Jugendsünden - Wolfgang Süß - E-Book

Jugendsünden E-Book

Wolfgang Süß

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Beschreibung

Sommer 1985. Erste Liebe. Aus Spielerei wird bitterer Ernst. Freunde verschwinden - sterben - und eine ganze Stadt schweigt. 35 Jahre später hat Ralf den Mut, sich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen, doch jetzt geht es für ihn um Leben und Tod!

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Für Tanja Bell, Sandra Diedrich, Dirk Senske und all die anderen, die viel zu früh gehen mussten.

«Irgendwann sehen wir uns wieder, in meinen Träumen in unsern Liedern.»

(Nur die Besten sterben Jung – Böhse Onkelz)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: 1985

Kapitel 2: Stinker

Kapitel 3: Susanne

Kapitel 4: Ratkowski

Kapitel 5: Flucht

Kapitel 6: Im Keller

Kapitel 7: Falle

Kapitel 8: Jägerspitze

Kapitel 9: Unter Druck

Kapitel 10: Natalie

Kapitel 11: Besuch

Kapitel 12: Glückselig

Kapitel 13: Achtung!

Kapitel 14: Siebert

Kapitel 15: Leid

Kapitel 16: Bimsgrube

Kapitel 17: Richard

Kapitel 18: Die Stollen

Kapitel 19: Siebert & Ralf

Kapitel 20: Tod

Kapitel 21: Beileid

Kapitel 22: Gefängnis

Kapitel 23: Unfähig

Kapitel 24: Schweinestollen

Kapitel 25: Verabschiedung

Kapitel 26: Verschwunden

Kapitel 27: Gespräche

Kapitel 28: Männergespräche

Kapitel 29: Eine Träne

Kapitel 30: Frauengespräche

Kapitel 31: Zu Grabe

Kapitel 32: Penner

Kapitel 33: Begegnungen

Kapitel 34: Durchstarten

Kapitel 35: 2020

Kapitel 36: Olaf & Natalie

Kapitel 37: Altes Haus

Kapitel 38: Schlagzeilen

Kapitel 39: Verstecke

Kapitel 40: Thuja

Kapitel 41: Alter Ego

Kapitel 42: Stille Nacht

Kapitel 43: Konjunktive

Kapitel 44: Wiedersehen

Kapitel 45: Falsche Schlange

Kapitel 46: Geständnisse

Kapitel 47: Unerwartet

Kapitel 48: Letzte Instanz

Kapitel 49: Am Ende

Kapitel 50: Danksagung

Kapitel 1 1985

Wir lagen auf unseren Decken direkt neben den Duschen. Das Freibad schien die Menschen aus der ganzen Region anzuziehen, denn es war vor lauter Badetüchern kein Rasen zu sehen. Die Leute glichen aufrechtstehenden Ölsardinen in einer hellblauen Dose.

Springen vom Beckenrand verboten!

Dieses Schild stand an allen Seiten. Ernsthaft, bei dem Gedränge wird das niemand versuchen. Wir mussten Badekappen tragen, denn wenn wir ohne ins Wasser gingen und einen der alte Brettscheider erwischte - der von Anbeginn der Zeit Bademeister war - konnte man den Rest der Ferien durch den Maschendraht schauen.

Unsere Clique bestand aus vier bis sechs Jugendlichen. In den Sommerferien trafen wir uns morgens und suchten sinnvolle Beschäftigung. Manche nannten uns «Zurückgebliebene» weil wir in den Ferien nicht in Urlaub fuhren. Unsere Eltern hatten entweder kein Geld, zu viele Kinder, oder beides.

Menzelberg glich einer Geisterstadt. Jeder, der keinen Platz im Schwimmbad bekam, verbarrikadierte sich in seinen vier Wänden und ließ die Ventilatoren heißlaufen. Für uns waren die zwei Kilometer Fußweg reinstes Abenteuer. Unter den Basaltsteinen am Rand der Steinbrüche, von denen es bei uns wimmelte, fand man Blindschleichen, Ameisenstaaten und mit etwas Glück eine Ringelnatter. Viel zu erleben gab es zwischen den 8.000 Seelen der Gemeinde nicht. Für die Spielplätze waren wir zu alt und die Anwohner drohten mit der Polizei, sobald wir laut lachten.

Vater wollte, dass ich ein Handwerk lerne, das hätte angeblich goldenen Boden, und die Lehrer wägten ab, ob meine schulische Karriere im nächsten Jahr enden sollte, oder ob ich die mittlere Reife schaffen konnte.

Nebenbei wollte die eigene Sexualität entdeckt werden, was viel Zeit und Energie benötigte. Standesgemäß durften wir Vierzehnjährige zwischen Klettergerüst und Planschbecken, wo sich die meist jungen Eltern mit ihren plärrenden Bälgern tummelten, unsere Decken ausbreiten.

Wir hockten im Kreis, hörten Musik aus meinem tragbaren Kassettenrecorder und redeten dummes Zeug, worin wir unbestrittene Meister waren. Die Sonne brannte uns auf den Pelz, sodass man alle zehn Minuten das Bedürfnis hatte, sich unter die Dusche zu stellen.

Zu viert spielten wir Poker mit abgenutzten Karten, die uns monatelang begleiteten. Natalie, das einzige Mädchen, mit dem es sich aushalten ließ, räkelte sich auf ihrer Decke und hatte ein Handtuch auf dem Gesicht. Während ich meine Karten sortierte, sah ich fasziniert zu, wie gleichmäßig sich ihr flacher Bauch beim Atmen hob und wieder senkte.

«Ich setz drei!», sagte Tom und warf Zigaretten in die Mitte. Wir spielten immer um Kippen, Süßigkeiten oder Groschen, anderes besaßen wir nicht. Ronny und Tom verstanden es, die steinalte Käthe im Tante-Emma-Laden abzulenken und unbemerkt eine Schachtel WEST oder CAMEL einzustecken. Wenn sie in Hochform waren, klauten sie mehr, als in ihre Taschen passte. Ich hatte Angst zu stehlen und lief sofort rot an, wenn ich nur daran dachte.

«Ich erhöhe um fünf!», rief Olaf und ließ sein wieherndes Lachen hören. Er hatte rote Haare und vertrug die Sonne ebenso gut wie ein Vampir. Sein ganzes Gesicht war übersät mit fetten Sommersprossen, die mit jeder Stunde zu wachsen schienen.

Tom sah abschätzend herüber und zündete sich eine Zigarette an.

«Schon mal was von einem Pokerface gehört, Pumuckl? Du musst locker bleiben, wenn du nichts auf der Hand hast. Sonst schafft es selbst Ralle, dich abzuziehen.»

Olaf sah nochmal auf sein Deck. «Ich hab genug, um dir deinen Arsch zu pudern und SAU draufzuschreiben.» Den Pumuckl überging er, da er die Sprüche gewohnt war.

Wenn wir nicht im Schwimmbad lagen, experimentierten wir mit Zigaretten, Alkohol und Pornos. Hauptsächlich Tom und Ronny machten von den ersten beiden Gebrauch und prahlten mit Letzterem. Mir sagte Alkohol nicht zu, was sich in späteren Jahren ändern sollte.

«Wenn ich in deine dumme Fratze schaue, weiß ich zu hundert Prozent, dass du nichts hast. Schmeiß weg, sonst bleibt dein Schornstein heute kalt, weil ich deine Kippen gewonnen habe», sagte Tom.

Ronny und ich warfen die Karten in die Mitte.

«Verdammt!», brüllte Olaf dermaßen laut, dass sich Köpfe von den umliegenden Decken zu uns drehten. «Ich muss mit zwei Pärchen passen! Hätte ich mehr Kippen, würde ich dich platt machen, dir den Kopf abreißen und in den Hals pinkeln!» Er beugte sich vor, verzog das Gesicht und lachte wie eine schwachsinnige Hyäne. Wenn es darum ging mit Kraftausdrücken, um sich zu schleudern, war Olaf einer der Besten. Tom klemmte die Zigarette in den Mundwinkel und sammelte den Pott ein.

