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In einer Zeit, in der der traditionelle (Print-)Journalismus in der Krise steckt, ist das Experimentieren mit neuen Zugängen zur journalistischen Arbeit, ist die Grenzüberschreitung sinnvoll und notwendig. Neue methodisch-konzeptionelle Herangehensweisen an den Journalismus bergen das Potenzial für Innovationen. Das vorliegende Buch Setzt sich mit knapp 40 unterschiedlichen Genres auseinander, systematisiert diese und möchte damit die Diskussion über alternative Ansätze im deutschsprachigen Journalismus anregen. Leitfragen sind dabei: Was ist die grundlegende Idee des jeweiligen Genres? Worin unterscheidet es sich vom idealtypischen Journalismus? Vor welchem Begründungszusammenhang wurde der Ansatz formuliert und wie hat er sich historisch entwickelt? Weshalb sollte nach der jeweiligen Argumentation Journalismus gerade auf diese Art und Weise betrieben werden? Welche Chancen und Risiken sind damit verbunden?
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Seitenzahl: 535
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Journalistische Genres
Christin Fink
Teil A – Thema und Story
1 Advocacy Journalism (Anwaltschaftlicher oder Fürsprachejournalismus)
Stefan Seitz
2 Commemorative Journalism (Gedenkjournalismus)
Dimitri Prandner
3 Enterprise Journalism
Julian Heck
4 Innovation Journalism (Innovationsjournalismus)
Andreas Schümchen
5 Peace Journalism (Friedensjournalismus) / Conflict Sensitive Journalism
Susanne Kirchhoff
6 Positive Journalism (Positiver Journalismus)
Stefan Seitz
7 Preventive Journalism (Präventiver Journalismus)
Christoph Fasel
8 Public / Civic Journalism (Bürgerschaftlicher Journalismus)
Klaus Forster
9 Solutions Journalism (Lösungsorientierter Journalismus)
Uwe Krüger
Teil B – Recherche
1 Ambush Journalism (Hinterhaltjournalismus)
Guntram Platter
2 Checkbook Journalism (Scheckbuchjournalismus)
Christoph Fasel
3 Churnalism
Roman Hummel
4 Data Journalism (Datenjournalismus)
Indira Dupuis
5 Embedded Journalism (Eingebetteter Journalismus)
Katharina Veit / Christian Schäfer-Hock
6 Gotcha Journalism (Hab-Dich-Journalismus)
Julian Heck
7 Immersive Journalism (Virtual-Reality-Journalismus)
Nora Burgard-Arp
8 Investigative Journalism (Investigativer Journalismus)
Johannes Ludwig
9 Muckraking
Christoph Raetzsch
10 Open Source Journalism (Open-Source-Journalismus)
Steffen Kühne
11 Structured Journalism (Strukturierter Journalismus)
Christoph Raetzsch
12 Watchdog Journalism (Watchdog-Journalismus)
Ricarda Drüeke / Karsten Weber
Teil C – Schreiben und Darstellen
1 Algorithmic Journalism (Algorithmischer Journalismus)
Konstantin Dörr
2 Backpack Journalism (Rucksackjournalismus)
Stefan Seitz
3 Citizen Journalism (Bürgerjournalismus)
Indira Dupuis
4 Comics Journalism (Comic-Journalismus)
Florian Hohmann / Filiz Erkal
5 Gonzo Journalism (Gonzo-Journalismus)
Tobias Eberwein
6 Interactive Journalism (Interaktiver Journalismus)
Jan Schilling
7 Literary Journalism (Literarischer Journalismus)
Tobias Eberwein
8 Mobile Journalism (Mobiler Journalismus)
Marcus Bösch
9 Narrative Journalism (Narrativer Journalismus)
Patrick Weber
10 New Journalism
Tobias Eberwein
11 Participatory Journalism (Partizipativer Journalismus)
Philomen Schönhagen
12 Robot Journalism (Roboterjournalismus)
Thomas Christian Bächle / Linda Rath-Wiggins
13 Tabloid / Popular Journalism (Boulevardjournalismus)
Janine Greyer / Leyla Dogruel / Simon Berghofer
14 Wiki Journalism (Wiki-Journalismus)
Ricarda Drüeke
Teil D – Geschäftsmodelle
1 Non-profit Journalism (Nonprofit-Journalismus)
Stefan Seitz
Autoren
Journalisten selektieren die relevanten Themen, recherchieren und informieren die Rezipienten objektiv und wahrheitsgemäß. So zumindest lautet der häufig zu hörende Anspruch. Doch ist Journalismus stets so – und sollte er so sein?
Unter dem Begriff „journalistische Genres“ („journalistic genres“) werden im angelsächsischen Sprachraum zahlreiche unterschiedliche methodisch-konzeptionelle Herangehensweisen an die journalistische Arbeit verstanden. Der Begriff ist in Deutschland vergleichsweise unbekannt1 und nur wenige der diskutierten Genres haben bislang Eingang in die deutschsprachige Publizistik und in die deutschsprachigen Medien gefunden.
Noch einmal: Journalisten selektieren die relevanten Themen, recherchieren und informieren die Rezipienten objektiv und wahrheitsgemäß. In diesem Satz stecken mehrere Annahmen, die in dieser Strenge kaum haltbar sind:
Wie
objektiv
kann ein von Subjekten betriebener Journalismus grundsätzlich sein? Wenn zwei Journalisten an der gleichen Geschichte arbeiten, kommen sie stets auch zu denselben Ergebnissen und Darstellungen? In der empirischen Sozialforschung nennt man dieses Gütekriterium Objektivität. Tritt die Meinung des Journalisten stets völlig in den Hintergrund, ohne dass normative Wertvorstellungen den Sachverhalt filtern und einfärben? Handelt es sich um reine Information? Man muss nicht gleich von Manipulation sprechen, doch durch die Medienberichterstattung ausgelöste Framing- und Priming-Effekte bei den Rezipienten sind der Medienwirkungsforschung bekannt und nicht zu leugnen.
Ist es überhaupt möglich, immer die ganze
Wahrheit
herauszufinden und darzustellen? Immer, wenn Menschen handeln, agieren sie mit einer Agenda, die seitens der Berichterstattung nicht unbedingt offengelegt werden kann – sei es, weil die wahren Absichten nicht ausgesprochen oder dem Handelnden selbst gar nicht bewusst sind. Selbst wenn es nicht um Handlungsmotive, sondern menschenunabhängige Fakten geht: Können wir alles herausfinden, was wir wissen wollen? Die Mühen der Wissenschaften zeigen, dass Erkenntnis selbst mit hohem methodischen Aufwand (den ein Journalist mangels Ressourcen nicht leisten könnte) oft schwer zu erlangen ist.
Was ist relevant? Oder genauer gefragt: Wer entscheidet, was
relevant
ist? Die Agenda-Setting- und Gatekeeper-Effekte im Journalismus wurden in der Publizistik umfassend diskutiert. Unter allen Ereignissen in der Welt muss der Journalismus zwangsläufig höchst selektiv diejenigen Themen auswählen, die zum Gegenstand der Berichterstattung werden. Diese Entscheidung ist objektiv kaum möglich.
Allein die Diskussion dieser drei Ansprüche zeigt, dass der idealtypische, lehrbuchmäßige Journalismus eben genau dies ist: ein Ideal. Ideale sind grundsätzlich nichts Schlechtes – im Gegenteil: Sie zeigen uns als Leitstern an, wohin wir streben sollten. Die drei genannten Ansprüche (und man könnte sicher weitere nennen) sind gut. Sie formulieren, was der Leser, Hörer oder Zuschauer vom Journalismus erwarten darf.
Dennoch kann man sich vor diesem Hintergrund zwei Fragen stellen:
Wie sehr wird der tatsächlich praktizierte Journalismus diesem Ideal gerecht? Beziehungsweise: Wie lässt sich der reale Journalismus beschreiben?
(deskriptiv-kritische Frage)
Sollte Journalismus weiterhin nach dem bestehenden Ideal praktiziert werden oder können andere, neue Ideale formuliert werden?
(normative Frage)
Das vorliegende Buch setzt sich mit den unterschiedlichen journalistischen Genres auseinander und möchte diese damit in die deutschsprachige Diskussion einführen bzw. die Diskussion der hier bereits stärker vertretenen anregen. In den Beiträgen dieses Bandes werden die Genres jeweils porträtiert: Was ist die grundlegende Idee des jeweiligen Genres? Worin unterscheidet es sich vom „regulären“ Journalismus? Vor welchem Begründungszusammenhang wurde der Ansatz formuliert und wie hat er sich historisch entwickelt? Weshalb sollte nach genreimmanenter Argumentation Journalismus auf diese Weise betrieben werden? Welche Chancen und Vorteile sind damit verbunden? Welche Risiken und Nachteile sind festzustellen?
Das Ziel dieses Einführungsbeitrags ist, die vorgefundenen Genres systematisch zu ordnen. Dies ist nicht immer überschneidungsfrei möglich. Ein erster Schritt zur Ordnung ist getan, wenn einem klar wird, dass einige Genres teilweise von der deskriptiven, teilweise von der normativen Frage ausgehen.
Deskriptiv-kritische Genres beschreiben nicht nur, wie Journalismus von einigen Journalisten oder Medienhäusern betrieben wird, sondern sie wollen vor allem eines: Die vorgefundenen Missstände, also die negativen Abweichungen vom Idealzustand, offenlegen und kritisieren, um dazu aufzurufen, zu diesem Ideal zurückzukehren.
Beispiele hierfür sind der in diesem Band nicht behandelte Bandwagon Journalism (Mitläuferjournalismus2), bei dem Journalisten der Berichterstattung ihrer Kollegen folgen und diese mehr oder weniger inhaltlich übernehmen (um nicht gleich vom Plagiat zu sprechen), der Churnalism, der sich durch ein Weglassen der Recherche aus Bequemlichkeit auszeichnet und stattdessen vorhandene Nachrichten „aufschäumt“, der Checkbook Journalism (Scheckbuchjournalismus) der seine Informanten bezahlt (meist mit dem Ziel der Exklusivstory), der Embedded Journalismus (Eingebetteter Journalismus), also jene Kriegsberichterstattung, die unter militärischem Schutz stattfindet und damit die Gefahr fehlender Objektivität in sich birgt, oder der Tabloid Journalism (Boulevardjournalismus), der eine unterhaltende, teils sensationelle, verkaufsfördernde Darstellung wählt und damit als unseriös gilt. Unter dem Strich scheinen überwiegend ökonomische Argumente (Kostensenkung oder Umsatzsteigerung) zu diesen unerfreulichen Entwicklungen beizutragen.
