Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Satirisch, überraschend und hochaktuell. Während eines Kindergeburtstags in der Wiener Josefstadt wird ein junger Mann erstochen, doch keiner der Anwesenden will etwas bemerkt haben. Schon bald taucht ein Foto des Toten auf Facebook auf und wird zur Stimmungsmache gegen Geflüchtete genutzt – das Opfer stammte aus Afghanistan. Chefinspektor Giorgos Hansmann macht sich an die Ermittlungen, und hinter der Fassade von Öko-Eltern und Willkommenskultur tun sich garstige Abgründe auf.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 574
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Astrid Sodomka wurde 1982 in Wien geboren, hat Transmediale Kunst an der Universität für Angewandte Kunst studiert und arbeitet seit 2009 als freischaffende Künstlerin. Daneben und teilweise stattdessen unterrichtet sie Deutsch als Zweitsprache, studiert Germanistik und schreibt. Astrid Sodomka hat drei Kinder.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Daniel Fürhapter/Pixabay.com
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept
von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Carlos Westerkamp
E-Book-Produktion: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-96041-779-8
Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie
regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter
www.emons-verlag.de
Für Vera & Maria
Die Dunkelheit darf niemals siegen!Da die, die schweigen, immer schwiegen.
Frittenbude
Das Ermittlungsteam
Der Chefinspektor: Giorgos Hansmann
Verheiratet mit Karin, Gruppeninspektorin in Karenz
Gemeinsame Kinder: Emmi (5) und Raphi (2)
Die Gruppeninspektorin: Christina Kalsner
Der Revierinspektor: Mateo Topcic
Der Gruppenführer: Manfred Hornberg
Die Kindergruppe
Der See-the-World-Freiwillige: Amir Moghaddam
Die Obfrau: Petra Stöger
In einer Beziehung mit Hanno Emmerdingen
Gemeinsame Tochter: Flora (5)
Die Obfrau Stellvertreterin: Franziska Lasser
Verheiratet mit Stephan Lasser
Gemeinsame Kinder: Emilia (8) und Ludwig (5)
Das Neue-Eltern-Amt: Agnes Kovacs
Verheiratet mit Philipp Ebner
Gemeinsame Kinder: Severin (10), Lenz (5) und Yves (0)
Das Vernetzungsamt: Katja Bernstorff-Heinig
Verheiratet mit dem Kassier: David
Gemeinsame Kinder: Joseph (4), Otto (2) und Helmina (0)
Das Brandschutzamt: Anja Hohenfels
Verheiratet mit Marcel
Gemeinsame Kinder: Fiona (10) und Karli (6)
Das Nachhaltigkeitsamt: Thomas Langegger
Verheiratet mit dem Einkaufsamt: Verena
Gemeinsame Tochter: Taleja (6)
Das Konzeptamt: Danuta Vilutzky, dieAundO
Verheiratet mit – irrelevant
Gemeinsame Töchter: Ona (8) und Anouk (5)
Das Wäscheamt: Nadja Dolnar
Verheiratet mit Manuel
Gemeinsame Kinder: Rana (11), Freya (4) und Gaia (0)
Das Reparaturamt sowie Putzkoordination und Protokollamt: Hilde Winkler
In einer Beziehung mit Dieter
Gemeinsamer Sohn: Mio (3)
Das Reparaturamt II: Martin Kienzle
Getrennt von der Schriftführerin Stellvertreterin: Isabella Jakob
Gemeinsamer Sohn: Kolja (6)
Das Listenamt: Nina Radu
Verheiratet mit dem Freiwilligenamt: Johannes, genannt Jo
Gemeinsame Töchter: Nele (7) und Frederika (4)
Das Personalamt sowie Kassier Stellvertreter: Christian Oberleiter
Verheiratet mit Daniela
Gemeinsame Kinder: Elja (10) und Vincent (4)
Das Geschenkeamt: Barbara Schäfer
Verheiratet mit Hubert
Gemeinsame Kinder: Philipp (18), Pia (15) und Johanna (6)
Die Betreuerinnen: Ingrid, Simone, genannt Mone, Tabitha
Die Obfrau Stellvertreterin hat auf dem Dach – der Dachgarten ist ein Vorteil der neuen Wohnung im achten Bezirk – eine Geburtstagstafel für die Kinder hergerichtet. Ludwig hat Anfang Oktober Geburtstag, was es wirklich nicht einfach macht, das Fest zu planen, weil das Wetter nicht immer absehbar ist (und man doch eigentlich lieber im Park feiert). Dieses Jahr wünscht sich Ludo allerdings fast nichts mehr als eine Wohnungsparty, weil seine Schwester letztes Jahr ebenfalls eine hatte.
Mit der Nonna hat sich die Obfrau Stellvertreterin beraten und einen Ablauf überlegt. Das Fest dauert drei Stunden, von drei bis sechs Uhr. In der ersten Stunde gibt es Brot, Aufstriche und Gemüsesticks unten in der Wohnung, dann übergeben die Kinder die Geschenke – Flaschendrehen mit einer Chiantiflasche. Danach leitet Stephan die Schatzsuche an. Er macht das wirklich gut: Die Hinweise führen die Kinder bis in die Crêperie gegenüber und von dort in den Schönbornpark. Damit sollte die zweite Stunde gefüllt sein. Danach, ab siebzehn Uhr, gibt es die eigentliche Geburtstagsjause und Spiele sowie für die abholenden Eltern Bier und Prosecco auf dem Dach. Die Torte gibt es zuletzt – auf diesen Einfall ist die Obfrau Stellvertreterin besonders stolz. Sie hat das aus jahrelangem Trial and Error gelernt: Nach dem Zuckerkonsum sind die Kinder immer besonders wild. Darum fängt man am besten mit was Gescheitem an und gibt die erst gegen Ende wild gewordenen Kinder gleich wieder ihren Eltern mit.
Als sie den ersten Kuchen, eine Biskuittorte mit Beerenfülle, auf die Dachterrasse bringt, merkt die Obfrau Stellvertreterin, dass etwas nicht stimmt. Der arme Amir, der ihr eigentlich helfen wollte, aber einfach nicht erschienen ist, liegt neben der Geburtstagstafel und unter den Lampions gekrümmt in einer Blutlacke. Das Blut kommt oder kam, das kann die Obfrau Stellvertreterin nicht sagen, aus seinem Bauch, dort ist das gelbe T-Shirt unter der verrutschten Bomberjacke fast schon schwarz, zumindest sehr dunkel: nach einem weinroten Übergang glänzendes Aubergine.
Sofort stellt die Obfrau Stellvertreterin die Torte auf den Tisch, kniet sich neben Amir und ruft seinen Namen. Sie dreht Amir mühevoll auf den Rücken, überstreckt seinen Hals, kippt den Kopf zurück, und dann? Dann hört sie, ob er atmet. Tut er nicht. Und tastet seinen Hals ab. Puls hat er keinen mehr. Auch nicht am linken Handgelenk. Die Obfrau Stellvertreterin hat eine Leiche auf dem Dach und neun Kinder sowie zwei Babys in der Dachgeschoßwohnung beziehungsweise im Schönbornpark und bald wieder im Wohnzimmer. Was soll sie tun? Wenn sie jetzt die Polizei ruft, ist die Party vorbei und Ludo für immer enttäuscht.
Sie geht wieder in die Wohnung, den Kuchen nimmt sie mit. In der Küche stehen die Nonna und das Neue-Eltern-Amt mit Baby auf der rechten Hüfte beim Waschbecken und waschen die Weinviertler Zwetschken.
»Du schau mal, da ist sogar ein Wurm drin«, sagt die Nonna.
Die Obfrau Stellvertreterin nimmt das Neue-Eltern-Amt am Ellenbogen. »Komm bitte mal kurz mit.« Und führt sie aufs Dach. »Schau mal bitte.«
Das Neue-Eltern-Amt sieht den gedeckten Tisch, sieht den Freiwilligen. Schlägt die linke Hand vor den Mund. »Scheiße. Ist er tot?«
»Puls hat er keinen.«
»Die Kinder dürfen hier nicht rauf. Wen ruft man noch mal zuerst, Rettung oder Polizei?«
»Wenn jetzt die Polizei kommt, ist die Party vorbei.«
»Und was sagen wir dann den Kindern?«
»Eben.«
Beide stehen vor der Leiche und entscheiden, dass es reicht, die Polizei in ein, zwei Stunden zu rufen, wenn die Gäste gegangen sind. Der See-the-World-Freiwillige ist ja schon tot.
»Vielleicht sollten wir ihn noch irgendwie zudecken.«
Fragt man die Obfrau Stv. nach ihrer Jugend beziehungsweise ihrer Herkunft, nennt sie mal Reichenau an der Rax, mal die Josefstadt. Diese Erzählung trifft schon auf ihre Eltern zu, die ihre Zeit seit jeher auf das Haus mit Garten in Reichenau und die Wohnung in der Josefsgasse aufteilen. Genauso hat das die Obfrau Stv. auch immer gemacht, und so stammen Ex und Ehemann ebenfalls aus Reichenau. Verheiratet ist die Obfrau Stv. mit Stephan Lasser, Sohn einer Reichenauer Baumeisterfamilie. Gemeinsam haben sie zwei Kinder: Emilia und Ludwig, genannt Lia und Ludo.
Die Obfrau Stv. selbst kommt aus einer Professor_innenfamilie. Der Vater Doktor emeritus der Geschichte, die Mutter Romanistin, Schwerpunkt italienische Literaturwissenschaft. Die Wahl des Studienfachs der Mutter ist ein früher Hinweis auf deren Italophilie. Die Eltern der Obfrau Stv. haben ihre Herkunft um Italien erweitert. Man fährt jährlich nach Lignano und wird Nonna und Nonno gerufen. Die Tochter hat man nach der Wahlschwester der Nonna benannt. Für Wien und Reichenau haben sie aus Francesca Franziska, früher Franzi, gemacht.