«Du musst zeigen!», sagte Olaf.

«Ich muss heute Abend Fränkis Mutter beglücken, sonst nichts!» Tom zog genüsslich an seiner Zigarette und versuchte, einen Ring in die Luft zu blasen.

«Ich hab keine Lust mehr. Ihr pfuscht doch alle!» Motzig verschränkte Olaf die Arme vor der Brust und sah aus wie ein trotziger Buddha.

Durch seine roten Haare war er von Kind an gewohnt, dass man sich über ihn lustig machte. Schlimmer waren die Zustände zu Hause. Mit seinen Eltern und dem älteren Bruder hauste er in einer Sozialwohnung auf dem Schuldenberg, einem Wohnviertel für Sozialhilfeempfänger.

Olafs Vater war ein stadtbekannter Säufer und Kettenraucher. Hatte er abends den Kanal voll, ging er ins Zimmer zu seinem Sohn und regte sich ab. Oft kam unser Freund mit blauen Flecken oder einer aufgeplatzten Lippe in die Schule.

Schlimmer traf es ihn, wenn sein Bruder Dieter zu Hause war, um die Pausen zwischen der väterlichen Prügel mit Misshandlungen aufzufüllen. Tom hatte Olaf angeboten, die Reifen seines Autos zu zerstechen oder ihm auf dem Nachhauseweg aufzulauern. Tom war erfinderisch darin, sich zu rächen.

Ich verlor meine Hoffnung, als ich ihn Jahre später zu Hause besuchte, und er mir mit einem Gesichtsausdruck wie Charles Manson erzählte, dass er eine Katze stranguliert habe. Er kochte sie ab und goss ihren Schädel in Kunstharz. Stolz präsentierte er den Würfel. Spätestens da wusste ich, dass Olaf verrückt war. Zum Glück hatten wir mit Erwerb der Fahrerlaubnis nichts mehr miteinander zu tun. Mit vierzehn Jahren gehörte er zu unserer Clique, und wenn er nicht seine Fünf-Minuten hatte, war er ein guter Freund und kannte die versautesten Witze.

«Für dich muss ich nicht schummeln, du spielst schlechter Poker als meine tote Oma. Und die hatte keine Hände.» Tom hatte die Karten zusammengelegt und mischte. Er konnte das Kartendeck mit einer Hand teilen und übereinanderlegen. «Solltest du nochmal behaupten, dass ich betrüge, prügel ich dir die Scheiße raus.»

Wir wussten alle, dass Tom nicht lange fackelte. Er hatte das schlimmste Elternhaus, das man sich vorstellen konnte. Eltern geschieden, beide neue Partner, die Tom keinerlei Beachtung schenkten. Als wir eines schönen Tages zu ihm nach Hause wollten, und seine Mutter es mit ihrem Lover im Wohnzimmer trieb, machte ich den Fehler und lachte. Tom rammte mir seine Faust in den Magen, als wäre es ein Dampfhammer.

Das alles geschah im Sommer 1985, und ich war überzeugt, dass es der Längste der Welt war. Damals schwebte etwas in der Luft, das weder greifbar noch auszusprechen war. Mir kam es vor, als hätten wir das Larvenstadium beendet, und bereiteten uns darauf vor, wie Schmetterlinge durchs Leben zu fliegen.

Tom war mit drei Sechsern sitzengeblieben und verweilte im 8. Schuljahr. Ronny, der vor 5 Jahren zusammen mit seinen Eltern aus der DDR flüchtete, und mir im ersten Moment hochintelligent vorkam, erwies sich als hemmungsloser Draufgänger. Seine Gerissenheit war animalisch und machte mir Angst. Mittlerweile musste er täglich neue Grenzen ausloten.

Er erinnerte mich an den Hund, den wir zwischenzeitlich hatten. Ein Mischling, dem nicht mehr anzusehen war, welcher Rasse er glich. Mit neun Monaten bekamen wir ihn und Vater gegenüber war er untertänig und nässte sich ein. Bei Mutter und mir verlor er seine Hemmungen, zerbiss die Pantoffeln, zerfetzte unsere Strümpfe und zur Krönung rammelte er uns die Wade. Mein Vater sagte, er würde austesten, welche Position er im Rudel erreichen konnte.

Ronny verhielt sich wie der durchgeknallte Köter. Zwar rammelte er uns nicht, legte sich jedoch mit jedem an, um zu zeigen, dass er Eier in der Hose hatte. Ich gestand ihm das ohne Widerworte zu. Vom Körperbau her schmächtig sah ich immer kränklich aus und mochte es eher ruhig. Ich schrieb Kurzgeschichten, die ich Fränki und Olaf vorlas, wenn wir bei schlechtem Wetter in der Bude hockten. Tom und Ronny fanden Schreiben schwul und ich hütete mich davor, das Thema anzuschneiden. Die Geschichten waren mein Zufluchtsort, mein persönliches Baumhaus.

Ich liebte dicke Bücher und zusammen mit Jim Hawkins kämpfte ich auf der Schatzinsel gegen Piraten; streifte mit David Balfour und Alan Breck durch Schottland; jagte mit Queequeg und Kapitän Ahab den weißen Wal und weilte mit Gulliver unter den Liliputanern. Mein Vater hielt Lesen und Schreiben für geistige Schwäche. Gerne brüstete er sich damit, dass er keine Zeit für diesen Blödsinn hatte. Er habe mit fünfzehn die Lehre angefangen und ein Haus gebaut, lesen bereite ihm Kopfschmerzen.

Seit meine sechs Jahre ältere Schwester bettlägerig war, durfte ich im Haus nicht mehr laut Musik hören. Leni hatte Leukämie und soweit ich informiert war, sollte sie diesen Sommer sterben.

Fränki und Ronny wollten sie vor einer Woche sehen. Ich führte sie in ihr Zimmer, wo wir minutenlang am Bett standen und sie anschauten.

«Totes Gemüse», sagte Ronny und hatte das Interesse verloren.

«Kann sie uns hören?», fragte Fränki und hatte vor Aufregung einen hochroten Kopf. Ich zuckte mit den Schultern. Anfangs hat es mir leidgetan, dass Leni krank war, mit der Zeit gewöhnte man sich daran. Jetzt war es nur noch lästig.

«Darf ich sie anfassen?» Er sah mich an, als würde er vor einer Sahnetorte stehen, und streckte den Finger aus. «Sie hat schöne Brüste.» Ich rammte ihm meinen Ellenbogen in die Seite.

«Kranker Idiot!», brummte Ronny und hatte genug gesehen.

Am meisten interessierte mich, ob ich ihr Zimmer bekommen würde. Es war doppelt so groß und hatte zwei Fenster. Ich sah bereits meine Poster an der Wand. Mutter sagte, ich dürfe das nicht denken, aber ich konnte es nicht ändern; ungeduldig erwartete ich die Erlösung unserer Familie.

Im Grunde waren wir der untere Mittelstand von Menzelberg. Kein Umgang für die Besseren, zu gut für die Asozialen. Ich hatte einen Freund in der Grundschule, dessen Vater ihm verbot, weiterhin mit mir zu spielen. Ich konnte das nicht verstehen. Mit den Jahren ändert man die Perspektive und betrachtet sich selbst aus einem gewissen Abstand. Ich hielt unsere Familien damals für achtbar und ehrenwert, mich für einen der Guten, doch wurden wir in der Stadt rumgeschubst und von einigen gemieden. Tauchten wir auf dem Spielplatz auf, dann verjagte man uns und es wurde mit der Polizei gedroht. Wir waren diejenigen, denen man zutraute, dass sie Kaugummiautomaten aufbrachen, einem morgens die Brötchen von der Fensterbank stahlen und dem Hund einen Knallfrosch an den Schwanz banden.

