John Sinclair 2416 - Marlene Klein - E-Book

John Sinclair 2416 E-Book

Marlene Klein

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Beschreibung

Der rhythmische Schlag der Trommeln hallte durch die Dschungelnacht, steigerte sich, wurde immer wilder, fordernder. Die Dorfbewohner hatten sich vor dem Tempel eingefunden, tanzten wild zum Klang der Trommeln, riefen und schrien, gerieten immer mehr in Ekstase und Trance.
Dann erschien sie - die Voodoo-Hexe!
Sie würde das magische Ritual durchführen, das dem Opfer einen qualvollen Tod bringen würde!
Dieses Opfer war eine junge Frau - und zugleich auch eine blutrünstige Werwolfbestie!

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Seitenzahl: 132

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Inhalt

Cover

Der Todesfluch der Voodoo-Hexe

Ian Rolf Hill's Leserseite

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Der Todesfluchder Voodoo-Hexe

von Marlene Klein

Der Ruf der Trommeln hallte durch die Nacht.

Untermalt wurde er vom schrillen Gesang der Frauen, die in bunten Kleidern mit großen, bauschenden Röcken, weiten, flatternden Ärmeln und aufgewickelten Kopftüchern stampfend zu diesem Rhythmus tanzten. Die Kleider verwandelten den Platz im unsteten Licht der Feuerstellen in ein rauschendes Farbenmeer, das die Schatten der Nacht verdrängte. Primitive Rasseln aus mit Reiskörnern gefüllten Nussschalen wurden geschüttelt, aufeinandergeschlagene Klangstäbe erzeugten ein hohes Klappern.

Jedes Mitglied der Gemeinde nahm an dieser Zeremonie teil, keiner war nur Zuschauer. Sie benötigten weder Noten noch Absprachen, der Brauch war seit Jahrtausenden gleich und wurde von einer Generation in die nächste getragen. Die Götter selbst waren es, die Hände und Füße lenkten. Ein ekstatischer Rausch, in den sie sich gemeinsam steigerten. Ein Rausch, um mit den Geistern der Ahnen und mit den Göttern in Kontakt zu treten. Gefördert durch einen Trank, der aus einer großen Schale gereicht wurde.

Außer der Madam wusste niemand genau, woraus diese Flüssigkeit bestand.

Madam, das Oberhaupt der Gemeinde, die Zauber-Frau, die Voodoo-Hexe.

Voodoo ... einst war diese Religion mit den Sklaven von Afrika nach Südamerika gekommen. Man hatte den Sklaven aus Afrika alles genom‍men – ihre Namen, ihre Identität, ih‍re Freiheit. Man hatte ihnen sogar das Recht abgesprochen, Menschen zu sein, denn nach ihrer Ankunft in den verschiedenen südamerikanischen Häfen galten sie nur noch als Ware.

Doch eins hatte man ihnen nicht nehmen können: ihren Glauben.

Sie glaubten fest an die Traditionen ihrer Väter, der afrikanischen Yoruba. Ihre Religion bestand aus einem permanenten Austausch mit den Geistern der Verstorbenen.

Häufig im Verborgenen praktiziert war ihr Glaube das verbindende Element unter den Sklaven und eine unterschwellige Auflehnung gegen ihre Unterdrücker.

Christliche Einflüsse fanden in unterschiedlicher Ausprägung ihren Weg in den Voodoo. Es entwickelten sich regional verschiedene religiöse Strömungen, in Kuba der Santeria, in Brasilien der Candomblé ...

Die Madam war das Oberhaupt ihrer Gemeinde. Eine geheimnisvolle und schöne Frau mit harten, strengen Gesichtszügen, leicht schräg stehenden Augen und schlanker Figur.

Natürlich war Madam nicht verheiratet. Kein Mann hätte jemals gewagt, sich ihr auf diese Art und Weise zu nähern. Madam war mit ihrer Gemeinde verheiratet, mit ihrer Aufgabe.

Niemand wusste, wie alt sie war. Sie konnte genauso gut dreißig oder fünfzig Jahre alt sein. Ebenso wusste niemand, wo sie herkam. Nach dem Tod des alten Candomblé-Priesters war Madam aufgetaucht, die Götter hatten sie geschickt.

Auch ihren Namen kannte niemand.

Doch Madam war eine Institution, ein Bindeglied zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, den Lebenden und den Toten, den Menschen und den Göttern.

