Judith - Sabine Völker-Horns - E-Book

Judith E-Book

Sabine Völker-Horns

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Beschreibung

"1990er Jahre: Die 16-jährige Judith zieht nach einer unerwarteten Erbschaft mit ihrer Mutter Marianne nach Norddeutschland. Doch Judiths Aufbruch in ein neues Leben wird zu einer Reise in die Vergangenheit, denn das NS-Regime wirft in dem kleinen Dorf auch noch 60 Jahre später seine Schatten. Auch Ungereimtheiten in ihrer Familiengeschichte werfen Fragen auf. Judith wird schnell klar, dass sie erst alle Fragen klären muss, bevor sie sich hier heimisch fühlen kann. Warum enterbte der Sonderling Karl seine Familie und hinterließ alles Marianne? Und welche Rolle spielt die polnische Landarbeiterin Marysia Dariusz? Auf der Suche nach Antworten macht Judith eine verhängnisvolle Entdeckung."

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INHALT

EINLEITUNG

Die Sünden der Väter

1. Kapitel

Spurensuche

2. Kapitel

Neubeginn mit Hindernissen

3. Kapitel

Asche zu Asche

ANFANG und ENDE

Der Kreis schließt sich

Quellennachweis

Danksagung

EINLEITUNG

DIE SÜNDEN DER VÄTER

Er hört sie tuscheln, wispern, kichern, ahnt die Blicke, die sie sich zuwerfen.

Wenn er etwas sagt, heißt es: »Euer Onkel ist senil geworden.«

Aber er sagt nicht mehr viel.

Sie hören sowieso nicht zu.

Sie sagen: »Ja ja, ist schon recht«, und behandeln ihn ansonsten wie ein Möbelstück.

Für die kleinen Kinder in der Familie ist er ein ulkiger Alter, viel komischer als das Fernsehen. Für seinen Neffen und dessen Sohn, die auf das Erbe warten, lebt er schon viel zu lange. Nur für die alte Mathilde, die für ihn kocht und putzt, ist er mehr als nur die Aufbesserung ihrer kleinen Witwenrente. Sie hört ihm zu, obwohl sie fast taub ist. Doch nach all den Jahren sind zwischen ihnen keine Worte mehr nötig.

Oft fällt unvermittelt die Dunkelheit über ihn. Dann vergisst er, was er gerade gesagt oder getan hat. Sie lachen dann über ihn und sprechen davon, ihn in ein Altersheim zu geben.

Sollen sie lachen, jetzt, solange sie es noch können.

Es ist ihm egal.

Er bedauert nichts mehr, nur noch das eine – dass er seinen letzten Streich nicht mehr erleben wird.

Die Sünde eurer Väter soll euch treffen bis ins dritte und vierte Glied. Der Satz hat ihm gefallen, er weiß nicht mehr, warum. Aber es hat etwas mit dem zu tun, was er sich ausgedacht hat.

Er will ihnen ins Gesicht lachen, aber die Gesichter verschwimmen, und die Gegenwart und die Erinnerung gehen ineinander über. Nur Marysias Blick hält dem seinen stand. Gutes Mädchen – du kommst noch zu deinem Recht nach all den Jahren, denkt er noch.

Die Dunkelheit kommt wieder. Er weiß nicht mehr, was für einen Streich er ihnen spielen will und warum. Er hat auch vergessen, warum er mit seinem Bruder seit über vierzig Jahren nicht mehr geredet hat. Es ist nicht mehr wichtig. Er hat es einmal gewusst und getan, was getan werden musste, als die Dunkelheit noch fern war.

Er hat einen Grund gehabt, und das genügt ihm.

1. KAPITEL

SPURENSUCHE

Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Judith sprang hastig vom Sofa auf. Ihre Mutter war spät dran, und sie musste unbedingt mit ihr reden.

»Ist Post gekommen?«

Marianne stellte diese Frage immer als erstes, noch bevor sie ihre Tochter begrüßte.

Judith hatte nie verstanden, warum das so wichtig sein sollte, sich gleich nach der Arbeit auf eine Mahnung vom Gaswerk oder einen Beschwerdebrief des Hauswarts zu stürzen. Und die Briefe, die neuerdings vom Anwalt kamen, waren auch nicht gerade erfreulich.

»Ist Post gekommen?« wiederholte Marianne.

Judith wedelte mit mehreren Umschlägen.

»Der übliche Scheiß …«

»Judith, bitte!«

»Entschuldige, Mama.«

Marianne griff nach dem Packen und sah ihn durch.

»Rechnungen, Rechnungen, Rechnungen …«

Achtlos warf sie die Briefe auf den Esstisch.