Als die Obfrau Stv., die, zuerst nur mit Stephan und Lia, in der Krongasse wohnte, erfuhr, dass in der Josefsgasse eine Wohnung frei wäre, musste sie einfach zugreifen und einziehen. Jetzt wohnt sie schräg gegenüber von ihren Eltern, was wirklich fein ist, weil die Lia jeden Dienstag zu Mittag einfach zu ihren Großeltern gehen und eine Frittata essen kann. Auch sonst sind die Nonna und der Nonno oft zur Stelle. Zum Beispiel, wenn die Obfrau Stv. und Stephan ins Burgtheater oder zu den Wiener Festwochen gehen. Zum Beispiel auch bei Kindergeburtstagen.
Die Tür öffnet sich, und vor dem Chefinspektor steht eine gut gelaunt gekleidete Frau mit ernstem Gesicht. Hellgrünes Oberteil, in verschiedenen Grüntönen gemusterter Rock, dazu rote Ohrstecker und gebräunte Haut. An keinem Kleidungsstück ist ein Fleck oder Loch zu entdecken. Die Obfrau Stv. wirkt tadellos und frisch, auch weil die Frisur als solche erkennbar sitzt – in ihrem Nacken wippt ein Pferdeschwanz. Anders also als bei des Chefinspektors Frau, wenn sie mit den Kindern zu Hause ist. Und es hieß doch, hier habe eine Kinderparty stattgefunden. Von den Kindern jedoch ist nichts zu bemerken. Die Gäste seien schon gegangen, und ihre zwei seien bei den Großeltern. Sie sollten das hier nicht mitbekommen.
An den Füßen der Obfrau Stv. entdeckt der Chefinspektor: Schlapfen, die ihn sofort an seine Volksschullehrerin erinnern. An – für ihn – guten Tagen trug sie Straßenschuhe, häufig die von ihm favorisierten Riemchensandalen, manchmal weiße Sportschuhe, wie er selbst sie hatte. Tennisschuhe sagte sein Vater dazu. An – für ihn – schlechten Tagen trug die Lehrerin genau jene Schlapfen, Typ orthopädisches Schuhwerk: Gummisohle, Korkfußbett und breiter Lederriemen mit Schnalle. Das Schuhorakel prophezeit also einen schlechten Tag beziehungsweise Abend. Franziska Lassers Schuhwahl schlägt sich sofort auf die Stimmung des Chefinspektors. Schlapfen machen ihn grantig. Sie passen auch so überhaupt nicht zu der ansonsten so sorgfältig zusammengestellten Garderobe der Obfrau Stv.
Er deutet auf die schwebende Treppe, die ins zweite Stockwerk führt, dreht sich um und wirft einen weiteren Blick auf die Füße der Obfrau Stv.
»Sie waren schon oben?«
»Ja, Herr Chefinspektor, ich habe doch den armen Amir gefunden.«
Der Chefinspektor nickt und greift in seine Jackentasche. Er entfaltet weiße Plastikfolie. Die Obfrau Stv. sieht ihm dabei zu. Die Plastikfolie wird größer, eigentlich sind es zwei idente Folien – Einwegüberzieher werden erkennbar, die sich der Chefinspektor über die Schuhe streift. Er weist zur Treppe. »Bitte schön.«
Der Pferdeschwanz der Obfrau Stv. schwingt auf und ab, als sie die hölzerne Treppe zum Zwischenstock und dann die Wendeltreppe zur Terrasse hinauf- und dem Chefinspektor vorangeht.
»Bitte, greifen Sie möglichst nichts an.«
Die Obfrau Stv. nimmt die linke Hand vom Geländer.
Vor der Tür zur Terrasse bleibt sie stehen. »Soll ich?« Sie deutet mit dem Kinn auf die Türschnalle, der Pferdeschwanz wippt.
»Nein, warten Sie bitte.«
Die Obfrau Stv. legt ihre Hände an die Oberschenkel.
Der Chefinspektor entfaltet weiße Plastikfolie. Die Obfrau Stv. sieht ihm dabei zu. Die Plastikfolie wird größer, eigentlich sind es zwei idente Folien – Einweghandschuhe werden erkennbar, die sich der Chefinspektor über die Hände streift.
Als er am Tatort ankommt, bietet sich ihm Folgendes:
Zuerst das Parlament und die Zweierlinie von oben, und der Chefinspektor denkt: »Das würde der Karin gefallen.« Dann der Blick auf die Terrasse: Blumenbeete. Ein Tisch. Füße unter einem Tuch. Ein geschlossener Grill.
Der Chefinspektor beginnt noch einmal, diesmal im Uhrzeigersinn. Wenn er selbst auf sechs Uhr steht, beginnen ab sieben Uhr die Sträucher. Erde, darin kleinere und größere Pflanzen: übrig gebliebene grüne Tomaten an ausgetrockneten Ästen, Salat, vielleicht Stachelbeeren. Eine schwächliche Bohne auf zehn Uhr. Dem Standpunkt des Chefinspektors gegenüber, auf zwölf Uhr, der Grill. Zwischen zwei und drei Uhr ein Tisch. Der Chefinspektor steckt die Hände in den Handschuhen in die Hosentaschen und nähert sich:
Die Geburtstagstafel – gedeckt mit Tellern aus feinstem Melamin, Bechern in Pastelltönen aus Bambusfasern und Mais, Konfetti in Gold und Hellblau, hellblau und golden gestreiften Servietten und am Boden Füße, die aus einem blassroten Tuch von LeStoff herausschauen. Diese Details fallen dem Chefinspektor natürlich nicht auf beziehungsweise kennt er die feinen Unterschiede nicht. Für ihn ist Kindergeschirr Kindergeschirr und Handtuch Handtuch. Dem Neue-Eltern-Amt sind sie sehr wohl aufgefallen.
Die Amtsärztin trifft ein.
Die Tatortgruppe trifft ein, begrüßt den Chefinspektor und mustert die Obfrau Stv. beziehungsweise deren ungeschützte Füße.
»Na super.«
»Sie hat den Toten gefunden.«
Die Tatortgruppe nickt. Alles wie immer, alles wie »Tatort«. Ort auswählen, um die Taschen abzustellen, Taschen abstellen, Reißverschlüsse öffnen, Stative aufstellen, Lampen in Fassungen drehen, vorsichtig das Objektiv aus der Tasche nehmen und auf die Kamera schrauben. Fingerabdrücke sichern, Fingerabdrücke der Gelegenheitspersonen sichern.
»Frau Lasser, darf ich Sie bitten.« Leichtes Nicken in Richtung Hände der Obfrau Stv.
Der Chefinspektor folgt dem Geländer, den Beeten entlang. Die Bewässerungsanlage, das Dach, tief unten ein Innenhof, weitere Dächer, in der Ferne Weinberge, das Parlament, die Zweierlinie. Kein zweiter Aufgang, keine Feuerleiter.
Das rote Tuch liegt jetzt neben dem Toten. Ein junger Mann in Jeans und T-Shirt, das blasse Gesicht zum Himmel erhoben, liegt in einer Blutlacke. Die Hüfte ist zur rechten Seite gedreht, die Beine sind angewinkelt.
Die Amtsärztin hebt den Kopf. »Sieht nach Bauchstich aus. Ein einziger Stich, perfekt platziert. Hauptschlagader. Heute Nachmittag.«
Der Chefinspektor vervollständigt seine Runde, kommt zur Obfrau Stv. zurück und nimmt sein Notizbuch aus der Jackentasche.
In welcher Beziehung sie zu dem Toten stehe.
»Der Amir war der Freiwillige in unserer Kindergruppe.«
»Er hat also freiwillig in Ihrem Kindergarten gearbeitet?«
»Kindergruppe, nicht Kindergarten. Wir sind elternverwaltet.«
»Und Sie sind die Leiterin?«
»Wir sind elternverwaltet, das heißt, wir sind ein Verein, der die Kindergruppe betreibt, wenn Sie so wollen: leitet. Ich bin im Vorstand als Obfrau Stellvertreterin tätig.«
»Aha. Aber gefunden haben die Leiche schon Sie?«
»Ja. Als ich den Kuchen heraufgebracht habe. Ich hatte mich schon gewundert, weil der arme Amir doch so gern bei der Schatzsuche mitmachen wollte.«
Der Chefinspektor nickt. »Wann haben Sie denn sein Fehlen bemerkt?«
»Herr Chefinspektor! Gar nicht! Der Amir ist doch gar nicht gekommen!«
Der Chefinspektor runzelt die Stirn. »Sie haben zu Protokoll gegeben, dass er Ihnen helfen sollte.«
»Ja. Aber er ist nicht erschienen.«
Die Obfrau Stv. schaut über die Dächer Richtung Ottakring.
Pause.
Blick zum Chefinspektor. »Herr Chefinspektor. Wie ist der Amir überhaupt auf mein Dach gekommen?«
Der Chefinspektor schüttelt den Kopf. »Wie?«
»Na, ich habe ihm doch gar nicht die Tür aufgemacht.«
Wann sie den Toten entdeckt habe.
Wie gesagt, als sie den Kuchen heraufgebracht habe, es sei schrecklich gewesen, furchtbar.
»Nein, wann, Frau Lasser. Die Uhrzeit.«
»Um circa sechzehn Uhr.« Sie habe das bereits am Telefon zu erklären versucht. Und den uniformierten Kollegen ebenfalls. Es sei ihr nicht möglich gewesen, sofort, also in Anwesenheit der Gäste, die Polizei zu rufen.
Der Chefinspektor zieht die Augenbrauen zu einer Linie zusammen. »Sie haben schon Nerven. Normalerweise ist ein Mord unverzüglich anzuzeigen.«
Jetzt erklärt die Obfrau Stv.: Ludo, also ihr Sohn, habe bereits drei Wochen lang von nichts anderem geredet als von der Party. Er habe sogar die Einladungskarten von Hand gezeichnet. Er, der nie zeichne! Das tue sonst nur die Schwester. Er habe auch den Fünfer geübt, denn auf jeder Einladung war mindestens ein Fünfer. Und Schreiben interessiere den Ludo sonst auch noch nicht. Außerdem sei fast die gesamte Kindergruppe da gewesen. Die wären doch alle aufs Dach gerannt, so schnell hätte man gar nicht schauen können, und hätten den armen Amir gesehen. Darum hätten sie entschieden, ihn, also die Polizei, erst so spät zu verständigen.
Sie?