Normative Genres formulieren die Genres als gesellschaftspolitische Forderung, wie Journalismus betrieben werden sollte. Bewegt man sich im politischen Feld, hat man es stets mit Meinungen zu tun, die in der Regel folglich nicht klar richtig oder falsch sein können. Es handelt sich um Ansichten, wie Journalismus betrieben werden sollte. Ob man dem zustimmen kann oder es ablehnt, ist eine Entscheidung des einzelnen Journalisten oder Medienhauses. Es ist nicht erforderlich und auch nicht unbedingt wünschenswert, dass alle Journalisten nach einem neuen Genre arbeiten.
Dies zeigt ein interessantes Potenzial einer neuen Pluralität und kann eine Brücke in die journalistische Praxis schlagen: Bislang unbewusst, nur sporadisch oder gar nicht genutzte journalistische Genres können die Medienlandschaft vielseitiger, die Rezeption von (Print-) Medien vor dem Hintergrund der noch immer nicht gelösten, internetinduzierten Medienkrise attraktiver machen und so zu einer erhöhten Mediennutzung beitragen.
Anders ausgedrückt: Der traditionelle Journalismus ist von Anforderungen und Annahmen geprägt, die ihn in ein recht enges Korsett zwingen. Die normativen journalistischen Genres – und dies sind die meisten im vorliegenden Werk – stellen einige der präskriptiven Kriterien des traditionellen Journalismus nicht nur infrage, sondern substituieren sie durch neue. Dies ist ein kreativer Akt, vielleicht sogar ein Akt der schöpferischen Zerstörung im Schumpeterschen Sinne. In einer Zeit, in der der traditionelle Journalismus in der Krise steckt, ist das Ausprobieren neuer Zugänge zu journalistischem Arbeiten, ist die Grenzüberschreitung geradezu ein Imperativ.
Für die feinere Systematisierung der Genres sind zahlreiche Zugänge denkbar. Der hier vorgelegte Vorschlag orientiert sich grob am journalistischen Arbeitsprozess: Themenfindung – Recherche – Schreiben/Darstellen.3
Woher kommt die Story? Von einer Meldung einer Nachrichtenagentur, einer Pressemitteilung oder einem anderen externen Stimulus? Journalisten können auch selbst Themen setzen. Agenda Setting ist ein zentrales Thema in Politik- und Publizistikwissenschaft – doch werden Themen tatsächlich recht selten von Journalisten selbst gesetzt.
Als Prototyp eines Genres, das dies infrage stellt, kann der Advocacy Journalism (Fürsprachejournalismus) gesehen werden. Im Deutschen gern mit „anwaltlicher Journalismus“ übersetzt, sollte er jedoch nicht nur in dem Sinn verstanden werden, die Probleme und Sorgen des „kleinen Mannes“ publik zu machen, sondern generell als Betonung von Themen, deren Wichtigkeit unterstrichen und auf die die öffentliche Aufmerksamkeit gerichtet werden sollte. Insofern ist dieser Zugang intentional, parteiisch, normativ und eben nicht neutral. Doch: Wenn sich Politiker und PR-Agenturen für Themen stark machen dürfen – warum sollen es Journalisten nicht dürfen?
Der Commemorative Journalism (Gedenkjournalismus) wirft eine andere zentrale Annahme des traditionellen Journalismus über Bord, dass nämlich ausschließlich aktuelle Ereignisse Gegenstand der Berichterstattung sein dürfen. Er setzt dem das Ziel der historischen Bildung entgegen, indem er etwa sich jährende wichtige Ereignisse aufgreift und diese neu oder vor dem Hintergrund unseres heutigen Wissens und unserer heutigen Situation interpretiert.
Der Peace Journalism (Friedensjournalismus) hat den Frieden als Ziel und ist insofern eine spezifische Form des Advocacy Journalism. Er ist damit ein Vertreter mehrerer Genres, die sich der reinen Problemzentrierung des Journalismus entgegenstellen. Journalismus soll Probleme thematisieren. Aber er könnte auch Probleme verhindern, bevor sie überhaupt entstehen bzw. zu groß und unbeherrschbar werden, wie es der Preventive Journalism (Präventivjournalismus) versucht. (Somit ist der Peace Journalism gleichzeitig eine spezifische Form des Preventive Journalism, wenn noch kein Krieg herrscht). Journalismus könnte auch Lösungen vorschlagen, statt in der reinen Problembeschreibung hängen zu bleiben. Dies hat sich der Solutions Journalism (Lösungsorientierter Journalismus) auf die Agenda gesetzt hat.
Der Enterprise Journalism (Unternehmerischer Journalismus4) betrachtet Journalismus als „Unternehmung“, als Vorhaben – wie man eine Reise unternimmt. Er konzentriert sich auf eine eigene Themensetzung und geht diese von Anfang bis Ende an, bis die gewünschte Erkenntnis vorliegt und das fertige journalistische Produkt (vielleicht sogar ein Buch) publiziert wird. Insofern ist die Einordnung nur bei der Themenfindung sicherlich zu eng.
Der Innovation Journalism (Innovationsjournalismus) ist nicht unbedingt nur als Fachjournalismus und damit als Subgenre des Technikjournalismus zu verstehen, sondern auch als spezifischer Advocacy Journalism, der zugleich den Wert von Innovation als gesellschaftlichem Fortschrittstreiber betont.
Positive Journalism (Positiver Journalismus) – diesem Thema haben wir sogar ein eigenes Buch gewidmet5 – hebt den Negativitätsbias des Journalismus (die Annahme, nur „bad news“ seien „good news“) auf und beschäftigt sich mit positiven Themen oder stellt negative Themen konstruktiv (z. B. lösungsorientiert) dar.
Public bzw. Civic Journalism (Bürgerschaftlicher Journalismus6) möchte die Gesellschaft stärker politisieren bzw. demokratisieren und ist insofern auch eine spezifische Form des Advocacy Journalism. In Zeiten zunehmender Politikverdrossenheit und rückläufiger Wählerbeteiligung ist es offensichtlich nicht nur wichtig, über konkrete politische Ereignisse zu berichten, sondern auch über Politik an sich.
In diesem Genreblock sticht zuerst der Investigative Journalism (Investigativer Journalismus) ins Auge, also ein Journalismus, der intensiv recherchiert und Dingen auf den Grund geht. Eigentlich sind dies Basisanforderungen an den Journalismus; keinesfalls werden hier Grenzen durchbrochen. Allerdings wird er seltener praktiziert als er sollte – die Begriffe Bandwagon Journalism und Churnalism sind bereits oben gefallen. Insofern kann die Bezeichnung auch fast als Kritik am praktizierten Journalismus interpretiert werden, der eben zu wenig investigativ ist.
Der Ambush Journalism (Hinterhaltjournalismus oder Angriffsjournalismus) bezeichnet ein Vorgehen, bei dem der Journalist sprichwörtlich oder tatsächlich aus dem Hinterhalt kommt und dabei jemanden überrascht. So gelangt er an Informationen, die auf herkömmlichere Weise (z. B. durch Fragen) nicht zugänglich gewesen wären.
Beim bereits erwähnten Checkbook Journalism werden Quellen bezahlt, was sowohl eine ökonomische als auch eine ethische Entscheidung darstellt. Scheckbuchjournalismus wird in der Regel als unethisch, zumindest problematisch betrachtet.
Data Journalism (Datenjournalismus) fokussiert auf die Verarbeitung und Aufbereitung großer Datenmengen („big data“).
Der ebenfalls bereits angesprochene Enterprise Journalism kann neben der Verortung bei der Themensetzung auch hier eingeordnet werden.
Der bereits genannte Embedded Journalism, die Kriegsberichterstattung unter militärischem Schutz, ist insofern hier einzuordnen, als die Recherche unter besonderen Umständen, die die Objektivität einschränken, stattfindet.
Ähnlich wie der Ambush Journalism setzt auch der Gotcha Journalism („Hab-Dich-Journalismus“) auf die Überraschung als Methode. Er beruht auf einer aggressiven, konfrontativen Interviewtechnik, die den Respondenten aus seinem Konzept bringen soll.
Beim Immersive Journalism, (Immersionsjournalismus oder Eintauchender Journalismus) der im vorliegenden Band nicht gesondert behandelt wird, handelt es sich um ein intensives Eintauchen in eine Situation. Er dient nicht nur dazu, Fakten zu sammeln, sondern soll insbesondere zum vollumfänglichen hermeneutischen Verstehen beitragen. Günter Wallraff wird zuvorderst als Enthüllungs- bzw. investigativer Journalist bezeichnet; sein Vorgehen kann aber oft zugleich als immersionsjournalistisch bezeichnet werden, da er sich direkt in eine Situation begibt, in diese eben eintaucht, um sie hautnah zu erleben. Der Begriff wird aber nicht nur für Situationen, sondern auch für das Einfühlen in Personen verwendet. Der Journalist verbringt mit der Person viel Zeit, lernt möglichst viele ihrer Facetten und damit die Person in holistischer Weise kennen. Im Idealfall versetzt sich der Journalist wie ein Schauspieler zur Vorbereitung seiner Rolle in diese Person.
Als Muckraking (Schmutzaufwühlen) wird ein spezifischer investigativer Journalismus bezeichnet, der sich vornehmlich auf wirtschaftliche und politische Missstände bezieht. Er ist also problemzentriert, thematisch umrissen und betont die Intensität der Recherche.
Der Open-Source Journalism (Open-Source-Journalismus7) ist eine spezielle Form des Participatory Journalism (s. u.), der schwerpunktmäßig im nächsten Genreblock behandelt wird. Die Nennung hier beruht darauf, dass die Zusammenarbeit zwischen Journalisten und Rezipienten insbesondere nicht während oder nach der Fertigstellung des journalistischen Beitrags stattfindet, sondern davor. Die Rezipienten werden durch die Offenlegung der Quellen eingeladen, sich insbesondere an der Recherche zu beteiligen. Insofern liegt auch eine Verwandtschaft zum Scientific Journalism (s. u.) vor.
Der Watchdog Journalism (Watchdog-Journalismus8) hat die permanente Beobachtung der (politischen) Akteure zum Gegenstand, ist also auch eine spezifische Form des investigativen Journalismus, der sich neben der hohen Intensität noch durch eine besondere Persistenz auszeichnet.
