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Gemäss polizeilicher Kriminalstatistik steigt die Jugendkriminalität seit fünf Jahren wieder an. Insbesondere Gewaltdelikte haben stark zugenommen. Dieser Trend manifestiert sich nicht nur in Zürich, sondern auch in anderen Städten. Stimmt die Realität mit der Kriminalitätsstatistik überein und welches sind mögliche Gründe für diesen Anstieg? Ist er eine Folge des Bevölkerungswachstums oder sind neue Formen des Freizeitverhaltens sowie gewaltlegitimierende Einstellungen der Jugendlichen ausschlaggebend? Wie kann dieser Entwicklung mit kriminalpräventiven Mitteln begegnet werden? Diese Fragen soll die Tagung aus kriminologischer und präventiver Sicht beleuchten. Es referierten PräventionsexpertInnen aus den Bereichen Polizei, Jugendstrafverfolgung, Sicherheit und Forschung über Ursachen und wirksame Präventionsmassnahmen. Diese aktuellen Fragen wurden im Rahmen des 13. Zürcher Präventionsforums aus kriminologischer und präventiver Sicht beleuchtet.
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Seitenzahl: 158
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Jugendliche und junge Erwachsene im urbanen Umfeld als Fokus der Kriminalprävention von Christian Schwarzenegger und Rolf Nägeli wird unter Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.
© 2022 – CC BY-NC-ND (Werk), CC BY-SA (Text)
Herausgeber: Prof. Dr. Christian Schwarzenegger, Hauptmann Rolf Nägeli – Europa Institut an der Universität ZürichVerlag: EIZ Publishing (eizpublishing.ch)Produktion, Satz & Vertrieb:buchundnetz.comISBN:978-3-03805-516-7 (Print – Softcover)978-3-03805-517-4 (PDF)978-3-03805-518-1 (ePub)DOI: https://doi.org/10.36862/eiz-516Version: 1.00 – 20221011
Das Werk ist als gedrucktes Buch und als Open-Access-Publikation in verschiedenen digitalen Formaten verfügbar: https://eizpublishing.ch/publikationen/jugendliche-und-junge-erwachsene-im-urbanen-umfeld-als-fokus-der-kriminalpraevention/.
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Gemäss polizeilicher Kriminalstatistik steigt die Jugendkriminalität seit fünf Jahren wieder an. Insbesondere Gewaltdelikte wie Körperverletzung, Raub oder Drohungen haben stark zugenommen. Dieser Trend manifestiert sich nicht nur in Zürich, sondern auch in anderen Städten.
Welches sind die Gründe für diesen Anstieg, oder gibt die Kriminalstatistik ein verzerrtes Bild? Ist er einfach eine Folge des Bevölkerungswachstums, das heisst, der Zunahme an jungen Menschen? Sind neue Formen des Freizeitverhaltens ausschlaggebend oder gewaltlegitimierende Einstellungen der Jugendlichen? Hat die Pandemie einen Einfluss auf die Gewaltkriminalität? Und wie kann dieser Entwicklung mit kriminalpräventiven Mitteln begegnet werden?
Diese aktuellen Fragen wurden im Rahmen des 13. Zürcher Präventionsforums aus kriminologischer und präventiver Sicht beleuchtet. Dazu referierten Präventionsexpertinnen und -experten aus den Bereichen Polizei, Jugendstrafverfolgung, Sicherheit und Forschung, um einen breiten Informationsaustausch über Ursachen und wirksame Präventionsmassnahmen zu führen. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen bilden die Beiträge des vorliegenden Bandes:
Prof. Dr. Dirk Baier, Leiter Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der ZHAW Soziale Arbeit, untersucht in seinem Beitrag die Entwicklung der Jugendkriminalität aus kriminologischer Sicht – insbesondere beschäftigt er sich mit den Entwicklungen im polizeilichen Hellfeld und mit dem Einsatz von Messern unter Jugendlichen.
Prof. Dr. Thomas Hestermann, Medienwissenschaftler und Professor für Journalismus an der Macromedia University of Applied Sciences, untersucht in seinem empirischen Beitrag den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Medienwirklichkeit und legt die Ergebnisse einer Langzeitanalyse dar.