Sie selbst und das Neue-Eltern-Amt hätten sich beraten. Wie sage man, nach bestem Wissen und Gewissen.
»Aha. War die Leiche so, als Sie sie gefunden haben?«
»Ja. Also, zugedeckt haben den armen Amir schon wir.«
Pause.
»Na ja, und ich habe auch versucht, ihn wiederzubeleben.«
Die Obfrau Stv. dreht die geöffneten Handflächen um fünfundvierzig Grad gegen den Uhrzeigersinn. Sie habe Amirs Kopf überstreckt und seinen Puls gefühlt.
Ja und dann?
Dann habe sie die Torte wieder hinuntergetragen.
Der Chefinspektor schüttelt den Kopf.
Die Obfrau Stv. ringt die Hände. »Der Ludo … Der Fünfer …«
Der Chefinspektor nickt. Das weiß er schon.
»Und dann, Frau Lasser?«
»Dann haben wir die Torte unten gegessen. Hier haben wir nichts berührt. Das macht man doch so an einem Tatort.«
Blick zum Chefinspektor.
Blick über die Dächer nach Ottakring.
Man habe ja zum Glück unten auch Ballons gehabt, es sei also nichts aufgefallen. Lediglich der Nonna musste erklärt werden. Sie sei kaum davon abzubringen gewesen, die Torte hinaufzubringen.
Die Obfrau Stv. schüttelt den Kopf. »Es war furchtbar, furchtbar, wir mussten dauernd an den armen Amir denken. Furchtbar. Ich sage Ihnen.«
»Es wussten also weitere Personen von der Leiche am Dach?«
Nur das Neue-Eltern-Amt, die Mutter und sie selbst.
Sie solle bitte überlegen, ob etwas anders sei, ob etwas fehle.
Da fällt es der Obfrau Stv. auf: »Mein Messer ist weg!«
Welches Messer sie meine.
Das japanische Küchenmesser aus der Zeit, also vom Abo des Wochenmagazins. Da sei die Obfrau Stv. angerufen und gefragt worden, was sie denn gerne hätte, eine Uhr, ein Messer oder … die dritte Option habe sie vergessen. Messer könne man immer brauchen. Für Biskuit brauche man ja eigentlich kein so scharfes Messer. Sie habe es aber trotzdem aufgedeckt, weil sonst der Stephan wieder geschimpft hätte. Und nun sei es weg. Das Messer fehle.
Die Obfrau Stv. schlägt die Hand vor den Mund: Ob das Messer also die Tatwaffe sei?
Wie es denn aussah.
Sie könne dem Herrn Chefinspektor unten gern die Verpackung zeigen, in der habe sie das Messer aufgehoben. Breite Klinge mit Holzgriff.
Der Chefinspektor nickt.
Er brauche außerdem eine Liste der möglichen Zeugen, sprich eine Gästeliste.
Die Obfrau Stv. legt den Kopf schief.
Sie sei sich sicher, dass niemand etwas gesehen habe, aber zählt dennoch auf: »Sieben Kinder. Lenz, Joseph, Karli, Kolja, Freya, Taleja und Anouk. Zwei Säuglinge, zwei Mütter.« Präziser: »Die Agnes, also das Neue-Eltern-Amt, und die Katja, das Vernetzungsamt, waren mit den Babys schon am Nachmittag da.« Des Weiteren die Großeltern der Kinder: »Die Nonna und der Nonno.«
Der Chefinspektor reicht der Obfrau Stv. seinen Kugelschreiber und deutet auf sein aufgeschlagenes Notizbuch.
Ob sie ihm das aufschreiben könne.
Die Obfrau Stv. schreibt in des Chefinspektors Notizbuch und erklärt gleichzeitig: »Zum Abholen kam pro Kind ein Elternteil. Oder zwei, je nachdem: der Thomas und die Verena, das sind die Eltern von der Taleja; die Anja kam, um den Karli abzuholen; der Martin hat den Kolja abgeholt, die Nadja die Freya. Der David, also der Mann von der Katja, war mit dem Otto da. Die Anouk ist mit der Agnes, also eigentlich mit dem Lenz mitgegangen.«
Währenddessen Fotos vom Dachgarten, Fotos von der Wohnung, Foto von der Messerschachtel. Blitzlicht.
Die Obfrau Stv. hat eine glänzende Idee. Ob sie ihm nicht einfach schnell die Adressliste der Kindergruppe mailen solle, dann habe er gleich alle Kontakte.
Die Obfrau Stv., mit dem Mobiltelefon in der Hand, tippt.
Ob der arme Amir denn an der Bauchwunde gestorben sei?
»Ihnen ist hoffentlich klar, dass vor der Obduktion die Todesursache nicht geklärt ist.«
Aber was man jetzt tun solle? Man müsse doch die Eltern informieren.
Sie werde bitte Geduld haben, bis die Obduktion abgeschlossen sei. An Geduld habe es ihr ja bisher auch nicht gemangelt.
Die Obfrau Stv. lässt den Kopf hängen.
Die Tatortgruppe packt die Teller aus Melamin, die Becher aus Bambusfasern und Mais, die Servietten und das rote Tuch ein.
»Frau Lasser, wo ist eigentlich Ihr Mann?«
Der Stephan sei so eingesetzt momentan, der habe gleich mit den letzten Gästen das Haus verlassen.
Der Chefinspektor schüttelt den Kopf.
Die Obfrau Stv. atmet aus. »Herr Chefinspektor, ich habe ihm noch nichts gesagt. Er hätte sich furchtbar aufgeregt.«
»Verständlich, oder?«
Kaum verlässt der Chefinspektor das Haus der Obfrau Stv., läutet sein Telefon. Der Gruppenführer kann nicht warten. Als es darum ging, zu entscheiden, wer den Tatort begeht, hatte er es nicht eilig und hat seinen Stellvertreter geschickt, aber den daraus resultierenden Informationsvorsprung des Chefinspektors hält er nicht aus. Den Chefinspektor und Gruppenführer Stellvertreter überrascht das nicht.
Ob er sich jetzt auskenne, der von der Streife sei ja dermaßen unklar gewesen, den habe man ja kaum verstanden. Und wer der Tote sei.
»Ein junger Mann, Amir Moghaddam, gebürtiger Afghane.«
»Ah so. Na dann warten wir bis morgen.«
»Ja, also wir haben hier einen Bauchstich. Einen Amir Moghaddam, Afghane. Es deutet alles darauf hin, dass er gewaltsam zu Tode gekommen ist. Er liegt auf der Dachterrasse. Wir sind im Achten, in der Josefsgasse 1. Am Dach. Die Dame gibt an, dass er für sie gearbeitet hat. Die Dame gibt an, dass sie den Mann bereits um sechzehn Uhr aufgefunden hat. Wir sind erst um achtzehn Uhr vierzig verständigt worden. Die Dame sagt, sie hat hier eine Kinderparty gefeiert und uns deshalb nicht verständigt.«
Nicht zuletzt um sie einzuschüchtern oder zumindest um zu zeigen, wer hier ab jetzt oder eigentlich bereits seit dem Leichenfund das Sagen hat (gehabt hätte) und die Termine und Zeitpunkte vorgibt, macht sich der Chefinspektor direkt auf den Weg zum Neue-Eltern-Amt. Ohne sich voranzumelden. Aber das muss er nicht, das erledigt die Obfrau Stv.
»Du, ich glaube, der ist schon am Weg zu dir. Das ist wirklich wie im ›Tatort‹. Ich sage dir!«
Das Neue-Eltern-Amt wohnt in einem Gründerzeithaus, fünf Minuten von der Kindergruppe entfernt. Der Chefinspektor läutet, doch nichts passiert.
Erneutes Läuten bleibt ohne Effekt. Der Chefinspektor hat ein ausgezeichnetes Zahlengedächtnis und die Fähigkeit, schnell Eselsbrücken zu bauen. Er greift zum Telefon und sucht in seinen Mails die Elternliste der Obfrau Stv., findet dort die Nummer des Neue-Eltern-Amts, merkt sie sich und tippt.
Das Neue-Eltern-Amt entschuldigt sich. Die Gegensprechanlage sei seit geraumer Zeit kaputt, man habe die Hausverwaltung schon mehrfach darauf hingewiesen, es sei jedoch nichts passiert. Jeder Besucher müsse anrufen, damit sie öffnen könne. Sie öffnet.
Das Neue-Eltern-Amt wohnt im Mezzanin, kein Grund, den Aufzug zu nehmen. Wobei der Chefinspektor sowieso immer alle Treppen zu Fuß geht. Das ist eben seine Art von Sport, denn seit ein Bekannter mit vierzig an einem Herzinfarkt gestorben ist, denkt er über solche Dinge nach. Sportliche Betätigung.
An der Wohnungstür empfängt ihn das Neue-Eltern-Amt, das Baby auf die rechte Hüfte gestützt. Der Chefinspektor senkt den Blick und atmet auf: barfuß, korallrot lackierte Nägel. Da entdeckt er vierzig Zentimeter hinter dem Neue-Eltern-Amt: Schlapfen. Die braune Ausführung des weißen Modells der Obfrau Stv. Das Neue-Eltern-Amt bemerkt seinen Blick und dreht sich ebenfalls um. »Bei uns ist es immer ein bisschen chaotisch«, missinterpretiert sie des Chefinspektors Abscheu.
Sie führt ihn vorbei am Kinderwagen, an Kinderschuhen, Fahrrädern und Skateboards, durch abgeschlagene Flügeltüren in ein riesiges Wohnzimmer.
Er möge Platz nehmen, wo er sich wohlfühle.
Der Chefinspektor wählt die graue Eck-Couch. Vor ihm, auf dem Teppich, eine Lego-Baustelle, ein aufgespannter Regenschirm, darunter ein Treffen von Schleich-Tieren, wie seine Tochter sie hat, eine Kiste voll Autos oder was davon übrig ist sowie ein leerer Umzugskarton. Neben der Couch ein unaufgeräumter Schreibtisch, am Ende des Raums ein wandfüllendes Bücherregal.
Das Neue-Eltern-Amt stellt Gläser auf den Couchtisch und entschuldigt sich, sie müsse noch Wasser holen.
