Eifeljugend im Speckmantel - Wolfgang Süß - E-Book

Eifeljugend im Speckmantel E-Book

Wolfgang Süß

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Beschreibung

Olli und seine Freunde pubertieren in der Osteifel. Als wenn das nicht Herausforderung genug wäre, stolpern sie von einer skurrilen Situation in die nächste und unaufhaltsam dem Erwachsenwerden entgegen. Erste Liebe, Herzschmerz und der Vollrausch wollen erlebt und ausgekostet werden. Können sie es schaffen, dem Sumpf voll Begierde, Drogen und Alkohol zu entkommen?

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Seitenzahl: 450

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Bauernopfer

Bestandsaufnahme

Bannerhelden

Frischfleisch in der 7.

Landleben vs. Stadtleben

Kuhhandel

Der Tod

Pfadfinder unter sich

Dolores-Treff und Punks

Selektion – Balkon – Erektion

Freibad-Kinderlähmung

Tanzbein und Schrankschieben

Poolbohnen im Speckmantel

Rosendahls Ende

Mitgefangen abgehangen

Abschluss im Abfluss

Ein letztes Mal

Abschlussfeier/Salatreiher

Feuchtgebiete

Liebe, Last und Leid

Bombiger Ausflug

String-Theorie

Alkolophie

Anarchie und Tränen

Among the Living

Rhabarberöschen im Turme

Nicht kleckern – kotzen

Gummistollen mit Ragout fin

Phalanx und Paralyse

Kontinentaldrift

Mainacht

Sechzehnter Geburtstag

Mission: Herzeleid

Gegrüßet seist du Maria

Mount Maria Besteigung

Witwenschreck

Wir sitzen vor Gott

Immer noch vor Gott

Crazy Angel

Stimmungssturz

Paula Palaver

Steffen

Unscheinbar 18

Jessy Maibaum

Lars Rübsam

Lawinengefahr

Kaufrausch

Sternstunde der Sinnlosigkeit

Where the Fuck is Nevedig

Vorwort

Fuck you

You Fucking Fuck

Dieser Spruch stand in Form eines Aufklebers auf der Heckscheibe eines runtergeranzten Polos. An den Ecken sah man, dass der Versuch die Folie abzuziehen, mehrfach gescheitert war. Hinter dem Steuer saß eine greise Dame und umklammerte mit aller Kraft das Lenkrad – die Hände akkurat auf 10 vor 10. Ob sie wusste, was dieser Aufkleber zu bedeuten hatte?

Fuck you

You Fucking Fuck

Gebannt starrte ich darauf, ließ den Mund offenstehen und vergaß zu schlucken. Dieser absolut unsinnige Satz löste zwei Dinge in mir aus. Erstens: die Erinnerung an meinen Sohn.

Er muss elf oder zwölf gewesen sein, da fragte er mich, was das Wort »Fuck« bedeutet.

»Fuck heißt im englischen so viel wie Tag oder guten Tag.«

»Dann heißt Motherfuck ...?«

»Muttertag!«, sagte ich schnell und hielt die Erklärung für einleuchtend. Er nickte zufrieden und glänzte in der nächsten Englischstunde mit seinem Wissen. Über zwanzig Jahre nach Schulentlassung bekam ich einen Eintrag ins Klassenbuch und Strafarbeit.

Zweitens: Ich hatte auf meinem Rechner ein Dutzend Geschichten, die ich über die Jahre geschrieben, doch nie veröffentlicht hatte. Eine stach hinaus, wollte ich in ihr meine Pubertät lustig umschreiben und Erinnerungen verarbeiten. Es handelte sich um eine fiktive Biografie, die parallel zu meiner lief – Sommer 1984 bis Sommer 1990. Nach fünf Überarbeitungen schnalzte ich mit der Zunge und war zufrieden.

Geld für einen Lektor lag sicher auf der Bank, und konnte von mir nur mittels Skimaske abgeholt werden. Die Uhr tickte. Eifeljugend im Speckmantel musste das Licht der Welt erblicken, sonst war ich des Schreibens nicht wert.

Fuck you, you fucking Fuck ...

... sagte der Aufkleber - recht hat er!

Nun bin ich froh, dass du mein Buch in Händen hältst, sei es in gedruckter- oder elektronischer Form. Die erste Hürde ist geschafft! Dir wird die Ehre zuteil, den Directors Cut zu lesen, die rare Ur-Fassung!

Solltest du das Bedürfnis haben, mir Positives wie Negatives mitzuteilen, tu dir keinen Zwang an. Ich werde jede Mail beantworten. Daumen-Zeigefinger-Kreis-hochzieh-und-durchspuck. [email protected].

Vielleicht hilft es, zwischendrin zu denken: Fuck you, you fucking Fuck!

Warum ich du sage, willst du wissen? Weil wir beide dreizehn sind, uns Sommerwind um die Nase weht und Boy George im Hintergrund leise fragt, ob wir ihn wirklich verletzten wollen; weil wir dreckige T-Shirts tragen und es drei Programme im TV gibt; weil wir Kirschen, Äpfel und Mirabellen von Bäumen stehlen; weil wir die nächsten Stunden Seite an Seite gehen. Keine Angst, wir werden bald vierzehn und irgendwann volljährig. Erinnerst du dich? Mal ehrlich, wie bescheuert war deine Pubertät?

Bauernopfer

»Das traust du dich nicht«, sagte Heinz und duckte sich hinter die Mauer. Wir befanden uns seit Monaten im Krieg mit einem alten Mann, der gegenüber des Bauernhofs wohnte.

Er lauerte uns auf, verging sich an den geliebten Rädern oder verfluchte uns lauthals. Wir waren nichts weiter als drei Jungs, die beim Ausmisten halfen und dem Bauern zur Hand gingen. Ein Paradebeispiel für generationenübergreifendes Miteinander.

»Wetten!« Weller beobachtete die Straße, berechnete seinen Fluchtweg und schien sich der Gefahr bewusst. »Ich renne rüber, lege ihm ein Ei vor die Haustür und ihr steht Schmiere. Sobald sich was regt, schlagt ihr Alarm und wir treffen uns im Versteck.«

Wir nickten. Hörte sich aus seinem Mund und im Schatten der Mauer simpel an. Die Kunst lag darin, zur richtigen Zeit müssen zu können.

»Was sagst du, Olli?« Weller hielt mir die Hand hin, um die Wette zu besiegeln.