Selbst Natalie, das einzige Mädchen, mit dem man sich unterhalten konnte, war Bodensatz. Ihr Vater soff ebenfalls und musste seine drei Kinder alleine großziehen, da die Mutter einen Hirnschlag bekam, als Natalie zehn war. Jahre später erfuhr ich, dass sie missbraucht und geschlagen wurde.

Hier im Schwimmbad lag sie neben uns. Wenn wir ihr auf die Brüste sahen, schlug sie einem mit der Faust auf den Oberarm. Sie rauchte und trank Bier. Wie sollte ich wissen, dass sie versuchte, ihren Schmerz zu betäuben?

«Ich habe Susanne Wagner gesehen», sagte Olaf triumphierend, als er merkte, dass niemand sich für ihn interessierte. «Hat den geilsten Bikini an. Knallrot! Hab gedacht, mein Klappmesser springt auf. Ich muss dabei sein, wenn sie die Leiter zum Dreier hochgeht.» Er ließ seine Zunge blitzschnell vorschießen und wackelte mit der Spitze.

«Red kein Quatsch. Als wenn die arrogante Kuh in Menzelberg ins Schwimmbad gehen würde», sagte Ronny.

Susanne Wagner war die absolute Erfüllung meiner Träume, was sag ich, aller Jungen in unserer Schule. Für gewöhnlich ließ sich von ihren Eltern in die nächste Stadt fahren, weil sie wusste, dass wir alle scharf auf sie waren. In der Grundschule besuchten wir dieselbe Klasse, dann wechselte sie auf´ s Gymnasium.

«Ronny und ich haben sie gestern Abend getroffen, als sie mit ihrer Töle um den Weiher ging», sagte Tom und zwinkerte seinem Freund zu.

«Eine Hand voll, sag ich nur. Und ihre Lippen schmecken nach Erdbeere.» Ronny formte eine Halbkugel in der Luft und machte einen Kussmund.

«Scheiße!», rief Olaf. «Ich wette zwei Happy Weekend, dass ihr Stümper null Chance bei ihr habt. Das Mädel hat Klasse!»

Tom trat ihm im Liegen gegen den Oberschenkel. «Spasti! Du wirst dir noch in zwanzig Jahren auf solche Weiber einen kurbeln. Ronny und ich haben es getestet.» Er grinste zufrieden und verschränkte die Arme hinterm Kopf. «Sie ist zwar eine Zicke, doch bei erfahrenen Typen wie uns hat sie keine Chance.»

Natalie verzog das Gesicht. «Ihr seid ekelhaft. Spielt weiter an euren Kinderzipfeln rum. Ist kaum zum Aushalten! Alles dreht sich um Ärsche, Titten und euer überzogenes Ego. Werdet erwachsen!»

Olaf und Ronny äfften sie nach und lachten.

Die Welt hatte sich geändert. Wir sprachen über nichts anderes mehr und laut der BRAVO waren wir in dem Alter, wo es zum ersten Mal ans Eingemachte ging – normalerweise. Sex lag in der Luft wie ein anstehendes Gewitter. Hätte mir im Frühjahr jemand gesagt, dass wir diesen Sommer alle in vielerlei Hinsicht unsere Unschuld verlieren, ich hätte ihn ausgelacht.

Ronny nahm sich eine Zigarette vom Stapel und öffnete mit einer flotten Handbewegung das ZIPPO Feuerzeug.

«Ist eine Frage der Zeit! Wenn nicht wir, wer dann?», sagte er und schaute Natalie unverhohlen in den Schritt.

In diesem Moment kam Fränki angelaufen, stolperte über Natalie, die hochschreckte. Außer Atem stützte er sich auf seine Knie und die Polaroid Kamera baumelte herunter. Seit einigen Tagen sah man ihn nicht mehr ohne dieses verdammte Ding.

«Jungs! Ich ... weiß etwas ... dass wisst ihr ... nicht.»

Ich schnippte eine Ameise von meinem Bein. «Dann schreib es auf. Vergisst du es, weiß es keiner mehr!»

Natalie stand auf, schlug mit dem Handtuch zu und zog frühzeitig zurück, wie bei einer Peitsche. Die Spitze des Frottees traf Fränki am Arm und er schrie auf, als habe man ihn abgestochen.

Er war eindeutig schwachsinnig, das attestierten ihm unserer Meinung nach die Ärzte, zu denen seine Mutter ihn seit Jahren schleifte. Sie hatte ihn mit 15 bekommen und der Vater verschwand über alle Berge. Fränki behauptete, er sei ein Agent und würde irgendwann zur Familie zurückkehren, bis dahin müsse er Geheimaufträge ausführen.

Seine Mutter arbeitete in der Waage, einer klassischen Arbeiter-Saufkneipe. Hier wurde der Wochenlohn versoffen und zünftig Skat gespielt. Sie war 29 und ein flotter Feger. Man sagte ihr nach, dass sie jeden Abend einen anderen Gast mit nach Hause nahm, was dummes Gerede war. Sie hatte mehrere Jobs, um sich und ihren Sohn über Wasser zu halten. Für eine Unverheiratete mit Kind schwere Zeiten.

Er war friedliebend, einfältig und lebte in seinen Comics und Vorabendserien. Es verging kaum ein Tag, an dem er uns nicht eine Wahnsinnsgeschichte erzählte und schwor, dass sie wahr ist. Seit Anbeginn der Sommerferien lief er mit einer Polaroid 600 durch die Gegend, die seine Mutter ihm zur Belohnung, dass er nicht sitzengeblieben ist, gekauft hat.

Weinerlich rieb er die Stelle, an der Natalie ihn getroffen hatte. «Im Ernst. Ratet, wen ich gesehen habe?»

«Deinen Pimmel», sagte Olaf und warf den Kopf in den Nacken, um zu wiehern.

«Deine Mutter, wie sie sich nackt hinter den Umkleiden räkelt?», setzte Ronny nach. Ein Bild, das wir uns gerne vorstellten, denn Fränkis Mutter war für uns die Göttin der Wollust. Wann immer wir bei ihm waren, versuchten wir in ihr Schlafzimmer zu kommen. Olaf hatte einen Tanga aus der Schublade geklaut und tauschte ihn mit Bert, gegen einen Stapel Hustler und Playboy Zeitschriften. Ein Tausch, von dem wir alle profitierten. Bert wurde am nächsten Tag von einem Lehrer auf der Schultoilette geschnappt, als er in den Slip jodelte. Es gab eine Riesenwelle, weil er verriet, wer die Trägerin war. Nun lag die Schuld bei Fränkis Mutter, die fassungslos zum Rektor musste, da alle wissen wollten, wie ihr Slip in die Schultoilette und somit in die Hand von Bert kam. Unsere Begeisterung für sie dämpfte das nicht im Geringsten.

«Fick dich, Ossi!», konterte Fränki ungeschickt.

Ronny hasste es, so bezeichnet zu werden, und schlug ihm mit der Faust auf die Zehen.

Fränki humpelte, aber die Aufregung über seine Entdeckung war zu groß. «Verdammt!» Er sprang zweimal auf einem Bein, das wir dachten, jeden Moment schwappe das Schwimmbecken über. Seine rosa Hühnerbrüste hüpften auf und ab und die Kamera klatschte gegen die Babyhaut. «Ich steh auf dem Dreier ...»

«Ich steh auf einen Dreier!», unterbrach ihn Olaf.

«... will ne Arschbombe machen, da seh ich ihn.» Er machte eine dramatische Pause.

«Deinen Pimmel?», fragte Olaf erneut.

«Mann, konzentriert euch», rief Fränki. «Der Hammer kommt noch.»

«Verdammt, wen interessiert dein Pimmel», sagte Tom und klatschte mit Olaf ab.

«Stinker!», sagte Fränki wie von einer schweren Last befreit.

Alle Köpfe gingen in seine Richtung.