Der Chefinspektor entdeckt ein Stativ, allerdings ohne Kamera. Die Lego-Baustelle entpuppt sich als Filmset. Der Chefinspektor steht auf und schaut genauer. Verschiedene Lego-Menschen stehen vor einer Bühne, die man offensichtlich beleuchten kann. Den Hintergrund bildet grün bemalter Karton. Einarmig, rechts besetzt vom Säugling, bringt das Neue-Eltern-Amt die Wasserkaraffe. Der Chefinspektor dreht sich um.
Ob ihr älterer Sohn schon schlafe?
»Natürlich. Beide.«
Sie habe drei Kinder, das habe er nicht gewusst.
»Ja, drei Buben. Immer im Abstand von fünf Jahren. Anders hätte ich das nicht geschafft – mit engerem Abstand, meine ich.«
Der Chefinspektor setzt sich wieder, nickt. »Ich weiß, was Sie meinen, unsere Tochter ist fünf, unser Sohn zwei, das ist schon eine Aufgabe.«
Das Neue-Eltern-Amt nimmt am anderen Ende der Couch Platz und legt das Baby neben sich.
Schluck Wasser.
Was ihre Funktion in der Kindergruppe sei.
Das Neue-Eltern-Amt blinzelt.
»Ich bin das Neue-Eltern-Amt.«
Pause.
»Ich bin der Erstkontakt, wenn sich jemand für die Kindergruppe interessiert.«
Das Neue-Eltern-Amt lehnt sich zurück.
»Die Bewerbungen gehen erst mal an mich, ich mache dann einen Kennenlern-Termin aus, beantworte Fragen, stelle Fragen.«
Pause.
»Und dann treffe ich eine Vorauswahl.«
Das Neue-Eltern-Amt zuckt mit den Schultern. »Ich bin sozusagen eine Gatekeeperin.«
Der Chefinspektor betrachtet das Lego-Filmset und wiederholt: »Vorauswahl.«
Das Neue-Eltern-Amt folgt des Chefinspektors Blick.
»Ja. Danach laden wir die Bewerberinnen und Bewerber zu einem Elternabend ein, damit wir uns alle gegenseitig kennenlernen. Wir entscheiden gemeinsam. Aber wir können einfach nicht alle einladen, die sich für die Kindergruppe interessieren.«
Der Chefinspektor nickt.
Wie sie zum Toten gestanden sei.
Das Neue-Eltern-Amt atmet ein und richtet sich auf.
»Der Amir war der Freiwillige in unserer Kindergruppe.«
Der Chefinspektor nickt, das weiß er bereits.
»Ich hatte mit dem Amir eigentlich nicht sehr viel zu tun. Also ich war für ihn, das schon.«
»Für ihn?«
»Wir stimmen ab. Über den oder die Freiwilligen. Wir haben ja immer mehrere Bewerberinnen und Bewerber, und es gab eine Stichwahl zwischen Amir und einem anderen Bewerber. Manche Eltern hatten Bedenken, weil der Amir einen Fluchthintergrund hatte und weil sein Lebenslauf nicht so passend war.«
»Und Sie waren trotzdem für ihn?«
»Ja. Ich fand das spannend. Mal eine andere Sichtweise. Aber dann hatte ich so viel um die Ohren – zuerst mit der Schwangerschaft, und im März ist der Yves zur Welt gekommen –, dass ich gar nichts mit dem Amir zu tun hatte. Wobei der Lenz ihn echt gern gehabt hat.«
»Sie waren also für ihn. Wer war gegen ihn?«
Überlegt.
»Die Nadja, also die Mama von der Freya, hatte, glaube ich, Bedenken, weil sie negative Erfahrungen mit einem Geflüchteten gemacht hat. Aber ich kann das nicht mehr genau rekonstruieren.«
»Gab es in der Folgezeit Konflikte?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Der Chefinspektor wendet sich dem Neue-Eltern-Amt mit dem ganzen Oberkörper zu. »Frau Kovacs, wieso haben Sie uns denn nicht sofort verständigt?«
Das Neue-Eltern-Amt windet sich. Das sei in Absprache mit der Frau Lasser geschehen. Man habe die Kinder, sprich die Partygäste, nicht verstören wollen. Man habe vielleicht unter Schock falsch reagiert. Sie habe das auf jeden Fall gar nicht realisiert gehabt. Es sei so irreal gewesen, der Amir und die Lampions. Sie wäre am liebsten weggelaufen, aber sie habe gewusst, ihr Sohn komme gleich von der Schatzsuche zurück. Es sei so schrecklich. Sie fühle sich schrecklich. Ob sie jetzt unter Mordverdacht stehe.
»Frau Kovacs, Ihnen muss bewusst sein, dass das kein Spiel ist. Sie könnten sich bereits in Untersuchungshaft befinden.«
Das Neue-Eltern-Amt nickt blass.
Das Baby ist unruhig, das Neue-Eltern-Amt streichelt den kleinen Bauch.
»Wann haben Sie denn den Herrn Moghaddam zum letzten Mal gesehen?«
Das Neue-Eltern-Amt überlegt.
»Eigentlich hätte er ja heute bei der Party helfen sollen.«
»Hat sich niemand gewundert, dass er nicht aufgetaucht ist?«
Das Neue-Eltern-Amt überlegt.
Gewundert. Ehrlich gesagt habe sie sich eher gewundert, dass er überhaupt helfen wollte. Sie meine, das sei doch seine Freizeit gewesen. Nein, gewundert habe sie sich nicht, und sie glaube, die anderen auch nicht. Er sei einfach noch jung und nicht so wahnsinnig zuverlässig gewesen.
»Gut, heute haben Sie den Herrn Moghaddam also nicht gesehen?«
»Doch. In der Früh, beim Bringen. Seltsam, oder?«
Der Chefinspektor, die Schleich-Tiere fixierend, wendet sich wieder dem Neue-Eltern-Amt zu. »Seltsam?«
»Dass ich nicht weinen muss. Es ist einfach so unglaublich.«
»Heute in der Früh, ist Ihnen da etwas aufgefallen?«
»Das fühlt sich alles an wie im Fernsehen. Nein, mir ist gar nichts aufgefallen, es war alles wie immer.«
»Frau Kovacs, versuchen Sie sich bitte an Details zu erinnern. Am besten gehen Sie innerlich den heutigen Tag noch einmal durch. Wie war das, als Sie Ihren Sohn in den Kindergarten gebracht haben?«
»Kindergruppe.«
Pause.
»Entschuldigung. Ich hatte den Yves im Tragetuch, und der Lenz ist vorgelaufen und hat schon die Tür aufgemacht. Die ist eigentlich immer zugesperrt, nur in der Früh, wenn alle kommen, bleibt sie manchmal offen.«
Das Baby beginnt zu weinen. Das Neue-Eltern-Amt nimmt das Baby hoch und legt es an.
»Jetzt wirst du müde.«
Ob sie ihn ins Bett bringen wolle.
Das Neue-Eltern-Amt schüttelt den Kopf. Nein, sie glaube, das werde jetzt noch nicht funktionieren.
»Wo war ich? Ich bin also dem Lenz nachgelaufen. Er ist schon auf seinem Platz gesessen. Die Katja war auch in der Garderobe, wir haben geplaudert. Der Amir kam, glaube ich, gerade aus der Küche. Ich weiß es nicht. Er war in der Früh meistens in der Küche, er hat ja immer das Frühstück vorbereitet. Wobei. Eigentlich war heute die Verena in der Küche, die hatte Kochdienst.«
Der Chefinspektor notiert. »Verena?«
»Die Mama von der Taleja. Also die Frau Langegger. Die hatte Kochdienst.« Prüfender Blick zum Chefinspektor. »Bei uns ist das so, dass jede Familie zweimal im Monat kocht und das Essen in die Kindergruppe bringt.«
Der Chefinspektor nickt und notiert.
Das Neue-Eltern-Amt schaut hinunter zum Baby, überlegt. »Genau, die Verena war in der Küche, die Taleja auch. Genau. Und der Amir …«
Das Neue-Eltern-Amt schaut dem Chefinspektor ins Gesicht. »Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, ich habe den Amir begrüßt, aber ich weiß es nicht.«
»Frau Kovacs, waren Sie heute auf der Dachterrasse, abgesehen von dem einen Mal?«
Das Neue-Eltern-Amt verneint.
»Nicht vielleicht kurz etwas hinaufbringen?«
»Nein, Herr Chefinspektor. Ich war immer unten im Wohnzimmer und in der Küche.«
»Und dafür gibt es Zeugen?«
»Ja, ich denke schon.«
Überlegt.
»Ich war nie allein, wenn Sie das meinen. Ich war ja nicht einmal am Klo. Ich muss den Yves momentan ständig halten, ich kann ihn nie ablegen.«
Erneutes Telefonat mit dem Gruppenführer, diesmal meldet sich der Chefinspektor.
»Du, ich war jetzt noch schnell bei der Frau Kovacs.«
Der Gruppenführer ärgert sich, weil er so schnell nicht parat hat, wer die Frau Kovacs ist, und weil sein Kollege noch immer arbeitet.
»Und gibt es heute schon eine Verhaftung?«
»Nein. Die waren es alle nicht. Die spinnen vielleicht. Aber die waren es nicht.«
Nachdem die Obfrau von der Obfrau Stv. informiert wurde, beruft sie per Mail einen Sonderelternabend für den nächsten Tag ein. Sie habe sehr traurige Neuigkeiten. Es müsse leider entschieden werden, wie mit dem Tod des Freiwilligen umzugehen sei. Bis dahin solle Amirs Verbleib vor den Kindern bitte nicht thematisiert werden.
Die Vertrauensperson solle bitte die Betreuerinnen informieren. Ist-Stand: Amir sei durch noch ungeklärte Umstände zu Tode gekommen.
Der Vorstand solle bitte vollständig erscheinen.
Und ob das Freiwilligenamt kommen könne.
Der Kassier antwortet, dass er nicht kommen könne, weil jemand bei den Kindern bleiben müsse, ihn aber seine Frau vertreten werde.
Der Schriftführer antwortet gar nicht und liest auch das Mail nicht.
