Jordanes: Die Geschichte der Goten - Robert Sturm - E-Book

Jordanes: Die Geschichte der Goten E-Book

Robert Sturm

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Beschreibung

Die in das 6. nachchristliche Jahrhundert zu datierende Gotengeschichte des Schriftstellers Jordanes gilt bis zum heutigen Tag als eine der bedeutendsten Quellen zu Ursprung und Taten des ostgermanischen Volkes. Das Werk umspannt jenen Zeitraum vom Auszug der Goten aus Skandinavien bis zu deren endgültiger Niederschlagung durch den oströmischen General Belisar. Dabei vermengen sich realhistorische Begebenheiten mit allerlei fiktiven Episoden (z. B. Kampf der Goten im Trojanischen Krieg). Gerade die zuletzt genannten Kapitel machen eine Bewertung der Schrift schwierig und führen auch gegenwärtig noch zu dem einen oder anderen wissenschaftlichen Diskurs. Moderne deutschsprachige Übersetzungen der Gotengeschichte sind nach wie vor eher spärlich gesät, weshalb die vorliegende Monografie einen leicht lesbaren Translationsvorschlag anbietet, welcher für wissenschaftliches und nichtwissenschaftliches Publikum gleichermaßen interessant sein kann. Dem Übersetzungsteil ist eine ausführliche Einleitung vorangestellt, die sich mit Jordanes selbst, dem Inhalt seines Werkes und der "wahren" Geschichte der Goten auseinandersetzt.

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Vorwort ■

In der Antike wurden zahlreiche historiografische Schriftwerke verfasst, welche uns Daten zu den geschichtlichen Ereignissen in alter Zeit liefern. Thukydides etwa schrieb die Geschehnisse des Peloponnesischen Krieges nieder, Polybios und Titus Livius widmeten sich in ihren Werken den Auseinandersetzungen zwischen Römern und Karthagern und Ammianus Marcellinus schilderte die historischen Höhepunkte der mittleren und späten Kaiserzeit. Auch der im 6. Jahrhundert nach Christus tätige Jordanes galt als bedeutender Geschichtsschreiber, der sich mit den Ereignissen im Römischen Reich befasste, seine meiste Energie jedoch in die Abfassung einer umfangreichen Gotengeschichte investierte. Diese sogenannten Getica, deren ausführlicher Titel De origine actibusque Getarum lautet, gelten heute nach wie vor als bedeutendste schriftliche Quelle bezüglich der Historie des gotischen Volkes und seiner ständigen Konflikte mit den Römern und anderen kriegerischen Parteien.

Trotz ihrer Bedeutung für die spätantike und frühmittelalterliche Geschichte haben die Getica des Jordanes bislang nur eine begrenzte Anzahl von editorischen Bearbeitungen erfahren. Hierbei hat sich die Klassische Philologie des deutsch- und englischsprachigen Raumes gleichermaßen verdient gemacht. Der noch heute weitgehend akzeptierten Textedition des Theodor Mommsen, welche im Rahmen der Reihe Auctores antiquissimi im Jahre 1882 ihre Veröffentlichung fand, steht eine grammatikalisch vereinfachte Version von Theedrich Yeat aus modernerer Zeit gegenüber. Neben den etwas „betagteren“ Übersetzungen von Wilhelm Martens (1884, deutsch) und Charles Christopher Mierow (1913, englisch) gibt es auch einige neuere Translationen, unter denen beispielsweise jene von Lenelotte Möller einige neue Aspekte aufwirft. Insgesamt ist hier festzuhalten, dass die Befassung mit den Getica ‒ sei es in sprachlicher oder historischer Hinsicht ‒ noch längst nicht als ausgereizt gelten kann.

Das vorliegende Buch stellt einen Übersetzungsvorschlag dar, dessen Hauptaugenmerk auf der leichten und flüssigen Lesbarkeit des deutschen Textes liegt. Einem aus drei Kapiteln bestehenden Übersichtsteil folgt der Translationsteil mit direkt gegenübergestelltem lateinischen (aus Latin Library) und deutschen Text. Die Monografie richtet sich gleichermaßen an Experten und Laien, die ihr Interesse an der Gotengeschichte bekunden. ■

Robert Sturm, Herbst 2018

Inhalt ■

Einleitung

1.1 Jordanes ‒ Herkunft und Leben

1.2 Schriftstellerische Tätigkeit des Jordanes

Die Getica ‒ Inhalt und Stilistik

2.1 Kurze Übersicht über den Inhalt des Werkes

2.2 Kurze Charakterisierung des Werkes

2.3 Stilistische Elemente der Getica

Fortleben der Getica

3.1 Die Getica als Quelle neuerer historiografischer Werke

3.2 Mittelalterliche Handschriften und neuzeitliche Textausgaben

3.3 Die „wahre“ Geschichte der Goten

Übersetzung der Getica

4.1 Einige einleitende Bemerkungen

4.2 Textübersetzung

Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

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1 Einleitung ■

1.1 Jordanes ‒ Herkunft und Leben

Jordanes (auch Jordanis oder fälschlicherweise Jornandes) war ein römischer Gelehrter und Geschichtsschreiber des 6. Jahrhunderts nach Christus. In seiner Gotengeschichte (Getica, 266) liefert er einige spärliche Hinweise zu seiner Abstammung. Demnach war Jordanes selbst ein Gote alanischer Abkunft, wobei er Alanoviiamuth als seinen Vater und Paria als seinen Großvater anführt. Bereits in der von Theodor Mommsen im Jahre 1882 veröffentlichten Textedition zu den Getica wird darauf verwiesen, dass der ungewöhnlich lange Name des Vaters in zwei Teile aufgespalten werden sollte. Dadurch ergibt sich die Bezeichnung Alanovii Amuthis, die zwei nacheinander gestellte Genitive repräsentiert. Die gegenwärtige Interpretation dieses Namens deutet vermehrt darauf hin, dass Jordanes' Vater Amuth hieß und dem Stamm der Alanen angehörte. Der Großvater Paria war als notarius (Sekretär) von Candac, dem dux Alanorum, tätig.1

Wie sein Großvater übte auch Jordanes selbst das Amt des notarius aus, welches zu den höheren Stellen des Dienstadels gehörte. Sein Vorgesetzter war Gunthigis Baza, magister militum und Neffe des Candac, der dem Klan der Ostgoten zugehörig war. Die Ostgoten wiederum entwickelten sich im Laufe der Jahrzehnte zur führenden Schicht der sogenannten Amaler. Die Stellung des Jordanes bei einem gotischen Fürsten erklärt das Interesse des Gelehrten für die Goten insgesamt und somit das Hauptgebiet seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Die Zeitspanne der Betätigung als Sekretär lässt sich heute nicht mehr exakt eingrenzen, fällt jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit in die ersten vier Jahrzehnte des 6. Jahrhunderts.2