Madam trat zusammen mit Mari-Jo und ihrem Assistenten Nua'naan aus ihrer Hütte. Nua'naan war ein Hüne mit dunkler Haut, wildem krausem Haar und buschigem Bart, der bereits leicht ergraute. Über seinen stattlichen Bauch und den breiten Schultern spannte sich ebenfalls der seidige Stoff eines bunten zeremoniellen Gewandes.

Nua'naan begann mit tiefer sonorer Stimme eine neue Intonation. Auch sie passte perfekt zu dem trommelnden Rhythmus, und die Tänzerinnen antworteten ihm in einem Kanon. Es waren abgehackte Laute, die nur wenige hier verstanden, weil sie keine offizielle Sprache waren.

Mari-Jo war apathisch, ihr Geist schien schon längst abwesend. Sie ließ sich von Madam auf die Mitte des Platzes führen und zeigte keine Reaktion auf die Musik und das bunte Treiben um sie herum.

Zwei junge Männer, die noch Teenager waren, begannen Mari-Jos nackten Körper mit farbigen Pasten einzureiben. Arme, Beine, Brüste und das Gesicht. Mari-Jo ließ es reglos über sich ergehen. Die Jungen trugen ihre Alltagskleidung, bestehend aus kurzen Hosen, Flip-Flops und fleckigen Nike-T-Shirts, die in dieser Umgebung fehl am Platz wirkten.

Die Tänzerinnen und Sängerinnen formierte sich neu und bildeten einen Kreis um Madam und Mari-Jo. Singend umrundeten sie sie immer wieder mit ihrem stampfenden Tanz mit wiegenden Hüften und Oberkörper. Der bunte Stoff ihrer Kleider und der weiten Ärmel ließen die beiden Frauen zu einem Zentrum eines lebendigen Kaleidoskops werden.

Mari-Jo stand wie gebannt auf der Stelle, ihr Blick starr geradeaus gerichtet. Nua'naan reichte Madam einen verschlossenen Weiden-Korb, so wie ihn die Frauen in den weit entfernten Städten an Marktagen auch auf dem Köpfen trugen.

Madam öffnete ihn und griff beherzt hinein. Sie zog eine grüne Lanzenotter heraus, eine der giftigsten Schlangen des Amazonas. Der Biss war tödlich.

Das etwa zwei Meter lange Tier war jedoch nicht aggressiv oder verängstigt, und dies trotz des rhythmischen Lärms. Oder hatten die Trommeln das Tier gar beruhigt?

Die Schlange glitt durch die Hände der Madam, strebte nach vorn, wurde neu gefasst und kam trotz der stetigen Vorwärtsbewegung nicht weg.

Madam hielt die Otter vor Mari-Jos Gesicht. Deren Starre löste sich, und ihr Blick wanderte von einem unbekannten Punkt in unendlicher Ferne zu den Augen des Tiers. Frau und Schlange starrten sich gebannt an.

Mari-Jo begann die Bewegungen des Tiers zu kopieren, wand sich wie ein Spiegelbild geschmeidig von links nach rechts, von oben nach unten.

Nua'naan intonierte eine andere Textzeile, wieder antworteten die Tänzerinnen ihm und rezitierten seine Worte.

Dann hob Nua'naan eine Machete und trennte dem sich windenden Tier mit nur einem gezielten Schlag den Kopf vom Körper.

Madam legte den kopflosen Körper Mari-Jo um den Hals. Schlangenblut lief ihr über die Brust und den Bauch, vermischte sich mit den aufgetragenen Farben.

Mari-Jo erstarrte wie zuvor.

Der Kopf der grünen Lanzenotter war zu Boden gefallen. Er lebte noch und begann nun doch mit aufgerissenem Maul und herausgefahrenen Fängen nach einem imaginären Ziel zu schnappen. Kopf und Körper konnten bis zu eine Stunde getrennt voneinander überleben, und solange sie noch zubeißen konnte, war die Schlange auch genauso giftig wie zuvor.

Wieder lösten sich die beiden Jungen aus der Gruppe. Mehrmals ließen sie dicke Holzpfähle auf den Kopf der Schlange herniederfahren und zermalmten so den Schädel zu einem unförmigen Brei. Ein gnädiger Tod für das stolze Tier.