»Übrigens, rate mal, wer mich heute im Büro angerufen hat.«

»Keine Ahnung«, sagte Judith lustlos.

»Etwas Wichtiges?«

»Dein Vater – und kannst du dir vorstellen, was er wollte?«

»Er ist nicht mein Vater!« fauchte Judith, »und ich wünschte, du würdest ihn nicht so nennen. Er ist ein kleiner, mieser Schleimer, und die Trennung von diesem Kerl war die beste Idee deines ganzen Lebens!«

»Fang nicht wieder davon an«, stöhnte Marianne.

»Ihr habt euch doch mal so gut verstanden.«

»Da wußte ich ja auch noch nicht …« fing Judith an, unterbrach sich aber gleich wieder.

»Na, ist ja auch egal«, fuhr sie etwas ruhiger fort.

»Also, was wollte er?«

»Er fragte mich, ob wir Nicole eine Weile aufnehmen könnten. Er hat anscheinend ein Jobangebot fürs Ausland und kann sich die nächste Zeit nicht kümmern.«

»Der ist doch sonst auch immer beruflich in ganz Deutschland unterwegs gewesen«, sagte Judith langsam.

»Macht doch keinen Unterschied, ob Deutschland oder Frankreich. Und Nicole ist doch sowieso hauptsächlich bei Oma.«

»Die wird auch nicht jünger«, sagte Marianne, »und sie hat ja nicht nur Nicole großgezogen, sondern auch noch den Opa gepflegt, bis er ins Heim kam. Und wenn du Oma in der letzten Zeit mal besucht hättest, dann wäre dir aufgefallen, daß sie vielleicht noch ihre Katze versorgen kann, aber mit Nicole komplett überfordert ist.«

Judith blieb ruhig, aber sie ärgerte sich.

»Glaubst du im Ernst, der kommt wieder, wenn du ja sagst? Du hast doch die Scheidung eingereicht. Mensch, Mama, denk doch mal nach. Er ist dich los, er ist mich los, und anscheinend ist er auch bald die Verantwortung für Nicole los. Was Besseres kann dem doch gar nicht passieren. Der gurkt mit seiner neuen Freundin durch Südfrankreich und denkt gar nicht daran, dir die Scheidung auszureden. Wär’ er ja auch schön blöd. Und du fällst natürlich mal wieder auf seine Show ’rein.

Nee, nee, das kann er mit Netti klären, oder wer auch immer grad die aktuelle Herzdame ist. Soll die sich doch um Nicole kümmern.«

»Nicole kann genauso wenig für die Umstände wie du. Wäre es denn so schlimm für dich, wenn sie eine Weile bei uns lebt?«

»Du bist doch blöder als die Polizei erlaubt!« fauchte Judith.

»Wozu läßt du dich denn scheiden, wenn du dich weiterhin vom ihm so behandeln läßt? Willst du dich echt nach allem, was sich er sich geleistet hat, auch noch mit Nicole herumärgern? Du warst doch selbst ganz froh darüber, dass sie nur jedes zweite Wochenende herkam und die übrige Zeit bei Oma war. Wie oft hast du zu Tante Carola gesagt, du würdest diese verzogene Zicke am liebsten auf den Mond schießen? Und jetzt soll sie plötzlich ganz zu uns ziehen? Verstehe ich echt nicht, aber das musst du ja selbst wissen. Aber dann ohne mich!«

»Was meinst du damit?«

Judith tat ihre Mutter fast leid, wie sie auf dem Flur stand und versuchte, wenigstens ein Stück heile Familie festzuhalten. Aber sie war wütend und verletzt, und sie konnte jetzt nicht aufhören.

»Dir schein’ ich ja nicht mehr gut genug zu sein, wenn du dir so ’ne verwöhnte Prinzessin als neue Tochter zulegen willst. Ich such’ meine Oma, dass du’s weißt. Vielleicht will die mich ja haben.«

Marianne wurde blass.

»Du weißt doch, dass deine Großeltern nicht mehr leben. Sie sind mit dem Auto verunglückt, da warst du noch gar nicht geboren.«

»Das hast du mir schon tausendmal erzählt«, gab Judith patzig zurück, »aber jedes Kind hat zwei Großmütter. Ich werd’ meine andere Oma schon ausfindig machen, und dann kannst du hier von mir aus ein Kinderheim eröffnen.«

Sie war zu weit gegangen, und sie wusste es. Aber es geschah nichts. Marianne starrte ihre Tochter nur an, ohne ein Wort zu sagen. Als das Schweigen unerträglich wurde, drehte Marianne sich um, rannte zur Toilette und schlug die Tür hinter sich zu.