Bernadette Schaffer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Kriminologischer Dienst am Bildungszentrum Justizvollzug Baden-Württemberg, präsentiert einen Überblick über das Dunkel- und Hellfeld von Jugendgewalt und zeigt erste Ergebnisse einer Längsschnittstudie zur Brutalisierung der Jugendgewalt anhand einer Aktenanalyse von Gerichtsurteilen.
Simone Walser, PhD Psychologie/Kriminologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Rechtswissenschaftliches Institut an der Universität Zürich, befasst sich in ihrem Beitrag mit verschiedenen situativen Ansätzen zur Entstehung von Kriminalität anhand der im Jahr 2008 durchgeführten St. Galler Studie über Jugenddelinquenz.
Martina Schneider, Stabsmitarbeiterin, Soziale Einrichtungen und Betriebe, Stadt Zürich, zeigt das Koordinations- und Präventionsprojekt Surplus auf und bettet das Projekt in situative Präventionsansätze ein.
Leutnant Michael Wirz, Leiter Medien & Kommunikation, Stadtpolizei Winterthur, untersucht in seinem Beitrag die Auswirkungen der Sozialen Medien auf die polizeiliche Arbeit und beschreibt den in der Schweiz erstmaligen Einsatz des Sozialen Netzwerks TikTok durch die Stadtpolizei Winterthur.
Dr. Sven Zimmerlin, Oberjugendanwalt, Leiter Untersuchung, Oberjugendanwaltschaft Kanton Zürich, Lehrbeauftragter für Strafrecht an der Universität Zürich Dr. Nicole Holderegger, Leiterin Straf- und Massnahmenvollzug, Oberjugendanwaltschaft Kanton Zürich, analysieren in ihrem Bericht den Zusammenhang des Strafrechts und der Prävention im Allgemeinen und insbesondere im Jugendstrafrecht.
Für das gute Gelingen der Tagung und der Veröffentlichung dieses Bandes möchten wir Tiziana Rigamonti für die professionelle Organisation und Durchführung der Veranstaltung sowie Sue Osterwalder, Petra Bitterli und Luca Lehman für die Unterstützung bei der Fertigstellung dieses Tagungsbandes herzlich danken.
Zürich, im September 2022 Christian Schwarzenegger/Rolf Nägeli
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Die Entwicklung der Jugendkriminalität aus kriminologischer Sicht – Steigt die Jugendgewalt?
Prof. Dr. Dirk Baier, Leiter Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der ZHAW Soziale Arbeit, Zürich
Jugendgewalt in den Medien: Fiktion oder Realität?
Prof. Dr. Thomas Hestermann, Medienwissenschaftler und Professor für Journalismus an der Macromedia University of Applied Sciences, Hamburg, zuvor Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen
Brutalisierung der Jugendgewalt? Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung
Dr. Bernadette Schaffer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Kriminologischer Dienst am Bildungszentrum Justizvollzug Baden-Württemberg
Situative Ursachen von Jugendgewalt
Simone Walser, PhD Psychologie/Kriminologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Rechtswissenschaftliches Institut an der Universität Zürich
Surplus – ein Koordinations- und Präventionsprojekt in der Stadt Zürich
Martina Schneider, Leitung Surplus, Soziale Einrichtungen und Betriebe, Sozialdepartement Stadt Zürich
Influencer in Uniform
Leutnant Michael Wirz, Leiter Medien & Kommunikation, Stadtpolizei Winterthur
(Jugend-)Strafrecht und Prävention – ein Widerspruch?
Dr. Sven Zimmerlin, Oberjugendanwalt, Leiter Untersuchung, Oberjugendanwaltschaft Kanton Zürich, Lehrbeauftragter für Strafrecht an der Universität Zürich Dr. Nicole Holderegger, Leiterin Straf- und Massnahmenvollzug, Oberjugendanwaltschaft Kanton Zürich, Referententätigkeit an Fachhochschulen und Universitäten
Dirk Baier
Jugendkriminalität und Jugendgewalt sind Themen, für die in modernen Gesellschaften eine hohe Aufmerksamkeit vorhanden ist. Während der Corona-Pandemie gab es wiederholt Ereignisse, die zu einer Intensivierung der Aufmerksamkeit geführt haben, so z.B. die Krawalle in St. Gallen im April 2021[1] oder verschiedene Vorfälle von Messerattacken.[2] Dabei geht mitunter vergessen, dass Jugendliche aufgrund ihrer besonderen entwicklungspsychologischen Situation seit jeher häufiger zu kriminellen Verhalten neigen als andere Altersgruppen, was sich in der bekannten Alters-Kriminalitäts-Kurve zeigt.[3] Dennoch ist das Niveau der Jugendkriminalität nicht konstant; Ab-, insbesondere aber Anstiege der Jugendkriminalität sollten Anlass sein, sich mit möglichen Ursachen auseinanderzusetzen, allein deshalb, weil entsprechendes Verhalten Opfer erzeugt, die teilweise ein Leben lang aufgrund der erlebten Viktimisierung beeinträchtigt sind. Die Kenntnis der Ursachen kann dazu beitragen, Präventionsmassnahmen neu bzw. weiter zu entwickeln und damit Opfer- und Täterschaften vorzubeugen.
