das Knurren ein, beäugte sie aber immer noch skeptisch.
Paula sah zu dem Mann – und war angenehm überrascht. Er war älter als sie selbst, jedoch ausgesprochen attraktiv. Der dichte Vollbart stand ihm vorzüglich, und das breite Kreuz und die schmalen Hüften ließen einen durchtrainierten Oberkörper unter dem Hemd vermuten. Um eine Hand hatte er einen Verband gewickelt.
»Bonjour«, sagte er schlicht, drehte sich wieder um. Auf der Anrichte standen zwei Tassen, gefüllt mit dampfend heißem Wasser. Er pflückte ein paar Blätter von Gebinden aus getrockneten Kräutern, die an kurzen Schnüren an einem hohen Regal über ihm hingen, und warf sie direkt ins Wasser. Paula hatte keine Ahnung, welches Kraut das sein mochte, nahm die ihr angebotene Tasse aber dankbar an.
Sie kramte ihre nicht allzu großen Französisch-Kenntnisse hervor. »Bonjour. Merci.«
Noch immer wusste sie nicht genau, was vergangene Nacht geschehen war. Hatte sie mit diesem Alpen-Adonis geschlafen? In einer Vollmondnacht? Doch dieser Verband um seine Hand machte ihr Sorgen. Was war das geschehen?
Sie zeigte darauf.
»Commont...« Schon gingen ihr die spärlichen Französisch-Brocken aus. Warum auch ausgerechnet die französische Schweiz? Sie wechselte ins Englische und hoffte auf eine Antwort ihrer Sprache. »Was ist mit deiner Hand?«
Adonis winkte ab. »Nichts.«
Leider gab ihr das keine Klarheit darüber, ob sie mit dieser Verletzung zu tun hatte. Und die Frage, wie sie genau ins Bett ihres Gastgebers gekommen war, stand auch noch im Raum. Hatte er sie nach Sonnenaufgang gefunden? Nackt? Und zu sich mitgenommen?
Schnell wandte sie den Blick ab und schaute in ihre Teetasse.
»Wie heißt du?«, fragte er.
»Paula«, antwortete sie wahrheitsgemäß und pustete in ihre Tasse. Die Flüssigkeit, die sich inzwischen gelblich verfärbt hatte, kräuselte sich.
»Adrienne«, stellte er sich selbst vor. »Woher kommst du?«
»England.«
Adrienne lachte leise. »Nein. Letzte Nacht. Heute Morgen lagst du in meinem Stall im Stroh. Nackt.« Entschuldigend hob er die Hände. »Ich habe dir nichts getan, habe dich nur angezogen und in mein Bett gelegt!«
Was sollte und konnte sie ihm erzählen? Dass sie letzte Nacht bei Vollmond als Werwölfin durch die Wälder gestreift war und am nächsten Morgen nach der Rückverwandlung immer nackt an den unmöglichsten Orten aufwachte? Da war sein Bett mit Abstand der gemütlichste Ort, an den es sie nach ihren nächtlichen Ausflügen verschlagen hatte. Nein, das würde sie ihm wohl so kaum erzählen können. Auch nicht, weshalb sie sich überhaupt in Genf aufhielt. Und wenn sie auch nur noch einen Funken Verstand in seiner Gegenwart zusammenbekam, dann würde sie ihn bitten, sie zu dem Parkplatz zu fahren, wo ihr Auto mitsamt ihrer Kleidung stand. Oder würde einfach aus der Tür spazieren, zur Not sogar barfuß in diesem albernen Schlafanzug.
Aber ein klein wenig wollte sie seine Gesellschaft noch genießen. Sie hatte in den letzten Monaten nicht allzu viel davon gehabt, und Adrienne schien ihr gegenüber sehr fürsorglich zu sein. Und sah dazu auch noch verdammt gut aus.
Sie hörte ein Auto auf den gepflasterten Hof vor der Blockhütte vorfahren.
»Wer ist das?«, fragte sie.
»Polizei«, sprach Adrienne wieder kurz und knapp.
»Polizei!?« Paulas Augen weiteten sich. Waren ihre Sorgen diesmal doch nicht so ganz unbegründet?
»Wölfe haben heute Nacht eines meiner Schafe getötet. Das muss ich ... sagen? Angeben?«
»Melden!«, half sie ihm aus.
Paula erschrak. Wölfe? Sie tötete als Werwölfin in der Regel nur Menschen. Aber diese Erinnerung an die Wolfsaugen, die ihr so präsent waren und die sie noch nicht einordnen konnte ... Was war geschehen?
Adrienne verließ das Blockhaus, noch bevor die Polizei geklingelt hatte, falls diese Hütte überhaupt eine Klingel hatte.
Artur folgte seinem Herrn. Auf Kontakt mit der Polizei konnte Paula gut und gerne verzichten. Mit der Teetasse in der Hand schlich sie zum Fenster. Sie sah, wie Adrienne sich mit zwei Beamten in den Uniformen der Schweizer Polizei unterhielt. Sie sprachen Französisch, sodass es nicht allein am geschlossenen Fenster lag, dass sie kein Wort verstand.
Adrienne zeigte den Beamten ein totes Schaf, dessen Hinterbeine zusammengebunden und an einer Art Gestell befestigt waren. Der Unterbauch war zerfetzt und aufgerissen, und unter dem Tier hatte sich eine große Blutlache gebildet.
War das ihr Werk? Nein, das trug ganz und gar nicht ihre Handschrift. Wölfe? Gut möglich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fuhren die Beamten davon. Paula wollte sich schon vom Fenster abwenden, als sie noch eine Entdeckung machte, die ihr schlagartig die Erinnerung an die vergangene Nacht zumindest teilweise zurückbrachte. Schnell stellte sie die Tasse auf der Fensterbank ab, plötzlich hatte sie es eilig. In ihrem Schlafanzug und barfuß rannte sie aus der Hütte, über die Wiese bis zur Waldgrenze.