Als sie nach einer Weile wieder herauskam, war sie vollkommen ruhig. Ohne Judith anzusehen, zog sie ihren Mantel an, griff nach dem Autoschlüssel und verließ das Haus.

Judith wartete noch ein paar Minuten, um ganz sicher zu sein, dass sie allein war. Dann tat sie etwas, was sie normalerweise nie gewagt hätte: sie ging an den Schreibtisch ihrer Mutter. Marianne war nicht sehr ordentlich, und deshalb hoffte Judith, sie würde es gar nicht merken. Die oberste Schublade klemmte. Judith zerrte daran, und nach einer Weile öffnete sie sich mit einem lauten Knirschen. Die Lade war ziemlich vollgestopft mit Briefen, losem Kleingeld, Büroklammern und ähnlichem. In der zweiten lagen zwei Stangen Zigaretten und einige lose Schachteln. Judith grinste. Angeblich hatte Marianne vor zwei Jahren aufgehört – wieder einmal. In der dritten Schublade, unter einem Haufen alter Zeitungen, fand sie, was sie gesucht hatte: das Stammbuch der Familie. Sie nahm es an sich und schob die Lade wieder zu. Ganz gelang es ihr nicht. Beim ebenfalls schon altersschwachen Küchenschrank wäre es ihr egal gewesen, aber Marianne durfte nicht merken, dass sie am Schreibtisch gewesen war. Sie verpasste der Lade einen Tritt, woraufhin die rechte Tür aufsprang. Judith verdrehte die Augen. Statt einer Stereoanlage hätte sich Marianne vom Weihnachtsgeld der Firma vielleicht lieber einen neuen Schreibtisch kaufen sollen. Sie schloss die Tür und ging in ihr Zimmer.

»Judith?«

Verflixt! Marianne war schon wieder da. Judith hatte gehofft, das Stammbuch durchblättern und gleich wieder zurücklegen zu können. Daraus wurde jetzt nichts. Hastig schob sie das Buch unter ihre Schulsachen. Als Marianne das Zimmer betrat, hatte sie ihr Mathematikbuch in der Hand und schien Hausaufgaben zu machen.

Marianne stand in der Tür und sah ihre Tochter hilflos an. Plötzlich schämte sich Judith. Ein verlegenes Schweigen breitete sich aus.

»Es tut mir leid«, sagte Judith schließlich.

Marianne schüttelte den Kopf.

»Es ist meine Schuld. Ich habe in der letzten Zeit einfach zu viel von dir verlangt und dich mit deinen Problemen ziemlich allein gelassen. Es tut mir leid, Judith. Ich weiß, dass du es zurzeit nicht leicht hast, und ich glaube, ich habe in den vergangenen Wochen nie richtig zugehört, wenn du mir etwas erzählt hast.«

»Ach.«

Judith war noch zu aufgewühlt, um zu merken, dass ihre Mutter sich eben bei ihr entschuldigt hatte.

Aber Marianne blieb hartnäckig.

»Was war das für eine Geschichte mit Dr. Elsenbach? Kommst du jetzt einigermaßen klar mit Physik, oder sollte ich mal in die Schule gehen und persönlich mit ihm reden?«

Dr. Elsenbach? Wieso fing Marianne jetzt von der Schule an? Judith brauchte einen Moment, um dem Gespräch zu folgen. Sie selbst war in Gedanken noch bei einem ganz anderen Thema.

»Der alte Else?« platzte sie dann heraus.

»Der ist ’n voll fieses Ekel. Willst du wissen, was der für Sprüche gebracht hat?«

Und dann sprudelte Judith los. Es war ihr jetzt egal, ob Marianne zuhörte oder nicht. Sie musste einfach loswerden, was sie in diesem Schulhalbjahr belastete. Sollte Marianne sie doch für die zahlreichen Tadel, Extraarbeiten und Fünfer bestrafen. Sie hatte andere Sorgen als ein gutes Zeugnis.

Marianne schwieg.

Judith schielte durch ihre Ponyfransen zu ihrer Mutter hoch. Schweigen war kein gutes Zeichen. Meistens war Marianne dann so wütend, dass sie keine Worte fand.

»Stimmt das, Judith?« fragte sie schließlich.

»Du kannst die Klassensprecherin anrufen, wenn du mir nicht glaubst.«

»Und Dr. Elsenbach hat gesagt …?«

Marianne fehlten die Worte.

Judith nickte.