Der Scientific Journalism (Wissenschaftlicher Journalismus)9 – nicht zu verwechseln mit Science Journalism bzw. Wissenschaftsjournalismus, der über neue wissenschaftliche Erkenntnisse berichtet – setzt auf die intensive Nutzung von Primärquellen, meist zugespielt durch Whistleblower, und ist vom kritischen Rationalismus eines Karl Popper beeinflusst. Als sein bekanntester Umsetzer gilt Julian Assange von Wikileaks.
Der Structured Journalism (Strukturierter Journalismus) thematisiert nicht eigentlich die Recherche, sondern die strukturierte Ablage von Daten und Rechercheergebnissen zur weiteren Verwendung.
Bei der Recherche stellte sich – in Form des Churnalism – bereits die Frage des Ob. Auch ob überhaupt geschrieben wird, steht zur Disposition – zumindest von einem menschlichen Journalisten. So stellen der Algorithmic Journalism10 (Algorithmischer Journalismus) und Robot Journalism (Roboterjournalismus) (halb-)automatisierte, algorithmische Texterstellungsverfahren durch computerlinguistische Software dar. Grundlage sind oft (semi-)automatisch selektierte elektronische Daten samt computergestützter Gewichtung. Sollte sich diese Technik für faktenbasierte Nachrichten durchsetzen, wäre für den Menschen vermutlich nur noch im meinungsbasierten Journalismus Platz.
Der Comics Journalism (Comic-Journalismus) setzt Comics zur Darstellung von Ereignissen oder Sachverhalten ein und greift damit eine populäre Darstellungsform ein.
Der Gonzo Journalism (Gonzo-Journalismus) setzt oft auf eine Ich-Perspektive und ist damit sehr subjektiv; er berichtet erzählend und künstlerisch und ist teilweise fiktional. Hier werden also gleich mehrere zentrale Grundpfeiler des Journalismus über Bord geworfen. Ähnlich, wenn auch in etwas abgemilderter Form, verhält es sich beim New Journalism11 (s. u.).
Beim Immersive12 Journalism (Virtual-Reality-Journalismus) werden die Grenzen des Fernsehens gesprengt. Der Zuschauer kann mithilfe einer Datenbrille in eine virtuelle Realität eintauchen und das Geschehen hautnah miterleben.
Der Literary Journalism (Literarischer Journalismus) verwendet literarische Techniken zu journalistischen Zwecken.
Der Narrative Journalism (Narrativer Journalismus) ist erzählend und fokussiert insofern auf Akteure und Handlungs- sowie Ereignisströme. Dies erfolgt nicht zwingend im literarischen Stil wie beim vorgenannten Genre, das auch mit „schöner Sprache“ im belletristischen Sinn arbeitet. Dass Storytelling eine attraktive Form der Informationsvermittlung ist, ist inzwischen in Journalismus und Marketing bekannt.
Der Tabloid Journalism bzw. Boulevardjournalismus als hinlänglich bekanntes Genre wurde bereits angesprochen.
Die zunehmende Partizipation der Rezipienten am journalistischen Arbeitsprozess wurde bereits bei der Recherche erwähnt. Darüber hinaus gibt es mehrere Subgenres, die die Zusammenarbeit der einst völlig getrennten Akteure in den Vordergrund stellen. Zu nennen ist im Rahmen des Participatory Journalism etwa der Citizen Journalism (Bürgerjournalismus), bei dem die Bürger nicht nur partizipieren, sondern in der Zusammenarbeit sogar dominieren, weil sie als Bürgerjournalisten Bilder oder Texte liefern. Beim Interactive Journalism (interaktiver Journalismus) handelt es sich um einen partizipativen Journalismus mit Fokus auf Onlinemedien; der Dialog mit den Lesern findet meist ex post nach der Veröffentlichung durch den Journalisten statt. Weder vor noch nach, sondern während der Texterstellung und Redigierung arbeiten Leser und Journalist beim Wiki Journalism13 zusammen.
Während die verschiedenen Ausformungen des partizipativen Journalismus den gesamten Arbeitsprozess abdecken, kann auch eine Konvergenz des Arbeitsprozesses beobachtet werden, der durch den technischen Fortschritt möglich ist. So ist der Journalist beim Backpack Journalism (Rucksackjournalismus) gleichermaßen für Bilder, Texte und deren Aufbereitung und Veröffentlichung zuständig. Noch kleiner als ein Rucksack ist das Smartphone: Im Mobile Journalism (Mobiler Journalismus oder Smartphone-Journalismus) ist die Primärquellensammlung mit einem einzigen Gerät möglich.
Die hier angesprochenen und im weiteren Verlauf des Buchs vertieft dargestellten journalistischen Genres erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit – nicht nur dahingehend, dass alle genannt werden, die diskutiert wurden oder aktuell diskutiert werden, sondern insbesondere und ausdrücklich auch in der Hinsicht, dass alle überhaupt denkbaren Genres Gegenstand dieses Buchs sein könnten.
Wie sich gezeigt hat, entstehen die Genres vor allem durch Grenzüberschreitungen, durch das Aufbrechen von einzelnen, bisher als einzig richtig angesehenen Annahmen. Wie am Gonzo Journalism und am New Journalism exemplarisch zu sehen ist, können dies auch mehrere Annahmen auf einmal sein.
Dieser kreative Akt ist längst nicht an seinem Ende angelangt.
Bespalowa, A.G.; Kornilow, E.A.; Pöttker, H. (Hrsg.) (2010): Journalistische Genres in Deutschland und Russland. Handbuch, Köln.
Deutscher Fachjournalisten-Verband (Hrsg.) (2015): Positiver Journalismus, Konstanz.
Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität (Hrsg.) (1981): Wörterbuch der sozialistischen Journalistik, Leipzig.
1 Im Deutschen wird der Begriff des journalistischen Genres bisweilen mit dem der journalistischen Darstellungsform gleichgesetzt (vgl. etwa Bespalowa et al. 2010). Auch in der Publizistik der DDR fand sich der Begriff (vgl. Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität 1981), wo er in der Unterscheidung von Darstellungsform und Arbeitsfeld verwendet wurde. Hiervon ist der hier verwendete Genre-Begriff abzugrenzen.
2 Da die meisten journalistischen Genres im deutschsprachigen Raum noch nicht gängig sind (vgl. Fn. 1), existieren für viele entsprechend noch keine etablierten Übersetzungen. Die hier genannten sind als Vorschläge zu betrachten. Daher werden im vorliegenden Band überwiegend noch die englischsprachigen Bezeichnungen verwendet.
3 In den Genreblöcken sind die einzelnen Genres alphabetisch sortiert. Dort, wo es sich thematisch anbietet, wird diese Reihenfolge durchbrochen. Ein Sonderfall ist der Nonprofit Journalism bzw. Nonprofit-Journalismus, der sich nicht im journalistischen Arbeitsprozess verorten lässt. Er kann die Form des traditionellen Journalismus annehmen oder die Ideen eines oder mehrerer Genres aufgreifen. Entscheidend ist hier nur, dass das Medium nicht gewinnorientiert arbeitet, sich also nicht durch Werbung und Auflagenverkauf finanziert, sondern beispielsweise über Crowdfunding oder Spenden.
4 Heck schlägt in seinem Beitrag in diesem Band die Übersetzungen „unternehmungslustiger“ oder „wagemutiger Journalismus“ vor.
5 Deutscher Fachjournalisten-Verband 2015.
6 Der im Deutschen diskutierte Bürgerjournalismus ist dagegen eine Form des Participatory Journalismus, insbesondere des Citizen Journalism.
7 Deutsche Übersetzungen wie Offene-Quellen-Journalismus oder Quelltextjournalismus wirken gestelzt. Durch den auch im deutschsprachigen Raum inzwischen etablierten Begriff der Open-Source-Software bietet es sich an, bei der „denglischen“ Bezeichnung Open-Source-Journalismus zu bleiben – auch wenn der Herausgeber sich grundsätzlich gegen denglische und für deutsche Bezeichnungen einsetzt. „Aufgezwungene“ und damit künstlich wirkende Übersetzungen sollten jedoch vermieden werden.
8 Die direkte Übersetzung würde zwar „Wachhundjournalismus“ lauten, doch findet sich im deutschsprachigen Raum auch wieder eher der „denglische“ Begriff.
9 Wird im Beitrag „Datenjournalismus“ behandelt.
10 Man findet auch den Begriff „Computational Journalism“.
11 Dieser Eigenname wird in der Regel nicht mit „Neuer Journalismus“ übersetzt.
12 Nicht zu verwechseln mit dem Immersion Journalism. Beiden Begriffen ist der Gedanke des Eintauchens gemeinsam. Bei Immersion Journalism taucht der Journalist bei seinen Recherchen in eine Situation oder Person ein; beim Immersive Journalism taucht der Rezipient in die virtuelle Realität ein.
13 Durch die hohe Popularität von Wikipedia und anderen Wiki-Medien bietet sich hier wieder keine Übersetzung an.
Übersetzt man „Advocacy“ in die deutsche Sprache, passt unter den zahlreichen Übersetzungsmöglichkeiten der Begriff „Anwaltschaft“ zu dem journalistischen Genre „Advocacy Journalism“ am besten. Daher wird es auch „anwaltschaftlicher Journalismus“ genannt: Der Journalist versteht sich als Anwalt, der sich für bestimmte Personen, Personengruppen, Sachen, Standpunkte oder Meinungsgegenstände einsetzt.
Advocacy Journalism nimmt einen eigenen subjektiven Standpunkt zu der Angelegenheit ein, über die er berichtet. So kann der anwaltschaftliche Journalist zum Beispiel der Meinung sein, dass das Töten von Tieren, um diese zu verzehren, unmoralisch sei und daher das Essen von Fleisch und Fisch gesetzlich verboten werden müsse. Diesen Standpunkt bringt er dann in seine Berichterstattung ein. Um seine Haltung darzulegen, wählt er entsprechende Ausdrücke, Wörter, Fakten und Zitate bei in der Darlegung seiner Inhalte.