Das Ritual um Madam und Mari-Jo ging auf den Höhepunkt zu. Nua'naan reichte der Voodoo-Priesterin einen Hahn, der aufgeregt flatterte und gackerte, während Madam ihn an den Füßen hielt und die ausgebreiteten Flügel Mari-Jo ins Gesicht schlugen. Mari-Jos Kopf zuckte zwar von einer Seite zur anderen, sie verzog jedoch keine Miene.

Das Blut aus dem Schlangenkörper rann in dunklen Bahnen über ihren Oberkörper, ihre nackte Scham und die Beine entlang.

Die Tänzerinnen hielten in ihrer Umkreisung inne, tanzten nun an einem festen Punkt und wiegten ihre Körper hin und her, den Blick auf die Vorgänge in der Mitte des Kreises gerichtet. Der Schlag der Trommeln wurde lauter, schneller, fordernder.

Rasseln und Klangstäbe verstummten.

Dann der Gesang von Nua'naan und der Frauen.

Es folgten drei letzte harte Schläge auf das Fell der Trommeln.

Dom – Dom – Dom!

Und Madam köpfte den Hahn über Mari-Jos Haupt.

Blut spritzte auf ihr Gesicht, wo es in dunklen Schlieren verlief.

Mari-Jo schrie gellend auf!

Dann brach sie wie tot zusammen, blieb verkrampft liegen, jeder Muskel war angespannt, die Augen nach innen verdreht, sodass nur noch das Weiße zu sehen war.

Die Zeremonie war geglückt. Mari-Jo war nun in Trance.

Ihre Brüder und Schwestern aus der Gemeinde trugen ihren steifen Körper zu einer rituellen Liegestatt zwischen den Feuern. Der Schlangenkörper wurde an das Kopfende gebettet, der Hahn zu ihren Füßen.

Mari-Jo war eingerahmt vom Tod und konnte mit dem Geist ihres verstorbenen Sohns Kontakt aufnehmen. Bis zum Sonnenaufgang würde sie so aufgebahrt liegen bleiben, bis Madam sie wieder erweckte und sie in die Welt der Lebenden zurückkehrte.

Niemand konnte wissen, welche Reise ihr Geist in den verbleibenden Stunden der Nacht unternehmen würde.

Mari-Jo erlebte den Tod ihres Sohnes aus seiner Perspektive. Ihr Geist hatte sich mit dem seinen verbunden, und sie konnte in seiner Erinnerung miterleben, wie er gestorben war und was er dabei hatte durchstehen müssen.

Doch die Erinnerung des Geistes setzten früher ein ...

Es war eine Vollmondnacht gewesen.

Bis vor Kurzem hatte es wie aus Kübeln geschüttet, nun verzogen sich die Wolken und machten dem Mond und den Sternen Platz. Die Luft hatte etwas abgekühlt, doch noch immer war sie schwül und feucht.

Sich hier an einem der zahlreichen Nebenarme des Amazonas nachts herumzutreiben, war gefährlich. Nahezu jedes Lebewesen, das in der Dunkelheit lauerte, konnte bei einer Begegnung mit einem Menschen tödlich sein. Schon nach wenigen Metern wurde der dichte Urwald so dunkel, dass man nicht mehr die Hand vor Augen sah.

Manolo wusste das. Sein ganzes junges Leben, zwanzig Jahre immerhin, hatte er in dem Dorf namens Santa Inés verbracht. In einer kleinen Hütte zusammen mit seinen Eltern, seinen Großeltern väterlicherseits und sieben jüngeren Geschwistern. Manolo kannte die Gefahren.

In dieser Nacht jedoch lag etwas in der Luft. Und es war nicht nur der Nebel, der nach dem Gewitter aus dem erhitzten Dschungel aufstieg. Die Tiere des Dorfes spürten es auch. Ziegen hielten sie hier, Hühner, die tagsüber frei über die schlammige Straße liefen und nun sicher vor den Raubtieren im Stall untergebraucht waren. Sie alle wurden unruhig. Eine Vielzahl an Tierstimmen, die nicht aus dem benachbarten Wald drangen.

Um diese Uhrzeit sollten die Tiere schlafen und Ruhe im Dorf herrschen.

Manolo hatte seinen Schlafplatz in der Hütte verlassen und war nach draußen getreten. Er hörte die Hühner gackern, ging die wenigen Schritte zum Hühnerhaus und kontrollierte, ob die Stalltür fest verschlossen war. Das war sie, ihr wertvollster Besitz war in Sicherheit.