»Er hat gesagt, früher war alles besser, da sind nur die Kinder aus gutem Hause auf die höhere Schule gekommen. Wieso ich nicht abgehen würde auf die Volksschule und dann zwei Jahre Hauswirtschaft mache – das wäre für mich gut genug …«

Sie weinte fast.

»Und dauernd fragt er, ob meine Großeltern hier Gastarbeiter waren und wie die hießen – der ist so was von ausländerfeindlich, das glaubst du gar nicht. Deswegen kann er mich auch nicht leiden, weil er denkt, wir wären Polen oder Russen. Wenn der zehn Jahre älter wäre, hätte er noch in der Nazi-Zeit unterrichten können, so wie der immer redet. Und ich weiß überhaupt nicht, was das eigentlich soll – nicht mal Claudia Schiffer ist so blond wie ich, ich könnte glatt als Schwedin durchgehen!«

»Das darf ja wohl nicht wahr sein! Montag gehe ich in die Schule und rede mit dem Schulleiter. Ich verspreche dir, das wird aufhören.«

Judith atmete auf.

»Geschichte habe ich auch in den Sand gesetzt«, gestand sie.

Marianne strich ihr eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Vergiss es einfach. Der Hohmann ist auch so einer. Nimm es nicht persönlich.«

Judith staunte.

Mariannes Stimmungen wechselten rascher als das Wetter.

»Judiiiith!«

»Was ist denn los, Mama?«

»Ich habe dich schon dreimal gerufen. Wo steckst du denn immer?«

»Kann man in diesem Haus nicht mal in Ruhe Haare waschen?«

Genervt kam Judith aus dem Bad, das nasse Badetuch noch in der Hand.

»Was ist denn?«

»Hör mal, ich muss noch mal zum Friedhof und Blumen gießen. Ich bin in spätestens zwei Stunden zurück.«

»Ja, Mama, alles klar.«

Kopfschüttelnd fönte Judith ihre Haare zuende.

Friedhof. Eine noch dümmere Ausrede war Marianne wohl auf die Schnelle nicht eingefallen. Schließlich regnete es seit Tagen. Judith hätte ihre Inline Skates gegen ein paar alte Socken verwettet, dass Marianne sich mit Thomas traf. Nach diesen Treffen war sie meist unausstehlich.

›Ich sollte meine Hausaufgaben wohl besser gleich machen‹, dachte Judith.

›Wer weiß, was die nachher wieder für eine Laune hat.‹

Ohne große Lust ging sie in ihr Zimmer und nahm ihr Englischbuch aus der Schultasche.

»Wo habe ich denn das blöde Heft schon wieder hingelegt?« murmelte sie und durchwühlte die Tasche ein zweites Mal. Das Heft war nicht da. Ärgerlich schüttete sie den Inhalt der Schultasche auf ihr Bett. Das gesuchte Heft fand sie nicht. Dafür fiel ihr das Stammbuch entgegen. Sie hatte es am Freitag zwischen ihren Schulsachen versteckt und dann vollkommen vergessen.

Judith warf einen Blick auf die Uhr. Zwei Stunden, hatte Marianne gesagt. Wahrscheinlich würden es eher drei.

Der englische Aufsatz war vergessen. Judith griff nach dem Stammbuch und begann zu blättern.

Dem neuvermählten Paare wünscht an seinem Ehrentage bei der Übergabe des Stammbuchs der Familie ein gemeinsames und dauerhaftes Ehe- und Familienglück der Standesbeamte stand auf der ersten Seite.

Judith kicherte.

›Noch geschwollener geht’s wohl nicht‹, dachte sie.

Die erste Urkunde war eine beglaubigte Abschrift aus dem Familienbuch. Neugierig betrachtete sie das Blatt. Auf der linken Seite stand der Name ihres Stiefvaters, Thomas Weidemeyer, auf der rechten Seite der Name ihrer Mutter, Marianne Weidemeyer, geb. Wagner.

Die Großeltern waren auch aufgeführt. Thomas’ Vater war schon lange tot, an den hatte sie kaum noch Erinnerungen, und seine Mutter war über die anstehende Scheidung nicht besonders traurig. Auch für Judith war es kein Verlust, den Rest ihres Lebens ohne Gertrud Weidemeyer zu verbringen. Aber weiter unten standen auch die Namen, die sie gesucht hatte.

Eltern der Ehefrau stand da – Vater: Wagner, Klaus; Mutter: Maria Wagner, geb. Darsch.

›Darsch! Was für ’n ulkiger Name!‹

Judith blätterte weiter.