Nach seiner Notariatsarbeit erfuhr Jordanes eine sogenannte conversio, worunter vermutlich der Eintritt in den geistigen Stand zu verstehen ist. Sowohl der Zeitpunkt als auch die Art und detaillierte Beschreibung dieses Übertritts bleiben uns verborgen. Es ist lediglich bekannt, dass sich die Goten bereits unter ihrem Bischof Ulfilas zum Arianismus bekannten, der keine Wesensgleichheit von Christus und Gott, sondern deren Wesensähnlichkeit lehrte. Nach Meinung vereinzelter Forscherkreise könnte die genannte conversio die Abkehr des Jordanes von der arianischen hin zur nizäischen Glaubenslehre bezeichnen. Dies würde freilich den in einigen Passagen der Getica (132, 133, 138) zum Ausdruck gebrachten Anti-Arianismus erklären. Eine alternative Interpretation der conversio deutet darauf hin, dass Jordanes dem katholischen Mönchstum beitrat und damit zu einem Mitglied des westlichen Klerus wurde. Aus einigen frühmittelalterlichen Manuskripten geht hervor, dass er Bischof war und möglicherweise sogar das Episkopat der Stadt Ravenna innehatte. Der Name Jordanes findet jedoch in den Bischofslisten von Ravenna keine Erwähnung.3

Während der Niederschrift seiner im nächsten Abschnitt zu behandelnden Werke hielt sich Jordanes mit einiger Wahrscheinlichkeit im noch intakten oströmischen Reich auf. Darauf deuten insbesondere relativ detaillierte geografische Angaben in seinen Schriften hin, welche ohne genauere Ortskenntnisse nicht möglich gewesen wären (Romana, 388; Getica, 38, 119). Der Autor verfügt für diese Gegend auch über ein gehobenes zeitgeschichtliches Wissen, wenn er etwa über eine im Ostreich wütende Pestepidemie im Jahre 542 berichtet (Getica, 104). Theodor Mommsen verortet in seiner bereits erwähnten Textedition der Getica den Aufenthaltsort des Jordanes im Grenzbereich zwischen Thrakien und Illyrien, wobei er weiter in Tomi oder Marcianopolis oder Anchialos dessen genaue Wohnlokalität sehen will. Andere etwa zeitgleich mit Mommsen publizierende Autoren denken eher an einen Aufenthalt des Historiografen in Illyrien, wo jener vermutlich nur am Rande mit Goten zu tun hatte. Gemäß J. Friedrich lässt Jordanes in seinen Romana (315) eine besondere Verehrung für den Bischof Ascholius erkennen, welche eigentlich bloß durch eine persönliche Beziehung zu ihm erklärt werden kann. Damit würde sich der Aufenthaltsort des Schriftstellers im Gegensatz zu den zuvor genannten Theorien in Thessaloniki befinden, wo Ascholius als Heiliger verehrt wurde. Als zusätzliche Indizien, welche diese Theorie unterstützen, gelten die Hervorhebung Thessalonikis in den Getica (111) und die teils vorzügliche Kenntnis der Chronik und Reichspolitik durch den Autor, wie sie nur in einer so großen und bedeutenden Stadt erworben werden konnte.4

Über die Lebensumstände des Jordanes jenseits der schriftstellerischen Tätigkeit ist uns praktisch gar nichts bekannt. Es darf jedoch vermutet werden, dass Gebet, Schriftstudium und Askese im Zentrum seines irdischen Daseins standen und er sich im strengen Sinne dem christlichen Glauben verbunden fühlte. Der Todeszeitpunkt des Jordanes wird heute allgemein nach 552 angenommen, womit er noch einen Großteil der justinianischen Kaiserära miterlebte.5 ■

1.2 Schriftstellerische Tätigkeit des Jordanes

Wir besitzen gegenwärtig Kenntnis von zwei Schriften des Jordanes, welche die Kurzbezeichnungen Romana und Getica tragen. Althistorische Untersuchungen lassen darauf schließen, dass der Historiograf zuerst an den Romana schrieb, seine Arbeit jedoch nach einer gewissen Zeit zugunsten der Getica unterbrach und schließlich beide Werke etwa zeitgleich vollendete. Für die Fertigstellung der zwei Schriften wird gemeinhin das Jahr 551 angenommen, da noch aktuelle Geschehnisse wie der Tod des Germanus (550), die Einfälle der Slaven und Anten (550) und die Siege der Langobarden über die Gepiden (551) in die Texte einflossen, während der Zug des Narses nach Italien (April 551) keine Erwähnung mehr fand.6

Bei den Romana (Historia Romana) handelt es sich um eine Weltchronik, welcher eine römische Geschichte von der Zeit des Augustus bis zum 24. Regierungsjahr des Kaisers Justinian folgt. Ältere wissenschaftliche Studien gehen davon aus, dass das Chronicon des hl. Hieronymus dem Schriftwerk als Grundlage diente, da es der Autor selbst als Quelle angibt (Romana, 11). Für spätere historische Ereignisse wurden vor allem Ammianus Marcellinus und eine offizielle Reichschronik als Zitierbasis verwendet. Für die römische Geschichte wurden zudem die Epitome des Florus und Werke des Avienus Rufius Festus herangezogen. Zuletzt verwertete Jordanes auch noch Schriften von Eutrop und Orosius und bezog sich für spezifische historische Darstellungen auf jüdisch-alexandrinische Quellen.7

Die literarische Tätigkeit des Jordanes bestand bei den Romana im Wesentlichen darin, die bereits vorhandene Chronik des Hieronymus mit einer Einleitung zu versehen und in mehreren Bereichen zu kürzen. Für die römische Zeit wurde das Vorgängerwerk durch Florus, Rufius Festus, Eutrop und Orosius ergänzt. Ab dem Jahr 379 nach Christus findet die Schrift ihre Fortsetzung mithilfe des Marcellinus und einer anderen Chronik, welche wiederum Marcellinus selbst als Grundlage diente. An einigen Stellen arbeitet Jordanes die Kirchengeschichte des Sokrates in seinen Text ein. Dabei besitzt der Autor jedoch durchaus eine gewisse Größe, wenn er an mancher Position seine kompilierende Tätigkeit eingesteht und sich nicht als Urheber der entsprechenden Zeilen zu erkennen gibt.8