Mögliche Trends der Jugendkriminalität lassen sich prinzipiell über zwei Wege analysieren: Hellfeld- und Dunkelfeldstatistiken.[4] Begangene Straftaten werden teilweise von der Polizei registriert. Eine Registrierung hängt primär davon ab, ob eine Tat von einem Opfer oder einer anderen Person angezeigt wird bzw. ob die Polizei bei Ermittlungsarbeiten eine Straftat aufdeckt. Die polizeilich registrierte Kriminalität wird als Hellfeld-Kriminalität bezeichnet, die Analyse dieser Datenquelle entsprechend als Analyse von Hellfeld-Statistiken. Der Begriff des Hellfelds verweist darauf, dass nur ein Teil aller strafbaren Handlungen den Strafverfolgungsbehörden zur Kenntnis gelangt. Ein je nach Delikt unterschiedlich grosser Anteil an strafbaren Handlungen verbleibt im Dunkelfeld. Die wichtigste Statistik zur Hellfeld-Kriminalität ist die Polizeiliche Kriminalstatistik, in der alle aufgedeckten Straftaten erfasst werden und soweit wie möglich auch ausgewählte Angaben zu den Beschuldigten bzw. Geschädigten. In der Schweiz wird die Polizeiliche Kriminalstatistik jeweils im Frühjahr vom Bundesamt für Statistik veröffentlicht.[5]
Eine zweite Datenquelle, die zur Analyse von Trends der Jugendkriminalität herangezogen werden kann, sind Dunkelfeldstudien. Die Bezeichnung ist etwas irreführend, weil diese Studien nicht nur beanspruchen, den nicht der Polizei zur Kenntnis gelangten Anteil der Kriminalität zu erfassen, sondern sowohl die Hell- als auch die Dunkelfeldkriminalität. Meist wird im Rahmen dieser Studien deshalb auch nicht von Kriminalität, sondern von Delinquenz gesprochen. Dunkelfeldstudien sind in der Regel so angelegt, dass eine repräsentative Auswahl der Bevölkerung bzw. einer Bevölkerungsgruppe über ihre Erlebnisse mit delinquenten Verhaltensweisen befragt wird. Zu unterscheiden sind dabei Opfer- und Täterinnen- bzw. Täterbefragungen. In der Schweiz wurden in der Vergangenheit wiederholt repräsentative Jugendbefragungen zu Täter- wie Opferschaften durchgeführt.[6] Allerdings erfolgen diese Befragungen nicht kontinuierlich schweizweit repräsentativ; die letzten erhobenen Daten liegen aus dem Jahr 2017 vor.[7]
Wenn im Folgenden die Frage beantwortet werden soll, ob die Jugendgewalt gerade auch in den kürzer zurückliegenden Jahren (inkl. den Jahren der Covid19-Pandemie) steigt, kann daher nur auf Hellfeld-Statistiken zurückgegriffen werden, die u.a. von der Anzeigebereitschaft, den polizeilichen Kontrollaktivitäten, möglichen Gesetzänderungen usw. abhängig sind. In der Polizeilichen Kriminalstatistik werden verschiedene Altersgruppen differenziert, von denen an dieser Stelle die 10- bis 14- und 15- bis 17-jährigen betrachtet werden sollen. Abbildung 1 stellt zu diesen beiden Kernaltersgruppen der Jugendlichen zwei Informationen dar: die absolute Anzahl an Beschuldigten und die Beschuldigten-Belastungszahl.[8] „Als beschuldigte Person gilt jede Person, die in einer Strafanzeige, einem Strafantrag oder von einer Strafbehörde in einer Verfahrenshandlung einer Straftat verdächtigt, beschuldigt oder angeklagt wird […] wobei sich die Eigenschaft einer Person nach dem momentanen Wissensstand der Polizei richtet und nichts über den späteren Verlauf eines möglicherweise anschliessenden Strafverfahrens aussagt“.[9] Der Beschuldigten-Status in der Kriminalstatistik ist also vorläufig; aus Beschuldigten können Verurteilte werden, Beschuldigte können aber auch im Laufe des Verfahrens von diesem Verdacht freigesprochen werden. Die Beschuldigten-Belastungszahl gibt an, wie viele Beschuldigte pro 100’000 Personen der jeweiligen Altersgruppe registriert wurden. Gerade bei Trendanalysen sollte die Betrachtung von Belastungszahlen im Vordergrund stehen, weil eine Bevölkerungsab- oder zunahme bei sonst gleichen Bedingungen mit einer Ab- bzw. Zunahme der Beschuldigten einhergehen würde.[10]