Es folgten zwei Sterbeurkunden, die von Maria und Klaus Wagner, ihren Großeltern. Die Großeltern waren 1980 gestorben. Judith rechnete nach. Marianne war beim Tod ihrer Eltern gerade neunzehn Jahre alt gewesen. Es stimmte also, dass ihre Großeltern bei ihrer Geburt nicht mehr da waren. Ob die Geschichte mit dem Autounfall auch stimmte, wusste Judith nicht. Sie hatte inzwischen beschlossen, den Erwachsenen nicht mehr blind alles zu glauben. Wahrheit war anscheinend so dehnbar wie ein Haargummi.

Judith legte das Stammbuch beiseite, ging ans Regal und zog einen rechteckigen Korb heraus, in dem sie Briefe und andere persönliche Dinge aufgewahrte. Ganz unten hatte sie eine kleine Schachtel versteckt. »Für Judith « stand auf dem Deckel, und in der Schachtel befanden sich einige Fotos. Mariannes Tante war vor wenigen Monaten gestorben. In ihrem Nachlass fand sich dann die Schachtel, die sie ihrer Großnichte hinterließ.

Judith nahm das obere Bild heraus, das schon ziemlich verblasst und angeknickt war, strich es glatt und betrachtete es. Jetzt hatte sie dazu auch einen Namen – Matthias Fritsche – und einen Ort – Köln. Dieser Mann war also ihr leiblicher Vater. Judith suchte wie so oft nach Ähnlichkeiten. Vielleicht in der Statur; im Gegensatz zu ihrer zierlichen Mutter war sie eher athletisch. Auch Matthias Fritsche wirkte sportlich. Damit hörten die äußeren Ähnlichkeiten schon auf, ihr Vater war dunkelhaarig mit braunen Augen. Aber seine Kleidung gefiel ihr, er trug Wildlederstiefel, eine Jeans und einen hellbraunen Wollmantel über einem schlichten Pullover. Trug man so etwas in den 70ern? Judith hatte eher Bilder von langhaarigen Männern mit Jeansjacken und Schlaghosen vor Augen. Vielleicht war ihr Vater auch jemand, der seine eigenen Vorstellungen hatte und dem es egal war, was andere dachten.

Judith legte das Bild in die Schachtel zurück und griff nach dem Brief, den sie so oft gelesen hatte.

Meine liebe Judith,

ich schreibe diesen Brief in der Hoffnung, daß Du ihn niemals lesen wirst. Du bist jetzt knapp vier Jahre alt und Marianne hat kürzlich geheiratet. In vierzehn Jahren feiern wir zusammen Deinen 18. Geburtstag, und dann werde ich Dir erzählen, was ich weiß und kann den Brief wegwerfen. Ich schreibe Dir deshalb diese Zeilen, weil ich nicht weiß, ob ich dann noch da bin und ob Marianne ihre Meinung geändert hat. Wir hatten Streit, weißt Du. Ich finde, Du solltest wissen, wo Deine Wurzeln liegen. Du solltest auch wissen, wer Dein Vater ist. Marianne vertritt den Standpunkt, daß Thomas nun Dein Vater ist und Du gar nichts über Deine Herkunft wissen mußt. Das sehe ich anders.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als Deine Mutter ihre Schwangerschaft nicht mehr verbergen konnte. Ich stellte keine Fragen, aber ich bot ihr meine Hilfe an. Marianne machte nur ein paar Andeutungen, die wohl eher dazu gedacht waren, mich milde zu stimmen. Das wäre nicht nötig gewesen. Ich war nicht schockiert oder enttäuscht. Solche Dinge passieren eben. Vermutlich war er verheiratet. Aber ich habe ein paar Fotos retten können, die Marianne verbrennen wollte. Die lege ich dem Brief bei. Vielleicht wirst Du Deinen Vater suchen wollen, wenn Du älter bist, um ihn kennenzulernen. Sein Name steht in Deiner Geburtsurkunde. Ich habe eine Abschrift davon behalten; falls Thomas Dich adoptiert und Du dann eine neue Geburtsurkunde bekommst, wäre das alte Dokument für Dich verloren.

Leider war auch Deine Großmutter Maria, die ja meine Schwägerin war, so verschlossen wie Deine Mutter und hat sich nie jemandem anvertraut. Ihre Geheimnisse kenne ich nicht. Wir Kriegskinder reden nicht darüber. Ich weiß nur, daß sie ein Pflegekind war und in Norddeutschland geboren und aufgewachsen ist. Der Vater war nicht bekannt, aber sie hatte eine Vermutung. Das einzige Mal, daß sie mir etwas aus ihrem Leben erzählt hat, war kurz vor ihrer Hochzeit. Sie hatte Probleme mit den Papieren. Danach hat sie nie wieder ein Wort über ihre Familie gesprochen.