Die modernere Forschung geht davon aus, dass nicht etwa der hl. Hieronymus, sondern Q. Aurelius Memmius Symmachus als Hauptquelle für die Romana des Jordanes anzusehen ist. Der Urenkel des berühmten Rhetorikers Q. Aurelius Symmachus Eusebius wurde im Jahre 485 zum Konsul erhoben und trug zudem den Ehrentitel eines patricius, wodurch er im Senat eine höchst bedeutende Stellung einnahm. Der jüngere Symmachus pflegte gute Beziehungen zum Ostgotenkönig Theoderich, wurde jedoch nach dem Tod seines Schwiegersohns im Jahre 524 des Hochverrats verdächtigt und im folgenden Jahr hingerichtet. Symmachus verfasste sieben nicht erhaltene Bücher zur römischen Geschichte, welche laut W. Enßlin zur Zeit des Jordanes über eine gewisse Bekanntheit verfügten und für den Autor demnach als in hohem Maße zitierfähig galten.9

Inhaltlich befassen sich die Romana zunächst mit bedeutenden frühgeschichtlichen Familienhäuptern von Adam bis Thara. In weiterer Folge werden die Assyrer, Meder, Perser und Griechen behandelt, wobei in letzterem Falle lediglich eine chronikartige Aufzählung der Herrscher von Alexander dem Großen und den Lagiden bis zu Kleopatra erfolgt. Jordanes nennt dabei die Jahre der jeweiligen Regierungen und führt parallel die gleichzeitigen Ereignisse aus der Geschichte der Juden an. Im 38. Kapitel seines Werks geht der Autor in aller Kürze auf die Zerstörung Trojas, die Flucht des Aeneas und dessen Ehe mit Lavinia ein, während er im 51. Kapitel den Beginn der Olympiaden, die Gründung Alba Longas sowie die Geburt und Aussetzung von Romulus und Remus beschreibt. Im unmittelbar nachfolgenden Abschnitt findet die Gründung Roms ihre Erwähnung, welche Jordanes auf das Jahr 3650 seit der Erschaffung der Welt festlegt. Im 85. Kapitel werden die Regierung des Augustus und die Geburt des Herrn dargestellt, wohingegen die nachfolgenden Abschnitte im Wesentlichen den politischen Ereignissen in der römischen Kaiserzeit gewidmet sind. Es folgt eine Aufzählung der römischen Herrscher bis zur Teilung des Reiches unter Arcadius und Honorius, den Söhnen des Theodosius. Ab diesem Zeitpunkt werden lediglich noch die oströmischen Kaiser chronologisch aufgelistet, während den Kaisern und Ereignissen im Westen eine beiläufige Erwähnung zuteilwird. Im 363. Kapitel setzt Jordanes seinen erzählerischen Schwerpunkt auf die Regierungsphase des Justinian, ehe er sich zuletzt noch dem Einfall der Bulgaren, Anten und Slaven zuwendet.10

Die Getica (De origine actibusque Getarum) des Jordanes gelten nach heutiger Auffassung als eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte der Goten. Ursprünglich wurde der römische Senator Cassiodor um das Jahr 520 herum vom über die italische Halbinsel herrschenden Ostgotenkönig Theoderich dem Großen damit beauftragt, die historischen Ereignisse rund um die Goten niederzuschreiben. Das dabei entstandene Werk in 12 Büchern wurde erst nach dem Tod des für die westliche römische Welt so bedeutsamen Regenten veröffentlicht und erweckte zudem das Interesse des Jordanes, welcher dieses nach eigenen Aussagen nur drei Tage lang einsehen konnte. Von Cassiodors Werk stark inspiriert fertigte der alanische Schriftsteller seine eigene, auf wesentliche Ereignisse verkürzte Gotengeschichte an, die noch zusätzlich mit aktuellen Geschehnissen der Jahrhundertmitte ergänzt wurde. Die großpolitische Situation hatte sich in der Mitte des Säkulums insofern verändert, als der oströmische Kaiser Justinian nach zwei Kriegen gegen die Goten die Rückeroberung Italiens erreichen konnte. Während die Getica des Jordanes der Nachwelt zur Gänze erhalten blieben, ging die Gotengeschichte des Cassiodor vollständig verloren, fand jedoch in einigen Stellen der Getica ihre ausführliche Zitierung.11

Den Ausführungen Theodor Mommsens zufolge fungierte Cassiodor bei der Abfassung der Getica keineswegs als einzige Quelle. So werden von Jordanes auch Josephus, Cornelius Tacitus, Claudius Ptolemaeus, Prosper Tiro und Hieronymus zitiert. Die geografischen Notizen stützen sich zu einem guten Teil auf der Kosmografie des Julius Honorius. Mommsen ist zudem der festen Überzeugung, dass sich Jordanes die Weltkarte des Agrippa zunutze machte, weshalb im Text deutliche Parallelen zu dieser erkennbar werden. Cassiodor, die Hauptquelle der Getica, baute seine Gotengeschichte gemäß gegenwärtigen Erkenntnissen insbesondere auf Ablabius auf, welcher sich selbst wiederum der historischen Ausführungen anderer Autoren wie Dio Chrysostomos, Dexippus oder Priskos bediente. Gerade der zuletzt genannte Schriftsteller weilte im Jahre 448 als Gesandter am Hofe Attilas und trat demzufolge als direkter Zeuge von Ereignissen auf, welche sich rund um den Hunnenkönig abspielten. Schließlich darf keineswegs unerwähnt bleiben, dass auch die oben beschriebenen Romana den Getica in manchen Textabschnitten als unmittelbare Zitierquelle dienten. Die Erwähnung des gotischen Bischofs Ulfila (Getica, 266) deutet ferner auf eine Verbindung des Werks mit der Kirchengeschichte des Sokrates hin. Wie Sybel richtigerweise anmerkt, ist das Prooemium der Getica (1-3) aus Rufinus entlehnt und nur in wenigen Passagen abgeändert.12