Manolo dachte mit Schaudern daran, dass es in den letzten Monaten immer wieder zu Todesfällen gekommen war. Acht Menschen waren zu Vollmond getötet worden oder im Dschungel verschwunden. Da diese Ansiedlung weniger als zweihundert Menschen beherbergte, war das im Verhältnis sehr viel.

Über dem Dorf Santa Inés lag eine dunkle Bedrohung, ohne dass man sie konkret benennen konnte. Strom gab es nicht im Dorf, somit auch keine Straßenlaternen. Nur der Vollmond gab sein fahles Licht ab.

Was störte die Tiere, was witterten sie? Vampirfledermäuse, die hier regelmäßig größere Tiere anfielen, flatterten nicht durch die Nacht.

Manolo zog es in Richtung des Urwalds. In gebührendem Abstand blieb er stehen. Ab und zu war da ein leichtes Zittern in der graugrüne Wand vor ihm, wenn sich Regenwasser gesammelt hatte und in dicken Tropfen zu Boden fiel. Nichts Ungewöhnliches.

Nachts war die Zeit des Jaguars, doch dieser Räuber konnte sich nahezu unsichtbar anschleichen. Selbst wenn er nur wenige Meter vor ihm gewesen wäre, hätte Manolo ihn nicht im Dickicht ausmachen können. Normalerweise mieden Jaguare aber die Nähe der Menschen.

Doch der junge Mann spürte, genau wie die Dorftiere, die Anwesenheit von ... etwas.

Etwas, das bedrohlich wirkte.

Lauf! Flieh!, schien seine Intuition ihm geradezu zuzuschreien. Lauf zurück ins Haus!

Aber Manolo blieb und starrte weiterhin auf die Blätter der Dschungelbäume. Die Neugier siegte. Konnte er hier und jetzt eine Erklärung für die mysteriösen Vorgänge der letzten Monate finden?

Lang gezogene, spitze Blätter, große Blätter, kleine Blätter, Palmwedel. Bewegten sie sich vom leichten Wind? Durch ein Tier?

Der Angriff kam aus der Dunkelheit des Waldes und so plötzlich, dass ihm keine Zeit für eine Reaktion blieb. Das Etwas stieß durch die Blätterwand und hatte die Distanz zu ihm mit einem Satz überwunden. Er sah es deutlich auf sich zurasen, es sprang, doch ihm kam es vor, als würde es fliegen.

Das war kein Jaguar. Das war größer und mit teils tierischem, teils menschlichem Körperbau. Der gewaltige Schädel hatte eine riesige Schnauze mit gebleckten rasiermesserscharfen Zähnen.

Die versenkten sich in Manolos Kehle, nachdem ihn gewaltige Pranken zu Boden geworfen hatten. Er spürte noch, wie die scharfen Krallen tiefe Wunden in seine Brust rissen.

Schmerzen waren die letzten Empfindungen, die er wahrnahm. Dass die tiefen Wunden sofort stark zu bluten begannen, realisierte er schon nicht mehr.

Manolo starb innerhalb weniger Sekunden, seine Erinnerung riss abrupt ab.

Und somit das Erlebnis seiner Mutter in ihrer Trance ...

Mari-Jo befand sich seit Stunden in einer katatonischen Starre. Jeder Muskel ihres Körpers war verkrampft. Die Finger waren regelrecht zu Krallen verkrümmt.

Nun, zu Sonnenaufgang, wurde es Zeit, sie aus diesem Zustand zu holen.

Die Zeremonie hatte ein großes Vertrauen zwischen der Voodoo-Priesterin und ihrer Anhängerin vorausgesetzt. Außer Madam konnte sie niemand in die Realität zurückholen. Ohne ihre Erweckung würde sich Mari-Jo für den Rest ihres Lebens in einer Art Wach-Koma befinden.

Die meisten Menschen, die in der Nacht an dem Ritual teilgenommen hatten, waren in ihre Häuser zurückgekehrt. An der Pritsche vor dem Haus der Schamanin standen nur noch wenige Personen. Madam, Nua'naan, Mari-Jos Mann Luan und Rafael, ein tiefgläubiger Anhänger der Voodoo-Religion und Inhaber des einzigen Ladens in Santa Inés, dem Heimatdorf von Rafael, Mari-Jo und ihrer Familie.