Marianne wird es nicht gefallen, daß ich Dir das alles sage.

Sie macht immer ein großes Geheimnis um Deinen Vater und um ihre eigene Mutter und deren Herkunft.

Aber ich finde, Du hast ein Recht darauf, diese Dinge zu wissen.

Ich hoffe, ich tue das Richtige.

In Liebe,

Deine Tante Carola

Judith faltete behutsam den Brief wieder zusammen und legte ihn zurück in die Schachtel. Dann griff sie wieder nach dem Stammbuch und blätterte weiter. Weiter hinten fand sie die Geburtsurkunde ihrer Mutter und auch ihre eigene, nachträglich eingeklebt. In der Geburtsurkunde stand eindeutig »Judith Wagner«. Jetzt ergab auch alles einen Sinn – zwar erinnerte sie sich vage, zumindest als Kind eine Zeitlang auch den Namen »Weidemeyer« getragen zu haben, aber ohne Adoption war es offiziell bei »Wagner« geblieben. Nachdenklich schlug sie die nächste Seite auf, aber es gab keine weiteren Einträge.

Judith klappte das Buch wieder zu. Warum machte Marianne eigentlich immer so ein Geheimnis um ihre Familie? Jetzt war sie verwirrter als vorher, und über ihre andere Großmutter hatte sie nichts erfahren können. Erwachsene waren manchmal ganz schön komisch.

Judith legte das Buch wieder in Mariannes Schreibtisch. Die untere Lade, die sie beim letzten Mal gewaltsam geschlossen hatte, ließ sich nun mühelos öffnen. Zwei lose Zettel, die sich anscheinend aus dem Stammbuch gelöst und in der Lade verklemmt hatten, fielen ihr entgegen.

Judith sah auf die Uhr. Erst drei. Marianne würde in frühestens einer Stunde nach Hause kommen. Ohne zu überlegen, griff sie danach und entfaltete sie.

Es waren Kopien aus dem Register des Standesamtes. Dieses Mal ging es um die Eltern und Großeltern ihrer Mutter und ihres Stiefvaters.

Den ersten Zettel legte sie gleich wieder beiseite.

Auf dem zweiten Zettel standen die Namen von Mariannes Eltern und Großeltern. Jetzt war Judiths Neugierde geweckt. Mariannes Vater, Klaus Wagner, war am 19. Dezember 1936 in Berlin geboren und hatte am 8. Februar 1961 Maria Darsch, geb. am 12. November 1942, geheiratet.

Judith begann zu rechnen. Ihre Großeltern wären jetzt 54 und 60 Jahre alt, wenn sie noch leben würden. Sie schluckte die aufsteigenden Tränen herunter und suchte nach den Namen der Urgroßeltern.

›Otto Wagner, Berlin und Johanna Wagner, geb. Lüders‹, las sie halblaut.

Schade, dass Wagner ein so häufiger Name war. Judith hätte sich sonst ein Telefonbuch von Berlin besorgt und nachgeschaut, ob ein Eintrag von Otto und Johanna existierte. Viele Leute wurden über 80 Jahre alt. Vielleicht lebten die beiden noch.

Das letzte Feld wies keinen behördlichen Eintrag auf.

Irgend jemand, vielleicht Großmutter Maria, hatte mit Bleistift eingefügt: Marysia Dariusz und Wilhelm Behrmann. Hinter den letzten Namen stand, kaum leserlich:

Die Rache ist mein, spricht der Herr. Auch Du wirst für Deine Taten büßen müssen, du verd– …

Der Rest war nicht mehr zu entziffern.

Judith griff noch einmal nach dem Stammbuch und legte die Zettel hinein.

Dann schob sie es wieder unter die Zeitungen.

Als Marianne nach über vier Stunden zurückkam, schrieb Judith scheinbar eifrig an einem Aufsatz über das Leben in Indien. Sie hätte nicht gewusst, wie sie den Abend überstehen sollte, ohne sich zu verraten. Aber die Maßnahme war überflüssig.

Marianne ging sofort ins Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

›Na, wenn die auf dem Friedhof war, dann heiß’ ich Tusnelda‹, dachte Judith.

Sie stopfte das Erdkundeheft zurück in die Schultasche und ging schlafen.

Der Wecker rasselte um sechs Uhr. Judith hörte zwar das Klingeln, drehte sich aber trotzdem noch einmal um.

›Nur noch fünf Minuten‹, dachte sie. Um halb sieben wachte sie wieder auf.

»Mist!«

Mit einem Satz war sie aus dem Bett und stürmte ins Badezimmer. Sie duschte hastig und band ihre Haare zu einem Zopf zusammen. Zum Glück hatte sie gestern ihre Haare gewaschen.