Die genauere literaturwissenschaftliche Analyse der Getica wirft einige Probleme auf. So ist bei der Bewertung des Schriftwerks etwa zu berücksichtigen, dass seine Abfassung in hohem Maße einer bestimmten politischen Motivation unterlag. Bereits bei Cassiodor erfolgte nach gegenwärtiger Auffassung eine Schwerpunktsetzung der gotischen Geschichte auf die amalischen Ostgoten, welche als elitäre Gesellschaftsschicht innerhalb des gesamten Stammes galten. Jordanes übernahm diese Form der monopolisierten Darstellung großteils in sein Werk. Die Getica unternehmen darüber hinaus den Versuch, die gotische Historie zu einem Kapitel der römischen werden zu lassen. Dieser für das Verständnis der Schrift so bedeutende Sachverhalt spiegelt sich vor allem dadurch wider, dass Jordanes nicht etwa aus gotischer, sondern aus oströmischer Perspektive erzählt. All diese Punkte lassen letztendlich eine Verwendung der Getica als wissenschaftliche Quelle für die gotische Geschichte problematisch erscheinen.13

Diese Quellenkritik wird durch mehrere im Werk getätigte Falschbehauptungen gestützt: So stammten die Goten nicht, wie von Jordanes behauptet, ursprünglich aus Skandinavien. Sie waren auch keineswegs identisch mit dem thrakischen Volksstamm der Geten ‒ ein Irrtum übrigens, durch welchen der Titel Getica erklärt werden kann. Jordanes vertrat die feste Meinung, dass die Goten dem Volk der Skythen angehörten, was sich jedoch als ein über die Jahrhunderte vermittelter systematischer Fehler der antiken Historiografie herausstellte. Der Stammbaum der Amaler (Getica, 79) gilt aus heutiger Sicht als eine tradierte und großteils auf Fiktion basierende Konstruktion, die vermutlich bereits bei Cassiodor ihre Verwendung fand.14 Uneinigkeit herrscht gegenwärtig vor allem darüber, in welchem Ausmaß die Getica den Inhalt von Cassiodors Geschichtswerk wiedergeben. Während Walter A. Goffard die Getica weitgehend als Produkt des Jordanes bewertet, vertreten andere Forscher den Standpunkt, dass sich der Autor enger an die Vorlage des Cassiodor gehalten habe, als er in den Getica behauptet. Hier könnten zukünftige Forschungen möglicherweise zu einem zufriedenstellenderen Ergebnis führen.15 ■

2 Die Getica ‒ Inhalt und Stilistik ■

2.1 Kurze Übersicht über den Inhalt des Werkes

Die in den Büchern I bis III (1-24) dargebotene Einleitung beinhaltet eine allgemeine Erdbeschreibung auf Basis der Weltkarte des M. Vipsanius Agrippa. Im Speziellen widmet sich Jordanes der Insel Scandza, welche als Stammland der Goten beschrieben wird. Der Autor schildert in weiterer Folge die Emigration der Goten unter Berig und deren Einwanderung in das Gebiet der Skythen unter Filimer (IV, 25-28). Daraufhin folgt eine relativ detaillierte Deskription des Skythenlandes und seiner Bewohner (V, 30-38), ehe Jordanes eine eher kurz gehaltene Übersicht über die drei Wohnsitze der Goten nach deren Wanderzug unter Filimer und über deren lokal etablierte Kultur präsentiert. Gemäß dem Schriftsteller gelten Maiotis im Skythenland, Dakien, Thrakien und Mösien sowie die Regionen oberhalb des Pontischen Meeres als Hauptsiedlungsgebiete des Volkes (V, 39-43).

Der weitere Inhalt der Gotengeschichte ist durch die Auseinandersetzungen des Stammes mit benachbarten und entlegenen Völkern gekennzeichnet. Hier findet zunächst der Krieg mit dem Ägypterkönig Vesosis seine Darstellung, wobei die beiden Tanaisflüsse und der Danaper eine eingehende Beschreibung erfahren. Jordanes wendet sich daraufhin der Entstehung der Parther, der Absonderung der kriegerischen Frauen der Goten und damit verbundenen Entstehung der Amazonen sowie der Darstellung der Kriegszüge des Amazonenvolkes zu. Daran schließt die Geschichte der Könige Telephus und Euryphilus an, welche als Herrscher von Mysien ‒ dieses wird von Jordanes mit Mösien gleichgesetzt ‒ letztlich zu Regenten über die Goten avancieren. Die nachfolgenden Abschnitte der Getica behandeln die Kriege der Perser gegen die Skythen beziehungsweise Goten unter Cyrus, Darius und Xerxes und die Auseinandersetzungen mit den Makedoniern unter Philipp und Perdikkas, wobei der letztgenannte Regent fälschlicherweise mit dem gleichnamigen Diadochen verwechselt wird (VI-X, 44-66).

In weiterer Folge erzählen die Getica von Burvista, der in Dakien über die Goten herrscht. Als dessen Nachfolger wiederum tritt ein Philosoph namens Coryllus auf. Nach Darlegung der Herrscherabfolge widmet sich der Autor der Beschreibung Dakiens und des Bündnisses zwischen Goten und römischem Reich. Unter Kaiser Domitian findet diese Allianz ihr vorläufiges Ende, und die beiden Völker begegnen sich in grausamen kriegerischen Auseinandersetzungen (XI-XIII, 67-78). Jordanes listet nun die Stammtafel der sogenannten Ansen auf; dabei handelt es sich um jene Heroen, welche sich im Krieg gegen die Römer in besonderem Maße auszeichneten. Diese Liste reicht vom Ende des 1. Jahrhunderts nach Christus bis herauf zur Lebenszeit des Autors (XIV, 79-81). In Kapitel 82 heißt es: nunc autem ad id, unde digressum fecimus, redeamus doceamusque... Jordanes zeichnet nachfolgend die Geschichte des Kaisers Maximius nach, der seiner Darstellung zufolge Gote war (XV, 83-88). Es folgen die Kriege der föderierten Goten unter Ostrogotha wegen nichtbezahlter Jahresgelder, die Belagerung von Marcianopolis mit zwischengeschobener Gründungslegende der Stadt und die Kriege mit den Gepiden. Jordanes nutzt hier die Gelegenheit, um mit aller gebotenen Kürze die Geschichte der Gepiden zu referieren. Danach wendet er sich den Kriegen unter Cniva und dessen Nachfolgern zu (XVI-XX, 89-109).

Unter Kaiser Maximianus kämpfen die Goten als Verbündete an der Seite der Römer. Dieser Zustand der gegenseitigen Hilfestellung wird unter den Machthabern Diokletian und Konstantin beibehalten (XXI, 110-112). Geberich etwa zieht in die Schlacht gegen die Vandalen, deren Wanderungen und Siedlungsgebiete von Jordanes einer genaueren Deskription zugeführt werden (XXII, 113-115). In der Regierungszeit des Ermanarich erfolgt der Einfall der Hunnen in Mitteleuropa. Hier ist zunächst einiges über den asiatischen Volksstamm zu erfahren, ehe die Kapitulation der Ostgoten gegenüber diesen Kriegern und ihrem König zur Darstellung gelangt (XXIII-XXIV, 116-130).