Die Trends für die beiden Altersgruppen und die absoluten Zahlen bzw. Belastungszahlen fallen sehr ähnlich aus. Im Zeitraum 2009[11] bis 2016 sinken die Zahlen, um danach wieder zu steigen. Im Jahr 2021 wurden 4’172 10- bis 14-jährige des Begehens irgendeiner Straftat beschuldigt und 6’692 15- bis 17-jährige; im Jahr 2016 waren es 2’651 bzw. 5’240 Jugendliche. Die Beschuldigtenbelastungszahlen für das Jahr 2021 lauten 971,4 bzw. 2’684,3; dies bedeutet, dass 0,97% aller 10- bis 14-jährigen bzw. 2,68% aller 15- bis 17-jährigen der Schweiz des Begehens einer Straftat beschuldigt wurden; oder anderes ausgedrückt: 99,03 bzw. 97,32% der Jugendlichen wurden nicht beschuldigt. Die deutliche Mehrheit der Jugendlichen verhält sich also gesetzeskonform. Zugleich ist der Anstieg der Belastungszahlen seit 2016 beachtlich: Bei den 15- bis 17-jährigen steigt diese um 31,7%, bei den 10- bis 14-jährigen sogar um 46,8%. Im Vergleich der Jahre 2020 und 2021 kommt es bei den 15- bis 17-jährigen zu einer Stabilisierung der Belastungszahl, bei den 10- bis 14-jährigen setzt sich der Anstieg der Jahre vorher fort.
Abbildung 1: Entwicklung der Beschuldigten und der Beschuldigten-Belastungszahl für Straftaten insgesamt seit 2009 (Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik).Anhand der Hellfeld-Daten kann also gefolgert werden, dass Jugendkriminalität insgesamt in nicht geringem Ausmass seit 2016 zugenommen hat. Dies kann statistikimmanente Gründe haben. Hiermit sind Gründe gemeint, die mit den Konstruktionsbedingungen der Statistik in Zusammenhang stehen. Möglich wäre bspw., dass die Anzeigebereitschaft gestiegen ist; wenn aus einem konstanten Dunkelfeld mehr Delikte zur Anzeige gelangen, würde dies in der Polizeilichen Kriminalstatistik mit einem Anstieg der Zahlen einhergehen. Um dies zu prüfen, bräuchte es wiederholt durchgeführte Befragungen, die derzeit nicht zur Verfügung stehen. Zwei Trends lassen aber daran zweifeln, dass es sich allein um einen anzeigebedingten Anstieg handelt:
Eine Zunahme der Anzeigebereitschaft müsste mit der Zunahme der Anzeige von eher leichten Delikten einhergehen. Diese führen seltener zu Verurteilungen. Dies würde bedeuten, dass im Zeitraum 2016 bis 2021 die Anzahl an Verurteilungen weniger stark gestiegen sein müsste als die Anzahl an Beschuldigten. Leider stehen derzeit noch keine Verurteiltenzahlen für 2021 zur Verfügung. Werden daher die Zahlen jugendlicher Verurteilter 2015 und 2020 in Beziehung gesetzt, ergibt sich ein Anstieg von 5’623 auf 7’314 Verurteilten, was einem relativen Anstieg von 30,7% entspricht. Dieser fällt ähnlich hoch aus wie der Anstieg der Beschuldigtenzahlen, weshalb sich auf Basis dieser Analyse kein Hinweis auf eine ansteigende Anzeigebereitschaft ergibt.Aus Dunkelfeldbefragungen ist bekannt, dass bei einigen Delikten wie Raub oder schweren Körperverletzungen die Anzeigebereitschaft bereits in der Vergangenheit hoch ausfiel. So wird bspw. bei Körperverletzungen eine Anzeigerate von etwa einem Drittel berichtet.