»Umwas?«

»Den schweren Prügel aus dem Tabakladen.« Er lächelte andächtig. Die 30cm Zigarre hatte er seit langer Zeit im Visier.

»Das Teil kostet zwanzig Mark!«, sagte ich bestürzt. Weller hob die Schultern, Heinz ebenfalls, da er selten mehr als eine Mark in der Tasche hatte. Zur Not blieb wieder alles an mir hängen und für die Kohle musste ich lange kehren. Die Siegeschancen standen siebzig zu dreißig, bildete ich mir ein. Weller konnte unmöglich auf Kommando eine Tretmine aufs Pflaster nageln.

»Okay. Aber nicht bloß tun als ob, sondern schön groß.« Ich formte mit beiden Händen einen Haufen, der Weller ein Stöhnen entrang.

»Wo soll ich das hernehmen?«

Seine Sache. Bei dem Einsatz bestand ich auf korrektes Einhalten sämtlicher Regeln. Die Junisonne brutzelte unsere Kinderschädel und es blieb zu hoffen, dass wir in kurzen Hosen und Turnschuhen bessere Chancen gegen den Erzfeind hatten. Den Winter über steckten wir eine Niederlage nach der anderen ein. Immer wieder kam uns der alte Knochen zuvor.

Durch das Panoramafenster hatte er die Straße und den Hof im Blick. Meist verbarg er sich im Hintergrund, für uns nicht zu erkennen. Dort harrte er Stunden, wenn nicht Tage aus. Wir hatten Eier gegen die Fenster geworfen, Kuhmist vor der Haustür angezündet und den Briefkasten mit Mehl befüllt. Der Kackhaufen sollte unser Meisterstück werden.

»Ok, auf drei«, sagte Weller und wir hielten den Atem an. Heute gab es die Quittung für monatelange Unterdrückung. »Eins ... Zwei ...« Er glitt aus der Deckung, überquerte die Straße und fummelte an seinem Reißverschluss. Der Vorhang bewegte sich – jemand hatte uns beobachtet. Weller drehte sich, ging in die Hocke; sein Kopf lief rot an und mit hervorquellenden Augen drückte er sich die Seele aus dem Leib. Hinter ihm öffnete sich die Tür und wir erstarrten vor Schreck.

Derweil hatte sich der Sohn des verhassten Mannes über den Bauernhof angeschlichen. Wir sprangen auf, um unseren Freund zu warnen, in diesem Moment packte er uns am Nacken, wie junge Katzen. Weller stürzte vorwärts, verfing sich in der Unterhose und schlug der Länge nach aufs Pflaster. Ich sah seinen nackten Hintern aufblitzen, dann schüttelte man mich, wie ein Kopfkissen.

Verwünschungen prasselten auf uns nieder. Heinz, ein personifiziertes Wiesel mit mückengleichen Reflexen, wirbelte hilflos durch die Luft. Bis aufs Letzte seinem Vater verfallen, bestrafte uns der Sohn mit dem aufgestauten Hass, den er von Geburt an in sich trug. Der Alte ließ unterdessen den gezwirbelten Gehstock auf Wellers Rücken und Hintern tanzen, dass dieser wie ein Kleinkind schrie. Junior stieß Heinz und mich mit den Köpfen zusammen. Der ersten Backpfeife wich ich durch ungelenke Bewegungen aus, dann schepperte es. Abwechselnd ernteten wir Kopfnüsse und Arschtritte, bis wir plärrend das Weite suchten. Zumindest an einem Teil des Plans hielten wir fest – getrennt zum Versteck. Unsere Hochburg, Schaltzentrale allen Übels, musste dem Pack verborgen bleiben, ansonsten war der Ofen endgültig aus.

Ins Nebengebäude, rauf zum Dachstuhl, auf dem Bauch durch eine Klappe, behutsam über einen Balken, runter ins Erdgeschoss und aus dem Hintereingang zu den Schafen – Leiter hoch, ab ins Stroh.

Zeitgleich erreichten wir den verborgenen Eingang, krochen in unser Versteck und rieben uns die wunden Stellen. Wellers Hinterteil sah aus, als könne man darauf Spiegeleier brutzeln. Draußen feierte der Kalk gestärkte Greis mit seiner Leibesfrucht den triumphalen Ausgang der Schlacht, wobei der Krieg andauerte. Das Pack trollte sich und ich stellte mir vor, ihr Heim anzuzünden und im Anschluss einen Veitstanz auf der Straße aufzuführen. Die Stadt vom Tyrannen befreien, hatte ich als Strafarbeit hundertfach geschrieben. Hier fand es für mich Bedeutung. Der Kampf gegen uns hielt ihn im Reich der Lebenden, war sein Jungbrunnen. Um die zwanzig Mark für die Zigarre brauchte ich mich zum Glück nicht mehr zu sorgen.

Mit Kippen aus dem Vorrat kletterten wir über die Mauer auf die Scheune und rauchten wortlos. Eine Zeit lang hingen wir unseren Fantasien nach, dann spuckte Weller im hohen Bogen hinunter in den Hof.

»Wenn der alte Bock den Löffel abgibt, struller ich ihm das Grab zu, dass er drei Meter tiefer absäuft.« Weller gab acht, dass er nirgendwo mit seinem wunden Hinterteil anstieß. Heinz kühlte sich mit einer Messerklinge die Beule am Kopf und grunzte wie ein Eber. Es dauerte nicht lange, da schmiedeten wir Vergeltungspläne, die sich an Tollheit überboten. Von: Hauseingang zumauern, über Fensterscheibe mit weißer Farbe blickdicht versiegeln, Wasserbomben durchs offene Fenster, bis hin zur Zerstörung der Dachantenne bei einem Fußball Länderspiel. Die Wut hielt uns aufrecht und beflügelt unsere Fantasie. Wir waren dreizehn und hatten den Kopf voller Ideen. Leben bedeutete Kampf.

Die Zeit arbeitete für uns. Langsam, beständig. Am Rand der Osteifel hat alles seinen ureigenen Rhythmus - die Jahreszeiten, das Leben, die Menschen und der Wahnsinn.

Bestandsaufnahme

Einer der Standardsprüche meines Vaters lautete: Wir sind privilegiert, dort zu leben, wo andere Urlaub machen. Dabei bezog er sich auf die Nähe zum Laacher See und den dicht bewaldeten Hügeln. Wie saure Milch stieg mir dieser Satz immer und immer wieder die Speiseröhre hinauf. In meiner Wahrheit lebten wir dort, wo andere zum Sterben hingingen – ihren Hund auf dem Parkplatz aussetzten – wo man Katzennachwuchs ans Scheunentor klatschte.