«Unser Stinker?», fragte Tom ungläubig.

Kapitel 2 Stinker

«In voller Montur!», sagte Fränki andächtig.

Wir tauschten Blicke und man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass Ärger in der Luft lag. Stinker hieß mit bürgerlichem Namen Richard Finke. Er lebte mit Mutter und Bruder auf einem Bauernhof am Südende der Stadt. Über dem Pferdestall gab es zwei Zimmer, die früher als Schlafstatt für das Gesinde dienten, dort hausten sie.

«Wo?», fragte Tom. Ihm war anzusehen, dass er die Abwechslung bereitwillig annahm und sich freute, dass es ein Opfer gab. Ihm brauchte ich nur in die Augen zu schauen und wusste, was er dachte.

«Die Umkleide am Wasserhäuschen», antwortete Fränki.

Am Eingang waren die offiziellen Umkleidekabinen, vereinzelt gab es vier weitere, die aussahen wie Litfaßsäulen mit einer Tür. Eine davon stand an der Ostseite des Schwimmbades, direkt neben dem Gebäude zur Wasseraufbereitung. Der Platz war unter Jugendlichen nicht beliebt, denn der Bademeister ging mehrmals täglich vom Becken zum Häuschen, um die Wasserwerte zu kontrollieren. Sah er Jugendliche mit Alkohol oder Zigaretten, setzte er sie vor die Tür.

«Dann werden wir unseren Ehrengast willkommen heißen!», sagte Tom unheilvoll.

Wie eine Meute junger Hunde liefen wir los und ich bildete mit Natalie das Schlusslicht. Unterwegs sprangen wir über Decken, wichen Leuten aus und versuchten, keinem auf die Füße zu treten. In einiger Entfernung stand ein schlaksiger Kerl mit fleckiger Cord-Hose und dicker Hornbrille, deren Bügel mit Klebeband geflickt waren.

Richard Finke.

Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn jemals im Schwimmbad gesehen zu haben. Er roch streng nach Schweiß und Stall und seine Kleidung sah aus, als trage er sie seit Monaten am Leib. Selbst die Lehrer verbannten ihn in die letzte Reihe.

Jetzt stand er hier auf dem saftig grünen Rasen, hielt eine Plastiktüte an den Körper gepresst und wusste nicht, wie er sich zu verhalten hatte. Richard war mindestens zweimal sitzengeblieben und hatte die Hauptschule im 7. Schuljahr verlassen. In meiner Erinnerung war er jemand, der von allen gemieden wurde. Er half dem Bauern im Stall und bei der Feldarbeit, eine Ausbildung war nicht in Sicht. Seine schweißnass blonden Haare und das Shirt mit dem WM Logo von 1974 klebten auf seiner Haut.

Gleich einer Comicfigur stand er da, die Füße im rechten Winkel gespreizt, die Fingerspitzen in den Hosentaschen vergraben. Richard nannte kaum einer beim Namen, und ich vermute, viele kannten ihn nicht einmal. Jemanden wie ihn gab es in jeder Schule, egal ob Dorf oder Stadt. Er existierte, man nahm ihn störend wahr, der Rest interessierte nicht. Man lud ihn nicht zu Geburtstagen ein und fragte nicht, ob er zum Spielen vor die Tür kommt.

Seine Mutter ging zu Fuß Einkaufen, trug schwere Taschen und sah nie glücklich aus. Richards jüngerer Bruder hatte eine Behinderung, die mir angst machte. Er drehte den Kopf nach links, dass die Sehnen und Muskeln seines Halses hervortraten, den rechten Arm winkelte er an und die Hand hing wie ein lahmer Flügel herunter. Die Füße waren nach innen gedreht und dadurch konnte er nur mühsam schlurfen. Oft sah man sie mit schweren Einkaufstüten nach Hause gehen und die Leute wechselten kopfschüttelnd die Straßenseite. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man, ihr Ehemann sei im besoffenen Kopf von einem Blitz erschlagen worden und verbrannt.

Richard spähte in die Ferne und jede Sekunde zuckte sein Kopf, als justiere er eine Kamera nach. Zweifellos hielt er Ausschau, um gefahrlos baden zu können. Eine Gruppe Mädchen auf der benachbarten Decke sahen ihn an und rümpften die Nase. Richards Kopf ruckte in ihre Richtung, der Gesichtsausdruck blieb.

Kurz vor ihm hielten wir an und Tom stemmte die Fäuste in die Hüfte. Er blies sich eine Strähne aus der Stirn und fixierte Richard. Natalie legte ihre Hand auf Toms Arm, doch er schüttelte sie achtlos ab. Sie zuckte resigniert mit den Schultern und ging ein paar Schritte zur Seite. Olaf freute sich, denn im Schutz der Kumpels konnte er das ganze Repertoire seiner Sprüche abfeuern, ohne Gefahr zu laufen, dass er Prügel bekam. Fränki war im Gesicht abzulesen, dass er heilfroh war, nicht an Richards Stelle zu sein. Wie ein Reporter hob er seine Polaroid Kamera und knipste. Vorsichtig zog er das Foto heraus und wedelte damit in der Luft. Er wurde von Älteren ebenfalls gehänselt und konnte erahnen, wie Stinker sich fühlte. Ronny hatte sein Raubtierlächeln aufgesetzt und ich sah, dass er die Sachlage analysierte wie ein Tiger.

«Hey Schmuddel!», rief Tom, ließ seine Brust anschwellen und legte den Kopf in den Nacken.

Richards Reaktion war filmreif. Ein Ruck durchlief den Körper, die Kinnlade fiel herab und schnappte sofort wieder zu, dass seine Zähne aufeinander schlugen. Der Eulenkopf zuckte zu uns herüber und sein Adamsapfel rutschte auf und ab. Es war unmöglich, eine emotionale Regung in seinem Gesicht abzulesen.

«Kannst du mir erzählen, was du hier machst?»

«Das Gleiche wie du», sagte Richard mit der Stimme eines trotzigen Kindes.

«Junge, im Schwimmbad bist du falsch, du brauchst einen Ölwechsel!», rief Olaf aus der zweiten Reihe. «Wenn du ins Wasser gehst, schwimmen selbst die Bakterien oben. Geh duschen, kratz dir das Schwarze unter den Nägeln raus – dann reden wir weiter.»

«Geh du doch», sagte Richard.

Ronny ließ Richard keine Sekunde aus den Augen. Ich wünschte mich auf den Mond, denn bei aller Freundschaft hasste ich solche Aktionen.

«Hey Spasti. Hol tief Luft, dann packst du deine verschissene Tasche und verschwindest.» Ronnys Stimme klang anders als sonst, ruhig und abgeklärt.

«Und wenn nicht? Ich darf ins Schwimmbad, wie ihr.»

«Meine Fresse!», rief Tom und man merkte seiner Stimme an, dass er kurz davor war zu explodieren. «Ralle, sag du es ihm, sonst schlag ich ihn kaputt!»

Das Damokles-Schwert über mir sauste hinab und ich brauchte Sekunden, um zu verstehen. An Olaf vorbei stellte ich mich neben Tom.

«Läusepeter, komm an einem anderen Tag wieder, geh bitte vorher duschen. Hier sind Leute, die auch ins Wasser wollen.»

«Ich hab Eintritt bezahlt!»

«Ich gebe dir die Mark und dann ziehst du Leine, ok?»

Meine Kumpels nahmen das als Witz und lachten. Die Welt hatte die Chance, weiterhin ein friedvoller Ort zu sein, Richard brauchte nur zu verschwinden und es an einem anderen Tag versuchen.

«Ich geh nicht!», sagte Richard und es fehlte, dass er mit dem Fuß aufstampfte.