Kassier Stellvertreter und Schriftführer Stellvertreterin sagen ihr Kommen zu.
Das Freiwilligenamt hat ebenfalls Betreuungspflichten und wird durch seine Frau, Inhaberin des Listenamtes, vertreten.
Die Vertrauensperson berichtet, dass es den Betreuerinnen unmöglich sei, so kurzfristig zum vorgeschlagenen Termin zu erscheinen, und schlägt in deren Namen einen Alternativtermin vor, den die Obfrau ablehnt, da sie zu besagtem Zeitpunkt nicht in Wien sei.
Die Brandschutzbeauftragte sagt kurz angebunden ab, so kurzfristig könne man wirklich nicht.
Karin empfängt den Chefinspektor mit dem zweijährigen Raphi am Arm.
»Der ist noch immer auf?«
»Wie ist das jetzt mit dem Kindergartenmord? Die haben wirklich Kuchen gegessen, während die« – Blick auf Raphi, Leiche wird ausgelassen – »während der in der Wohnung lag?«
»Am Dach, nicht in der Wohnung. Kindergruppe, nicht Kindergarten.«
»Wie Kindergruppe?«
»Die sind elternverwaltet. Die machen alles selbst. Kochen, putzen, Spielzeug reparieren.«
»Und auf die Kinder aufpassen?«
»Nein, auf die Kinder passen die Betreuerinnen auf.«
In unserem Innenhof im Brunnen liegen immer zwei Melonen.
Holt mein Vater eine davon, um sie zur Nachspeise aufzuschneiden, sind am nächsten Tag beide wieder da. Dunkelgrün am Grund des Wassers.
In der Familie ist Chefinspektor Giorgos Hansmann der Frühaufsteher, der täglich Kakao und Kaffee macht, Schüsseln, Löffel und die Schokopops aufdeckt. Die Kinder stehen vor Karin auf, kommen wortlos in die Küche und schieben sich am Tisch vorbei auf die Eckbank. Zerzauste Haare und Pyjamas.
Seit der Chefinspektor Kinder hat, hört er viel weniger Musik. Das ist ihm wieder bewusst geworden, als er seinen besten Freund getroffen hat, der vor zwei Jahren nach Bremen gegangen ist und dort kinder- und frauenlos lebt. Von dessen Playlist kannte der Chefinspektor vielleicht zwei Titel. Gar nicht zu sprechen von der Musik, die sein Neffe und seine Nichte hören. Aber. Das stundenlange Albenhören am Samstagabend vor dem Weggehen, am Sonntagnachmittag im Bett fällt weg, wenn man erstens eh nicht weggeht und zweitens nebenbei immer Kinder mit einem reden, die ein Talent dafür haben, sogar im Auto, sobald das Radio an ist, sofort Fragen zu stellen. Was eigentlich zu Mittag gegessen werde. Was der Mann singe. Ob da ein Mann oder eine Frau singe. Dann dreht der Chefinspektor entnervt das Radio wieder ab, und Karin weist ihn zurecht, dass es halt so sei. Dass die Kinder eben auch mal sprechen wollen würden. »Mal? Immer.« Na und, sie seien halt interessiert und wortgewandt. Das habe ihr die Monika letztens beim Abholen auch gesagt: dass die Emmi einen großen Wortschatz habe und sich in der Schule nicht schwertun werde.
In der Früh allerdings funktioniert es. Der Chefinspektor hat es sich zur Gewohnheit gemacht, beim Kakaokochen auf YouTube Musik aufzudrehen. Die Kinder fragen schon nach bestimmten »Früh-Liedern«. Stolz ist der Chefinspektor, dass sowohl Raphi als auch Emmi, gefragt nach ihrer Lieblingsmusik, System of a Down beziehungsweise Muse (Raphi: »Mus«) nennen. Emmi ließ ihn in das Freundschaftsbuch ihrer besten Freundin in die Rubrik »Meine liebsten Lieder« schreiben: »Uprising« und »Chop Suey«!
Aber sie hören auch neue Sachen. AnnenMayKantereit zum Beispiel. Giorgos Hansmann ist gerührt, wenn er sich vorstellt, sein Sohn würde später ein Lied für ihn schreiben. Das mag sogar die Karin, die eigentlich vielleicht die Hauptursache für den Musikmangel zu Hause ist. »Bitte, dreh das ab, ich halt das nicht aus. Nein, ich meine, in der Früh ist mir das zu stressig.«
Einig sind sich der Chefinspektor und die Gruppeninspektorin bei The National, wobei hier der Chefinspektor »Boxer« (»Racing Like a Pro«!) bevorzugt, die Gruppeninspektorin jedoch »High Violet« (»Bloodbuzz Ohio«!) und »Trouble Will Find Me«.
Die Familie stimmt außerdem überein bei: The Dead South, John Lennon und The Killers.
Karin, Gruppeninspektorin in Mutterschaftskarenz, betritt die Küche, der Chefinspektor dreht automatisch leise und ärgert sich sofort über seinen vorauseilenden Gehorsam.
»Wie lang bist du gestern noch gesessen?«
»Bis zwei circa. Der Hornberg wird wieder beleidigt sein. Ich habe nämlich noch um ein Uhr dreiundfünfzig ein Mail an den Tramec abgeschickt.«
»Und den Hornberg in cc gesetzt?«
»Muss ich ja. Jetzt wird er wieder ab sieben im Büro sein, damit er auf mich warten kann.«
Der Chefinspektor könnte, nachdem er Emmi in den Kindergarten im Janecek-Hof gebracht hat, die Wehlistraße einfach weitergehen bis zum Handelskai und dann mit U6 und U4 zum Landeskriminalamt in der Berggasse fahren. Er hat sich jedoch angewöhnt, zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Erstens, weil er auf diese Art zu etwas Bewegung kommt und er nichts gegen Gehen hat. Zweitens, weil der Weg so nur eine Viertelstunde länger dauert als mit der U-Bahn.
Der Chefinspektor biegt von der Donaueschingenstraße nach rechts ab, entfernt sich also geografisch von seinem Ziel, und mit der Überquerung des Allerheiligenplatzes beginnt der Weg um den ehemaligen Nordwestbahnhof, der das größte räumliche Hindernis zwischen dem Chefinspektor und dem Landeskriminalamt bildet und täglich links- oder rechtsherum umgangen werden muss.
Einen Fuß vor den anderen setzend, geht er in Gedanken Schritt für Schritt den gestrigen Abend durch. Die Obfrau Stv. kann ihre Party als Alibi nennen – welches zu überprüfen die Aufgabe der folgenden Einvernahmen sein wird. Ihr Mann muss natürlich als Täter in Betracht gezogen werden. Motiv ist allerdings noch keines in Sicht.
Das Neue-Eltern-Amt hat immer das Baby dabei, wenn es nicht bei ihr ist, schreit es. Hätte das Neue-Eltern-Amt das Baby abgelegt, um den Freiwilligen zu erstechen, hätte es geschrien, und alle wären aufmerksam geworden. Und mit Baby am Arm konnte die Frau Kovacs wohl kaum die Kraft entwickeln, jemandem ein Messer in den Bauch zu jagen.
Überhaupt. Wenn der Chefinspektor die Sache korrekt einschätzt, verfügte keine der bei der Party anwesenden Personen über das notwendige Wissen (Platzierung des Messers!), um die Tat zu begehen.
Oder jemand hatte Glück.
Das sind die zwei Möglichkeiten. Jemand war erfahren, oder jemand hatte Glück. Warum wurde nicht zweimal zugestochen?
Und noch viel seltsamer: Wieso geht der Täter (der Chefinspektor geht von einem Mann aus) dieses Risiko ein? In der Wohnung unter der Terrasse findet eine Kinderparty statt! Da kommen Gäste, da sind alle zu Hause. Wieso bringt er den Moghaddam nicht später um? Auf der Straße, bei ihm zu Hause, wo auch immer?
Und, aber: Wenn das Messer des Zeit-Abos tatsächlich die Mordwaffe war, lässt das wiederum den Schluss zu, die Tat geschah ungeplant?
Nach dem Gaußplatz macht der Chefinspektor einen zweiten, kleineren Umweg über die Scholzgasse, diesmal hat er nostalgische Gründe. Seine erste Freundin hat im Haus an der Ecke zur Oberen Augartenstraße in einer WG gewohnt. Das Haus steht nicht mehr, aber die Gasse ist der Chefinspektor unzählige Male entlanggegangen, im Sommer begleitet von den Rufen der Mauersegler, jetzt von den Stimmen der Krähen.
Über die Fußgängerbrücke kommt der Chefinspektor auf die Lände und biegt in die Berggasse.
Im Büro ist der Gruppenführer Hornberg natürlich bereits da. Gruppeninspektorin Christina Kalsner und Revierinspektor Mateo Topcic sitzen auch schon an ihren Tischen.
»So, der Giorgo ist da, wir können anfangen.«
Der Chefinspektor zieht die Jacke aus, holt sich ein Glas Wasser, ordnet seine Notizen und setzt sich. Der Gruppenführer sieht ihm dabei zu.
Die Obfrau sitzt in ihrem Lieblingscafé gleich ums Eck der Kindergruppe, klappt den Laptop auf und öffnet ihr Outlook. Der neue Teppich für den Morgenkreis kann warten, die MA 11 nicht.
An die Obfrau Stv.: Es passt zwar grad gar nicht, aber es hilft nichts. Wir haben tatsächlich keinen Rauchmelder und kein Alarmierungsprotokoll. Hast du schon mit der Anja gesprochen?
Das Listenamt informiert (Der Kochplan für Oktober steht längst bereit!) und appelliert: Man möge bitte die noch immer fehlenden Menüs eintragen.
Die Obfrau also an ihren Mann: Was planst du für den nächsten Kochdienst?
An das Freiwilligenamt: Bitte kontaktiere heute unbedingt See the World und finde heraus, was im Todesfall zu tun ist. Nina kann uns dann am Abend ein Update geben.