»Mama?« rief sie durch halboffene Küchentür.

»Hast du den Tee schon fertig? Ich hab’ verpennt.«

Marianne fuhr zusammen und kippte hastig etwas in den Mülleimer. Judith schüttelte nur den Kopf.

»Wir sind doch nicht im Kindergarten. Meinetwegen brauchst du nicht heimlich zu rauchen.«

»Wie bitte?«

»Ach komm. Ich bin doch nicht blöd. Vor sechs Wochen ist Thomas ausgezogen, und seit sechs Wochen rauchst du wieder, auf dem Klo oder wo auch immer. Meinst du, ich kriege das nicht mit?«

»Was soll das, Judith?«

»Nichts.«

Judith schenkte sich einen Becher Tee ein.

»Ich find diese Heimlichtuerei bloß kindisch, das ist alles.«

Sie warf einen Blick auf die Uhr. In zehn Minuten würde der Bus kommen. Sie war wieder einmal reichlich spät dran.

»Judith?«

»Mhm?«

Judith rührte Zucker in ihren Tee und sah ihre Mutter abwesend an.

»Rauchst du eigentlich?«

»Wie kommst denn du darauf?«

»Ich habe dich nie dabei erwischt. Aber das muss ja nichts heißen. In deinem Alter rauchen doch viele Mädchen schon.«

»Nein«, sagte Judith ärgerlich.

Was die Clique montags in der Freistunde hinter der Turnhalle trieb, ging Marianne nichts an, fand Judith.

»Ich wollte nur sagen, du bist alt genug, du musst es selber wissen, also: du musst nicht heimlich rauchen, okay?«

»Schon gut, Mama.«

Judith nahm sich einen Apfel aus der Obstschale und warf ihn in ihre Schultasche.

»Judith, da ist noch etwas, das ich mit dir besprechen muss …«

In letzter Zeit fingen zu viele Gespräche mit diesem Satz an, und keines davon hatte Judith übermäßig gefallen.

»Ja?«

Sie warf einen erneuten Blick auf die Uhr. Marianne wählte seit neuestem merkwürdige Tageszeiten für ernsthafte Gespräche.

»Wir hatten neulich schon mal kurz darüber gesprochen, weißt du?«

Judith wartete ab.

Marianne sah sie nicht an, als sie weitersprach:

»Wegen Nicole, weißt du …«

Judith fiel ihr ins Wort.

»Ohne mich. Das Thema ist erledigt.«

»So einfach ist das nicht, Judith.«

»Nein? Sie ist nicht deine Tochter. Was soll der Quatsch? Es ist seine Aufgabe, ihr ein Zuhause zu bieten, nicht deine. Werd’ erwachsen, Mama.«

Marianne nagte an ihrer Unterlippe, während sie sich nervös eine neue Zigarette aus der Schachtel nahm.

»Darum geht es doch gar nicht. Es ist wegen der Wohnung.« Jetzt verstand Judith überhaupt nichts mehr.

Marianne sprach weiter, leise und hastig.

»Die Wohnung gehört Thomas’ Mutter. Wenn ich mich nicht bereit erkläre, Nicole aufzunehmen, setzt er uns beide an die Luft. Wo soll ich so schnell ’ne bezahlbare Wohnung herkriegen? Ich hab’ doch gar keine Wahl.«

»So ein Arschloch!«

Judith schrie es beinahe.

»Jetzt pass mal auf, Mama, der kann uns mal. Wir suchen uns was in der Altstadt, wenn’s sein muss, ’ne Einzimmerwohnung mit Kohleofen und Etagenklo, ich kann im Supermarkt putzen, die Steffie jobbt da auch …«

Sie brach ab.

»Mama?«

Marianne wandte das Gesicht ab. Aber Judith wusste auch so, dass sie weinte.

»Ich hab’ mir immer nur eins gewünscht – du solltest es mal besser haben als ich. Aber ich hab’ dir alles versaut.«

»Ach, komm …«

Judith hatte sich nie so hilflos gefühlt.

»Doch, das habe ich. Ich habe deinen Vater verloren, Thomas ist weg, und meiner Tochter kann ich nicht mal ’n anständiges Zuhause bieten. Guck dir das olle Gerümpel hier doch an. «

›Oh Scheiße!‹ dachte Judith.

Natürlich wollte sie mehr über ihren Vater wissen, aber nicht so. Es fühlte sich falsch an, nachzufragen. Marianne hatte sich mehr oder weniger verplappert, und Judith fand es unfair, das auszunutzen. Der Streit, zu dem es gekommen war, nachdem Judith den Brief der Tante gelesen hatte, war schlimm genug gewesen.