Aus der Plastiktüte zog er ein zusammengerolltes Badetuch und breitete es unbeholfen vor sich aus. Erst jetzt sah ich die braunen Sandalen unter dem Schlag der Cordhose hervorschauen. Er trug keine Socken und seine Zehnägel sahen aus wie Spatenblätter. Unwillkürlich verzog ich das Gesicht und bekam Gänsehaut.

«Hey! Pack deine Sachen und verschwinde!» Die Worte brannten wie Feuer im Hals. Unerträglich, dass ich dabei war, alles Erlernte meiner Mutter zu verraten und verkaufen. Scheiß auf Gruppendynamik, Gruppenzwang und was es sonst gibt, ich hätte sagen sollen, dass wir in einem freien Land leben und selbst Schmuddelige sich frei bewegen dürfen.

«Warum?», fragte er mit seinem Eulenblick.

Mir fehlten die Worte. «Was warum?»

Seine Augen tasteten die Leute hinter mir ab und die Mundwinkel bogen sich tiefer nach unten. «Warum soll ich gehen? Ich hab Eintritt bezahlt wie ihr. Und wenn ihr mich nicht in Ruhe lasst, dann ruf ich den Bademeister!»

Oh Richard! Warum konntest du nicht die olle Tasche packen und nach Hause gehen? Dort hättest du in dein Kissen geweint und ich ein normales Leben gelebt!

Bevor ein anderer laut wurde, versuchte ich es ein letztes Mal. «Mach keinen Scheiß! Pack dein Zeug und zisch ab!»

Sein verlaustes Gehirn hatte den heutigen Tag zur Revolution ausgerufen, prima. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schien gegen alle Anfeindungen gewappnet. Ausgerechnet jetzt war er es leid wegzulaufen. Musste das heute sein, in dem Sommer, wo ich zum ersten Mal die Kraft der Liebe spüren sollte und meinen ersten Kuss bekam?

«Ich hab bezahlt!»

Tom sah Richard eingehend an und kniff die Lippen zusammen. «Geh rüber und hau dem Scheißer eine aufs Maul!», sagte er, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Der Satz hallte in meinen Ohren nach wie ein Todesurteil. Zwickmühle, Schachmatt, nichts geht mehr.

«Aber ich kann ....»

«Traust du dich nicht!»

Tom baute sich vor mir auf und Ronny trat ihm zur Seite.

«Scheiß Pussy!»

Er sah mir in die Augen und es schien, die Frage diente einzig dazu, meine Position klarzustellen – für ihn und sein System oder Palastrevolution? Gehörte ich weiterhin zur Gruppe?

«Olaf, du bist auch so eine Tunte. Knall dem Spasti eine!»

Ihm rutschte das Herz in die Hose und außer mit schreckgeweiteten Augen Tom anzustarren, war er zu nichts fähig. Er hatte zwar ein loses Mundwerk, hob selbst nie die Hand gegen jemanden.

«Bin ich denn nur von Schwuchteln umgeben?»

Natalie drückte sich an Olaf vorbei und sah mit gleichgültigem Gesicht zu Richard.

«Verpiss dich! Wenn nicht freiwillig, dann prügel ich dich bis zum Ausgang.» – «Guck nicht so dämlich, sonst lernst du mich kennen!» Sie tat das, was ich mich nicht traute. Vergleichbar damit, einen streunenden Hund mit dem Knüppel zu verjagen, weil man weiß, der Nachbar wird ihn gleich mit seinem Kleinkaliber erschießen.

«Du prügelst niemanden!», rief eine Stimme und wir zuckten unweigerlich zusammen.

Kapitel 3 Susanne

Im ersten Moment glaubte ich an eine Erscheinung, bis mir bewusst wurde, wer den Mut aufbrachte und sich zwischen uns stellte. Susanne Wagner trug ihr rotes Bikini Oberteil und um die Hüften einen Wickelrock. Rechts und links neben sich ihre beiden Freundinnen, die nicht minder blendend aussahen.

«Seid ihr wirklich so dämlich? Wollt ihr jemand aus dem Schwimmbad werfen, nur weil ihr Spaß dran habt? Euch müsste man rauswerfen! Sollte sich einer an ihm vergreifen, fliegt er!» Susanne hatte ihre blonden Haare zu einem Zopf gebunden und trug eine modische Sonnenbrille.

Richard stand neben seiner Tüte und verzog keine Miene.

Ronny war der Erste, der sich aus seiner Lethargie löste. «Was ist denn mit euch Schnuckis? Fertig mit Sonnenbaden und Maniküre?»

Die Freundinnen kannte ich vom Sehen – alles arrogante Hühner aus besseren Familien.

«Sonst fallen dir keine blöden Sprüche ein? Maniküre und Sonnenbaden? Armselig. Ich glaube, dir liegt es eher, Leute anzupöbeln und Schwächere anzugreifen! Das zeigt, wie minderwertig ihr seid.»

Ronny hob die Augenbrauen. Wenn ein Junge ihm das an den Kopf geschmissen hätte, wäre ihm sofort eine Faust ins Gesicht geflogen. «Ihr lasst euch sonst niemals hier sehen, verlaufen? Warum interessiert dich der Flohsack auf einmal?»

Susanne sah ihn an und schüttelte den Kopf. «Wusste nicht, dass du mehrere Sätze hintereinander sprechen kannst. Hast auf dem Zeugnis eine Fünf in Deutsch, wenn ich recht informiert bin. Streu bloß keine Fremdwörter ein, dann merkt es niemand.»

Ronnys Gesichtsausdruck änderte sich. «Oh, da hat sich jemand über mich schlaugemacht. Sehr gut!»

«Lustig, nicht schlau. Lass dir bei der Nachhilfe den Unterschied erklären.»

Seine Wut ließ sich kaum unterdrücken. Ihr Geschlecht hinderte ihn daran, sie mit aller Kraft umzuhauen. Ich kannte die beiden und fragte mich, wie lange sie ihren Zorn im Zaum halten konnten? Gleichzeitig war ich überwältigt von Susannes Mut.

Vorsichtig ging Ronny auf sie zu und erinnerte einmal mehr an ein Raubtier, das sich mit gespieltem Desinteresse seiner Beute nähert.

«Glaubt ihr Weiber, dass ihr uns aufhalten könnt? Geh lieber beiseite, sonst bekommst du die Krätze. Wäre schade um deine gepflegte Haut. Cremst du dich abends brav ein?»

«Das wirst du, Gott sei Dank, niemals erfahren. Emely kann Karate, an deiner Stelle würde ich aufpassen.» Sogleich hob das Mädchen zu ihrer Rechten die Fäuste, was in ihren Badeklamotten eher lustig als gefährlich aussah. Sie hatte schwarze Haare und war einen halben Kopf größer als Susanne. Soweit mir bekannt, kam sie aus Rheinach und ihr Vater hatte Kohle zum Abwinken.

Tommachte einen langsamen Schritt zur Seite und es hatte den Anschein, als wollten sie die Gruppe umzingeln.

«Ihr solltet euch ansehen», sagte Susanne laut, dass sich Erwachsene auf den Decken umdrehten. «Um euren Frust zu kompensieren, sucht ihr einen Schwächeren. Macht zur Abwechslung was Sinnvolles, verschwindet!» Ihr Blick ging von einem zum anderen. Als sie mir in die Augen schaute, dachte ich, der Boden tut sich auf. Bis dahin konnte ich mir nicht vorstellen, jemals vor Scham zu glühen.

Selbstbewusst stand Susanne da wie eine Statue, und ihren Augen war abzulesen, dass sie nicht einen Meter weichen würde. Wusste sie nicht, dass Tom zwischen Junge und Mädchen keinen Unterschied machte, wenn er auf 180 war?

Die Lunte war heruntergebrannt und es konnte jeden Moment zur Explosion kommen. Toms Hände waren zu betonharten Fäusten geworden, bei denen die Knöchel weiß hervortraten. Ich sah vor dem geistigen Auge, wie er Susanne mitten ins Gesicht traf.

Dann zuckte er, holte aus und ...