Mendig war Schwellenland. Weder Stadt, noch Dorf. Ein Unikum, dessen Bewohner am Ende ihrer Lebenszeit nachrückten, wie Zähne in einem Revolvergebiss. Der Ort bestand aus zwei Stadtteilen, die man durch eine Schnellstraße, wie durch einen unüberwindbaren Graben, trennte. Wir Jugendlichen gingen auf eine gemeinsame Schule, die Freizeit verbrachten wir entweder oben oder unten. Seit Kindertagen waren wir einander ausgeliefert und mussten ertragen, was der Tag zu bieten hatte.

Es gab eine Eisdiele, mehrere Tante-Emma-Läden und einen Supermarkt. Hinzu kam eine Handvoll Bäcker, Metzger und ein Dutzend Bauern. Alles was eine Großstadt auszumachen pflegte. Ich war ein durchschnittlicher Junge mit Babyspeck auf den Rippen und Sommersprossen um die Nase. Mein wahres Leben verbrachte ich in abenteuerlichen Tagträumen. Der Sommer 1984 war endlos, die Tage lang und wir hatten zu wenig Zeit, jeder Idee nachzulaufen, wie ein Hund, dem man einen Knochen vor die Nase hielt.

Mein Bruder, sechs Jahre älter und ebenfalls ehemaliger Bauernhofgehilfe, hatte seit Wochen eine Freundin und schwebte auf Wolke sieben. Schatzi hier, Schnucki da – mehr war von ihm nicht zu erwarten. Gelegentlich wurde daraus Biene, Spatz und Häschen; wenn sie sich stritten, wuchsen die Tiere zur dummen Gans und blöder Kuh. Das sollte einer verstehen. Er versteckte unter seinen Schallplatten ein Magazin, mit dem Titel »Mösen-Parade«, dass mich viele schlaflose Nächte kostete. Auf den meisten Seiten war das weibliche Genital abgebildet, ohne schmückendes Beiwerk und jedem Zusammenhang entrissen. Weshalb waren alle Männer scharf darauf, an diese unappetitlich klaffende Wunde zu kommen, sei es mit Finger, Johannes oder Mund? Schwer vorzustellen, dass sich meine subjektive Auffassung im Laufe der Pubertät ändern sollte.

Schwesterlicherseits das Gleiche in Blau; vier Jahre älter und mit einem Typ zusammen, dessen geistige Umnachtung sich nach einem Satz in voller Pracht offenbarte. Er fuhr einen getunten BMW, was meiner Schwester wichtiger zu sein schien. War sie außer Haus, durchstöberte ich ihre Unterwäsche und ergötzte mich an deren Beschaffenheit. Weshalb ich dies tat und worin der geistige Nährwert lag, entzog sich meinem Verständnis. Ich handelte impulsiv und wie ich im Austausch mit Freunden erfuhr, nicht abnormal.

Matthias Weller, Heinz Kracht und ich, hatten uns auf dem Bauernhof häuslich eingerichtet. Unser Refugium war das Versteck. Hier horteten wir allerlei Krimskrams, den die Eltern niemals sehen durften. Angefangen von Zigaretten - Weller und Heinz waren handfeste Raucher, ich paffte und taumelte stets an einer Ohnmacht vorbei – über Speckhefte á la Praline bis hin zu knüppelharten Pornos. Die Dinger waren meist stocksteif und hatten sechs oder sieben zusammenklebende Seiten. Alkohol besaßen wir zu Repräsentationszwecken, allein der Geruch versetzte mich in einen Vollrausch, der aus mir einen größeren Narren machte, als ich bereits im nüchternen Zustand war. Weller und Kracht waren notorische Diebe und an Dreistigkeit kaum zu überbieten, was bedeutete, dass sie immer und ewig Dinge mitgehen ließen. Zigaretten, Süßigkeiten, Comic-Hefte und Kondome. Aus den Gummis machten wir Wasserbomben, weitere Anwendungen ausgeschlossen. Wenn Weller irgendwo war und nichts mitgehen ließ, beschlich ihn das Gefühl, etwas vergessen zu haben.

Heinz wohnte außerhalb des unteren Stadtteils und roch das ganze Jahr wie eine Jauchegrube, war schweigsam, durchtrainiert und intelligenter als die meisten der Klasse. Meine Eltern verboten mir jeglichen Umgang und drohten mit Familienausschluss, sollte ich ihn besuchen oder mitbringen. Klamotten schmutzig, die Haare ungekämmt, Fingernägel unappetitlich schwarz – das war unser Heinz. Die erste Hälfte des Schuljahres saß ich neben ihm, um von seinem Wissen zu profitieren. Hässlichkeit und Dummheit konnte ich problemlos ertragen – Gestank nicht. Wenn er in der Umkleide die Schuhe auszog, bogen sich unsere Nasen zur Seite. Die Mädchen weigerten sich schlichtweg, am Sport teilzunehmen. Aus diesem Grund befreite man ihn vom Turnen und ließ ihn stattdessen in der Klasse zurück, wo er zwei Stunden in der Nase bohrte. Sobald ich mich zu ihm beugte, konnte ich die Läuse auf seinem Kopf sehen, drum schied Abgucken aus.

Zusammen mit Mutter und vier Schwestern, wohnte er in einer Sozialbausiedlung, deren geläufiger Name Tal der fliegenden Messer oder blaues Tal war. Kurz nachdem ich laufen gelernt hatte, wurde mir eingebläut, diese Siedlung weiträumig zu meiden. Vater sagte: Da fahren selbst die Zigeuner schneller!

Als Kind nahm man die Aussagen der Erwachsenen wörtlich und ich stellte mir vor, dass alle Häuser blau angestrichen waren und Messer, wie von Geisterhand geführt, umherflogen. Aus diesem Grund beeilten sich die Zigeuner, vor denen ich panische Angst hatte.

In Sachen Geruchsbildung und Ohnmachtsanfälle war Heinz beratungsresistent. Scheinbar musste er das Aroma beibehalten, um von der Sippe erkannt zu werden. Die vier Schwestern waren jeweils elf bis zwölf Monate älter, was erkennen ließ, welch lüsterner Bock sein Vater war, da er die Frau im Wochenbett erneut schwängerte.