[12] Es ist kaum zu erwarten, dass diese Anzeigerate in den letzten Jahren noch einmal um ein Drittel oder die Hälfte gestiegen ist. Wenn der Kriminalitätsanstieg der letzten Jahre vor allem ein Anstieg der Anzeigebereitschaft wäre, sollten sich bei diesen Delikten geringere bis keine Anstiege in der Kriminalstatistik zeigen. Insofern die Beschuldigten-Belastungszahlen bei diesen Delikten aber ebenfalls deutlich gestiegen sind (s.u.), deutet wenig darauf hin, dass der Kriminalitätsanstieg primär ein Anstieg der Anzeigebereitschaft ist.Es ist daher davon auszugehen, dass die höhere Kriminalität ein Resultat statistikexogener Gründe ist, also auf soziale Veränderungen zurückgeführt werden muss. Bevor im nachfolgenden Kapitel mögliche Gründe betrachtet werden, finden sich in Abbildung 2 noch Auswertungen zu Veränderungen im Bereich der Jugendgewaltkriminalität. Für die beiden Altersgruppen ist dabei einerseits die Beschuldigten-Belastungszahl für das Jahr 2016 und andererseits die Belastungszahl für das Jahr 2021 aufgeführt. Zudem ist die relative Veränderung dargestellt. Mit Ausnahme der sexuellen Nötigung der 10- bis 14-jährigen ergibt sich für alle Gewaltdelikte ein mehr oder weniger deutlicher Anstieg, weshalb gefolgert werden muss, dass nicht nur die Jugendkriminalität allgemein, sondern auch die Jugendgewalt im Besonderen in der Schweiz zugenommen hat. Schwere Körperverletzungen und Raubtaten, Delikte mit eher hoher Anzeigerate, haben sich bei beiden Altersgruppen mindestens verdoppelt. Stärkere Anstiege zeigen sich daneben bei Delikten, die Beteiligungen (an Raufhandel oder Angriffen) beinhalten. Dies deutet darauf hin, dass Gruppenauseinandersetzungen unter Jugendlichen zugenommen haben.
Abbildung 2: Beschuldigten-Belastungszahl 2015 und 2021 im Vergleich (Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik).Die Entwicklungen im Zeitraum 2015 bis 2020 wurden zudem für verschiedene Subgruppen an Jugendlichen analysiert.[13]Dabei zeigt sich einerseits, dass in den meisten Kantonen der Schweiz Anstiege im Bereich der Jugendkriminalität zu verzeichnen sind; d.h. die Entwicklungen sind bspw. nicht auf urbane Räume oder bestimmte Regionen der Schweiz begrenzt; es handelt sich um ein schweizweit zu beobachtendes Phänomen. Andererseits ergeben sich stärkere Anstiege für männliche als für weibliche Jugendliche sowie stärkere Anstiege für Jugendliche mit Schweizer Staatsangehörigkeit als für ausländische Jugendliche.
Eine systematische empirische Prüfung von Erklärungsfaktoren für den Anstieg der Jugendkriminalität und Jugendgewalt seit 2016 steht bislang noch aus, im Übrigen ebenso wie eine systematische Prüfung der Erklärungsfaktoren des Rückgangs in den Jahren 2009 bis 2015. Nachfolgend sollen einige mögliche Einflussbereiche unter Zuhilfenahme verschiedener Statistiken betrachtet werden.
Eine eher schlechte soziale Lage kann allgemein als Risikofaktor der Jugendkriminalität eingestuft werden, wie dies bspw. die Anomietheorie vermutet. Ein möglicher Indikator hierfür ist die Jugendarbeitslosigkeit. Entsprechend vorhandener Statistiken lag die Rate arbeitsloser Jugendlicher im Alter von 15 bis 24 Jahren im Jahr 2016 bei 3,4%[14]. Bis 2021 ist die Rate aber nicht angestiegen, sondern gesunken, und zwar auf 2,5%. Dabei zeigen sich für alle Altersgruppen und Geschlechter rückläufige Zahlen.