Eigentlich liebt die Obfrau das: Punkte ihrer mentalen To-do-Liste abhaken, von der digitalen Liste löschen und anderen deren Listen füllen. Aber heute fühlt es sich nicht befreiend, sondern provisorisch an. Die Obfrau spürt, dass in der nächsten Zeit eine Lawine auf sie zukommen wird – so ein Todesfall bedeutet Arbeit, nicht nur emotional –, und sie kann aktuell nichts tun, als zu warten und, wenn die Zeit kommt, zu reagieren.
Die Steuerung – Führung – eines Teams ist eine Herausforderung, die Petra Stöger in ihrer Komplexität bei Workshops, Trainings und Entscheidungsprozessen bei Elternabenden immer wieder reizt.
Führung, das klingt für viele nach Überlegen-Sein, Machtausübung und Dominanz. Führen kann aber auch Begleiten sein. (Hier macht Petra für gewöhnlich eine Pause.) Verbunden sein. Um mich führen zu lassen, brauche ich Vertrauen.
Körpersprache, Stimme und Sprachmelodie sind unsere Tools: um Vertrauen zu erarbeiten, das die Voraussetzung darstellt für gelungenes Leaderinnenship.
Die eigene Wirksamkeit ist keine statische Größe. Wir können aktiv an ihr arbeiten. Doch keine Angst, das Handwerkszeug dazu hat bereits jede und jeder in seinem Rucksack. (Erleichtertes Lachen des Publikums.)
Wir müssen es jetzt nur, sozusagen, auspacken und mal sehen, was habe ich da überhaupt.
Mateo präsentiert.
»Der Tote heißt Amir Moghaddam, zweiundzwanzig Jahre alt, geboren in Afghanistan. Mit dreizehn ist er nach Deutschland geflüchtet und hat in Hamburg bei einer Tante gewohnt.«
Mateo senkt den Kopf und liest. »Farida Jawed, wohnhaft in der Stresemannstraße 26. Vor einem Jahr hat Moghaddam über den Verein See the World ein Praktikum bei der Kindergruppe begonnen.«
Mateo legt einige Internet-Ausdrucke auf den Tisch. See the World ist ein Verein, der Grenzen überwinden und durch weltweiten Austausch ersetzen will. Im Rahmen von ehrenamtlichen Tätigkeiten sowie Praktika wachsen die Teilnehmer*innen, eingebunden in lokale Gemeinschaften und Vereine, persönlich und erhalten die Chance, sich in unbekannten, jedoch geschützten Umfeldern zu bewähren und weiterzubilden.
Im Stapel befindet sich außerdem Amir Moghaddams Gesundheitsattest, sein Strafregisterauszug, Meldezettel und der Vertrag mit See the World. Alles in Ordnung.
Mateo fährt fort.
»Moghaddam war im Rahmen seines Praktikums bei der Kinderparty von Frau Lasser. Ihr Sohn Ludwig ist fünf geworden.«
Der Chefinspektor unterbricht. »Im Rahmen seines Praktikums hätte er dort sein sollen. Laut Aussage der Frau Lasser ist er jedoch nicht erschienen.«
Mateo: »Im Endeffekt war er dann aber doch auf der Dachterrasse.«
Der Chefinspektor nickt. »Aber wie er da hingekommen ist, wissen wir noch nicht.«
Gruppenführer Hornberg wippt mit dem Fuß.
Mateo fährt fort. »Untergebracht war Herr Moghaddam in einer WG in der Hießgasse im dritten Bezirk. Und zwar gemeinsam mit einem zweiten Freiwilligen, Pedro Almeida. Ich habe versucht, den zu erreichen, aber sein Telefon ist ausgeschaltet.«
Hornberg nickt.
Der Chefinspektor übernimmt. »Gefunden wurde die Leiche von der Frau Lasser. Die Todesursache ist aller Wahrscheinlichkeit nach der Bauchstich, es sieht stark nach Hauptschlagader aus. Nach aktuellem Wissensstand konnten am Tatort keine Kampfspuren gefunden werden, das heißt, es hat vermutlich keine oder keine nennenswerte Gegenwehr oder Ausweichbewegung gegeben. Das bedeutet wiederum, das Opfer ist überrascht worden. Aber da warten wir auf die Obduktion.«
Christina: »Der Michael hat mir die Ergebnisse für morgen versprochen.«
Der Chefinspektor fährt fort. »Momentan gehen wir davon aus, dass der Moghaddam verblutet ist. Die Mordwaffe könnte das japanische Küchenmesser der Frau Lasser gewesen sein.«
Der Chefinspektor zeigt das Foto der Messerschachtel am Display seines Telefons.
»Ihr ist jedenfalls aufgefallen, dass es fehlt.«
Pause.
»Weil ich von Fehlen spreche. Moghaddams Handy haben wir am Tatort nicht gefunden. Bei sich hatte das Opfer lediglich seine Geldbörse, Bargeld (circa vierundzwanzig Euro), eine deutsche Bankomatkarte der ING, Personalausweis, Führerschein. Und einen Schlüsselbund. Sieben Schlüssel, davon einer für ein Postkasterl und einer wahrscheinlich für ein Fahrradschloss.«
Hornberg ist an der Reihe. »Na gut, dann schauen wir uns die Tatsachen an. Wir haben einen Afghanen. Wir haben eine Messerstecherei. Der Moghaddam muss in irgendwelche Geschäfte verwickelt gewesen sein. Wahrscheinlich eh Drogen. Was gibt’s aktuell in Wien? Wo war der Moghaddam unterwegs und mit wem? Besonderes Augenmerk auf den gestrigen Tag: Was hat er gemacht? Wir brauchen ein Motiv.«
Pause.
»Außerdem müssen auf jeden Fall alle Gäste der Party verhört werden, mit Ausnahme der Kinder natürlich. Vielleicht haben die etwas gesehen. Sie müssen etwas gesehen haben.«
Der Gruppenführer steht auf und wendet sich an den Chefinspektor. »Trinkst du auch einen Kaffee?«
Mateo meldet sich zaghaft. Moment noch, er müsse heute Nachmittag und morgen ganztägig zu einer Fortbildung, habe aber bereits Gespräche mit den Elternteilen, die während der möglichen Tatzeit am Tatort gewesen seien, angesetzt. Beginnend mit vierzehn Uhr.
Gruppenführer Hornberg schaut zu Giorgos. Es liegt nahe, dass der Chefinspektor weiterhin die Ansprechperson für die Zeugen ist.
Mateo zieht entschuldigend den Kopf ein. »Ich kann mir aber jetzt noch das Haus von den Lassers anschauen und die Nachbarn befragen.«
Christina übernimmt das Umfeld Amirs.
Der Gruppenführer überwacht und supervidiert. »Gut, gehen wir auf einen Kaffee?«
Der Chefinspektor ordnet die Ausdrucke zu einem Stapel. Er wendet sich an die Gruppeninspektorin und den Revierinspektor. »Kommt ihr mit?«
Wenn der Gruppenführer vorschlägt, einen Kaffee zu trinken, drückt er damit nicht die Absicht aus, in die hauseigene Kantine zu gehen. Es bedeutet, sich einen Häuserblock weiter in ein kleines Café mit Wohnzimmeratmosphäre zu setzen. Parkettboden, Tresen aus unbehandeltem Holz, darauf eine Keramikschüssel mit Orangen und Bananen und eine gläserne Etagere (Heidelbeer- und Schokoladen-Muffins, Shortbread), dahinter drei schwarze Tafeln, auf denen das Kaffee- und Speisenangebot aufgelistet ist. An den Wänden Bücherregale mit Büchern zum Borgen und Tauschen. Unterschiedliche, teils wacklige Tische sowie Stühle. Es gibt wirklich guten Kaffee im Café Mokka, das sagen nicht nur die Kritiken, das muss auch der Chefinspektor zugeben. Hornberg geht noch weiter und interessiert sich für den Barista-Kurs, der regelmäßig im hinteren Teil des Cafés angeboten wird.
Christina fotografiert ihren Cappuccino, genauer: dessen Crema, und lädt das Foto in die WhatsApp-Gruppe »Kaffee«, die Mateo, sie und die zwei Sekretärinnen aus dem Erdgeschoß gegründet haben. Dem Gruppenführer ist das nicht sehr recht, zeugt doch jedes Foto von einer Pause und steht somit im Widerspruch zur ununterbrochenen Produktivität, die er gern das Leitmotiv seiner Biografie nennt.
Die Obfrau in ihrem Lieblingscafé wechselt von der Vereins- zur Erwerbstätigkeit und beantwortet eine Anfrage für einen Coaching-Termin. Es handelt sich dabei um einen ihrer Berufe, denn Petra ist außerdem Rhetoriktrainerin und bietet zusätzlich Körperarbeit an. All diese Tätigkeiten finden Platz auf den kleinen grauen Visitenkarten aus Recyclingpapier, für welche die Obfrau eine befreundete Grafikdesignerin gebeten hat, ihre Idee umzusetzen: Hinter/unter ihrem Namen ist – zart – ein Felsen zu erkennen. Für die, die es wissen wollen: Petra, die Felsin, sprich die Starke.
Denn das war ihr immer wichtig: die eigene(n) Stärke(n) zu kennen und zu leben. Genau das verspricht die Obfrau ihren Kundinnen und Kunden, Unternehmen wie Privatpersonen, bei Coachings und Rhetoriktrainings.
Die Obfrau Stv. (flaschengrüne Stiefeletten, dunkelblauer Rock, grünes Shirt, cyanblaue Accessoires) sieht sich neugierig um. Sie fragt nicht: »Ist das jetzt so wie im Film? Haben Sie eine Pinnwand mit Hinweisen und Fotos?« Denn es gibt im Vernehmungsraum nichts zu sehen.
Sie nimmt auf dem Besucherstuhl Platz. Wie beim Arzt.