Nachdem Heinz auf der Welt, machte sich Herr Kracht im Bad frisch, um die fünffache Mutter erneut zu besteigen, rutschte aus, schlug sich Schädel und Nase blutig - verbunden mit tiefer Ohnmacht eine tödliche Kombination. Der Arme blutete aus, wie bei einer Schächtung und bewahrte die Welt vor frühzeitiger Überbevölkerung.

Am schlimmsten war seine nächstältere Schwester Brunhild, die sich benahm, als stamme sie von verarmten Adel. Sie gab sich geziert und anmutig, war in ihren Bewegungen ruckartig und generell hatte sie eine säuische Art, was abstoßend wirkte und ins Gegenteil umschlug. Jede Blüte wollte bestäubt werden, da zog die Natur alle Register.

Brunhild tauchte manchmal unverhofft auf und benahm sich, wie eine läufige Hündin. Sie schlich um den Bauernhof und warf Weller und mir Kusshände zu. Dabei schielte sie dermaßen, dass es ein Rätsel war, wie sie den Weg durch den Ort schaffte, ohne mehrfach überfahren zu werden. Ihr Augenleiden war derart ausgeprägt, dass ihr beim Weinen die Tränen den Rücken hinunterliefen. Sie legte es darauf an, uns beide geil zu machen. Aufreizend positionierte sie sich, was grotesk und verwirrend aussah. Im Frühstadium meiner Pubertät und empfänglich für alles Sexuelle, stießen mich ihre Avancen regelmäßig ab und verursachten eine Gänsehaut. Nicht vorstellbar, dass ich in den kommenden Jahren über sie herfallen würde wie Hitler über Polen. Sie lächelte uns an, wobei wir nicht wussten, wen sie meinte. Ihr rechtes Auge schielte in die linke Hosentasche. Wir suchten das Weite und fantasierten anschließend die Szene in allen Facetten zu Ende, mit verschiedenen säuischen Ausgängen.

Prägend in dieser Zeit war Babsi. Sie war in meiner Klasse und uns um Längen voraus. Wir trafen uns morgens, gingen gemeinsam zur Schule und es kam vor, dass ich aus fadenscheinigen Gründen liegen bleiben musste. Da Mutter nicht ahnte, was ich Handfestes zu erledigen hatte, schickte sie Babsi in mein Zimmer. Ohne anzuklopfen trat sie ein und ich riss mir in Panik die Bettdecke bis zum Kinn.

»Du stellst dich an«, sagte sie und betrachtete mich amüsiert. »Warum müssen Jungs bei jeder Gelegenheit an ihrem Schniedel herumspielen?«

Hatte sie das tatsächlich gefragt oder war mein Gehirn dermaßen benebelt, dass ich alles in Zusammenhang mit Sex brachte? »Hä?«

»Ich kenne keinen, der es schafft, einen Tag nicht zu onanieren!« Ihr schien es Spaß zu machen, mich in Verlegenheit zu bringen. Heiß und kalt war mir, wobei ich die Decke ein Stückchen höher zog. Sie zuckte mit den Schultern und zog die Jacke aus. »Wusstest du, dass man die äußeren Schamlippen umklappen kann?« Ohne mich anzuschauen, öffnete sie den Knopf ihrer Hose und ließ die Hüllen fallen. Ein Blick auf die heilige Vagina reichte und ich kollabierte. Was geschah, bleibt auf ewig im Nebel. Ich jodelte oder Ähnliches, denn Mutter kam die Treppe rauf, riss die Tür auf und seitdem durften wir nicht mehr zusammen zur Schule gehen. Für Mama war Babsi die zweibeinige Versuchung und ich die blütenweiße Unschuld. Sei es drum, die Erinnerung daran bescherte mir vollgeschnäuzte Schlafanzughosen.

Zurück zu meinen Kumpels auf dem Bauernhof. Weller und Heinz zogen Ärger an, wie Scheiße die Fliegen. Seit der Grundschule waren sie eng befreundet, obwohl Matthias nicht in der Siedlung wohnte. Er hatte ein gepflegtes Elternhaus und war lediglich vollkommen degeneriert. Irgendeine Sicherung im Kopf war defekt und ließ ihn nicht gut von schlecht unterscheiden. Mitgefühl war ihm ein Fremdwort, ebenso wie Reue. Es zählte sein eigener Vorteil und für den ging er über Leichen.

Beide hatten schriftlich, dass sie dieses Schuljahr wiederholen mussten. Heinz, wegen grenzenlosen Faulheit – Weller, weil boshaft und dumm. Das schloss nicht aus, dass seine Eltern glaubten, er sei ein Prachtbursche und mindestens der nächste Nobelpreisträger. Verständlich, dass Vater und Mutter von meinem Umgang nicht begeistert waren.

Ich fütterte abends die Schafe und Kälber, Heinz die Schweine und Kühe – Weller war die dritte Macht auf dem Hof und durfte Traktor fahren. Sinnvoller wäre es für mich, den Kopf in Schulbücher zu stecken, statt hier abzuhängen. Der Reiz des Verbotenen, der Duft aller verdorbenen Träume und das Ausloten der Grenzen, übermannten mich jeden Tag aufs Neue.

Einmal stibitzten wir Aufgesetzten aus dem Keller des Bauern und schlichen zwischen die Felder. Das war der Tag, an dem aus Milchgesichtern, Alkohol trinkende Männer wurden.

»Alkoholtaufe!«, sagte Weller andächtig und faltete die Hände. In Ermangelung eines Korkenziehers schlugen wir den Flaschen die Hälse ab und gaben uns die Kante. Der Rest des Tages verging in Agonie. Wie konnte man Spaß daran haben, sich das Gehirn wegzuballern?

Weller und Heinz erging es ähnlich. Wir benahmen uns wie verendende Geißböcke, krabbelten auf allen vieren und verloren den kompletten Wortschatz; grunzten und lallten, dass es an ein Wunder grenzte, dass wir einander nicht auffraßen. Es war früh am Tag und spätestens zum Abendessen sollten wir zu Hause sein.

Stundenlang schlichen wir durch die Äcker und hofften, rasch auszunüchtern. Fehlanzeige. Wir quälten uns mit dümmlichem Gefasel und lachten, bis uns die Schädeldecke schmerzte. Mit ausreichend Restalkohol fiel ich zu Hause ein und Mutter brachte mich ins Bett. Ich gab Töne von mir, die an einen Besessenen erinnerten. Anstatt eines Exorzisten stellte sie mir einen Eimer neben das Kopfteil, mit dem ich in den folgenden Stunden eingehend Konversation übte.