Ein weiterer Indikator der sozialen Lage ist der Schulbesuch, vor allem der Anteil vorzeitiger Schulabgängerinnen und -abgänger. Im Jahr 2016 lag der Anteil an 18- bis 24-jährigen ohne nachobligatorischen Abschluss, die keine formale Bildung besuchen, bei 5,6% (in Bezug auf die gleichaltrige ständige Wohnbevölkerung).[15] Im Jahr 2021 lag der Anteil bei 5,7%. Bezüglich dieses Indikators zeigt sich mithin keine Veränderung; bis zum Jahr 2020 ist der Anteil sogar zurückgegangen (auf 4,8%). Dies bedeutet letztlich, dass sowohl mit Blick auf die Jugendarbeitslosigkeit als auch den vorzeitigen Schulabbruch die soziale Lage der jungen Menschen in der Schweiz seit 2016 zumindest nicht schlechter geworden ist, tendenziell sogar besser. Eine Verschlechterung der sozialen Lage kann daher nicht pauschal als Grund für den Anstieg der Jugendkriminalität angeführt werden. Im Zeitraum 2016 bis 2019 (letzte verfügbare Information) ist im Übrigen der Anteil an jungen Menschen, die einen Maturitätsabschluss erworben haben, leicht von 39,6 auf 41,4% gestiegen[16], was ebenfalls belegt, dass sich die soziale Lage der jungen Menschen eher verbessert als verschlechtert hat.
Eine Studie aus Deutschland gibt zugleich einen Hinweis, dass die objektive Lage und die subjektive Einschätzung auseinanderfallen können. In einer repräsentativen Befragung von 12- bis 25-jährigen hat sich hier gezeigt, dass der Anteil an jungen Menschen, die ihre Zukunft zuversichtlich sehen, leicht rückläufig ist im Vergleich der Jahre 2015 und 2019 (von 61 auf 58%); der Anteil derer, die „eher düster“ in die Zukunft sehen, ist von 3 auf 5% gestiegen.[17] Auch eine Studie aus der Schweiz belegt zumindest im kurzfristigen Vergleich, dass Jugendliche ängstlicher in die Zukunft blicken, was auf die Belastungen der Covid19-Pandemie zurückgeführt werden kann: In einer Befragung von Jugendlichen im Kanton Zürich im April/Mai 2020 berichteten 8,6% der Befragten, dass sie hohe Zukunftsangst haben, in einer Befragung im Dezember 2021/Januar 2022 waren es bereits 13,8%.[18] Subjektiv schlechter werdende Zukunftsperspektiven könnten im Sinne der Deprivationstheorie möglicherweise ein Grund dafür sein, dass Jugendliche vermehrt kriminelle Taten begehen.
Zu berücksichtigen ist jenseits der bislang betrachteten Faktoren, dass das Verhalten von Jugendlichen in hohem Masse von verschiedenen Sozialisationsbereichen beeinflusst wird, wie dass insbesondere Lerntheorien postulieren. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Elternhaus. Als ein wichtiger Einflussfaktor jugendlicher Kriminalität gilt, wenn im Elternhaus Erfahrungen von Gewalt gemacht werden: Junge Menschen, die von Seiten der eigenen Eltern Gewalt erlebt, weisen eine höhere Bereitschaft auf, Normen zu brechen.[19] Ein Anstieg elterlichen Gewaltverhaltens würde dementsprechend mit einem Anstieg der Jugendkriminalität einhergehen. Eine Studie belegt allerdings, dass ein solcher Anstieg nicht existiert.[20] Mittels einer Befragung von Eltern in den Jahren 2017 und 2020 konnte festgestellt werden, dass die Anwendung körperlicher Gewalt sinkt: Im Jahr 2017 gaben 5,8% der Eltern an, regelmässig körperliche Gewalt anzuwenden; drei Jahre später lag der Anteil nur mehr bei 3,2%. „Entsprechend steigt auch der Anteil der gewaltlos erziehenden Eltern an. Im Januar 2020 gaben rund 57% der Eltern an, gegenüber ihren Kindern nie körperliche Gewalt angewendet zu haben […] also rund 8% mehr als 2017 (49%)“.[21] Auch für die Covid19-Pandemiezeit konnte gezeigt werden, dass die Gewalt in den Familien nicht zugenommen hat.[22] Eine Verschlechterung der innerfamiliären Situation in den Jahren seit 2016 ist daher empirisch nicht zu beobachten.