In den nachfolgenden Abschnitten erlangt man etliche Kenntnisse über die Westgoten (XXV-XXX, 131-173). Nach einer allgemeinen Beschreibung dieser Stammeslinie (131-133) widmet sich Jordanes jenen Wohnsitzen, welche die Westgoten von Kaiser Valens in Thrakien und Mösien erhalten haben (133-138). Unter ihrem König Fritigernus kämpfen sie jedoch gegen den Imperator, um kurz darauf zu foederati des Römischen Reichs aufzusteigen (139-145). Es folgen ausführliche Darstellungen der Westgotenkönige Alarich (146-158), Athaulf und Sigerich (158-163). Unter ihrem Regenten Wallia kämpfen die westgotischen Krieger gegen die Vandalen mit deren Oberhaupt Geiserich. Jordanes schiebt an dieser Stelle einen Exkurs über die Vandalen bis herauf zur Regierungszeit Justinians ein (164-173).

Die weiteren Kapitel der Getica beinhalten ein Porträt des Gotenkönigs Theoderich I. (XXXI, 174-177), die Schilderung der Immigration des Amalers Beremud, die Erzählung des Krieges mit den Römern und Hunnen und die detaillierte Darstellung des berühmten Hunnenkönigs Attila (XXXII-XL, 178228). Jordanes beschreibt daraufhin die Entscheidungsschlacht gegen die Hunnen auf den Katalaunischen Feldern, Attilas Kriegs- und Plünderungszug nach Italien sowie dessen zweite Kampagne gegen die Goten. Abschließend werden die letzten Könige der Westgoten umfangreich porträtiert (XLI-XLVII, 229-245).

Im letzten Fünftel der Getica gelangt die Ära der Ostgoten unter der Hunnenherrschaft zur Präsentation. Nach Attilas Tod schildert Jordanes die Verwüstung des Hunnenreiches durch den Gepidenkönig Ardarich (XLVII-L, 246-263), ehe er sich den Ostgoten in Pannonien, den Kleingoten unter Ulfila in Mösien und den ostgotischen Königen Valamir, Thiudimir und Vidimir zuwendet (LI-LV, 264-288). Den Abschluss des Werkes bilden König Theoderich der Große und seine Nachfolger, Belisar und der letzte Ostgotenkönig Witiges (Witichis) sowie das Schlusswort (LVI-LX, 289-316).16

2.2 Kurze Charakterisierung des Werkes

Vor allem in den Schlusskapiteln der Getica lässt sich eine klare politische Tendenz des Autors herauslesen, welche sich von jener des an vielen Stellen zitierten Cassiodor deutlich unterscheidet. Moderne literarische Analysen neigen zu der Annahme, dass der römische Schriftsteller eine verherrlichende Darstellung der Amaler schuf, wohingegen Jordanes insbesondere Kaiser Justinian und dessen Feldherrn Belisar in den Mittelpunkt seiner Lobrede rückt (Getica, 315). Nach Auffassung des Autors liegt das Heil der Goten in einer Vereinigung mit den herrschenden Römern; nur als foederati ist dem Volk eine blühende Zukunft beschieden. Jordanes vermeidet bewusst eine Fortführung der Gotengeschichte nach der Besiegung und dem Tod des Witiges, wobei nachfolgende Machthaber innerhalb des Stammes zur Gänze ignoriert werden.

Neben den bereits in Kapitel 1.2 angesprochenen Ungenauigkeiten und Fehlern, bei welchen nicht ausschließlich der Autor selbst als Schuldtragender zu benennen ist, zeichnen sich die Getica auch durch eine Entstellung von Tatsachen zugunsten der Goten aus. Für diesen Sachverhalt ist vor allem der als Hauptquelle dienende Cassiodor verantwortlich zu machen. Erlangt etwa Fritigernus bei Jordanes noch durch persönlichen Mut die Freiheit (Getica, 136), so wird der Regent bei Ammianus Marcellinus als von Hinterhalt und List getriebener Mann dargestellt (XXXI,5,5). Auch die Schlacht bei Pollentia, welche noch bei Prosper (chron. ad. a. 402) als ein Messen zweier etwa gleich starker Kräfte beschrieben wird, erfährt bei Cassiodor (chron. ad. a. 402) und später bei Jordanes (Getica, 155) eine signifikante Verkehrung im Sinne des gotischen Stammes, der das römische Heer unter Stilicho erfolgreich in die Flucht schlug. Nach den Ausführungen des Jordanes zog Theoderich im Dienste Zenos nach Italien; den historischen Tatsachen zufolge gelangte Theoderich jedoch als Gegner des Zeno auf die italische Halbinsel. Eine deutliche Überschätzung der gotischen Stellung in der römischen Politik wird beispielsweise dadurch erzeugt, dass der Verbindung zwischen Athaulf und Placidia (Getica, 160), der Schwester des Honorius, eine einschüchternde Wirkung auf die Reichsfeinde beigemessen wird und man die Bedeutung der Gothi foederati in hohem Maße überschätzt (Getica, 76, 89, 146, 176).

A. Kappelmacher gelangt in seinem lexikalen Beitrag zu Jordanes zu dem Ergebnis, dass der Autor großteils an der literarischen Bewältigung des umfangreichen historischen Stoffes scheiterte und ein nur in vereinzelten Passagen gut und lebensvoll geschriebenes Werk schuf. Der Schriftsteller scheitert insbesondere daran, das ihm von den Quellen dargebotene Material auf eine für die Leserschaft verträgliche Länge zu bringen. Trotz dieser erheblichen Mängel ist Jordanes um eine feste Disposition bemüht; nach einer geografischen Einleitung legt der Autor sein Hauptaugenmerk auf die Wanderzüge und Siedlungsaktivitäten der Goten, ehe er sich der Trennung des Stammes in Ost- und Westgoten zuwendet und die Entwicklung der beiden Linien einer separaten Beschreibung unterzieht. Diese Gliederung wird leider nicht von einer chronologischen Disziplin begleitet, wodurch immer wieder zeitliche Verwerfungen entstehen, welche für das Verständnis der Getica abträglich sind.