Marianne putzte sich die Nase und atmete langsam durch. Sie schien sich zu beruhigen.

»Manchmal«, sagte sie plötzlich mit abwesendem Blick, »manchmal wünschte ich mir, wir könnten das alles hinter uns lassen und neu anfangen. Und du?«

»Von mir aus sofort.«

»Meinst du das ernst?«

»Ja, sicher«, erwiderte Judith.

»Wir könnten in eine andere Stadt gehen, nach München vielleicht oder nach Berlin. Als Buchhalterin findest du überall Arbeit.«

»Bei dir ist immer alles so einfach.«

»Und du machst aus jedem Sandkorn ’nen Berg. Sei nicht böse, ich muss wirklich los, sonst macht mir der Hohmann wieder Feuer.«

Die zweihundert Meter zur Haltestelle rannte sie. Aber das nützte ihr auch nichts mehr. Der Bus war zwei Minuten zu früh abgefahren.

›So ein Mist‹, murmelte Judith.

›Wieso passiert so was immer, wenn wir den Hohmann in der ersten Stunde haben?‹

Als der nächste Bus endlich kam, war es viertel nach sieben.

Steffie warf einen Blick auf die Uhr.

»Kommst du auch noch mal?«

»Nerv nicht. Der Bus hatte schon wieder Verspätung. Wieso bist du schon hier?«

»Ich habe einen Bus früher genommen. Komm, beeil dich, sonst kommen wir noch zu spät.«

»Wir sind schon zu spät. Es ist halb acht vorbei.«

»Tolle Wurst.«

Judith und Steffie hetzten über die leeren Flure. Der Unterricht hatte begonnen, die Türen waren alle geschlossen, bis auf eine.

»Das ist ja unser Klassenzimmer!« rief Judith erleichtert.

»Hat der Hohmann verschlafen?«

»Der doch nicht. Eher geht die Sonne im Westen auf.«

Judith kicherte.

»Egal. Hauptsache, Geschichte fällt aus. He, Tine, du sitzt auf meinem Stuhl.«

Christina stand auf, aber Steffie winkte ab.

»Mach keinen Stress. Ist doch egal, wer neben wem sitzt.«

Andrea warf einen Blick auf den Flur.

»Eh, da kommt die Schmidt. Will die zu uns?«

»Zu früh gefreut! Wir kriegen ’ne Vertretung!«

»Na toll«, murmelte Melanie.

»Sehe ich so aus, als hätte ich für heute Geschichte wiederholt?«

Typisch Melanie.

»Guten Morgen!«

Frau Schmidt legte ihre Tasche aufs Pult.

»Was wurde in der letzten Stunde durchgenommen? Stephanie?«

»Die NS-Zeit«, nuschelte Steffie undeutlich und schob ihren Kaugummi hastig auf die andere Seite.

»Die ganze NS-Zeit?«

Frau Schmidt sah sie zweifelnd an.

»Das ist wohl ein bisschen umfangreich für nur eine Stunde. Also, was war das Thema der letzten Stunde? Andrea?«

»Der Nationalsozialismus auf dem Land …«

»Und was weißt du darüber?«

»Nichts.«

»Wie bitte?«

»Na ja, es hatte gerade geklingelt, und dann sagte Herr Hohmann, wir würden das nächste Mal weitermachen. Und dann wurde er krank.«

»Herr, wie ist Dein Tierreich groß«, murmelte Frau Schmidt.

Sie blätterte im Klassenbuch.

»Ich sehe gerade, dass in der letzten Stunde ein Referat über die Situation der polnischen Fremdarbeiterinnen in Deutschland das Thema war. Hast du die ganze Stunde verschlafen?«

»Ach, das olle Referat. Das ist doch pie-egal, ist doch nicht so, wie wenn der Hohmann was erzählt.«

Frau Schmidt verschlug es die Sprache.

Aber Andrea war noch nicht fertig.

»Überhaupt dieser ganze Scheiß mit den Nazis, das ist doch schon so lange her, das interessiert doch echt keinen. In jedem Fach werden wir damit belabert, Geschichte, Deutsch, Englisch, Sozialkunde – also langsam geht mir das echt am Arsch vorbei.«

»Mit dieser Einstellung kommst du hier nicht weit.«

Frau Schmidt hatte ihre Sprache wiedergefunden.

»Christina, vielleicht kannst du mich mal aufklären«, – einige Jungen in der letzten Reihe lachten – »was es mit diesem Referat auf sich hatte.«