»Frau Lasser, wann haben Sie den Herrn Moghaddam zum letzten Mal lebend gesehen?«
Die Obfrau Stv. freut sich ein bisschen. »Ich dachte mir, dass diese Frage kommt! Ich bin gestern im Bett gelegen, ich konnte überhaupt nicht schlafen und habe gedacht, das haben wir noch gar nicht besprochen. Deshalb kann ich Ihnen jetzt sofort sagen: als ich den Ludo in die Kindergruppe gebracht habe. Da habe ich Amir das letzte Mal, ja, lebend gesehen. Ich bin mit dem Ludo in die Garderobe gekommen, der Amir stand vor mir, und ich habe gesagt: Wie gut, dass ich dich treffe. Denn ich wollte mit ihm ja noch besprechen, wann er am Nachmittag zu uns kommt.«
»Weil er Ihnen helfen sollte.«
Die Obfrau Stv. hält inne. »Genau.«
»Und wissen Sie auch, wie lange der Herr Moghaddam gestern in der Kindergruppe war?«
Die Obfrau Stv. hebt den Kopf und schaut in die Ferne, feine Kinnlinie. »Über die Dienstzeiten vom Amir weiß ich nicht genau Bescheid. Ich glaube, er hat auf jeden Fall noch das Mittagessen aufgewärmt und ist dann gegangen.«
Pause.
»Die Freiwilligen machen normalerweise im Rahmen des Praktikums einen Deutschkurs. Amir hat das nicht gebraucht, der konnte ja wirklich akzentfrei Deutsch. Er wollte stattdessen einfach mehr Freizeit. Wenn man im Deutschkurs ist, ist man ja auch nicht in der Kindergruppe, war sein Argument. Ich hab das nicht so super gefunden, aber bitte.«
Pause.
»Der Kompromiss war dann, dass er zweimal die Woche früher gehen darf, je nach Bedarf.«
Pause.
»Frau Lasser, war das üblich, ist das üblich, dass der Freiwillige auch privat hilft?«
Die Obfrau Stv. schaut dem Chefinspektor ins Gesicht.
»Das kommt darauf an. Dazu gibt es keine Richtlinien. Aber, wenn Sie das meinen: Natürlich habe ich das nicht als Freundschaftsdienst gesehen. Ich hätte ihm gezahlt, was ich unserer Babysitterin auch zahle. Ich hatte das Gefühl, dass er nichts hat gegen ein Zubrot.«
»Sie haben ihn also das letzte Mal gestern Vormittag gesehen?«
»In der Früh. Circa um neun Uhr.«
»Danach nicht mehr?«
Die Obfrau Stv. verneint.
»Frau Lasser, der Herr Moghaddam ist während Ihrer Party auf Ihrem Dach zu Tode gekommen. Sie haben nichts bemerkt?«
»Herr Chefinspektor, ich habe wirklich genau überlegt.«
Die Obfrau Stv. nimmt ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus ihrem Rucksack. Sie faltet auseinander, streicht glatt und liest. »Begonnen haben wir um drei. Oder eigentlich haben wir um halb drei begonnen, da habe ich die Kinder abgeholt. Um drei sind wir nach Hause gekommen. Dann hat meine Mutter geläutet und die Gemüsesticks gebracht. Wir haben gejausnet, das hat wahrscheinlich eine Viertelstunde gedauert. Danach sind die Kinder in Ludos Zimmer gegangen und haben gespielt. Amir hätte bei der Jause helfen sollen.«
Pause.
Die Obfrau liest.
»Um circa halb vier war die Geschenkeübergabe. Ich habe versucht, mir alles ins Gedächtnis zu rufen. Ich bin den Nachmittag hundert Mal durchgegangen.«
Die Obfrau Stv. überreicht dem Chefinspektor ihren Zettel.
»Hier habe ich den Ablauf rekonstruiert. Die Zeiten stimmen ungefähr.«
14.30 Kinder abholen
15.00 Rückkunft
15.05 Ankunft Nonna
15.05–15.20 Jause/Ankunft Agnes & Katja
15.20–15.30 freies Spiel
15.30 Ankunft Stephan
15.30–15.45 Geschenkeübergabe
15.45–16.00 Erklärung Spielregeln für Schatzsuche
16.00 Aufbruch zur Schatzsuche
16.15 Dach, Wiederbelebungsversuch
16.40 Kinder zurück
16.45–17.15 Torte aufschneiden
17.30 Ankunft David mit Otto, Thomas & Verena
18.00 Ankunft Anja – Verabschiedung Anja & Karli
18.10 Ankunft Nadja
18.15 Ankunft Martin – Verabschiedung Martin & Kolja
18.20 Verabschiedung David, Katja, Agnes, Thomas, Nadja & Kinder
18.30 Ende
Die Obfrau Stv. erzählt.
»Während der Schatzsuche wollte ich die Torten und die Sektgläser aufs Dach bringen, aber zuerst musste ich einfach das Geschenkpapier einsammeln. Das ist wirklich überall herumgelegen. Die Geschenkbänder verwende ich gern wieder, die habe ich also aufgerollt, soweit es ging. Dann haben wir, also meine Mutter, die Agnes und ich, die Teller von der Jause abgeräumt. Katja hat das Minchen gestillt, der habe ich einen Tee gemacht. Dann erst habe ich die Torte hinaufgetragen. Ach, wenn ich gewusst hätte, dass der arme Amir da oben liegt!«
Blick in des Chefinspektors Gesicht. »Meinen Sie, ich hätte ihn noch retten können?«
Der Chefinspektor zieht die Augenbrauen zusammen. »Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten.«
Die Obfrau Stv. atmet aus.
Der Chefinspektor studiert die Liste der Obfrau Stv. »Sie waren um sechzehn Uhr fünfzehn am Dach?«
Die Obfrau Stv. nickt. »Circa.«
»Frau Lasser, was mir auch noch nicht ganz klar ist: Wann haben Sie den Tisch gedeckt? Der Tote lag doch neben einer gedeckten Geburtstagstafel.«
Die Obfrau Stv. nickt. »Da müsste ich meine Liste sozusagen nach oben erweitern. Kurz vor zwei, würde ich sagen. Das hat ja nicht lang gedauert. Als ich fertig war, bin ich die Kinder abholen gegangen.«
»Frau Lasser, Ihren Aufzeichnungen entnehme ich, dass die Frau Kovacs und die Frau …«
Die Obfrau Stv. richtet sich auf. »Bernstorff-Heinig.«
»Ja genau … dass also die Frau Kovacs und die Frau Bernstorff-Heinig beide bereits um fünfzehn Uhr fünfzehn vor Ort waren. Hat eine der beiden die Wohnung noch einmal verlassen? Vielleicht auch nur, um zu telefonieren?«
»Nein. Es waren beide ganz sicher die ganze Zeit da. Die Agnes hat ja wirklich immer den Yves getragen, der fremdelt gerade extrem stark. Und die Katja ist momentan so erschöpft, die sehe ich richtig vor mir, wie sie am Sofa sitzt und stillt.«
Ob am Kindergeburtstag Fotos gemacht wurden.
Die Obfrau Stv. nimmt ihr Handy aus der Tasche, entsperrt es und hält inne, um zu lesen – »Entschuldigung, ach wie blöd, meine Putzfrau steht vor der Tür und kommt nicht rein« –, bevor sie es dem Chefinspektor gibt. »Blättern Sie ruhig durch.«
Der Chefinspektor wischt.
»Mein Mann hat außerdem Fotos mit der Spiegelreflexkamera gemacht.«
»Die bräuchte ich dann auch.«
»Die Fotos?«
»Die Kamera. Oder die Speicherkarte. Noch kurz zu Ihrem Mann, Frau Lasser. Wann ist denn der nach Hause gekommen?«
Die Obfrau Stv. hat auch darüber nachgedacht. Sie deutet auf die Liste.
Man habe ausgemacht, dass der Stephan um halb vier komme, damit er bei den Geschenken dabei sein und Fotos machen könne. Sie habe nicht auf die Uhr geschaut, aber es werde halb vier gewesen sein. Ihr Mann sei pünktlich.
Und der Herr Lasser, dass der dann vielleicht kurz am Dach gewesen sei?
Nein. Das könne sie mit Bestimmtheit sagen: »Nein, war er nicht.«
Sie habe doch sicher ihren Mann gefragt, ob er den Herrn Moghaddam noch gesehen habe.
Das habe sie natürlich. Und: Nein, habe er nicht.
Die Obfrau Stv. überlegt. Die Obfrau Stv. beißt sich auf die Unterlippe und runzelt die Stirn.
»Wie ist denn der Amir aufs Dach gekommen? Ich habe ihm wirklich nicht geöffnet!«
Der Chefinspektor zieht die Mundwinkel auseinander und hebt die Augenbrauen und Schultern.
Die Obfrau Stv. überlegt.
»Herr Chefinspektor? Man verblutet doch nicht so schnell. Wieso ist der Amir nicht hinuntergekommen, wir hätten ihn doch noch retten können. Oder nicht?«
Der Chefinspektor zögert. Aber ja, sie soll das ruhig hören. »Wissen Sie, Frau Lasser, bei einem Bauchstich verspürt das Opfer einen derart starken Schmerzreiz, dass es quasi handlungsunfähig liegen bleibt. Der Herr Moghaddam konnte schlicht nicht mehr die Treppen hinuntergehen.«
»Aber wieso hat er dann nicht wenigstens um Hilfe gerufen? Laut!«
»Das kann ich Ihnen auch nicht beantworten. Vielleicht hat er das.«
Der Chefinspektor faltet die Liste der Obfrau Stv. in der Mitte und legt sie in sein Notizbuch.
Anruf in der Gerichtsmedizin.
»Die Zeugin sagt aus, sie habe den Herrn Moghaddam circa um sechzehn Uhr fünfzehn bereits leblos vorgefunden. Deckt sich das mit deinen Ergebnissen? Beziehungsweise mit deinem ersten Eindruck?«
»Also um sechzehn Uhr fünfzehn war der junge Herr sicher schon tot. Das steht so im Protokoll, und das deckt sich mit meinem ersten Eindruck.«
»Weißt du schon was?«
»Giorgo. Wie sagt der Grieche? Sigá, sigá! Wir sind dermaßen unterbesetzt, mehr schaff ich momentan wirklich nicht.«
Anruf bei Stephan Lasser.
Es sei momentan schwierig, er sei nachgerade unverzichtbar, morgen sei er nicht in der Stadt. Aber übermorgen könne er gleich um acht Uhr dreißig in der Berggasse sein.
Das Neue-Eltern-Amt schiebt den Kinderwagen in Zeitlupe ins Vernehmungszimmer und verzieht das Gesicht, als die Tür zufällt. Der Chefinspektor wirft einen Blick auf das Baby, das im Schlaf am Schnuller saugt. Er senkt die Stimme, das Neue-Eltern-Amt ebenfalls.