Im Journalismus anwaltschaftlich zu arbeiten bedeutet vor allem, sich für benachteiligte Personengruppen und Minderheiten einzusetzen – oder sogar für Individuen, die vermeintlich ungerecht behandelt wurden.14 Diesen wird dadurch eine Stimme veliehen und so die Möglichkeit gegeben, mit ihren Anliegen und Problemen in einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.15
Für die Veröffentlichung anwaltschaftlicher Artikel werden Medien herangezogen, die sich für ein bestimmtes publizistisches Ziel einsetzen und eindeutige politische und gesellschaftliche Leitlinien repräsentieren. Dazu zählen zum Beispiel politische Magazine oder Umweltzeitschriften.
Eine Grundregel des Journalismus ist die Objektivität. Advocacy Journalism dagegen ist nicht objektiv, sondern subjektiv.16 Da er nicht neutral ist, zählt er zum Meinungsjournalismus.
Die subjektive Sichtweise, aus der der Advocacy Journalist berichtet, beruht auf seinen persönlichen Überzeugungen. Sie entspringt einer besonderen Anteilnahme, die beispielsweise politisch oder sozial motiviert sein kann. In diesem Zusammenhang steht der Advocacy Journalism dem klassischen Genre des investigativen Journalismus sehr nahe. Wie der investigative Journalismus will der Advocacy Journalism bestimmte Sachverhalte bekannt machen oder zum Beispiel Unrechtmäßigkeiten aufdecken.
Advocacy Journalism berichtet zwar aus einer subjektiven Perspektive, aber er arbeitet mit seriös und gründlich recherchierten Inhalten, die auf nachprüfbaren Fakten beruhen.
Diesem Journalismus ist die aufklärerische Absicht immanent, Missstände in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft anzusprechen. Er kann somit die breite Öffentlichkeit oder spezielle Öffentlichkeiten für bestimmte Themen sensibilisieren, für sie einen Resonanzboden schaffen und als Steigbügelhalter für den investigativen Journalismus dienen. Dieser verstärkt durch intensive verdeckte Recherchen die Wirkung des Advocacy Journalism und klärt die Öffentlichkeit über gesellschaftlich relevante Themen auf oder deckt Skandale in einem höheren Maße auf, als der Advocacy Journalism es vermag.
Da Advocacy Journalism Minderheiten und benachteiligten Personen eine Stimme veleiht, besteht die Chance, dass die erhöhte Aufmerksamkeit zum Beispiel die Politik dazu veranlasst, die Situation dieser gesellschaftlichen Gruppen zu verbessern.
Die Wurzeln des Advocacy Journalism liegen in den USA, ebenso wie die vieler anderer journalistischer Genres.
1827 wurde das Freedom’s Journal als erste Zeitung in den USA von afrikanisch stämmigen Amerikanern gegründet und betrieben.17 Diese Publikation verstand sich als Anwalt der Interessen Farbiger und gilt damit als Begründer des Advocacy Journalism. Die Idee der anwaltschaftlichen Berichterstattung wurde 1910 von The Crisis, dem offiziellen Organ der National Association for the Advancement of Colored People (Nationale Organisation für die Förderung farbiger Menschen, NAACP), wieder aufgenommen. Die Gründer dieses Blattes bezeichnen sich als Erben des vom Freedom’s Journal initiierten Advocacy Journalism.
Journalisten, die anwaltschaftlich auftraten, wurden als „Muckraker“ („Mistkratzer“, „Nestbeschmutzer“) bezeichnet.18 Diese Bezeichnung tauchte am Anfang des 20. Jahrhunderts für US-amerikanische Journalisten und Schriftsteller auf, die als Vertreter des modernen Advocacy Journalism und des investigativen Journalismus gelten können. „Sie enthüllten soziale Missstände, schmutzige Geschäfte, Filz, Vetternwirtschaft und Korruption in Wirtschaft und Politik. Der damalige US-Präsident Theodore Roosevelt bezeichnete diese Journalisten als muckraker, nach einer Figur in John Bunyans Werk The Pilgrim‘s Progress, dem Man with Muckrake (Mann mit der Mistgabel), ….“ Die Protagonisten waren Journalisten und Schriftsteller wie zum Beispiel Nellie Bly, Ida M. Tarbell, Lincoln Steffens, Upton Sinclair, George Seldes und I.F. Stone.19
Advocacy Journalism wird heutzutage von zahlreichen Medien, darunter auch Special-Interest-Zeitschriften und -Sendeformate, praktiziert. Zu den Printmedien gehören beispielsweise Libération, Charlie Hebdo und The Huffington Post.20
Die Einführung der „journalistischen Genres“ aus dem angelsächsischen Sprachraum als weitere methodisch-konzeptionelle Herangehensweise an die journalistische Arbeit erweitert die Kategorisierung der deutschsprachigen Publizistik.
Ob der „Advocacy Journalism“ dabei als eigenständiges Genre aufgefasst werden kann, ist zu diskutieren, denn die Übergänge zu anderen Genres sind unscharf. Schließlich kann „Advocacy Journalism“ sowohl als eine dem investigativen Journalismus vorgeschaltete Herangehensweise interpretiert als auch dem Meinungsjournalismus, als eine weitere Ausprägung, zugerechnet werden.
Es besteht das Risiko, dass durch die Einführung des Begriffs „Advocacy Journalism“ bei den Verfassern und Rezipienten von Medieninhalten eine klare Abgrenzung zum Qualitätsmerkmal „investigativer Journalismus“ nicht stattfindet und die Grenze zwischen den beiden Begriffen unscharf wird. Der Nachteil wäre dann, dass beim investigativen Journalismus als klassischem Genre das Prädikat „Qualitätsjournalismus“ vor allem bei den Rezipienten herabgesetzt wird.
Darüber hinaus verfügt der Journalismus bereits über zahlreiche meinungsäußernde Darstellungsformen, beispielsweise der Leitartikel, der Kommentar, die Kritik. Im Vergleich zu diesen bietet das Genre Advocacy Journalism zu wenig Profil und zu wenig Eigenständigkeit, um damit für einen neuen thematisch-motivischen Inhalt zu stehen, der mit dieser Variante des Journalismus zum Rezipienten transportiert werden könnte.
Die Etablierung des angelsächsischen Begriffs „Advocacy Journalism“ in der deutschsprachigen Medienlandschaft führt zu einer Boulevardisierung des Verständnisses von Journalismus. Die Bereiche, die der Advocacy Journalism publizistisch bearbeitet, sind durch den investigativen Journalismus und den Meinungsjournalismus bereits abgedeckt.
Die Einführung des Genres „Advocacy Journalism“ muss als Marketingmaßnahme bezeichnet werden, bei der ungewiss ist, ob neue Rezipientengruppen erschlossen oder vorhandene stärker an Medien gebunden werden können. Dabei ist es ratsam, im Bereich des Journalismus hauptsächlich durch hohe Qualität der Berichterstattung die Aufmerksamkeit der Rezipienten zu gewinnen und gegen andere Darstellungsformen von Inhalten ins Feld zu ziehen. Zu den wichtigsten Maßnahmen zählt dabei insbesondere eine intensive und sorgfältige Recherche, um die Qualität des journalistischen Arbeitens zu erhalten bzw. zu erhöhen.
Dies vorausgesetzt, kann der Advocacy Journalism lediglich als weitere Bezeichnung für den investigativen Journalismus bzw. für meinungsäußernde Darstellungsformen stehen.
DFJV Deutsches Journalistenkolleg GmbH, http://www.journalistenkolleg.de/lexikon-journalismus/anwaltschaftlicher-journalismus.
Wikipedia, the free encyclopedia, http://en.wikipedia.org/wiki/Advocacy_
journalism; http://en.wikipedia.org/wiki/Muckraker.
14 Siehe der Fall Gustl Mollath.
15 Vgl. zu den Ausführungen in den ersten drei Absätzen die Webseite des DFJV Deutsches Journalistenkolleg: http://www.journalistenkolleg.de/lexikon-journalismus/anwaltschaftlicher-journalismus [Zugriff 21.02.2015].
16 Vgl. die Webseite des DFJV Deutsches Journalistenkolleg; siehe Fußnote 1.
17 Vgl. Wikipedia: „Advocacy Journalism“, http://en.wikipedia.org/wiki/Advocacy_journalism [22.02.2015].
18 Siehe Beiträge „Muckraking“, „Investigative Journalism“ „Investigativer Journalismus“ in diesem Band.
19 Vgl. Wikipedia: „Muckraker“, http://en.wikipedia.org/wiki/Muckraker [22.02.2015].
20 Vgl. Wikipedia: „Advocacy Journalism“ [22..02.2015].
100 Jahre seit Beginn des ersten Weltkriegs. 75 Jahre seit dem Ausbruch des Zweiten. 25 Jahre seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der europäischen Ost-West-Trennung. 2014 war von einer Fülle an gesellschaftlich und politisch relevanten Jubiläen geprägt.
Dementsprechend kam es auch zu einer Vielzahl von geschichtsjournalistischen Beiträgen, die sich dieser historischen Themen und Ereignisse annahmen. Aber genauso nutzten Journalisten die Vielzahl an Gedenktagen und Folgeereignissen, um vergangenes und gegenwärtiges Geschehen zu verknüpfen und in Abhängigkeit voneinander zu diskutieren. Diese Beiträge werden im englischen Sprachraum unter der Genre-Bezeichnung „Commemorative Journalism“ zusammengefasst.
In Deutschland wurde diese Art der Berichterstattung bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs als fixer Bestandteil journalistischer Publikationen etabliert.21 Während zu Beginn noch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der gerade zu Ende gegangene Weltkrieg thematische Schwerpunkte waren, kam es in den letzten Jahren zu einem regelrechten Boom an kommemorativen Beiträgen.22
Ob Sport, Politik, Kultur oder Wirtschaft: Jahres-, Feier- und Todestage werden genauso wie Nachrufe oder Folgeereignisse als Ausgangspunkt für die inhaltlich und thematisch unterschiedlichsten Beiträge genutzt.23 Und diese Entwicklung betrifft nicht nur den deutschsprachigen Raum. Kommemorative Medieninhalte in all ihren Formen und Ausprügungen und damit der „Erinnerungs-“ oder „Gedenkjournalismus“ sind international en vogue.24
„Fast täglich selektiert und thematisiert er [Anmerkung des Autors: Journalismus] aufgrund eines aktuellen Gedenkdatums (wie Jubiläen, Jahresoder Todestage) ‚erinnerungswürdige‘ Ereignisse und Personen aus Politik, Geschichte oder Gesellschaft“ wie die Kommunikationswissenschaftlerin Ilona Ammann bereits 2010 schrieb.25 Das ist fast schon paradox, da Journalismus sich doch gerade durch die Information der Öffentlichkeit über neue und aktuelle Geschehnisse definiert und nicht bereits Bekanntes wiederholt.26 Warum erfreut sich dieses Genre also so großer Beliebtheit?