Kapitel 4 Ratkowski

... wurde zur Seite geschleudert.

«Verdammter Pisser!», rief der muskulöse Junge mit dem Tattoo in Form eines Panthers auf dem Oberarm. Ronny holte ebenfalls aus, da drehte sich der Angreifer und wir rissen alle die Münder auf. Paul Ratkowski war mit seinem Schatten Uwe Zöllner vom Liebeshügel hinuntergekommen und bewahrte Susanne vor Toms Schlag.

Paul war das schwarze Schaf von Menzelberg. Mit zweiundzwanzig Jahren hatte er mehr Dreck am Stecken, als alle anderen zusammen. Sein Vater war ehemals Bürgermeister und an Verschlagenheit kaum zu überbieten. Ein Grund, warum man beiden den Spitznamen Ratte gab, den man nur hinter vorgehaltener Hand benutzte.

Uwe Zöllner war ein debiler Trottel, dem die Dummheit aus den Augen schaute. Er war immer in Pauls Nähe und hörig wie ein abgerichteter Hund. Trotz knapp zwei Meter und einem Gewicht von über drei Zentnern hatte er den Verstand eines Kommunionkindes. Allein sein Aussehen wirkte abschreckend.

«Wenn einer von euch die Hand hebt, schlag ich ihm eigenhändig alle Zähne aus!» Ratkowski lächelte und sah uns in die Augen.

Alle kannten die beiden, machten sie doch die gesamte Stadt unsicher. Wo sie auftauchten, wurde gestohlen, zerstört oder geschlagen. Gegen sie hatten Ronny und Tom zusammen nicht die geringste Chance. Paul lächelte Susanne zu und kratzte sich bedächtig am Kinn. Hinter seinem Ohr klemmte eine Kippe und durch die Jeans zeichnete sich ein Springmesser in der Hosentasche ab.

Paul fuhr einen BMW, den ihm sein Vater gekauft hatte. Ich hatte mitbekommen, wenn die Erwachsenen zusammenstanden, dass er ins Gefängnis gehörte, der alte Ratkowski ihn jedoch decke.

Zöllner hauste in den Baracken, die die Stadt einst für Sozialschwache bauen ließ und die mittlerweile verfielen.

«Das sehe ich doch richtig, Fräulein, du wirst von den Pennern belästigt, oder?» Susanne nickte zögernd. «Uwe.», er drehte sich kurz zu seinem Freund. «Wir retten eine Jungfrau in Not! Sind wir nicht wahre Ritter?» Zöllner wusste nicht, wie sein Kumpel das meinte, und schob die speckige Stirn in Falten. «Wenn ihr Hosenscheißer, in meiner Gegenwart eine bezaubernde Frau bedrängt, dann schlage ich eure verwanzten Köpfe auf wie Frühstückseier, verstanden?»

«Wir haben keinen geschlagen», sagte Ronny trotzig.

«Dass du sie geschlagen hättest, genügt mir.» Sein Blick blieb an Tom hängen. «Reicht es nicht, dass dein vertrottelter Bruder im Knast sitzt? Musst du deiner Mutter noch mehr Schande bereiten?»

«Red nicht von meinem Bruder ...» Tom schäumte vor Wut.

«Uwe, was schätzt du, wie viele Schläge nötig sind, um unseren pubertierenden Scheißhaufen hier K.O. zu schlagen?»

«Zwei.», sagte der Kumpane nach kurzer Pause.

«Zwei? Ich könnte wetten, mindestens vier. Der Typ ist ein ganz harter.» Uwe zuckte mit den Schultern.

Ratkowski kam nah an Toms Gesicht und sah ihm in die Augen. «Was meinst du, soll ich mit meinem Freund wetten?»

Ich kam mir vor, wie bei Spiel mir das Lied vom Tod und wartete darauf, dass einer seinen Colt zog. Tom spreizte die Finger und ging einen Schritt zurück. Auf dem rechten Arm hatte der einen roten Fleck, wo Paul ihn gestoßen hatte.

«Braver Junge.» Er tippe ihm gegen die Brust, dass Tom auf dem Hosenboden landete. Seine Augen sprühten Feuer. Uwe beugte sich hinunter, packte Tom am Nacken, zog ihn hoch und boxte ihm in den Bauch. Dieser klappte zusammen und ging auf die Knie.

Ratkowski hatte Natalie ins Visier genommen und winkte. «Wenn ich dich noch ein einziges Mal mit diesem Kindergarten sehe, wirst du nie im Leben gesunde Kinder bekommen, das schwöre ich dir. Schau dir Susanne an, keine fünfzehn und alles am rechten Fleck. Wenn du mit Jungs abhängst, die es nie zu etwas bringen, dann wächst dir irgendwann ein kleiner Pimmel, hat dir das dein versoffener Vater nie gesagt?» Er warf Natalie einen Kuss zu. «Oder willst du Kinderficker werden, wie er?» Unsere Freundin schluckte und versuchte, die Schmach gelassen zu ertragen.

Dann sah er zu Olaf, Fränki und mir. «Ihr seid hirntote Idioten! Spielt weiter Quartett oder spannt in der Umkleide. Für euch zum Mitschreiben: Ihr lasst Susanne und ihre liebreizenden Freundinnen in Ruhe, dasselbe gilt für ... wie immer er heißt.» Er zeigte auf Richard, der unbeeindruckt in der Gegend stand. «Und jetzt, Au revoir mon chérie, Bye Bye und gute Reise, packt eure Sachen. In spätestens einer halben Stunde will ich von euch Sackgesichtern keinen mehr sehen. Sollte jemand Probleme haben, mich zu verstehen, der hebe bitte die Hand.» – «Niemand? Wunderbar!»

Wir sahen uns unschlüssig an. Tom stand der Zorn im Gesicht geschrieben, was für mich bedeutete, dass ich ihm keinen Anlass geben durfte, ihn an mir auszulassen. Ronny fasste seinen Freund am Arm, nickte Richard und Susanne zu, als würde er ein stilles Versprechen geben, dann machte er kehrt und wir folgten.

Paul Ratkowski winkte uns lächelnd hinterher, stellte sich in Pose, dann wendete er sich charmant an Susanne. «Prinzessin, sollten dich die Hohlköpfe nochmal dumm anmachen, ruf nach mir, ich bin zu jeder Tages- und Nachtzeit für dich da!»

«Danke.»

«Ich hab was gut bei dir, Schätzchen, vergiss das nicht!» Dann drehte er sich zu Richard und schüttelte den Kopf.

«Ich an deiner Stelle würde ich duschen gehen und dann die Fliege machen. Am besten in umgekehrter Reihenfolge. Ist heute kein guter Tag für dich. Madame Butterfly wird nicht immer aufpassen. Der Rat ist kostenlos, befolge ihn und auf Wiedersehen!» Paul hob die Hand zum Gruß und drehte sich wieder Susanne und ihren Freundinnen zu.

Ich bekam das Gespräch leise mit, obwohl ich bewusst langsam hinter meiner Clique hertrotte. Etwas passte nicht zusammen. Mit uns gab sie sich nicht ab, dann musste Ratkowski für sie der Antichrist sein. Er verkörperte alles, was sie hasste.

Ich musste schleunigst sehen, dass ich heil von dieser Gruppe tollwütiger Hunde wegkam, das wurde mir schlagartig bewusst. Susannes Blick traf mich wie ein Stromschlag. Obwohl es nur eine Sekunde war, hatte ich verstanden, wie enttäuscht sie von mir war. Mir imponierte ihr Auftreten, konnten wir uns doch davon eine Scheibe abschneiden, wenn wir den nötigen Mut zusammenbekamen.

Vorne trottete Olaf neben Fränki her und mehrmals sah es aus, als wolle er etwas sagen. Bei ihm konnte man nicht wissen, welcher Furz ihm durch den Kopf ging.