Santa Inés war kein Dorf, das man mit europäischen Maßstäben messen konnte. Weitläufig lagen die größeren und kleineren Hütten an beiden Ufern des Amazonas-Nebenarms verteilt. Autos gab es nicht, der Fluss war die Hauptverkehrsader, und jeder hatte ein Boot oder Kanu. Die komplette Versorgung des Dorfes und von Rafaels Laden lief über den Wasserweg.

Mit dem Auto oder gar einem Lkw war das Dorf nicht zu erreichen. Mehr als einmal hatte man versucht, eine Schneise in den Busch zu schlagen, doch die war immer wieder schneller zugewachsen, als man sie freihalten konnte. In Santa Inés lebte man mit und von dem allgegenwärtigen Wasser.

Rafaels Laden hatte als einziges Haus in der Umgebung Strom. Er produzierte ihn selbst über ein Solar-Panel auf dem Dach. So konnte er den Luxus von Kühlung für manche verderbliche Lebensmitteln verwirklichen.

Der Umgang mit Strom und Kabeln war abenteuerlich. In einer Umgebung, die nicht ans brasilianische Stromnetz angeschlossen war, jemanden zu finden, der sich mit Elektroinstallation auskannte, war so gut wie unmöglich. Nun, alles funktionierte irgendwie, wenn die Eigenkonstruktion auch anfällig für Ausfälle war.

In Rafaels bescheidenem, vollgestopften Geschäft befand sich auch das einzige funktionierende Satelliten-Telefon weit und breit. Es wurde nur selten benutzt. Wen sollte man auch anrufen, wenn jeder, den man kannte, selbst weder Strom noch Telefon hatte? Eine Verbindung zur Außenwelt benötigten die Bewohner nicht. Die Welt am Amazonas existierte ohne Nachrichten, ohne Wahlkampf, ohne Behörden.

Das Wissen, das man hier zum Überleben brauchte, wurde von den Vätern an ihre Kinder weitergegeben. Nur die wenigsten konnten lesen und schreiben. Und wenn, dann gerade noch Portugiesisch, Fremdsprachen wurden hier nicht benötigt.

Madam und Nua'naan entfernten die toten Tierkörper aus Mari-Jos Umgebung. Madam begann Mari-Jos Körper vom Blut und den getrockneten farbigen Pasten zu säubern. Dazu hatte sie eine Schale mit Wasser mitbracht und ein Tuch. Schnell trübte sich das klare Wasser ein, und das Tuch wurde fleckig.

Alle Anwesenden schwiegen, minutenlang hörten sie nur das regelmäßige plätschernde Auswaschen des Tuchs im Wasser und die allgegenwärtigen Tierstimmen aus dem nahen erwachenden Regenwald.

Als der Körper der Frau gereinigt war und außer ihrer unnatürlichen Starre und der Nacktheit nichts mehr an die unheimliche Nacht erinnerte, begann Madam mit der Erweckung. Sanft strich sie mit einem Wedel aus langen Ziegenhaaren über Mari-Jos Leib. Und tatsächlich, der Körper schien sich langsam zu entspannen.

Währenddessen rief Madam leise die Götter an, sie mögen Mari-Jos Seele freigeben und wieder in ihren Körper lassen.

Dann presste sie ihre Hand auf die Stirn der scheinbar Bewusstlosen und begann sie geradezu anzuschreien.

»Mari-Jo, hört du meine Stimme? Fühlst du meine Hand? Ich sagte dir, dass meine Stimme dich wieder zurück in unsere Welt holen wird! Hörst du meine Stimme, Mari-Jo? Dein Mann ist hier, und Rafael ist hier. Wir alle sind gespannt, ob du Kontakt zu Manolos Geist aufnehmen konntest. Hörst du mich, Mari-Jo? Wenn du mich hören kannst, bewege deine Finger, Mari-Jo! Jetzt!«

Der unter Trance stehende Körper entspannte sich zunehmend. Mari-Jo hob synchron die Finger beider Hände leicht an.

»Sehr gut, Mari-Jo! Ich zähle jetzt bis drei. Wenn ich bei drei angekommen bin, bist du wieder bei uns. Dein Mann wartet sehnsüchtig auf dich, Mari-Jo!«

Madam nahm die Hand von Mari-Jos Stirn.

»Eins ...« Eine Pause entstand, die Luan, Mari-Jos Mann, viel zu lang erschien.

»Zwei ...« Auch Rafael war angespannt und kaute nervös auf der Unterlippe.

»Drei!«

Mari-Jo blinzelte. Die Anspannung war komplett aus ihrem Körper gewichen.