Die gesellschaftliche Entdeckung der Vergangenheit und die Diskussion ihrer Bedeutung für die Gegenwart ist in vielerlei Hinsicht drauf zurückzuführen, dass Gesellschaften, die während des 20. Jahrhunderts große Transformationsprozesse durchliefen – nicht nur Deutschland, sondern auch weite Teile Osteuropas, Spanien und Portugal – diese Ereignisse nunmehr mit ausreichender sowohl zeitlicher als auch emotionaler Distanz aufarbeiten und diskutieren können.27 Der Journalismus bietet für diese Debatten willkommene öffentliche Plattformen, um vergangene Helden oder Schurken genauso wie große Triumphe und bittere Niederlagen darzustellen.28
Dadurch ist Commemorative Journalism nicht nur fixer Bestandteil von Berufsalltag und -praxis der Journalisten, mit vielen Herausforderungen und Chancen, sondern erfüllt auch spezifische gesellschaftliche Funktionen.29
Im Gegensatz zum regulären Geschichtsjournalismus wird im Commemorative Journalism Vergangenes von Journalisten explizit dafür genutzt, Erklärungen für aktuelle Ereignisse zu finden,30 die ohne Information zum oder Auseinandersetzung mit dem ursprünglichen Geschehen nicht zu verstehen sind.31 Diese im weitesten Sinne als Folgeereignisse zu definierenden Begebenheiten weisen eine Spanne auf von gänzlich neuen Entwicklungen, die auf Vergangenes verweisen, bis hin zu im Voraus planbaren Berichten zu Jahrestagen oder Feiertagen.
Die mediale Darstellung von vergangenen Ereignissen stellt somit eine Aktualisierung und erneute (Re-) Positionierung eben dieser Ereignisse im Kontext der jeweils aktuellen gesellschaftlichen Situation dar.32 Die daraus resultierende journalistische Erzählung kann aus Sicht des Kommunikationswissenschaftlers Horst Pöttker dabei drei spezifische Formen annehmen:33
Die genetische Erzählweise
: Die gegenwärtige Situation ist die Folge bestimmter vergangener Ereignisse („Heute ist es so, weil gestern eben das passierte“).
Die kritische Erzählweise
: Die Vergangenheit wird entweder aus Position der Gegenwart heraus als positives („damals war alles besser“) oder negatives („damals war alles schrecklich“) Referenzmuster genutzt.
Die analogische Erzählweise
: Hervorhebung von Ähnlichkeiten von Vergangenheit und Gegenwart („Heute ist es so, gestern war es ähnlich“).
Journalisten betten also in ihren Beiträgen Vergangenes in gegenwärtige Geschehnisse ein, um unterschiedliche gesellschaftliche Bezugsrahmen zu spannen.34 Ein Beispiel für die genetische Erzählweise ist die Entwicklung von Anti-Terror-Gesetzen infolge der Terroranschläge am 11. September 2001 in den USA. Die diesbezügliche Debatte ist nur dann zu verstehen, wenn grundlegende Informationen über die Ereignisse von 9/11 präsentiert oder referenziert werden.35 Jedwede Diskussion über eine veränderte oder verändernde Rechtslage, die Journalisten aufzeigen möchten, ist an die Darstellung und somit Aktualisierung der Terroranschläge gekoppelt.
Allerdings bietet der Gedenkjournalismus auch die Chance, Ereignisse aus der Vergangenheit neu zu deuten und bestehende Interpretationsmuster mit aktuellen gesellschaftlichen Wissens- und Bedürfnislagen abzugleichen.
Da Gesellschaften einem permanenten Wandel unterworfen sind, verändern sich damit auch die in ihnen gültigen Werte und Einstellungen. Daher findet im Journalismus die Beurteilung jeder Gegenwart und Vergangenheit aus der Perspektive einer spezifischen Gegenwart statt.36 Um das eingeführte Beispiel fortzuführen und mit der kritischen Erzählweise zu verknüpfen: Ein zu einem gewissen Zeitpunkt als notwendig erachtetes Gesetz im Kampf gegen terroristische Bedrohungen kann später als die manipulative Implantation von drakonischen Einschränkungen bezüglich Bürger- oder Freiheitsrechten wahrgenommen werden.37 Und diese Ansicht kann dementsprechend in journalistischen Beiträgen dargelegt werden.
Zu guter Letzt bietet Commemorative Journalism Journalisten die Chance, die verschiedensten Gruppen und deren soziale Position darzustellen, aufzuarbeiten und Analogien zu bilden.38 Täter und Opfer, Experten und Laien, Politiker und Bürgerrechtler, Wirtschafts- und Arbeitnehmerverteter – alle betroffenen Gruppen können im Rahmen der Berichterstattung ihre – oftmals auch stark personalisierte – Position zu einem vergangenen Ereignis wiedergeben und thematisieren, ob und welche Konsequenzen es für sie hat(te).39 Es kommt auch hier zu einer relativen Positionierung eines Individuums zu einem Ereignis und deren journalistischer Darstellung. Um das Fallbeispiel 11. September beizubehalten und abschließend eine analogische Erzählweise zu illustrieren, kann im Rahmen der Berichterstattung über individuelle Erfahrungen von Muslimen in Europa und den USA hinsichtlich Xenophobie nach 9/11 auf historische Formen der Fremdenfeindlichkeit verwiesen werden.40
Zusammenfassend hat der Commemorative Journalism also drei explizite Funktionen: relevante Ereignisse im öffentlichen Diskurs halten, damit Individuen ihre Gegenwart verstehen, Erklärungen für die gesellschaftliche Gegenwart bestimmter Gruppen zu ermöglichen und vergangene Ereignisse aus der Gegenwart heraus zu beurteilen. Diese Funktionen können in Form von drei zu unterscheidenden Erzählweisen – genetisch, kritisch und analogisch – in journalistischen Produkten abgebildet werden.
Commemorative Journalism ist ein breites Feld mit gesellschaftlicher Relevanz aufgrund seiner Orientierungs- und Legitimierungsfunktionen. Dies führt auch dazu, dass das Genre inhaltlich oftmals mit großen politischen oder gesellschaftlichen Ereignissen in Verbindung gebracht wird. Aber es umfasst nicht nur Beiträge, die den Zweiten Weltkrieg, den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 oder die Terroranschläge von 9/11 thematisieren.41 Tatsächlich lassen sich eine Vielzahl unterschiedlichster Artikel in Generalund Special-Interest-Medien diesem Genre zurechnen. 42
So existieren im Bereich des Erinnerungsjournalismus genauso Beiträge zu Sport- oder Kulturereignissen wie Texte oder Sendungen zu politischen oder wirtschaftlichen Geschehnissen. Man denke nur an die regelmäßige mediale Thematisierung der Leistungen von Jesse Owens bei den olympischen Spielen in Berlin 1936, des Todes von Formel-1-Superstar Ayrton Senna im Grand Prix von Imola 1994 oder auch der Premiere des Films „Star Wars“ 1977. Unabhängig von der inhaltlichen Verortung kommt es bei den unterschiedlichsten Gedenktagen, thematisch ähnlichen oder gar direkt verknüpften Folgeereignissen in den Medien immer wieder dazu, dass Themen erneut auftauchen oder auch neu präsentiert und kontextualisiert werden.
Dies zeigt aber gleichzeitig die Problemfelder, die mit dieser Art von Berichterstattung einhergehen. Auch wenn Commemorative Journalism als eigenes Genre behandelt wird, ist es notwendig, dass Journalisten, die in diesem Feld arbeiten, über Fachwissen in den jeweils übergeordneten Disziplinen verfügen und Kenntnisse über die Funktionsweise des Genres mitbringen. Dies bedeutet zusätzlichen Arbeitsaufwand, umfangreiche Auseinandersetzung mit bestimmten Themen und einschlägige Recherche mit stark historisch orientierten Blickwinkel.
Ein doppeltes Risiko für tagesaktuelle Publikationen und Sendungen. So kann eine umfangreiche Recherche für einen Beitrag zu einem vergangenen Ereignis, auch wenn es von einem Jahres- oder Feiertag begleitet wird, unter Umständen aufgrund ungeplanter tagesaktueller Ereignisse gestrichen werden. Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist es oftmals eine schwierige Frage, welche und wie viele der wertvollen redaktionellen Ressourcen für solche Artikel bereitgestellt werden können. So äußerte sich ein Chefredakteur einer österreichischen Qualitätszeitung verbittert darüber, dass aufgrund der Atomkraftwerk-Katastrophe 2011 in Japan eine langer Hand vorbereitete Sonderbeilage zu einem Gedenktag nicht publiziert werden konnte. 43
Genauso bieten aktuelle Folgeereignisse Herausforderungen für die journalistische Praxis. Es muss sichergestellt sein, dass vergangene Ereignisse präzise dargestellt werden, wenn gegenwärtige Ereignisse darauf referenzieren sollen oder in Verbindung gebracht werden. Das zeitnahe Verifizieren der dafür notwendigen historischen Quellen wird oftmals durch räumliche und/oder kulturelle Distanzen erschwert. Zelizer und Allan argumentieren, dass kulturelle und historische Umsicht notwendig ist, um nicht Missverständnisse zu kreieren – was jedoch aufgrund von Sprachbarrieren und redaktionellen Strukturen nicht immer gewährleistet werden kann.44
Im Gegenzug bietet Commemorative Journalism Journalisten und Medien aber zugleich hochgradig interessante Möglichkeiten, um relevante Themen aufzugreifen und zu präsentieren. Sowohl die enge Verknüpfung von thematischer Ausrichtung und notwendigem Wissen als auch der Bezug zu bestimmten Ereignissen macht das Genre unter anderem für Lokal- und Regionaljournalismus relevant. Auf lokaler und regionaler Ebene können bestimmte Geschehnisse und Folgeereignisse diskutiert werden, die spezifische Personengruppen oder Lokalitäten betreffen, aber nicht von überregionalem Interesse wären. So zeigt die Analyse von Jill E. Edy zu den Watts-Unruhen 1965 und der Chicago Democratic National Convention 1968, dass auch vergleichsweise kleinere Ereignisse in den jeweiligen Medien dauerhaft mit aktuellen Entwicklungen in Verbindung gebracht werden können und dadurch von anhaltendem Interesse für die jeweiligen Gemeinschaften sind und auch bleiben.45 Dies kann in der Redaktionspraxis genutzt werden, um sich von anderen, überregionalen Anbietern zu distanzieren und Mehrwert für lokale und regionale Konsumenten zu bieten.