«Hey!», rief er Tom und Ronny zu. Beide hatten die Köpfe gesenkt wie wütende Bullen. «Dann kann ich meine Happy Weekend Heftchen behalten. Habt ja offensichtlich nicht mit Susanne rumgefummelt!»

Schneller, als sich Olaf ducken konnte, drehte Tom den Oberkörper und nagelte ihm seine Faust aufs Auge. Uns stand vor Schreck der Mund offen. Olaf sah seinen vermeidlichen Freund mit einem großen Auge an, während das linke sich rötete. Tom setzte nach und knallte ihm seine Rechte in den Magen. Wie eine Puppe fiel Olaf in sich zusammen, kippte vornüber und blieb in Fötushaltung liegen. Tom drehte sich um und ging zur Decke.

Kapitel 5 Flucht

Der Tumult war groß. Jemand rief den Bademeister, der Olaf in die stabile Seitenlage brachte und fragte, wer dafür verantwortlich sei. Natürlich hielten alle den Mund. Olaf sah aus, als habe er sich zu schminken versucht. Das linke Auge zugeschwollen und das Umfeld färbte sich von Grün zu Violett.

Mit einer Bahre trugen sie den Jungen zum Eingang und warteten auf den Krankenwagen. Ronny blieb dabei und erzählte die Geschichte vom Ausrutschen und Aufschlagen. Keiner stellte seine Aussage in Frage und die Frau vom Kiosk tätschelte ihm anerkennend den Kopf.

Kreidebleich ging ich zur Decke und traute mich nicht, Tom anzusprechen. Er hatte die Beine überschlagen und rauchte. Meine Hände zitterten und unterhalb der Badehose bestand ich aus Pudding.

«Sieht dramatisch aus», sagte er, als er mich ansah. «Die Schwellung geht schnell weg.»

«Mir scheißegal!», zischte Natalie wie eine Schlange. «Was läuft hier für ein Streifen? Gehört das bei euch Männern zum Wachstum, dass ihr einander in die Fresse schlagt?» Sie pfefferte ein Stück nach dem andern in ihre Tasche. «Du sitzt da und kommst dir unheimlich cool vor. Macht man das mit seinen Freunden?»

Tom streifte die Asche am Gras ab und versengte einen Käfer. «Du gehst nirgendwo hin», sagte er, ohne aufzublicken.

Natalie stoppte in der Bewegung und starrte ihn an. «Was hast du gesagt? Tickst du noch richtig? Ich gehe WANN und WOHIN es mir passt. Verstanden?»

Tom sah sie an, zog an der Kippe und blies den Rauch in ihre Richtung, dann schaute er zu mir. Irgendetwas in seinem Blick hatte sich verändert. Vielleicht war es die Angst, mit der ich ihn sah.

«Gehst du auch?», fragte er.

Ich zögerte. Der Nachmittag hatte eine Wendung genommen, mit der ich nichts am Hut haben wollte. Wenn ich nicht die Reißleine zog, konnte es sein, dass ich mit ihm zusammen aufschlug.

«Ja», sagte ich tonlos, kniete mich hin und raffte meine Sachen in die Sporttasche. Aus dem Kassettenrecorder kam leise Life is Life von OPUS. Ich vermied es, Fränki oder Tom anzusehen. Es zählte wegzukommen und all das hinter mich zu bringen. Immer wieder sah ich Olafs Auge vor mir und die letzte Siedewurst rebellierte im Magen.

Tom sagte nichts, lehnte sich zurück und rauchte seine Zigarette zu Ende. Gleichzeitig mit Natalie schulterte ich die Tasche und ging zum Ausgang. Mir war bewusst, dass Fränki folgen wollte, den Mut musste er selbst aufbringen.

Olaf hatte das Bewusstsein wiedererlangt und Ronny wartete mit den anderen Leuten auf die Sanitäter. Er wollte sichergehen, dass er nichts Falsches sagt. Als wir durch das Drehkreuz gingen, nickte er uns zu, dann verließen wir das Freibad.

«Nicht so schnell!», sagte Natalie hinter mir. «Keiner folgt uns.»

«Ich will mit den Idioten nichts zu tun haben.» Um meine glasigen Augen zu verbergen, zog ich das Tempo an. «Hast du gesehen, was er mit Olaf gemacht hat? Der Kerl ist nicht mehr zurechnungsfähig.»

«Ich stand daneben.»

«Dann sag mir, ob das normal ist, oder bin ich bescheuert? Wir waren Freunde. Jeden erdenklichen Scheiß haben wir zusammen gemacht. Wie kann ich jemanden ein blaues Auge schlagen?» Tränen liefen mir über die Wangen. Mit dem Handrücken wischte ich sie weg, und alles, was blieb, war der salzige Geschmack auf den Lippen. Etwas in mir zerbrach, das spürte ich.

«Dieser Bastard wird seine gerechte Strafe bekommen, das garantiere ich dir. Wir sollten nicht so dumm sein und ihn noch mehr reizen.»

«Heißt das, du willst wieder zurück?», fragte ich erstaunt.

Natalie schüttelte den Kopf. «Sie werden sich bald auf den Weg machen, drum sollten wir zusehen, ihnen nicht über die zu Füße laufen.»

«Also den anderen Weg?», fragte ich. Variante eins führte nach links zum Wangrot See-Hotel, dann die Hauptstraße entlang. Variante zwei war zwar ein Umweg, aber mit Versteckmöglichkeiten.

Sie nickte. «Wir hätten Fränki mitnehmen sollen.»

«Dafür ist es zu spät. Glaubst du, sie schießen Pauls Warnung in den Wind? Ich hab vor ihm mehr Angst, als vor den anderen.»

«Keine Ahnung. Ich mach mir eher Sorgen um Susanne. Wenn es bei dieser Rechnung einen gemeinsamen Nenner gibt, tippe ich blind auf sie.»

«Wie meinst du das?»

«Ronny und Tom sind auf Susanne ebenso scharf, wie Ratkowski. Bei Zöllner bin ich mir nicht sicher, ob er außer Gewalt irgendetwas im Kopf hat.»

«Stopp!», sagte ich und blieb stehen. «Wie kommst du auf die Idee, dass Ronny und Tom sich mit Paul zusammentun könnten. Er wollte sie verprügeln!»

Sie zuckte mit den Schultern und zog eine Schnute. «Ich kenne alle Beteiligten. Wahrscheinlich liege ich total falsch. Weibliche Intuition. Paul ist nicht besser als Ronny oder Tom. Egal, wir sollten sehen, dass wir weiterkommen.»

Ich konnte mit ihrer Denkweise wenig anfangen. Für mich war alles Schwarz/Weiß. Paul und Uwe waren ausgemachte Idioten und zwischen ihnen und uns eine unüberbrückbare Kluft.

«Du bist ein Mädchen. Wieso sollten sie Susanne gefährlich werden und dir nicht?»

Natalie lachte und packte ihre Tasche fester. «Sehr charmant von dir, Susanne spielt in einer anderen Liga. Bin ich nicht böse drum.» Sie presste beim Lächeln die Lippen zusammen und sah zum wolkenfreien Himmel. «Lass uns gehen. Vielleicht kannst du mir unterwegs eine Geschichte von dir erzählen.»

«Mein Gehirn ist momentan mit anderen Sachen beschäftigt.» Erfundene Geschichten waren nichts, mit dem man sich in unserer Clique brüstete. Wenn ich alleine war, nahm ich das Ringbuch und schütte meine Gedanken aus. Natalie hatte ich bereits mehrere Kurzgeschichten erzählt.

Im Vorbeigehen stieß sie gegen meinen Arm. Ein Stromschlag durchlief mich. Es fühlte sich seltsam an. Im Sommer wurde sie dermaßen braun, dass man dachte, sie komme aus dem Süden. Im Gegenzug wurden ihre dunklen Haare heller. Wunderschönes Farbenspiel.