Die einzelnen Abschnitte des Werkes sind durch zahlreiche Exkursionen, Einschachtelungen, Ankündigungen und Rückverweisungen gekennzeichnet, welche dem Autor gemäß Kappelmacher eine kindliche Unbeholfenheit bei der Bewältigung des Stoffes bescheinigen. Auch scheint es Jordanes kaum gelungen zu sein, ein Exzerpt des Cassiodor in einwandfreier Form wiederzugeben, was einerseits sein Unvermögen als Schriftsteller unterstreicht, andererseits aber auch die Ehrlichkeit und das redliche Bemühen des Verfassers um ein akzeptables Werk zum Ausdruck bringt.17

2.3 Stilistische Elemente der Getica

Folgt man den Ausführungen Theodor Mommsens, so bediente sich Jordanes in seinem Werk keineswegs einer stilisierten Sprache, wie sie etwa bei Boethius, Cassiodor oder Inschriften vornehmer Leute der damaligen Zeit vorliegt. Vielmehr verwendete der Autor die Realsprache des gemeinen Mannes, welche die große Masse der zeitgenössischen Inskriptionen kennzeichnet. Dieser Sachverhalt besitzt auch für die Orthografie des Jordanes seine uneingeschränkte Gültigkeit, wodurch die Getica zu einer bedeutenden Quelle für das Vulgärlatein des 6. Jahrhunderts avancierten. Im Vokalismus kann der Wechsel von ae beziehungsweise oe und e, von e und i sowie von o und u beobachtet werden: Romano iurae tritt hier beispielsweise anstelle von Romano iure. Auch bei der Verwendung der Konsonanten treten einige nennenswerte Abweichungen vom klassischen Latein auf: Vor regulären Vokalen und Liquiden tritt eine systematische Vertauschung von c und g auf. Das auslautende m verfügt über so schwachen Klang, dass der Unterschied zwischen Akkusativ und Ablativ nicht mehr rein erhalten bleibt. Jordanes bedient sich sehr häufig der zweiten anstelle der vierten Deklination. Der Genitiv der dritten Deklination geht zudem aufgrund des schwachen s am Wortende in den der zweiten Deklination über (z. B. utriusque generi).

Bei manchen Textstellen gewinnt man den Eindruck, dass Jordanes jegliches Gefühl für die Kasusbildung verloren hat. So können Wendungen wie a corpus, foedus inito, cum paucis satellitibus et Romanos, a Lupicino Maximoque Romanorum ducum oder ductorem exercitus praeponere aufgegriffen werden. Beim Verbum vollzieht der Autor nicht selten einen Konjugationstausch, wenn er etwa anstelle von desinit desinet schreibt. Auch beim Pronomen kommt es mit hoher Regelmäßigkeit zu einer Vertauschung der Formen; hier werden beispielsweise qui und quem als weibliche Fürwörter, quae und quam hingegen als deren männliche Entsprechungen angenommen. Beim genauen Studium des lateinischen Textes fällt zudem auf, dass Jordanes bei der Verwendung der Präposition in und der damit verbundenen Kasussyntax einige Eigenarten erkennen lässt. Auf die Frage wohin folgt auf in zumeist der Ablativ (statt Akkusativ), wobei diese Falschverwendung des Kasus auch im Plural beobachtet werden kann. Bei Städtenamen wird der eigentlich zu verwendende Lokativ (z. B. Romae) in zahlreichen Fällen durch eine eher ungewöhnliche in-Konstruktion (in Roma) ersetzt. Als weiteres dem Autor zuzuordnendes Spezifikum kann der Gebrauch von in + Ablativ anstelle des Instrumentalis in Wendungen wie in matrimonio iungit bewertet werden.

An die Seite des Ablativus absolutus treten bei Jordanes manchmal der Accusativus und Nominativus absolutus, welche im klassischen Latein keine Entsprechungen besitzen. Der Schriftsteller geht überhaupt sehr leger mit den Partizipialkonstruktionen um, wenn man etwa liest: Theodosio... Gratianus imperator...electo...Gothus...pertimuit oder quos vera(m) fide(m) petentibus in perfidia declinasset. Akkusativ und Ablativ werden ab und zu miteinander vermischt, so dass sich beispielsweise folgende Phrase ergibt: machinis constructis omniaque genera tormentorum adhibita. An manchen Stellen tritt zudem eine Vermengung von Ablativus und Nominativus absolutus auf: Gothis...sperantibus, praesertim...confisi...bellum exurgit...

Bei der Tempusbildung kommt es mitunter zur Verwendung des Präsens anstelle des Futurs und des Plusquamperfekts anstelle des Perfekts. Unter den Konjunktionen tritt dum nicht selten in Konkurrenz zu cum, so dass man hier sogar mit einer systematischen Verschreibung rechnen muss. Gemäß den literarischen Analysen Kappelmachers sind die oben erläuterten Abweichungen von der klassischen Literatursprache zwar durch eine signifikante Auftrittswahrscheinlichkeit gekennzeichnet, führen jedoch nicht zu einer vollständigen Verwischung des Bildungslateins. Das Werk des Jordanes wird in der Klassischen Philologie nicht selten als eine Synthese aus traditioneller Literatursprache auf der einen Seite und Vulgärsprache auf der anderen dargestellt. Jordanes bezeichnet sich selbst zwar als agrammatus, verfügte aber mit einiger Sicherheit über ein literarisches Schulwissen, welches nicht zuletzt für seine bereits eingangs erwähnte Tätigkeit als notarius von entsprechender Bedeutung war. Auf die Schulbildung deutet nicht zuletzt auch die dem Autor innewohnende Kenntnis Vergils hin, der in manchen Textstellen der Getica bewusst zur Zitierung gelangt.

Die stilistische Gestaltung der Sprache ist linguistischen Untersuchungen zufolge vom frühchristlichen Kirchenlatein geprägt. So haben etwa Substantiva wie iuramentum, spiramen, mercimonium, dispendium oder paenitudo, Adjektive wie antefatus, ineffabilis oder intransmeabilis und Verba wie advivere oder devotare ihre Parallelen bei den Kirchenschriftstellern der Zeit. Dabei muss allerdings gerechterweise festgehalten werden, dass sich Jordanes in seinen Romana mit wesentlich höherer Intensität als in den Getica der klerikalen lateinischen Sprache bediente. X. Bergmüller hat fälschlicherweise aus Jordanes' Beziehung zum Kirchenlatein auf den geistlichen Stand des Schriftstellers geschlossen. Wie Kappelmacher hier zurecht anführt, war Jordanes als Katholik in gewissem Maße mit den Schriften der Kirchenväter vertraut, wodurch sich der Einfluss des Klerikallateins auf seine Werke ergibt. Durch seine Stellung als notarius war der Autor naturgemäß mit der Sprache des oströmischen Kaiserhofs konfrontiert, welcher sich seinerseits sukzessive des Kirchenlateins bemächtigte. So heißt es etwa in einem Erlaß des Kaisers Justinian (Cod. I,27): quas gratias...domino deo nostro...exhibere debeamus; deo gratias agere valeamus...per me. ultimum servum,...deo auxiliante, iuvante...