Genauso können mittels Commemorative Journalism Themen behandelt werden, die unterschiedlichste Publika ansprechen, da eine Vielzahl an Inhalten an vergangene Ereignisse angedockt werden kann. Carolyn Kitch zeigte 2008 in ihrer Publikation zum Subgenre „Anniversary Journalism“/ „Gedenktagsjournalismus“, wie vielfältig sich die Angebotsmöglichkeiten gestalten: Sport, Mode und Kulinarik können genauso als Ausgangsbasis dienen wie Politik oder Wirtschaft und auch miteinander verknüpft werden. So können sportliche Leistungen wie jene von Jesse Owens im Kontext zu politischen Themen werden.
Zusätzlich bietet Commemorative Journalism hinsichtlich der Arbeitsstrukturierung interessante Aspekte. Ein expliziter Vorteil besteht darin, dass Themen in diesem Genre oft planbar sind und spezifisch platziert werden können. Zwar ist dies auch, wie dargestellt, ein potenzieller Risikofaktor. Es ermöglicht aber eine detaillierte Quellenrecherche, eine bewusstere Auswahl von Informationen und eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit einem Thema, als es tagesaktuelle Geschehnisse ohne Referenzereignisse zulassen würden: Unterschiedlichste Archivquellen, Experten und Interviewpartner können für die Berichterstattung herangezogen werden. Dies ermöglicht eine Trennlinie zu rein gegenwartsbezogenen Themen, ohne in den Special-Interest-Bereich des Geschichtsjournalismus zu fallen. Auch bietet sich die zyklische Struktur von Gedenkanlässen dazu an, Themen mit Materialien aus den eigenen Archiven zu kontrastieren oder zu unterfütteren. So können Veränderungen anhand eigener Archivbeiträge, aber auch öffentlich verfügbarer Daten und Informationen deutlich gemacht werden.
Auch bietet sich Commemorative Journalism an, Gesellschaftsmitglieder auf vielfache Art und Weise einzubeziehen. Die gestalterischen Möglichkeiten reichen von Kommentaren und der Darstellung von historischen Artefakten – man denke nur an die Erbstücke, Dokumente oder Bilder im Besitz von Privatpersonen – über Interviews von Zeitzeugen oder Experten bis hin zur Diskussion mit den eigenen Rezipienten über unterschiedlichste Kanäle – vom klassischen Leserbrief hin zur Social-Media-Interaktion.
In den letzten Jahren sind aus den Medien verstärkt Stimmen zu hören, dass die vergangenheitsbezogene Berichterstattung überhandnimmt und die Probleme der Gegenwart in einem Schwall von Jahrestags- und Gedenktagsberichten untergehen.46 Das Genre Commemorative Journalism ist somit auch ein heftig umstrittenes, dessen aktuelle Prominenz nicht von allen Seiten positiv beurteilt wird.
Dabei darf jedoch nicht ausgeblendet werden, dass das Genre eine Reihe notwendiger gesellschaftlicher Funktionen erfüllt. Commemorative Journalism stellt sicher, dass vergangene Ereignisse in der gesellschaftlichen Debatte weiter thematisiert werden, gibt auch Individuen die Chance, ihre gegenwärtige Position besser zu verstehen und macht fortlaufende gesellschaftliche Veränderungsprozesse sichtbar.
Das Genre hat auch Auswirkungen auf die journalistische Tätigkeit selbst. Die Arbeit an Erinnerungs- und Gedenkbeiträgen führt dazu, von den gewohnten Techniken, die sich in den jeweiligen Ressorts des „regulären“ Journalismus etabliert haben, abzuweichen. Sowohl die verstärkte Notwendigkeit zur Archivrecherche als auch Arbeit, die auf einen Stichtag hin langfristig geplant und vorbereitet werden muss, entsprechen nicht immer der journalistischen Arbeitslogik und stellen somit Herausforderungen dar.
Dafür bietet das Genre aber die Möglichkeit zur Differenzierung am Markt. Da es nicht an spezifische Ressorts gebunden ist, können unterschiedliche Publika angesprochen und abwechslungsreiche Inhalte präsentiert werden. Dies macht Commemorative Journalism für Special-Interest-Medien genauso wie für lokale und regionale Anbieter interessant, da deren Strukturen und Marktpositionen für diese Art der Beiträge besonders geeignet sind.
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21 Vgl. Bösch (2010), S. 48 f.
22 Vgl. Ammann (2010), S. 161.
23 Vgl. Kitch (2006), S. 96 ff.
24 Vgl. Langenbacher (2010), S. 16 ff.
25 Vgl. Ammann (2010), S. 153.
26 Vgl. Schudson (2011), S. 171 ff.
27 Vgl. Langenbacher (2010), S. 16.
28 Vgl. Alexander (2006), S. 80 ff.
29 Vgl. Arnold, Hömberg und Kinnebrock (2010), S. 7; Edy (1999), S. 72.
30 Vgl. Kitch (2011), S. 67 f.
31 Vgl. Ammann (2010), S. 161.
32 Vgl. Ammann (2010), 162 f.; Edy (2006), S. 7 f.
33 Vgl. Pöttker (2010), S. 34.
34 Vgl. Edy (1999), S. 74.
35 Vgl. Bartov (2010), S. 147 ff.
36 Vgl. Edy (1999), S. 73; Kitch (2011), S. 67.
37 Vgl. Schudson (2011), S. 51.
38 Vgl. Ammann (2010), S. 163.
39 Vgl. Kitch (2011), S. 65.
40 Vgl. Karim (2011), S. 147 ff.
41 Vgl. Edy (2006), S. 6, oder Hömberg (2010), S. 18 ff.
42 Vgl. Hömberg (2010), S. 27 f.; Kitch (2011), S. 68.
43 Aussage aus einem narrativen Interview aus dem laufenden Dissertationsprojekts des Autors. Interview fand mit dem Chefredakteur der Außenpolitik-Redaktion einer österreichischen Qualitätszeitung am 24.02.2012 in der Redaktion in Wien statt.
44 Vgl. Zelizer und Allan (2011), S. 4.
45 Vgl. Edy (2006), S. 191.
46 Vgl. Ammann (2010), S. 153 f.
Im täglichen Nachrichtengeschäft basieren Informationen oftmals auf Pressemitteilungen von Behörden oder Unternehmen. Wenn die PR-Mitteilungen nicht vollständig, wie vom Absender eingereicht, abgedruckt werden, dann werden sie in der Regel mit einigen Anpassungen und gegebenenfalls mit zusätzlichen Informationen für das entsprechende Medium aufbereitet. Dabei reicht im besten Fall ein Griff zum Telefon oder eine Anfrage per E-Mail. Der Journalist muss den Schreibtisch hierfür nicht mal verlassen.
Anders verhält es sich beim sogenannten Enterprise Journalism – übersetzen könnte man den Begriff mit „unternehmungslustiger“ oder „wagemutiger Journalismus“. Hierbei verarbeitet der Journalist keine Pressemitteilungen oder fremde Informationen aus Pressekonferenzen, sondern betreibt vor Ort Recherchen. Ziel ist, ein eigenes Thema auf Basis der eigenen Informationsbeschaffung umzusetzen. Gemeint ist damit nicht, bloß über ein Ereignis zu berichten, indem der Journalist am Ort des Geschehens Eindrücke gewinnt oder Besucher interviewt. Konkret geht es beim Enterprise Journalism darum, Hintergründe zu beleuchten und Sachverhalte aufzudecken oder dem Konsumenten sogar das Gefühl zu geben, bei der Recherche dabei gewesen zu sein.
Das naheliegende Format ist deshalb eine recherchierende Hintergrundreportage. Ein zentraler Bestandteil dieses journalistischen Genres sind investigative Elemente. Aus diesem Grund wird Enterprise Journalism auch gerne mit investigativem Journalismus47 gleichgesetzt. Die Recherchen sind also aufklärerisch, untersuchend und eben hintergründig. Das Ergebnis sind dann manchmal Scoops, also exklusive, reißerische Meldungen. Exklusiv sind solche Beiträge deshalb, weil die zugrunde liegenden Informationen keine öffentlich durch eine Pressemitteilung oder -konferenz verbreiteten Neuigkeiten sind, sondern auf eigenen Rechercheergebnissen basieren.
Das weiß auch das Flaggschiff unter den Tageszeitungen in den USA, die New York Times. Dean Baquet, NYT-Chefredakteur, versucht seit einiger Zeit, den Tanker in die Richtung zu bewegen, mehr Enterprise-Geschichten auf der Seite 1 zu platzieren. Drei bis vier Top-Stories sollen auf diesem journalistischen Genre basieren, fordert er.48
In Deutschland hat sich das investigative Nachrichtenmagazin Der Spiegel lange Zeit damit hervorgetan, Beiträge auf diese Art zu veröffentlichen. Inzwischen arbeiten aber auch andere Rechercheeinheiten derart investigativ und hintergründig, zum Beispiel die Kooperation des NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung.
Doch dieser journalistische Ansatz ist im Alltag keine Normalität, was vor allem auf knappe Ressourcen zurückzuführen ist. Eigene Themen zu setzen (Stichwort Agenda-Setting), eine Hypothese zu entwickeln, vor Ort zu recherchieren, wie im Journalismus üblich Fakten doppelt zu überprüfen und letztendlich die Geschichte umzusetzen, das alles ist mit einem hohen Zeitaufwand und somit auch mit hohen Kosten verbunden. Die muss sich ein Medium erst einmal leisten können. Es ist also wenig verwunderlich, dass Recherchebündnisse wie jenes des NDR, WDR und der SZ entstehen und eine Top-Story gemeinsam produziert wird.