Darüber zu reden war bei Tisch tabu und der Fauxpas wurde unter den Teppich gekehrt.

Der Bauer zeigte sich wenig erfreut, dass wir mit seinem Eigengebräu dicht an einer Alkoholvergiftung vorbei schipperten. Zwei Tage später kassierten wir unsere Strafe. Hinknien, Hände auf den Rücken, dann gab es eine Ohrfeige, dass wir meinten, uns fliege der Kopf weg. Thema abgehakt.

Bannerhelden

Neben dem Bauernhof-Frondienst hatte ich freitags Gruppenstunde mit den Pfadfindern. Uniformen gab es bei uns nicht und dementsprechend keine Abzeichen und Aufnäher. Wir hörten davon, hatten jedoch null Ambitionen, uns in diese Richtung weiterzuentwickeln. Schutzpatron war der heilige Georg, dessen Lied wir zu Beginn jeder Gruppenstunde sangen.

Wir rufen die Jugend der Welt, St. Jürg,

Die Länder und Völker der Erde.

Hilf du uns beginnen, das Leben gewinnen!

Beschütze dem Hirten die Herde;

Reit uns voran, St. Jürg, im Feld

Hebt groß das Tagwerk an!

Du aller Jugend Bannerheld,

St. Jürg, reit uns voran.1

Für meine Fantasie der perfekte Nährboden. Mit stolzgeschwellter Brust schmetterten wir die Zeilen und fühlten uns ebenfalls wie Bannerhelden. Wir beschützen dem Hirten die Herde! Was ist ein Bannerheld? Ich sang es Weller und Heinz vor, die sich vor Lachen bogen.

»Dein St. Jürg ist eine schwule Tucke«, sagten beide und beglückwünschten sich, keine Pfadfinder zu sein. In ihren Augen förderte das Zeltlager die schwule Ader der Aufseher. Aktuell war alles schwul. Egal ob Wetter, die Eltern oder die kesse Verkäuferin hinter der Theke. Wahrscheinlich kompensierten sie damit ihre homoerotischen Fantasien.

Da es permanent an Haushaltsgeld mangelte, durfte ich die letzten drei Jahre nicht mit ins Sommerlager, sondern brav zu Hause schmoren. Die Pfadfinder waren das Einzige, zu dem ich meine Eltern überreden konnte, was regelmäßig Beitrag kostete. Gitarren-, Schach- und Karate Unterricht musste ich nach der kostenlosen Probezeit abbrechen.

Von sozialem Miteinander verstanden Weller und Heinz nichts, weshalb beide im Jugendheim Hausverbot hatten. Und das mit dreizehn Jahren! Wie ich der Chronik entnahm, war Weller einige Monate angemeldet, bis er rausgeschmissen wurde, als er zusammen mit Heinz im Winter die Jacken der anderen durchsuchte. Zu finden war wenig bis nichts, außer der Verdorbenheit ihres Charakters.

Wenn das Wetter es zuließ, kickten wir auf dem Spielplatz oder marschierten in den nahe gelegenen Akazienwald und frönten dem General-Spiel. Wetter schlecht, dann hockten wir im Gruppenraum, spielten mit den Ellenbogen Hockey oder dachten uns lustige Geschichten aus. Von den Leuten verkehrte niemand auf einem Bauernhof, weshalb ich der Einzige war, der nach Stall roch. Die Gruppe bestand aus Klassenkameraden, Jungs die man vom Sehen kannte und Neuzugezogene, die über die Pfadfinder Anschluss finden sollten. Meist vergraulten wir sie und nach wenigen Wochen blieben sie bei Mama. Wer durchhielt, wurde in die Puma-Gruppe aufgenommen.

Am Abend unseres gescheiterten Streichs gegen den verhassten Nachbarn war Gruppenstunde und ich froh, den perversen Gedanken der beiden entfliehen zu können. Ihre letzte Idee war, im Winter vor der Haustür Wasser auszuschütten, damit sich der Drecksack die Knochen brach. Das fand ich nach abgeklungener Beule übertrieben.

Im Jugendheim war die komplette Sippe versammelt. Wir lachten, erzählten uns Witze und prahlten mit irgendeinem Mist.

»Ui«, sagte Freddy Kosslik. »Olli war beim Bauer.« Er hielt sich theatralisch die Nase zu und täuschte eine Ohnmacht vor.

»Nein«, korrigierte ich ihn. »Ich war bei deiner Mutter!« Allgemeines Gelächter, Thema abgehakt. Draußen begann es zu nieseln und in Anbetracht der Wetterlage einigten wir uns darauf Rippeltippel zu spielen. Dabei saßen wir an einem runden Tisch und bekamen fortlaufende Nummern. Ich war Rippeltippel Vier, gegenüber saß Freddy, Rippeltippel Acht. Wenn ich das Wort an ihn weitergab, musste ich sagen: »Rippeltippel Vier ohne Tippel ruft Rippeltippel Acht ohne Tippel.« Wer sich verhaspelte oder die Anzahl der Tippel falsch nannte, bekam einen angeflammten Korken auf die Backe und hatte einen Tippel.

Mit zunehmenden Tippeln gewann das Spiel an Schärfe und endete mit schwarzen Gesichtern. Irgendwann verlor man den Überblick und es ging nur noch darum, jemanden den Korken in die Visage zu drücken. Nach zwei Stunden waren wir platt und machten uns auf den Heimweg. Mutter schrubbte mit ATA, ihrem Allzweckreiniger, den Ruß weg. Ich hatte das Gefühl, sie schmirgle mir die Haut von den Knochen. Die frische Luft und der Nachmittag auf Achse äußerten sich in unkontrollierter Nahrungsaufnahme. Mutter verglich mich mit einem jungen Wolf und brachte sich aus der Gefahrenzone. Die drei Fragezeichen in den Kassettenrekorder und nach dem Titellied hatte ich die Schwelle zum Traumland überschritten.

Wieder ein Tag zu Ende und dem achtzehnten Geburtstag näher. Dieser Tag bedeutete den Start in ein neues Leben. Wenn ich mir die Gesichter der Mitbürger ansah, konnte ich mir schlecht vorstellen, dass sie ebenfalls Ziele hatten. Irgendwann stellte man fest, dass man den Absprung verpasst hatte.

1 Hans Riediger/Claus Ludwig Laue

Frischfleisch in der 7.