Jordanes verfügt über ein gewisses Geschick in der Verwendung von rhetorischen Mitteln. In regelmäßigen Abständen findet man beispielsweise die Phrasen quid multa, quid plurimum, quid plura oder quid multum. Der Autor bedient sich zudem der Paronomasie und des Homoioteleutons, wenn er etwa schreibt: apparuit...disparuit (Getica, 124), depositis composita (Getica, 288), copia...inopia (Getica, 259). Auch alliterierende Wendungen finden mit gewisser Regelmäßigkeit ihren Gebrauch: cum timore et tremore (Getica, 200), frustratus fugatusque (Getica, 213), fortium facta (Getica, 315). Zuletzt sei noch auf einen in der Einleitung auftretenden Chiasmus hingewiesen: suscipe libens, libentissime legens (Getica, 3).

Wie Kappelmacher zurecht anmerkt, kann die häufige Verwendung der ersten Person als eine in besonderem Maße hervorzuhebende Eigentümlichkeit des Autors gelten. Hierbei liegt ein klarer Widerspruch zum Schreibstil des Historiografen vor, welcher sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln aus dem erzählten Geschehen heraushalten möchte. Kappelmacher erklärt die Egoperspektive des Jordanes mit dessen Pedanterie bei der Disposition des Textes (siehe oben) und bietet damit einen durchaus nachvollziehbaren Ansatz. Für die partielle rhetorische Färbung der Sprache werden insbesondere das Studium der Quellen und die oben genannte Vergillektüre verantwortlich gemacht. Auch die Kanzleisprache mag ihren Teil zur künstlerischen Ausfertigung mancher Textstellen beigetragen haben.18 ■

3 Fortleben der Getica ■

3.1 Die Getica als Quelle neuerer historiografischer Werke

Nach Ansicht von Theodor Mommsen stützt sich Secundus von Trient in seiner Langobardengeschichte aus dem Jahre 612 in weiten Teilen auf Jordanes ‒ eine Hypothese freilich, welche bereits Ende des 19. Jahrhunderts angezweifelt wurde und bis zum heutigen Tag keine weitreichende Unterstützung erfahren hat. Auf Mommsen geht auch die Behauptung zurück, dass der Scholiast zu Statius Theb. XII,62 seine Bemerkungen über strava aus den Getica (257) bezogen habe. Diese Feststellung darf ebenfalls als unsicher bewertet werden. Gesichert ist hingegen die Benutzung des Jordanes durch den Geographus von Ravenna, welcher den alanischen Autor insgesamt sechsmal zitiert.19

Im Früh- und Hochmittelalter dienten die Getica laut Mommsen und Manitius unter anderem Frechulf von Lisieux (830), Widukind von Korvei (8. Jahrhundert) sowie Paulus Diaconus (774) in dessen Langobardengeschichte als literarische Grundlage. Inwieweit Rudolf von Fulda Anleihen an diesem Geschichtswerk nahm, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Zu späteren Autoren mit einem direkten Bezug zu den Getica zählen unter anderem Heriger von Lobbes, Landulf (beide 11. Jahrhundert), Ekkehard von Aura (um 1100), Hugo von Flavigny (1102) und Otto von Freising (12. Jahrhundert). Eine Erwähnung des Jordanes ist beispielsweise für das Chronicum Vedastinum und die Chronik des Reginbert von Reichenau (10. Jahrhundert) bezeugt. Die oben genannten Autoren geben klar zu erkennen, dass sich die Getica insbesondere im deutschen und französischen Raum einer erhöhten Beliebtheit erfreuen konnten. Dieser Umstand wird auch durch die im Mittelalter verbreiteten Handschriften und deren Verzeichnung in speziellen Katalogen unterstrichen.20

3.2 Mittelalterliche Handschriften und neuzeitliche Textausgaben

Insgesamt kennt man bis zum heutigen Tage elf handschriftliche Editionen von Jordanes (Romana und Getica), welche vom 8. bis zum 12. Jahrhundert entstanden sind und die Eigenarten des Autors in Bezug auf Sprache und Orthografie mit unterschiedlicher Reinheit wiedergeben. Als authentischste Fassung galt gemeinhin der codex Heidelbergensis 921 aus dem 8. Jahrhundert (H), welcher jedoch einem Brand im Hause Mommsens zum Opfer fiel. Weitere der Nachwelt erhaltene Handschriften umfassen den Vaticanus Palatinus 920 aus dem 10. Jahrhundert (P), den codex Valenciennensis Nr. 88 catalogi Mangeartiani aus dem 9. Jahrhundert (V), den codex Laurentianus aus dem 11. Jahrhundert (L), den codex Ambrosianus C. 72 aus dem 11./12. Jahrhundert (A), die Excerpta Cheltenhamensia aus dem 9. Jahrhundert (S), den Vaticanus Ottobonianus Nr. 1346 aus dem 10. Jahrhundert (O), den codex Breslaviensis Rehdigerenus Nr. 106 aus dem 11. Jahrhundert (B), den codex Catabrigiensis (Trinity Collega O 4, 36) aus dem 11. Jahrhundert (X), den codex Berolinensis (Lat. 359) aus dem 12. Jahrhundert (Y) und den codex Atrebatensis collegiatae eccl. S. Mariae (Z).21

Den linguistischen Analysen Theodor Mommsens zufolge können die oben genannten Handschriften insgesamt drei Kategorien zugeordnet werden. Während das sogenannte archetypum ordinis primi die Schriften H, P, V, L und A umfasst, gehören zum archetypum ordinis secundi die Schriften S, O und B. Das archetypum ordinis tertii schließlich beinhaltet die Handschriften X, Y und Z. Die erste Klasse ist relativ frei von Interpolationen und scheint den Text wohl in seiner ursprünglichsten Form wiederzugeben. In den beiden verbleibenden Kategorien wurden hingegen teilweise signifikante purifizierende Konjekturen vorgenommen, die wohl der Regellosigkeit der Sprache des Jordanes (siehe Kapitel 2.2) entgegenwirken sollten. Mommsen richtet sich in seiner Edition gegen die systematische Sprachverbesserung und rät zu einer weitgehenden Hinnahme linguistischer Unregelmäßigkeiten, wodurch letztendlich eine zuverlässigere Textgrundlage als bei vorangegangenen Editionen entsteht.22