Obwohl oder gerade weil Enterprise Journalism nicht zum journalistischen Alltag gehört, setzen auch Aus- und Weiterbildungseinrichtungen gezielt darauf, (angehende) Journalisten hierfür auszubilden. Die Indiana University Bloomington etwa bietet spezielle Kurse zu diesem Genre an49 und auch das renommierte Journalistenprogramm der Nachrichtenagentur Thomson Reuters legt Wert darauf, „Fähigkeiten im Enterprise Journalism zu entwickeln“50. Solche Fähigkeiten sind auch dringend notwendig. Die Reportage gilt nämlich als eine Königsdisziplin im Journalismus, die nicht nur aufwendig in der Recherche und in der journalistischen Umsetzung ist, sondern auch bis ins Detail stimmig sein muss. Tauchen Unstimmigkeiten auf, werden dem Journalisten schnell Schlampigkeit vorgeworfen und auch die Glaubwürdigkeit leidet darunter.
Für dieses Problem existiert seit ein paar Jahren ein prominentes Beispiel: René Pfister, Journalist des Magazins Der Spiegel, erhielt für seine Reportage „Am Stellpult“ über den Bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer im Jahr 2011 den Henri-Nannen-Preis in der Kategorie Reportage. Im Nachhinein stellte sich aber heraus, dass er – anders als die entsprechende Stelle im Text vermuten ließ – gar nicht im Keller von Seehofer war, in dem dieser offenbar am Pult seiner Modelleisenbahnanlage stand und Züge dirigierte. Pfister begründete die Textstelle mit seinen Recherchen und Aussagen Dritter. Weil seine Reportage aber einen anderen Eindruck vermittelt – nämlich den, dass er selbst vor Ort gewesen ist –, wurde ihm der Preis aberkannt51. Noch deutlicher als an diesem Beispiel kann kaum gemacht werden, welchen Stellenwert eine sorgfältige Arbeit im Enterprise Journalism hat.
Übrigens würdigt nicht nur der Henri-Nannen-Preis Arbeiten in diesem Genre, sondern beispielsweise auch der bekannte Online Journalism Award der Online News Association.52 Bis vor wenigen Jahren hieß die entsprechende Kategorie sogar wie das Genre selbst, während es heute nur noch die Kategorie mit dem Namen Investigative Journalism gibt.
Enterprise Journalism ist eine Besonderheit, weil er alle journalistischen Fähigkeiten erfordert: Der Autor sucht sich – zum Beispiel aufgrund aktueller Trends oder eigener Beobachtungen ohne aktuellen Bezug – ein Thema, sucht sich hierfür entsprechende Primär- und Sekundärquellen und begibt sich in die Vor-Ort-Recherche. Er fasst unter Umständen nochmals nach, prüft aber in jedem Fall alle Aussagen und Beobachtungen und setzt den Beitrag dann letztendlich – meist als Reportage – unter Beachtung journalistischer Qualitätskriterien um.
Vor allem die aufwendige Recherche, aber auch die Themensuche, die bei extern eingereichten Pressemitteilungen wegfällt, machen solche Beiträge zu einer kostenintensiven Angelegenheit. Redaktionen müssen somit abwägen, ob sich die Kosten für eine womöglich exklusive, aufklärerische und hintergründige Reportage lohnen oder ob der Ertrag (Verkaufssteigerung, höhere Quoten, Image-Aufwertung etc.) dafür zu gering ist.
Bloomgarden-Smoke, K. (2015): NYT Executive Editor Dean Baquet Makes Use of the Name ‚Dean‘, in: The Observer, http://observer.com/2015/02/nyt-executive-editor-dean-baquet/#ixzz3UTnUS1Z4 [04.03.2015].
Frankfurter Allgemeine Zeitung / dpa (2011): Jury zieht Auszeichnung für Pfister zurück, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/henri-nannen-preis-jury-zieht-auszeichnung-fuer-pfister-zurueck-1636408.html [26.02.2015].
Indiana University Bloomington (2015): Enterprise Journalism, http://journalism.indiana.edu/undergraduate/specialization-areas/enterprise-journalism/ [11.03.2015].
Online News Association (2014): Online News Awards Categories, http://journalists.org/awards/categories/#neuharth [13.03.2015].
Thomson Reuters (2015): Reuters Journalism Program, http://careers.thomsonreuters.com/Students/Bachelors/Europe/Reuters-Journalism-Program/ [11.03.2015].
47 Siehe die Beiträge „Investigative Journalism“ und „Investigativer Journalismus“ in diesem Band.
48 Vgl. Bloomgarden-Smoke (2015).
49 Vgl. Indiana University Bloomington (2015).
50 Vgl. Thomson Reuters (2015)
51 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung / dpa (2011).
52 Vgl. Online News Association (2014).
Innovation – ein reichlich abgegriffenes Schlagwort, das in Wirtschaft und Politik gerne verwendet wird, um Zukunftsorientierung, Fortschritt und Erfolg zu signalisieren. Dabei ist Innovation jenseits des inflationären und oft lärmenden Wortgebrauchs tatsächlich der Motor jeglicher gesellschaftlicher Entwicklung, ganz gleich, ob in Technik oder Medizin, in Theater oder Sozialpolitik oder im Fußball. Angesichts der unbestrittenen Bedeutung von Innovation für die gesamte Gesellschaft muss erwartet werden, dass Innovation auch als Thema journalistischer Berichterstattung von Belang ist.
Dieser Beitrag definiert zunächst (1) kurz das Themengebiet Innovation und geht (2) auf den Zusammenhang zwischen Innovation und Journalismus ein. Anschließend (3) werden die zentralen Prinzipien des Innovationsjournalismus – Ganzheitlichkeit und Prozesshaftigkeit – erläutert. Wie Innovationsjournalismus in der deutschen Medienpraxis stattfindet, ist Thema des nachfolgenden Abschnitts (4), bevor auf die Probleme und Herausforderungen (5) des Innovationsjournalismus eingegangen wird.
Hier wird unter „Innovationsjournalismus“53 keine eigenständige journalistische Fachdisziplin, keine Fachjournalistik, verstanden – weder eine, die je existiert hat oder heute existiert, noch eine, die es in Zukunft zu entwickeln gilt. So wird sich auch kaum ein Journalist als Innovationsjournalist bezeichnen. Tatsächlich können es ebenso Wirtschafts- und Technikjournalisten wie Sport- oder Lokaljournalisten sein, die das Thema Innovation aufgreifen. Kurzum: „‚Innovation Journalism’ ist the intuitive name for journalism covering innovation.“54
Für den Laien ist Innovation oft gleichbedeutend mit Erfindungen. In der Wissenschaft existieren zahlreiche Definitionen für den Begriff Innovation. Gemeinsam ist den meisten, dass Innovation mit etwas Neuartigem verbunden ist und einen Veränderungsprozess bedeutet. Wegen dieser Prozesshaftigkeit kann Innovation auch nicht gleichgesetzt werden mit Erfindungen (Inventionen) oder (Produkt-) Neuheiten (Novitäten), auch wenn Inventionen und Novitäten im Innovationszusammenhang eine wichtige Rolle spielen – so können Innovationen als Erfindungen mit Markterfolg betrachtet werden.55
Eine der ersten und auch heute noch grundlegenden Definitionen des Innovationsbegriffs stammt von dem Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter (1883 – 1950). Eine besondere Leistung Schumpeters liegt darin, dass er den Begriff Innovation nicht nur (wie es auch heute noch oft geschieht) allein auf Technik bezogen, sondern bereits ganzheitlich betrachtet hat: Technische, ökonomische und auch soziale Aspekte spielen bei Innovationen eine Rolle.
„Innovationen sind technische, ökonomische oder soziale Neuerungen, die eine Änderung sozialer Praktiken beinhalten und denen von den beteiligten Akteuren kollektiv eine über kontinuierliche Anpassungsprozesse hinausgehende Neuheit zugesprochen wird. Geteilte Bedeutungsmuster sind demnach eine Voraussetzung für Neuerungen; zugleich wird die Bedeutung von Technologien, Innovationen und Märkten bzw. Wertschöpfung erst in sozialen Interaktionen konstruiert“, formuliert der Kommunikationswissenschaftler Ansgar Zerfaß.56
Soziale Interaktion konstruiert die Bedeutung von Entwicklungen: Erst wenn eine genügend große Anzahl von Menschen einer Entwicklung Bedeutung beimisst, kann sie Erfolg am Markt haben und zur Innovation werden. In diesem Zusammenhang spielt Kommunikation eine wichtige Rolle: So hat Innovationskommunikation das Ziel, den Erfolg neuer Ideen zu fördern.57
„Der Markt der Innovationen wird von den Menschen bestimmt. Natürlich kann man darüber diskutieren, ob es gute Entscheidungen sind. Dabei spielen die Medien dann eine Schlüsselrolle. Die Medien prägen das Bild der Menschen und lösen die Meinungswellen oft aus oder unterstützen sie zumindest. Die Medien sind insofern entscheidend für die Durchsetzung.“58 Das sagt Franz Miller, langjähriger Kommunikationschef der Fraunhofer-Gesellschaft – und weist damit „den Medien“, also auch den Journalisten, eine bedeutende Rolle im Innovationssystem zu, in dem sie die Akzeptanz – oder auch die Ablehnung – neuer Ideen beeinflussen.
Der interessengeleiteten (und berechtigten) Kommunikation von Unternehmen, Forschern oder Politikern, denen an der Akzeptanz ihrer Entwicklungen gelegen ist, sollte in einer Demokratie idealerweise eine unabhängige Presse gegenüberstehen, die neue Ideen und Veränderungsprozesse beobachtet und analysiert, einordnet und bewertet. Dies klingt allerdings leichter, als es in der Praxis ist.
Einer der Vordenker des Innovationsjournalismus ist der schwedische Wissenschaftler David Nordfors, der in den USA arbeitet. Nordfors ist ursprünglich Quantenphysiker und war unter anderem für die schwedische Regierungsagentur für Innovationssysteme VINNOVA tätig. Im Rahmen seiner Beschäftigung mit Innovation entwickelte Nordfors sein Konzept des „Innovation Journalism“, das er 2003 veröffentlichte.59 Nordfors war Gründungsdirektor des Stanford Center for Innovation and Communication an der Stanford University und ist derzeit Direktor von IIIJ60 – The International Institute of Innovation Journalism mit Sitz im kalifornischen Menlo Park.
„Wir müssen Technik, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vernetzen, wir brauchen Regeln, Innovation und Bildung. Derzeit sind das alles unterschiedliche Geschichten. Verschiedene Journalisten schreiben über diese Sachen, aber sie verbinden sie nicht miteinander“61, beschreibt Nordfors die Situation. Die Medien seien ebenso wie die Politik vertikal organisiert, nämlich in Ressorts. Journalisten betrachten die Welt also stets unter einem bestimmten thematischen Blickwinkel, je nachdem, ob sie im Wirtschaftsressort, im Politikressort, im Wissenschaftsressort oder im Feuilleton arbeiten. Innovation verläuft allerdings horizontal und betrifft immer mehrere Ressorts.