Viertel vor sieben wecken, im Halbschlaf anziehen und mit der Töle zum Kiosk – eine BILD – dann wieder zurück. Der Hund sollte auf den Namen Bello hören, tat er natürlich nicht. Stattdessen zog und zerrte er ununterbrochen an der Leine und verrichtete sein Geschäft ausschließlich auf Gehwegen. Ich konnte ihn stundenlang über eine Wiese jagen; sobald er wieder Pflaster unter den Pfoten spürte, machte er einen Buckel und kackte. Hatte Weller sich die Sache mit dem »vor-die Tür-kacken« von ihm abgeschaut? Zu Hause hieß es Tasche packen, auf zur Schule. Fünfzehn Minuten Fußweg, die sich bei Sperrmüll verdoppelten, dann Treffen mit den Kameraden vorm Schultor. Der Zeitplan wurde um einiges straffer, wenn es galt, Hausaufgaben abzuschreiben. Standardfrage: »Hast du Mathe?«

Heinz saß einsam am Ende der Klasse, Weller neben Kosslik und mein Tischnachbar hieß Domenik Landgraf. Anfangs hatte ich Respekt vor seinem Nachnamen, dachte, er sei von blaublütigem Adel. Das relativierte sich, als ich Timo Busentür aus der Parallelklasse kennenlernte. Nachnamen waren oft dummen Hirngespinsten entsprungen, hatte es zumindest den Anschein. Im Unterricht schrieb ich lustige Verse, die ich zusammenfaltete und durch die Klasse schickte. Einige kommentierten handschriftlich darunter und zu Hause heftete ich die Dokumente sauberer ab als meine Zeugnisse. Zum Thema Pilze in Biologie fiel mir spontan Folgendes ein.

Der Pilz, das ist ein feuchter Lurch.

Er wächst auch in der Kimmen Furch.

Wenn du nicht trocknest was da nass.

Dann hast du später mit Pilzen Spaß.

Lockerer Vierzeiler, der regen Anklang fand. Top Kommentar:

Dem Olli wächst ein Pilz am Arsch.

Faustgroß wie beim Zackenbarsch.

Und ein Pilz an seiner Nille.

Beiß ihn ab, sein letzter Wille.

Unsere Klassenstreberin Simone kritzelte eine Antwort darunter, auf die ich besonders stolz war.

Schrieb Olli bloß mal gute Noten,

so wie die peinlich flachen Zoten.

Dann wär er hier die Nummer eins.

Und nicht der ehemalige Tischnachbar von Heinz.

Die Lacher in der Klasse waren es wert, dass ich einen Eintrag ins Klassenbuch bekam. Von einer Zote hatte ich nie gehört. Wahrscheinlich meinte sie die Brote, die Mutter mir tagtäglich schmierte und in Wachspapier wickelte. Laut Deutschlehrerin war ich musisch begabt und musste an meiner Ausdrucksweise arbeiten. Ein Hoffnungsschimmer! Konnte man mit kurzen Gedichten Geld verdienen oder davon Leben?

Unser Klassenlehrer scherte sich einen Dreck um Bildung. In erster Linie war er ein pädophiler Spitzklicker, der den Weibern den ganzen Tag auf die Brüste starrte. Meine Schwester hatte bereits das Vergnügen und wusste allerlei ekelhafte Geschichten zu berichten. Etwa, dass er sich unterm Tisch einen kurbelte, als die Mädels im Sommer luftiger angezogen waren. Selter hieß er, wie das Mineralwasser. Ich konnte den Kerl nicht ab. Seine Lieblingsbeschäftigung: Sprechverbot. Dann herrschte Stille und wenn jemand ein Wort sagte, gleich aus welchem Grund, gab es eine vor die Batterie. Besser als Strafarbeit, meinten manche, wovon ich nicht überzeugt war.

Selter trug Bundfaltenjeans und Polohemd, darunter, jugendlich wie er sich gab, Turnschuhe. Er betrat die Klasse und hatte einen Neuen im Schlepptau. Braune Haare, goldbraune Haut, von der Statur her sportlich und wenige Zentimeter kleiner als ich.

»Das ist Andreas, er kommt aus dem Hunsrück und ist ab heute in unserer Klasse. Heißen wir Andreas willkommen!« Selter sagte dies ohne Anflug einer Emotion. Sein gieriger Blick klebte an Christas Busen. Als wir daraufhin jubelten und ihn grüßten, erteilte er sofort Sprechverbot. Links neben mir war ein Platz frei und der Junge setzte sich. Wie ein Hunsrücker sah er nicht aus, eher südländisch. Aber woher sollte ich wissen, wie jemand aus dem Hunsrück aussieht, geschweige denn, wo die Unterschiede sind?

Selter hat sein eigenes Willkommensgeschenk. Nach der zweiten Ermahnung stellte er Andreas vor die Wahl: Die Bürgschaft abschreiben oder eine Backpfeife. Der Neuling entschied sich für die kurze Variante und biss vor Wut die Zähne zusammen. In der Pause ließ er seinen Frust an Tobi aus, unserem Klassenclown. Der fragte unbefangen, woher der dunkle Teint komme und hatte eine sitzen, bevor er den Mund schließen konnte. Andreas sah besser aus, als wir, was die Herzen der fünf Mädchen höherschlagen ließ. Wie rossige Stuten blähten sie ihre Nüstern. Dummes Volk. Sie hielten sich für reifer und uns für schwachsinnig. Babsi war bis zu dem Zwischenfall in meinem Zimmer, das einzige Mädchen, zu dem ich Kontakt hatte. Seit sie mir ihre Mumu zeigte, herrschte Funkstille. Tobi rieb sich die Backe und das Thema war erledigt.

Es kam nicht oft vor, dass wir einen neuen Klassenkameraden bekamen. In der Regel zogen die Menschen von Mendig fort. Die restliche Pause löcherten wir ihn alle mit Fragen und es stellt sich heraus, dass er zusammen mit Mutter und zwei älteren Brüdern in meiner Nähe wohnte. Andreas strahlte eine Ruhe aus, als habe er die Welt umsegelt und nichts könne ihn schocken.