Der Morgentau nässte ihre blanken Sohlen. Doch sie hatte sich nicht getäuscht, hier waren sie. Alle sechs Wölfe, das Rudel, dass sie in der vergangenen Nacht zu ihrer Anführerin gemacht hatte. Sie warteten auf sie.
Die Fähe kam näher. Paula verspürte keinerlei Furcht vor den wilden Raubtieren, im Gegenteil. Sie war nun das Alpha-Weibchen des Rudels!
Paula kniete sich ins feuchte Gras. Die Fähe trottete näher, noch immer unterwürfig, aber auch freundlich mit dem Schwanz wedelnd.
Paula vergrub ihre Hände in dem dichten Fell und legte ihre Stirn gegen die der Wölfin. Ein instinktives Gefühl der Verbundenheit überkam sie. Die Wölfin leckte ergeben ihr Gesicht.
»Ich brauche einen Namen für dich!«, flüsterte Paula, die allmählich zu frieren begann. Sie erinnerte sich, was sie letzten Endes zusammengebracht hatte. »Luna«, sprach sie ihren Gedanken aus und streichelte sie wie einen Hund.
Die anderen Wölfe begannen, um sie herum zu springen, und wollten dieselbe Aufmerksamkeit und dieselben Streicheleinheiten. Paula gab sich Mühe, alle zu bedenken.
Erst als ihr so kalt war, dass sie eine Erkältung befürchtete, die sie nicht gebrauchen konnte, stand sie auf und ging zu Adriennes Hütte zurück.
Die Wölfe sahen ihrem Alpha-Weibchen hinterher, unterwürfig auf neue Befehle wartend.
Als Paula wieder das kleine Blockhaus betrat, spielte Adrienne mit dem Hund. Er saß in dem großen Ohrensessel und zerrte mit Artur an einem Hundespielzeug. Er sah hoch, als sie barfuß und im Schlafanzug eintrat. Wieder begann der Hund zu knurren, wieder wurde er mit einer kurzen Geste seines Herrchens in die Schranken gewiesen. Paula wusste, warum er so auf sie reagierte, Adrienne nicht.
»Dachte, du bist weg.« Er lächelte.
»So?«, erwiderte Paula und zeigte mit einer kurzen Handbewegung an sich herab.
Adrienne zuckte mit den Schultern. »Du warst nackt, als ich dich fand. Jetzt hast du was an. Wie bist du in meinen Stall gekommen?«
Paula brauchte eine gute Erklärung. Eine, die glaubhaft war und Adrienne nicht zu sehr erschrecken würde. Die Wahrheit war also keine gute Idee.
»Ich wollte bei Vollmond nackt Kräuter sammeln und habe mich im Dunkeln verlaufen.«
Seine Fragen kamen staccatoartig wie in einem Kreuzverhör, ihre Antworten prompt und ohne zu zögern.
»Nackt?«
»Ja.«
»Kräuter?«
»Ja.«
»Hexe?«
»Nein.«
Er lehnte sich zurück, nahm seine Hände aus dem Fell des Hundes und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie konnte sehen, dass er ihr kein Wort glaubte, aber er fragte auch nicht nach. Vielleicht ahnte er irgendwie, dass er die Wahrheit gar nicht wissen wollte und es angenehmer war, diese Lüge zu akzeptieren, als nachzubohren.
Nach einem überlangen Moment des Schweigens zwischen beiden, währenddessen sich Paula wieder nervös eine Haarsträhne hinters Ohr steckte, fasste sie sich ein Herz, ihn um einen Gefallen zu bitten. Schließlich war er bisher mehr als nett zu ihr gewesen.
»Fährst du mich zu meinem Auto?«
Adrienne stand auf, ging wortlos zur Garderobe hinter der Tür. Die Jacke flog so plötzlich auf sie zu, dass sie sie fast nicht gefangen hätte. Ihr folgten ein paar Gummistiefel, die nie und nimmer ihre Größe sein konnten und die sie polternd verfehlten. Und darauf folgte, zu ihrer größten Überraschung, ein Motorradhelm, den sie nur fangen konnte, weil sie die Jacke fallen ließ.
Adrienne klapperte mit einem Schlüssel und verließ das Haus. Paula beeilte sich, ihm zu folgen, schlüpfte in die Jacke, setzte sich den Helm auf den Kopf und versuchte die Stiefel im Gehen anzuziehen, weshalb sie auf einem Bein aus der Hütte hüpfte.
Adrienne fuhr eine kleine Cross-Maschine, die spielerisch die Steigungen nahm. Die Landstraße wand sich in engen Serpentinen die Berge hinauf und hinunter. Das grandiose Bergpanorama beachtete sie kaum. Die Fahrt auf dem Motorrad, an Adriennes Rücken geschmiegt, genoss sie mit jeder Faser ihres Körpers. Je länger sie ihn kannte, desto anziehender fand sie ihn. Gefühle, die sie längst glaubte, unter dem Grauen des Tötens verschüttet zu haben, bahnten sich einen Weg an die Oberfläche ihrer Seele, und sie wusste noch nicht, ob sie sie zulassen oder besser wieder vergraben sollte. Sie war eine Werwölfin. Sie tötete Menschen. Es war besser, wenn sie keine Beziehung in irgendeiner Art zu irgendjemand aufbaute. Beim nächsten Vollmond würde sie wieder morden.
Wenn ihre Pläne aufgingen, würde sie Europa sowieso bald verlassen. Also könnte sie doch eigentlich ein amouröses Abenteuer ohne Verpflichtungen wagen.