Die erste wesentliche Anforderung an einen Innovationsjournalismus, der seinem Namen gerecht wird, ist deshalb eine ressortübergreifende, ganzheitliche Perspektive auf den Gegenstand. In der journalistischen Praxis steht dem zum einen das übliche Ressortdenken entgegen, das häufig Innovationsthemen sogar verhindert: Ein Innovationsthema kann leicht für das Wirtschaftsressort eher ein Wissenschaftsthema und für das Wissenschaftsressort eher ein Politikthema sein – und deshalb für das eigene Ressort uninteressant.
Zudem verhindern auch die Qualifikationen der Journalisten oft eine ganzheitliche Betrachtungsweise: Ein Redakteur mit wirtschaftswissenschaftlichem Hintergrund tut sich mit den technischen Aspekten eines Innovationsthemas oft schwer, ein Naturwissenschaftler erkennt möglicherweise die ökonomischen Zusammenhänge des Themas nicht in ihrer vollen Komplexität. Franz Miller, ehemaliger Kommunikationschef der Fraunhofer-Gesellschaft, beschreibt das aus eigener Erfahrung: „Angesichts der Trennung zwischen Wirtschaftsjournalisten, die die Wirtschaft verstehen, von der Technik aber keine Ahnung haben, und Technikjournalisten, die technische Details verstehen, aber oftmals wenig Kenntnis der ökonomischen Hintergründe besitzen, fällt es den Medien häufig schwer, die Prozesse zu erkennen und zu erklären.“62
Innovationsjournalismus, der nicht nur Ausschnitte, sondern die gesamtgesellschaftliche Bedeutung einer Innovation analysieren will, ist daher auf interdisziplinäre Journalisten-Teams oder Projektredaktionen angewiesen. Dies stößt bei den Medienunternehmen nicht nur auf Begeisterung: „Das ist ein bisschen lebensfern. Wenn man mit so vielen freien Journalisten zusammenarbeitet wie wir, ist es nicht leicht, Teams zu bilden. Man kommt dann auch bei der Honorierung in Schwierigkeiten“63, sagt Gabriele Fischer, Chefredakteurin des Wirtschaftsmagazins brand eins. Diese Publikation gehört im deutschen Sprachraum zu den Medien gehört, die sich am meisten mit Innovation beschäftigen.
Die zweite grundsätzliche Forderung an eine journalistische Berichterstattung über Innovation, die nach den gesellschaftlichen Auswirkungen fragt, ist das Verständnis von Innovation als Prozess.
Tatsächlich wird Innovation in der Berichterstattung der Medien meist punktuell und eben nicht prozesshaft gesehen: Gegenstand der Berichterstattung sind meist ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung, nur ganz selten wird über den Prozess berichtet, der zu diesem Ergebnis geführt hat. Die Entwicklung neuer Ideen und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Veränderungen werden also in der Regel nicht journalistisch begleitet, sondern erst zu einem späten Zeitpunkt zu einem Thema.
Würden sie bereits während der Entstehung kontinuierlich journalistisch analysiert und bewertet, wäre das sicher nicht nur für die Meinungsbildung sowie Akzeptanz oder Ablehnung hilfreich, es könnte auch für den Innovationsprozess selbst nützlich sein, denn, darauf weist Nordfors64 hin, die Medien sind schließlich neben Forschungs- und Marketingabteilungen von Unternehmen, Hochschulen oder Behörden selbst Teil des Innovationssystems.
Kennzeichnend für Innovation ist der Aspekt des Neuen – da sollte sich das Thema Innovation als Gegenstand journalistischer Berichterstattung regelrecht aufdrängen, denn schließlich ist der Journalismus selbst ja stets auf der Suche nach „News“, also nach Neuem. Tatsächlich bringen Innovationen oft Aspekte mit, die einen hohen Nachrichtenwert besitzen: Sie können beispielsweise sehr überraschend sein oder auch mit einem hohen Risiko verbunden. Oder schlichtweg einfach nur aktuell.
Wie berichten also journalistische Medien in Deutschland über Innovation?65 Darüber gibt es bislang wenig Erkenntnisse. Andreas Viehof hat 2012 inhaltsanalytisch untersucht, wie Innovationsthemen in wichtigen deutschen Printmedien – nämlich dem Spiegel, der Zeit und der Welt am Sonntag – berücksichtigt werden.66 Wie gut und wie umfangreich wird über Innovationen berichtet? Decken die Medien die Anforderungen an das Themenfeld vollständig ab? Wie gehen Journalisten mit Innovationen als Thema um? Das waren die Fragen, denen Viehof nachgegangen ist.
Insgesamt fanden sich im Jahr 2011 181 Artikel in den drei Publikationen, die sich mit Innovation auseinandersetzen. 76 Artikel davon entfielen auf den Spiegel, an zweiter Stelle folgte Die Zeit mit 60 Artikeln und an dritter Stelle die Welt am Sonntag mit 45 Artikeln. Hinsichtlich der Frequenz, mit der die drei Medien über Innovationen berichteten, ließen sich keine Unregelmäßigkeiten feststellen.
Der Umfang der Innovationsberichterstattung fiel überraschend gleichmäßig aus: Die durchschnittliche Zeichenanzahl lag bei allen drei Medien mit jeweils rund 7.000 Zeichen sehr nah beieinander. Eine weitere Erkenntnis war, dass die Mehrzahl der Beiträge über Innovationsthemen bei allen drei Medien in den Ressorts Wissen(schaft) und Wirtschaft erschienen sind.
Untersucht wurde schließlich auch die Art der Innovationen, über die berichtet wurde. Dabei machten in allen drei Medien Produktinnovationen den größten Anteil aus (44 %), gefolgt von Prozess- (18 %) und Service-Innovationen (16 %). Über System-, Organisations-, Strategie- und soziale Innovationen wurde nur sehr selten berichtet.
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen Ergebnissen ziehen? Innovationen sind Prozesse, deren Auswirkung und Bedeutung nicht unmittelbar ersichtlich ist. Gerade deshalb müssen sie journalistisch analysiert und ausführlich dargestellt werden, damit die Mediennutzer erkennen können, wie Innovationen die Gesellschaft verändern. Dazu Viehof: „Konkret für die hier untersuchte Berichterstattung bedeutet das, dass ‚Der Spiegel‘, ‚Die Zeit‘ und die ‚Welt am Sonntag‘ gewisse Anpassungen vornehmen müssten, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Dabei geht es nicht unbedingt um inhaltliche Qualitätsansprüche. Vielmehr geht es darum, die verschiedensten Innovationen möglichst umfassend in ihrem Prozess zu begleiten und gleichzeitig all ihre relevanten Aspekte zu integrieren. Nur dadurch ließe sich eine ganzheitliche, prozessorientierte Berichterstattung etablieren, die die Abstraktheit der Innovation für die Rezipienten auflöst und sowohl ihnen als auch den Journalisten eine universelle, kritische Beurteilung ermöglicht.“67
Der Begriff „Innovation“ ist prinzipiell positiv besetzt – Innovation wird mit Fortschritt und Chancen, weniger mit Misserfolgen und Risiken gleichgesetzt.68 Daher besteht die Gefahr, dass eine Berichterstattung über Innovation – zumindest, sofern dieser Begriff fällt – bereits eine Nähe zu Public Relations besitzt, die problematisch werden kann. Eine Idee, die als „Innovation“ bezeichnet wird, besitzt möglicherweise mehr Chancen auf einen Markterfolg. Journalisten, die über neue Ideen und vermeintliche Innovationen berichten, sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein – sie sind Teil des Innovationssystems und tragen mit ihrer Arbeit (bewusst oder unbewusst) zum Erfolg oder Misserfolg bei.
Innovationen sind komplex und abstrakt – vor allem in frühen Stadien ihrer Entwicklung. Das ist eine Herausforderung an journalistische Professionalität. Gabriele Fischer, brand-eins-Chefredakteurin, formuliert es so: „Machen Sie deutlich, was das Thema mit der Lebenswelt Ihrer Leser zu tun hat. Wenn es die nichts angeht, interessiert es sie nicht.“69
Eine besondere Herausforderung ist schließlich auch die Notwendigkeit, Innovation einzuordnen und zu bewerten. Die Auswirkungen neuer Ideen sind meist im Voraus nicht absehbar – sie dennoch zu beurteilen, verlangt von Journalisten Mut und Fachkenntnis.70
Innovationsjournalismus ist nicht neu – neue Ideen wurden von Journalisten schon immer gerne als Thema aufgegriffen, denn sie sind aktuell, manchmal überraschend, häufig polarisierend.
Der Begriff Innovationsjournalismus meint jedoch eine besondere Herangehensweise an das Thema Innovation: Nicht mehr nur über Ereignisse wie neue Produkte oder neue Gesetze zu berichten, sondern die Veränderungsprozesse vom Problem bis zur Lösung journalistisch zu begleiten.
Eine wesentliche Herausforderung im Innovationsprozess ist, Bedeutung zu konstruieren. Sie entsteht durch soziale Interaktion und Kommunikation. Hier kommt der Innovationsjournalismus ins Spiel: Er berichtet über Innovationen und konstruiert ihre Bedeutung mit.
Wenn sich Journalisten dieser Aufgabe ebenso bewusst sind wie der Tatsache, dass sie selbst ein Teil des Innovationssystems sind, können sie Bedeutungsrahmen gestalten und vervollständigen. Damit erfüllen sie ihre Aufgabe und werden gleichzeitig den Anforderungen des Innovationsjournalismus gerecht – nämlich ganzheitlich und prozessorientiert zu berichten.
Ziel des Innovationsjournalismus ist, Chancen und Risiken kleiner und großer Veränderungen in Technik und Wissenschaft, in Politik, Kultur und Sport kompetent zu analysieren und dem Publikum bei der Einordnung und Bewertung solcher neuer Entwicklungen zu helfen.
Mast, C. (2005): Innovationen als Herausforderung für die Unternehmenskommunikation, in: Mast, C.; Zerfaß, A. (Hrsg.): Neue Ideen erfolgreich durchsetzen. Das Handbuch der Innovationskommunikation, Frankfurt am Main, S. 43-57.