Neben Erfahrungen in der Familie ist das Freizeitverhalten für die Erklärung von Jugendkriminalität bedeutsam, wie das u.a. die Theorie der Routineaktivitäten annimmt. Mindestens drei Freizeitaktivitäten stehen dabei mit kriminellem Verhalten in Beziehung: Wenn häufiger Freizeit unstrukturiert in von Erwachsenen wenig kontrollierten Orten verbracht wird (z.B. Rumhängen im öffentlichen Raum), wenn häufiger Gewaltmedien konsumiert werden und wenn häufiger Kontakt mit delinquenten Freunden besteht, dann ist das Risiko des Begehens von Straftaten erhöht. Die seit 2010 im Zwei-Jahres-Abstand wiederholte James-Studie[23], der repräsentative Jugendbefragungen (12- bis 19-jährige) zugrunde liegen, gibt Auskunft über die Entwicklung verschiedener Freizeitaktivitäten, wobei folgende Ergebnisse Aufmerksamkeit verdienen:
Das Treffen mit Freunden wird als Freizeitaktivität unwichtiger (S. 14). Zu berücksichtigen ist dabei, dass nicht das Treffen mit delinquenten Freunden abgefragt wurde, weshalb hierzu keine Aussagen gemacht werden können. Inwieweit sich Jugendliche möglicherweise vermehrt zu delinquenten Gruppen zusammenschliessen, kann daher nicht beurteilt werden. Wie die oben berichteten steigenden Beschuldigtenzahlen zu den Beteiligungen vermuten lassen, sind aber delinquente Gruppenkontexte zunehmend für Jugendliche von Bedeutung.Der Anteil an Jugendlichen, die ihre Freizeit mit „ausruhen und nichts tun“ verbringen, steigt von 2016 auf 2020 (S. 14). Auch wenn diese Aktivität nicht gleichzusetzen ist mit bspw. „rumhängen im öffentlichen Raum“, deutet sich an, dass unstrukturierte Freizeit, verbunden mit Langeweile o.ä., im Jugendalltag weitere Verbreitung erfährt.Mit Bezug auf den Gewaltmedienkonsum wird konstatiert[24]: „Im Zeitvergleich zeigen sich seit 2014 keine signifikanten Veränderungen im Umgang mit brutalen Videoinhalten“. Es gibt daher keine Hinweise, dass eine Zunahme des Gewaltmedienkonsum mit einem Anstieg der Jugendkriminalität in Verbindung steht.Insgesamt deuten die Befunde daher daraufhin, dass am ehesten eine zunehmende Gruppen- bzw. Cliquenorientierung und eine zunehmend unstrukturierte Freizeitgestaltung für die Zunahme der Kriminalität von Bedeutung sein könnten; die bislang vorliegenden empirischen Daten sind aber nur bedingt aussagekräftig.
In Betracht zu ziehen für den Anstieg ist zudem ein subkultureller Erklärungsansatz. In einer Analyse zu einer deutschen Jugendstichprobe, in der sich eine Zunahme des Anteils gewalttätiger Jugendlicher im Vergleich der Jahre 2015 und 2019 gezeigt hat, werden u.a. zwei bedeutsame Faktoren für den Anstieg identifiziert[25]: So hat sich der Anteil an Männlichkeitsnormen zustimmenden Jugendlichen mehr als verdoppelt (und steht in engem Zusammenhang mit Gewaltverhalten); ebenso hat sich der Anteil an gewaltakzeptierenden Einstellungen zustimmenden Jugendlichen deutlich erhöht. Beides deutet darauf hin, dass sich ein soziales Klima der aggressiven Selbstdurchsetzung und Wertschätzung von Gewalt und Kriminalität weiter durchsetzt – zumindest in bestimmten Subgruppen von Jugendlichen. Die zunehmende Verbreitung und individuelle Akzeptanz solcher Orientierungen wären dann relevant für das eigene Verhalten. Für die Schweiz liegen vergleichbare Analysen bislang nicht vor.