Bei den neuzeitlichen Textausgaben ist zuallererst auf Konrad Peutinger zu verweisen, der eine Edition mit dem Titel Geticorum cum Pauli historia Langobardorum, Augustae Vindelicorum 1515 cura Conradi Peutingeri veröffentlichte. Die erstmalige Verlegung einer Gesamtedition aus Romana und Getica geht auf Beatus Rhenanus (Basel, 1531) zurück. Zu den bedeutenden Ausgaben älteren Datums zählen unter anderem jene von Gruters (Hanau, 1611) sowie jene von Muratori (Mailand, 1723), wobei gerade die letztgenannte Edition über eine ausführliche Einleitung mit wertvollen Informationen für die Übersetzungsarbeit verfügt. Dies gilt auch uneingeschränkt für die bereits mehrmals erwähnte Ausgabe von Theodor Mommsen (Berlin, 1882), welche von zahlreichen Forschern nach wie vor als beste verfügbare Textgrundlage angesehen wird.23

Von der Gotengeschichte des Jordanes existieren nur vereinzelte Übersetzungen mit textkritischen Anmerkungen und sonstigen Erläuterungen. Bereits vom Ende des 19. Jahrhunderts stammt die von Alexander Heine herausgegebene und von Wilhelm Martens übersetzte Ausgabe der Getica (Leipzig, 1884; Nachdrucke: Leipzig, 1913; Essen/Stuttgart, 1985/86). Eine viel beachtete englische Translation der Gotengeschichte geht auf Charles Christopher Mierow zurück (London, 1915; Nachdruck: London, 2006), welcher einen ausführlichen, mit zahlreichen historischen Daten verwobenen Kommentar mitlieferte. Die aktuellste Übersetzung wurde von Lenelotte Möller (Wiesbaden, 2012) veröffentlicht, wobei hier auch moderne historische und sprachwissenschaftliche Erkenntnisse zur Diskussion gebracht werden.

3.3 Die „wahre“ Geschichte der Goten

Wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln mehrfach angedeutet wurde, setzte sich der gotische Stamm aus den Visigothi und den Ostrogothi zusammen, welche vom Geschichtsschreiber Cassiodor nach der Trennung der Linien in West- und Ostgoten umgedeutet wurden. Der Historiograf nennt zudem die Gepiden als dritte dem Gotenvolk zugehörige Gruppe, die ursprünglich wohl eine eigene Ethnie darstellten, sich jedoch im Zuge ausgedehnter Wanderungszüge den Goten anschlossen. Archäologischen Funden zufolge siedelten die Westgoten nördlich der Donau, die Ostgoten vor allem an der nördlichen Schwarzmeerküste und die Gepiden im Bereich der Karpaten. Während die Ostgoten über Jahrhunderte hindurch vom Adelsgeschlecht der Amaler regiert wurden, herrschte bei den Westgoten eine von zahlreichen Kleinkönigen geprägte Oligarchie vor.24

Entgegen den Angaben der spätantiken Geschichtsschreibung stammten die Goten ursprünglich nicht aus Skandinavien, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit von Gebieten östlich der Weichsel im heutigen Polen. Von dort verschoben sie ihre Siedlungsgebiete seit dem 1. Jahrhundert nach Christus langsam nach Südosten. Eine Kerngruppe des Volkes verblieb bis zum 4. Jahrhundert an der Weichselmündung und behauptete erfolgreich ihr Stammland. Manche Forschungsgruppe vertritt die Auffassung, dass die Goten durch einen Zusammenschluss unterschiedlicher Stämme entstanden seien. Dieser Theorie liegt die Annahme zugrunde, dass dem Gotentum ein besonderes Prestige anhaftete, mit welchem sich etliche Volksgruppen trotz ethnischer Abweichung vom ursprünglichen Stamm schmücken wollte. Insgesamt zeichnete sich die gotische Kultur durch den Verzicht von Waffen als Grabbeigaben aus, wodurch sie sich signifikant von den zeitgleich agierenden Germanen unterschied.25

Im 3. Jahrhundert nach Christus drangen die Goten in den Donauraum und an die Nordwestküste des Schwarzen Meeres vor. Einzelne Gruppen übten im Zuge dieser Expansionsbestrebungen Angriffe auf das Römische Reich aus, welche das Imperium aufgrund innenpolitischer Krisen mit voller Härte trafen. Ein Überfall der Goten und Karpen auf das römische Histria südlich der Donaumündung hatte zur Folge, dass man dem Stamm von römischer Seite her jährliche Tribute entgegenzubringen hatte. Als diese Zwangszahlung von Kaiser Philippus Arabs nach Siegen über die Karpen verwehrt wurden, erfolgte ein Einfall gotischer Kriegergruppen in Dakien, Thrakien, Mösien und Illyrien. Der neu an die Macht gekommene Kaiser Decius erlitt in mehreren Schlachten deutliche Niederlagen und fiel schließlich in der Schlacht von Abrittus (251). Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Goten und Römern waren in den folgenden beiden Jahrzehnten von wechselseitigen Erfolgen gekennzeichnet. Erst unter Kaiser Claudius II. und seinem Nachfolger Aurelian konnte der Gotensturm zum Stillstand gebracht und ein dauerhafter Frieden mit dem Nordvolk etabliert werden, der jedoch den endgültigen Verlust der Provinz Dakien zur Folge hatte.26

Unter Kaiser Diokletian wurde eine Konsolidierung der Innenpolitik und eine Stabilisierung der Situation an der Donau erwirkt. Gleichzeitig erfolgte jene bereits weiter oben erwähnte Aufspaltung des Gotenvolkes in die West- und Ostgoten. Dieser Prozess vollzog sich keineswegs ruckartig, sondern überspannte einen relativ langen Zeitraum und zeichnete sich durch eine differenziertere Ethnogenese aus. Aus archäologischer Sicht lässt sich die Feststellung treffen, dass die Westgoten etwa zwischen 376 und dem Königtum Alarichs I. entstanden waren, während die Ostgoten im Zeitraum vom Untergang des hunnischen Reichs (Mitte des 5. Jahrhunderts) bis zur Übersiedlung nach Italien unter Theoderich dem Großen (489) ihre Eigenständigkeit erlangt hatten.27