Die verbleibenden Schulstunden war es erforderlich, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, da das Halbjahreszeugnis mir unschön meine Faulheit attestierte. Eine 6 in Deutsch und Chemie, 5 in Mathe – gehen sie nicht über Los, ziehen sie nicht DM 2000 ein. Bis dahin glaubte Mutter, ich sei ein schlaues Kerlchen, dann brach für sie eine Welt zusammen. Ich wollte nicht zu den Verlierern gehören, das durfte nicht passieren. Der Gedanke, mit Weller und Heinz wieder in einer Schulklasse zu landen, verpasste mir Gänsehaut. Ich krempelte mein Leben komplett um, zumindest einzelne Bereiche. Abends betete ich fünf Ave Maria und anschließend fünf Vater unser, um die Kurve im letzten Moment zu bekommen. Nach der Schule widmete ich mich mindestens eine halbe Stunde der Aufarbeitung vorangegangener Themen.

Die meisten sozialen Kontakte, Rangeleien und Diskussionen, generierten wir auf dem Nachhauseweg. Andreas wurde sofort vereinnahmt und es stellte sich heraus, dass er andere Interessen hatte. Unsere Musik fand er Kinderkacke, Krieg der Sterne war für ihn Schwachsinn und an Außerirdische glaubt er seit dem Kindergarten nicht mehr. Wir kamen uns vor, als lebten wir auf einer Insel, fernab im Pazifik, die alle paar Jahrzehnte Kontakt mit der Außenwelt hatte. Er liebte AC/DC, knalligen Rock und leistete einen feierlichen Eid, zu Hause einen Stapel Playboy Magazine zu haben. Das begeisterte nicht nur mich. Wann, außer am Kiosk, kam man in den Genuss, einen Playboy durchzublättern?

Musikalisch nahm ich mir vor, aktive Nachhilfe zu leisten, prädestiniert durch regelmäßigen Verzehr von BRAVO, POPROCKY und POPCORN. Die aktuelle Top 20 konnte ich sicherer aufsagen, als meine Adresse. Stunden verbrachte ich vor dem Radiorekorder – REC, PLAY und PAUSE gedrückt, bis ein Lied kam, das ich aufnehmen musste.

»Warst du da, wo du herkommst, bei den Pfadfindern?«, fragte ich, um ihm näherzukommen. Er nickte. »Am Freitag ist Gruppenstunde, kannst mitkommen. Verstärkung ist gern gesehen.« Er hob die Schultern. »Hast du ein Fahrrad?« Nicken. »Die Zunge verschluckt oder beim Auspacken vergessen?«

»Was?«

»Du gibst Antworten, wie meine achtzigjährige Oma. Wenn du in Mendig Anschluss haben willst, muss mehr kommen. Mit Schulterzucken und nicken versteht dich kein Aas.« Er blieb stehen und sah mich schief an. Instinktiv wich ich einen Schritt zurück, falls er gedachte, mir eine zu schmieren.

»Hör mal, ich bin aus einer Stadt, die ist dreimal so groß wie euer Kacknest.«

Wunderbar, wir hatten die gleiche Sicht auf Mendig. Mit dem Jungen konnte ich was anfangen. Nur stellte sich heraus, dass er entweder keinen Humor hatte, oder eine mir unbekannte Variante. Normale Witze prallten an ihm ab; legte sich jemand mit dem Skateboard hin, schlug er sich vor Lachen auf die Schenkel.

»Mit meinem BMX kann ich fünfzig Meter auf dem Hinterrad fahren«, sagte er und ging weiter.

»Das glaubst du doch selbst ...« Der Satz blieb unvollendet, denn er schlug mir mit der Faust auf den Oberarm, dass mir das Wasser in die Augen schoss, wie beim Zwiebelschneiden.

»Wenn du sagst, dass ich lüge, schlag ich dir ins Gesicht.« Sein Tonfall ließ mich frösteln. Es stand außer Frage, dass er seine Drohungen, ohne mit der Wimper zu zucken, umsetzte. Im Plauderton zählte er auf, was er aus dem Hunsrück mitgebracht hatte: Messer, Luftpistole, Futterschleuder und einen Schlagring. Kein Wort von Autoquartett, einem Jojo oder einem Plattenspieler. Der Kerl war eindeutig frühreif und ich Hinterwäldler.

Im Unterricht war er zu nichts zu gebrauchen. Außer im Sport setzte er nirgends Akzente. Die nächsten Tage trafen wir uns nachmittags. Sein BMX sei derzeit defekt und stehe im Keller. Aha, zu dick aufgetragen. Der älteste Bruder lehrte mir bei der ersten Begegnung das Fürchten. Hielt ich Andreas für gewaltbereit, dann war Harald ein Killer. Groß und breit wie ein Kleiderschrank mit dem Gesichtsausdruck einer kalbenden Kuh. Er kommandierte uns, schimpfte ohne Unterbrechung und trat mir in den Hintern, weil ich seiner Auffassung nach nicht schnell genug aus dem Weg ging. Bruder Nummer zwei packte Wochen später seine Sachen und zog zurück in den geliebten Hunsrück. Seltsamer Name, machte laut ausgesprochen keinen Sinn.

Ein klein wenig hatte ich Mitleid, denn es war kein Wunder, dass er die erlebte Gewalt ungefiltert weitergab. Seine Mutter war den ganzen Tag unterwegs, kümmerte sich nicht um ihre Kinder, womit die Erziehung dem ältesten Sohn zufiel. Vaterersatz entpuppte sich in den folgenden Wochen als Psycho, der vor einer Disco zwei Jungen krankenhausreif prügelte und anschließend die Polizisten. Welch ein Segen U-Haft sein konnte!

In der Zeit ohne Harald versuchte ich, ihn zu resozialisieren und bei den Pfadfindern unterzubringen. Anschließend stand der Bauernhof auf dem Programm. Vielleicht tat ihm körperliche Arbeit und Landluft gut.

In meinen Träumen wollte ich sein, wie er. Stiller Typ, besonnene Einschätzung jeder Lage und zur Not schlagkräftig. All das, was ich nicht war. Zwar gehörte ich zu den Hochgewachsenen und besser Beleibten, doch war ich weder stark noch gefährlich. Ein sanfter Riese. Mutter sagte immer, dass ich Babyspeck auf den Rippen habe, der sich mit den Jahren verwächst. Dem Speck nach musste ich 2,5 m groß werden.

Landleben vs. Stadtleben

Erneut traf Tobias Welke eine Faust und wieder gehörte sie Andreas. Er verdrehte die Augen und fiel wie ein gefällter Baum zu Boden. Ich war entsetzt. Nie zuvor hatte ich gesehen, wie jemand ausgeknockt wurde.

»Wenn du mich nochmal verarschst, prügel ich dir die Scheiße raus«, sagte Andreas gelassen.