Ihr sei, wie gesagt, gar nichts Besonderes aufgefallen an Amir Moghaddam.
Ehrlich gesagt, als die Franziska ihr den Amir gezeigt habe, sei ihr erster Gedanke gewesen (und sie wisse, das sei ganz schrecklich): »Ah ja, der ist ja auch da.« Davor habe sie gar nicht über den Amir nachgedacht.
Sie sei mit dem Vernetzungsamt gemeinsam gekommen. Kurz nach drei müsse es gewesen sein, die Kinder seien überraschend ruhig bei Tisch gesessen. Die Franziska habe einen Tee gemacht, man habe sich unterhalten.
Nein, der Amir sei ihr, ihres Wissens nach, nicht begegnet, wie gesagt.
Sie habe noch einmal nachgedacht. Es sei nämlich so. Der Amir habe so eine Art gehabt. Der habe einen Raum betreten können oder schon anwesend sein, ohne dass man ihn bemerkt habe.
Wie sie das meine.
Eben genau so. Vielleicht sei er in die Wohnung gekommen – er müsse doch in die Wohnung gekommen sein –, aber ganz leise.
Ob sie noch ein Beispiel nennen könne.
Einmal, da sei sie in die Garderobe der Kindergruppe gekommen und habe ein Gespräch mit der Katja, also der Frau Bernstorff-Heinig, geführt und erst danach gemerkt, dass der Amir die ganze Zeit in der Küche gestanden sei. Und normalerweise schaue sie doch in die Küche, ob jemand da sei, schon allein um zu grüßen. Aber ihn habe sie nicht gesehen.
Überlegt.
Manchmal habe sie gedacht, der mache das absichtlich.
»Um zu lauschen?«
Gar nicht unbedingt. Eher um zu testen. Wann nähmen ihn die Leute zur Kenntnis? Wie reagierten die Leute, wenn sie merkten, dass er alles gehört habe, was sie geredet hatten?
Er habe sich nie versteckt. Er sei nur ruhig dagestanden. Wie ein Möbelstück.
Deshalb wisse sie nicht: Habe sie ihn nur nicht bemerkt auf der Party, oder sei er bereits am Dach gewesen.
Das Neue-Eltern-Amt kann die von der Obfrau Stv. genannten Ankunftszeiten der verschiedenen Elternteile bezeugen. Auch kann sie das Alibi der Obfrau Stv. bestätigen. Diese sei immer in ihrer Nähe gewesen.
Was sie denn nach der Party gemacht habe.
Das Baby strampelt. Das Neue-Eltern-Amt springt auf und beugt sich über den Kinderwagen. Das Neue-Eltern-Amt setzt sich in Zeitlupe und spricht noch leiser.
Sie sei mit dem Lenz und der Anouk nach Hause gegangen.
Der Chefinspektor blättert in seinen Notizen. Anouk. Das sei die Tochter der Frau Vilutzky.
Flüsternd: Genau. Die wohne ja ganz in der Nähe, da habe sich das angeboten.
Was die Frau Vilutzky denn mache.
Ob er jetzt ihr Amt in der Kindergruppe oder ihren Beruf meine. Wenn er nämlich das Amt meine, da müsse sie nachdenken. Sie glaube, die Frau Vilutzky habe das Konzeptamt übernommen.
Das Baby strampelt und jammert.
Das Neue-Eltern-Amt zuckt entschuldigend mit den Schultern, steht auf und holt das Baby aus dem Kinderwagen. Im Stehen spricht sie weiter.
Beruflich sei Danuta Wirtschaftspsychologin, aber sie wisse nicht, ob sie das noch mache. Des Neue-Eltern-Amts Letztstand sei, dass Danuta Stunden reduzieren wollte, weil ihr Instagram-Blog recht groß geworden sei: dieAundO.
Pause. Yves wird geschaukelt.
So wie »das A und O« der Kindererziehung. Danuta poste Fotos ihrer Töchter, eben Anouk und Ona.
Pause.
Der Name des Blogs sei ein Wortspiel.
Der Chefinspektor nickt.
Das Neue-Eltern-Amt setzt sich, das Baby am Schoß.
Dazu schreibe sie über Ernährung und, wie gesagt, Erziehung.
Das Baby schaut den Chefinspektor an.
Das Neue-Eltern-Amt zuckt mit den Schultern.
Danuta sei Influencerin und könne anscheinend davon leben. Oder. Sie wisse nicht, ob Danuta davon leben könne oder wie die das machen würden. Danutas Mann habe eine Buchhandlung, sie glaube nicht, dass man davon leben könne. Aber der Blog bringe mittlerweile echt etwas ein.
Pause.
Ehrlich gesagt habe sie das lange nicht ernst genommen.
Pause.
Sie habe lange gar kein Smartphone gehabt, erst seit zwei Monaten habe sie eines. Dann sei sie doch neugierig geworden.
Das Baby beugt sich weit nach vorn, schnappt sich den Kugelschreiber des Chefinspektors und reißt den Mund auf. Das Neue-Eltern-Amt steckt dem Baby den Schnuller in den Mund.
Wie sind sie dahin gekommen? Der Chefinspektor sammelt sich.
»Und Ihr Mann? Wo war Herr Kovacs gestern Nachmittag?«
»Ebner, mein Mann heißt Ebner. Ich bin die einzige Kovacs in der Familie. Er war im Büro, nehme ich an.«
Der Chefinspektor bittet das Neue-Eltern-Amt, sich bei der Tatortgruppe einzufinden, ihre Fingerabdrücke müssten genommen werden.
Das Neue-Eltern-Amt nickt blass.
Wie leben, wovon leben.
Das Neue-Eltern-Amt hat bildende Kunst studiert. Als sie noch weit entfernt davon war, ein Amt zu übernehmen, hat Agnes an einer begehbaren Collage über »Schleichwege, Schlupfwinkel und Alternativen« gearbeitet. Da hat das spätere Neue-Eltern-Amt noch daran geglaubt, dass sich das alles irgendwie ergibt: Erwerbsarbeit, Geld, Sicherheit.
Das Neue-Eltern-Amt hat bildende Kunst studiert.
Das Studium hat den Weg geebnet in lauter unbezahlte Tätigkeiten. Die künstlerischen Arbeiten, die Ausstellungen, das Vermittlungsprogramm. Wobei, den Weg geebnet hat auch das Gesellschaftssystem. Philipp verdient einfach mehr als sie. Genauer: Philipp verdient. Deshalb ist Agnes »mehr mit den Kindern«. Und deshalb kann sich Agnes nicht vorstellen, wie das gehen soll: Vollzeit arbeiten. Vollzeit arbeiten und die Kinder um halb vier abholen? Vollzeit arbeiten und mit den Kindern die Referate vorbereiten? Vollzeit arbeiten und bei der Tanzaufführung dabei sein? Vollzeit arbeiten und Elterndienste in der Kindergruppe übernehmen?
Das Neue-Eltern-Amt ist keine Hausfrau. Doch wie bei Freuds Nicht-Mutter bleibt mehr als ein Rest des Verneinten. Sie ist nicht Hausfrau, macht jedoch alles, was eine Hausfrau macht. Sie ist im Haus. Sie ist zu Hause in der stillen Wohnung. Wenn alle aus dem Haus sind, räumt sie die Frühstücksreste weg. Sie kauft die Geburtstagsgeschenke. Nein, zuerst überlegt sie und führt Listen, wer wann Geburtstag hat (auch die Freunde und Freundinnen der Kinder), was sich welches Kind wünscht, worüber sich welches Kind freuen könnte. Erst dann erfolgt der Einkauf. Online oder physisch.
Dem Vernetzungsamt nicht unähnlich ist das Neue-Eltern-Amt regelmäßig in den schönen Geschäften rund um die Kindergruppe unterwegs.
Das Neue-Eltern-Amt saugt Staub, wischt, wäscht Wäsche, hängt Wäsche auf, legt sie zusammen und räumt die Wäsche weg, auch die ihres Mannes. Agnes wischt den Staub vom Badewannenrand, um die und unter den Shampooflaschen, rund um das Playmobilboot, Staub aus dem Playmobilboot, aus der Ecke hinter der Tür. Wischt den Staub vom Bücherregal, vom Boden vor dem Bett, überzieht die Betten neu, wäscht die Bettwäsche.
Währenddessen wird Agnes immer kleiner. Sie wundert sich, dass sie überhaupt noch zum Staub auf dem Kühlschrank hinaufreicht. Sie kann sich nicht vorstellen, wie das gehen soll, wie das jemals alles funktionieren soll. Warum funktioniert es denn nicht schon längst.
Agnes hofft, dass bald etwas passiert, ein kleiner Weltuntergang, der alles durchschüttelt und …
Dass bald etwas passiert und sich ein Schlupfloch auftut.
Der Chefinspektor installiert Instagram auf seinem Telefon und legt einen Account an. Nach einiger Recherche entscheidet er sich für den Namen gio_mann.
Nahaufnahme von drei Gesichtern, die sich auf engem Raum zusammendrängen. Ein Kinderkopf kommt von unten ins Bild – hohe Stirn, Augenbrauen, Augen und Nasenrücken. Links oben ein lachender Mund mit Zahnlücke, dazu Nasenlöcher, man kann fast den Atem fühlen. Rechts hält eine Frau ihr Gesicht ins Bild, Kinn gehoben, seitlich gedreht, Wangenlinie, ein Auge, leichte Falten, Blick zur Kamera, lächelnd mit geschlossenem Mund. Der Filter korrigiert die fehlende Ausleuchtung und reduziert die Sättigung. Übrig bleiben dunkle Töne – Haare, Schatten, Hintergrund und die ebenen hellen Flächen der Haut.
A, O & Danuta
Persönlicher Blog
Die A und O – die Wichtigsten in meinem Leben
Wer A sagt, wird auch O sagen
Antworten aus dem #lebenmitkindern
Pushpin-Emoji Wien
#großstadtmama #mädelshaushalt #grrrls #bedürfnisorientiert #bedingungslos #nofilter