Natalie hatte beim Verlassen des Schwimmbads eine kurze Jeans übergezogen und das Oberteil bedeckte knapp ausreichend ihre wachsenden Brüste. Klar, dass ich sie mir in aufkommend Fantasien nackt vorstellte, wer nicht, aber sie war ein Kumpel - ein Freund.

Vom Schwimmbad mussten wir entlang der Autobahn. Der Lärm der vorbeifahrenden Fahrzeuge schmerzte in den Ohren. Glühend heißer Asphalt ließ die Luft über der Straße flirren. Ich hatte vergessen, am Kiosk für das Restgeld Lakritze zu kaufen. Die ersten Meter schwiegen wir, bis Natalie ein Lied summte.

«Kennst du das?», fragte sie.

«Ibo, Ibiza.», antwortete ich. Eine meiner Superkräfte war, dass ich mir an Musik alles merken konnte.

«Ich find den Text klasse. Irgendwann will ich nach Ibiza, roten Sekt trinken und mit sonnengebräunter Haut am Strand entlanggehen. Wir hocken im Schwimmbad oder am See. Ich kann es nicht mehr ertragen.»

Ich hatte mir nie Gedanken um Urlaub gemacht, da er für uns nicht in Frage kam. Der Strand einer Mittelmeerinsel war für mich ebenso weit entfernt, wie der Mond und die Sterne. «Du weißt, dass der Typ Schlager singt.»

«Der Typ macht Musik die mir gefällt, mehr muss ich nicht wissen. Außerdem sollte man nicht alles bewerten. Gefällt deinen Eltern, was du hörst? Sicherlich nicht, deshalb muss es nicht schlecht sein.» Sie summte den Refrain und seufzte sehnsüchtig. «Wünschst du dich nicht manchmal weg?»

Ich kannte Natalie als ein Mädchen, das sofort seine Krallen ausfuhr, wenn es persönlich wurde. Warum hatten wir solche Gespräche nicht früher geführt?

«Weiter als bis zur Mosel war ich nicht. Pfadfinder Zeltlager. Leni ist lange krank, da haben meine Eltern andere Sorgen als Urlaub.»

«Ich hab nicht gefragt, warum ihr nicht in Urlaub fahrt. Wünschst du es dir?»

«Was soll ich vermissen? Klassischen Urlaub mit Strand und Meer kenne ich von Plakaten und Postkarten. Wenn ich arbeiten gehe und selbst eine Familie gründe, dann reise ich um die Welt und wohne, wo es mir gefällt.»

«Erst wenn du Frau und Kinder hast?»

«Keine Ahnung. Du fragst mir Löcher in den Bauch. Siehst doch, wie unser Urlaub aktuell aussieht. Mit drei Mark ins Schwimmbad und bis Abends durchhalten.»

Natalie lachte. «Bin gespannt, wie deine Zukünftige aussieht. Vermutlich ein Blondchen wie Susanne. Ich hätte schwören können, dass du ihr auf die Brüste gestarrt hast.»

«Ich war viel zu aufgeregt!», protestierte ich. Sie hatte natürlich recht. Bei Susanne war ich nie zu abgelenkt, dass ich sie nicht noch bewunderte. «Wäre es dir lieber, ich hätte auf Ratkowskis Hintern geschaut?» Wir lachten und obwohl ich Natalie mochte, war mir eine Vertrautheit mit ihr nicht geheuer.

Am Ende der langen Geraden kamen wir an eine Kreuzung. Links führte die Straße Richtung Rheinach, gerade aus nach Kaarst und rechts nach Menzelberg. Wir verließen die Straße und mussten durch den Akazienwald bis zur Basaltgrube, dann waren wir am Ortsrand. Von hier die alte Kirchhofstraße hinunter in den Ort und wir waren zu Hause. Natalie hob die Hand und ich blieb wie angewurzelt stehen.

Stimmen vor uns.

Sie ging bis zum Waldrand und spähte um die Wegbiegung. Sekunden später winkte sie und ich folgte. Richard stand hinter der Kurve und pinkelte gedankenverloren in eine Hecke. Sein Gesicht versteinerte, als er uns sah. Hinter ihm saß Susanne auf einem Baumstumpf, umgeben von ihren Freundinnen.

«Hey!», rief Natalie.

Susanne sprang auf, fasste ihren Beutel, als wolle sie damit um sich schlagen. Das Karate Mädchen machte irgendwelche Verrenkungen und ihre Freundin fiel der Länge nach hinterrücks auf den Boden.

«Bleibt weg!», rief Susanne.

Sie trug ihren Wickelrock und ein weißes Shirt über dem Bikini. Sah wunderschön aus! Ich ermahnte mich, sie nicht wieder anzustarren.

«Beruhigt euch, wir sind alleine», sagte Natalie.

«Wo sind die anderen?» Das Karatemädchen durchschnitt die Luft mit ihren Handkanten.

«Im Schwimmbad!», antwortete ich nach bestem Gewissen.

Susanne entspannte sich. Richard benahm sich wie ein Möbelstück und bewegte sich nicht. «Was war das denn für eine doofe Aktion?», fragte sie. «Ich hab gesehen, wie Tom einen von euch geschlagen hat.»

«Olaf! Aus dem Grund sind wir weg. Ich hab keine Lust mehr auf den Kram», sagte ich.

Natalie nickte zustimmend. «Konnte nie verstehen, was dich zu solchen Idioten treibt. Wir waren bis zur Vierten in einer Klasse, da warst du ganz in Ordnung.» Susanne hockte sich auf den Baumstumpf und das Mädchen vom Boden rappelte sich unbeholfen auf. «Was wollt ihr hier?»

Natalie öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. «Bist du blöd, oder tust du nur so? Wahrscheinlich verlassen Ronny und Tom in diesem Moment das Freibad und sind bis in die Haarspitzen geladen. Ihnen wird es eine Freude sein, euch abseits der Stadt zu erwischen. Mit etwas Pech hat es auch Paul auf dich abgesehen.»

«Er wurde anzüglich, als wir alleine waren.» Susanne bekam rote Wangen und blickte zu Boden.

«Anzüglich!» Natalie lachte und schüttelte den Kopf. «Dir ist nicht mehr zu helfen. Wenn du einen Funken Verstand zwischen den Ohren hast, dann beeil dich, nach Hause zu kommen.»

Susanne sah sie prüfend an, dann mich. Scheinbar wartete sie darauf, dass eine ihrer Freundinnen etwas sagte. «Meinst du, ich hätte Angst vor denen?»

«Wäre angebracht», sagte Natalie. «Ich hab zumindest keine Lust, den beiden bei der Laune unter die Augen zu kommen.»

«Ich dachte, du seist mit einem von ihnen zusammen?»

Natalie bemerkte den abfälligen Unterton und atmete einmal tief durch. «Kaum», war ihre knappe Antwort.

Ich wusste, dass es beide bei ihr versucht hatten, was einem Sakrileg gleichkam. Natalie war ein guter Freund, wie Fränki und Olaf. Sie zu knutschen würde in meinem Kopf dasselbe sein, wie einen Jungen zu küssen.

Obwohl ich dagegen ankämpfte, konnte ich den Blick nicht von Susanne lassen. Um mich und Natalie wehte der gleiche Sommerwind - aus Susanne machte er eine griechische Statue. So kam mir Susanne 1985 an diesem Waldrand bei 36° im Schatten vor, eine Göttin, die aus den Wolken glitt und behutsam einen Fuß auf die Erde setzte. Der Wind presste den Leinenstoff an ihren Körper und ich konnte die Konturen ihrer Brüste sehen. Was die beiden sprachen, war unwichtig. Am liebsten hätte ich mich hingesetzt, den Kopf auf die Hände gestützt und sie bewundert. Natalie hatte recht, als sie sagte, dass Susanne besonders sei.

«Mir egal. Ich bringe Richard nach Hause, dann kann er mir nichts mehr.» Susanne zog eine Schnute.