Tobi hat die schlechte Angewohnheit, jeden nachzuäffen. Obwohl er am ersten Tag eine gelangt bekommen hatte, ließ er sich zu einer Parodie hinreißen. Die Quittung wuchs an seinem Kinn und leuchtete in vielen Farben. Körperliche Gewalt gab es bei uns lediglich vonseiten der Lehrer – untereinander war das kein Thema.

»Warum hast du das getan?«, fragte ich Andreas, der Tobi keines Blickes würdigte.

»Warum nicht?«

»Er könnte falsch aufschlagen, sich den Kiefer brechen und bis zum Lebensende ein verdammter Pflegefall bleiben!«

»Tobi? Nein!« Seine Ruhe brachte meine durcheinander. »Der ist in paar Minuten wieder fit.« Im hohen Bogen spuckte er aus und taxierte mich mit abschätzendem Blick. »Was glaubst du, wäre passiert, wenn ich ihn gebeten hätte aufzuhören?«

Tobi hatte, das musste ich zugestehen, Andreas` Stil perfekt kopiert. Der Kopf hing zwischen den Schultern, die Augenlider auf halbmast, und beim Einatmen straffte sich sein Körper, wobei er übertrieben die Brust aufblähte. Ohne diesen Schwinger würde er das Programm durchziehen, bis es jeder in der Schule gesehen hatte.

»Ist das ein Grund, ihn zu schlagen?«

»Gibt es einen Besseren?« Er wartete einige Sekunden und ging weiter. Ich half Tobi auf die Beine und anschließend, sich zu orientieren. Andreas war dreizehn, hatte keinerlei Skrupel und die Macht, uns alle zu verderben.

Entgegen meinem Bauchgefühl holte ich ihn abends ab und schleppte ihn zu den Pfadfindern. Tobi rutschte in die hinterste Ecke und verwünschte mich, das konnte ich seinem Blick ablesen. Die Begeisterung war gedämpft und die Gruppenleiter beäugten ihn skeptisch.

Er nahm es nicht genau damit, fremdes Eigentum pfleglich zu behandeln. Den Bock schoss er ab, als er beim Gendarm-Spiel erwischt wurde, wie er rauchte und anderen die Kippen schmackhaft machte.

»Kindergarten«, sagte er und schnippte die glühende Zigarette ins Unterholz. Jappki, Neger und Schrubber – so hießen unsere Gruppenleiter – bekamen akute Schnappatmung und hatten Lust, Andreas die Mitgliedschaft zu verwehren. Jedem stand eine zweite Chance zu.

Das Thema Pfadfinder erledigte sich, als vier Wochen später das Limo-Geld verschwunden war. Zwei Groschen zahlten wir pro Glas und am Ende des Jahres wurde das Geld gespendet. Jemand machte sich die Mühe das Fenster aufzuhebeln und die Zigarrenkiste zu entwenden. Zudem wurden die Skulpturen unserer Töpfer-Periode aus den Regalen gerissen und zerstört.

Das Geschrei war dementsprechend und der Bürgermeister höchstpersönlich versprach, dass der Unhold mit einer harten Strafe zu rechnen hatte. Dass der Täter aus den Reihen der Pfadfinder kam, dafür musste man kein Kriminalist sein. Wer wusste von der Zigarrenkiste und ihrem bescheidenen Inhalt?

Ich sagte es Andreas auf den Kopf zu, dass ich ihn für den Dieb hielt.

»Bist du blöd?«, fragte er auf dem Weg zum Bauern. »Was hab` ich mit eurem Trinkgeld am Hut?«

»Vermutlich mehr, als ich wissen will!« Es bestand das Risiko, dass er mir eine knallte, was in diesem Moment egal war. »Du ziehst deinen Stiefel auf Gedeih und Verderb durch!«

Andreas blieb stehen. »Na und. Was regst du dich über die paar Mark auf?«

»Und was ist mit dem Fenster und den Figuren?«

»Die Reparatur kostet kaum was und die Bastelscheißdinger waren peinlich. Hast du dein Ebenbild geknetet und bunt angemalt? Werd` erwachsen!«

»Es geht ums Prinzip.«

»Es geht um euer Scheiß Prinzip!«, rief er und stemmte die Fäuste in die Hüfte. So aufgeregt hatte ich ihn noch nicht erlebt. »Dass ihr schwachsinnig seid, hast du nicht gemerkt, oder? Ihr lebt, als wärt ihr gestern vom Baum geklettert. Alles muss brav und anständig sein. Ihr tickt nicht mehr sauber. Keiner darf wütend werden, laut sein oder was tun, dann dreht ihr ab.« Ich ging auf Abstand, denn er glich einem Vulkan, der jeden Moment explodieren konnte. »Habt ihr euch jemals geprügelt?« Ich schüttele den Kopf. »Wenn du achtzehn bist und in eine Disco fährst, wie willst du da bestehen? Mama rufen und dich hinter Stärkeren verstecken?«

»Muss ich das mit Fäusten? Wenn es für dich nur Gewalt gibt, ist das dein Problem. Ich konnte bisher gut ohne leben und habe das auch in Zukunft vor.« Mir war gleich, ober er mich schlug oder nicht.

»Such dir auf dem Friedhof schon mal ein Grab. Du wirst nie aus diesem Drecksloch kommen, da geh ich jede Wette ein!« Er marschierte an mir vorbei und es tat mir leid, dass ich mich mit ihm eingelassen hatte. Es war, als hätte ich die Box der Pandora geöffnet und einen Geist freigelassen.

Es dauerte nicht lange und alle kamen dahinter, dass Andreas der Dieb war. Nachweisen konnte man es ihm nicht, man schloss ihn dennoch aus der Pfadfindergemeinschaft aus. Sein Weg führte geradewegs zum Jugendtreff, in den wir uns nicht trauten. Dort verkehrten Subjekte, deren Größenordnung wir nicht gewachsen waren. Dachte ich zumindest.

Ich war dankbar, dass Andreas meinen Horizont erweiterte, andererseits war er eine tickende Zeitbombe. Bisher waren wir alle Landeier, deren Vorstellung der Welt auf TV-Serien basierte. Mendig lag fernab dessen, was wir in der Flimmerkiste sahen, obwohl es bis zur Bundeshauptstadt keine halbe Stunde Fahrt war. Mich wunderte, dass niemals jemand an Langeweile starb. Zu rechnen war täglich damit. Eine der großen Fragen: Warum flohen die Erwachsenen nicht? Weshalb verharren sie inmitten der Einöde? Nicht nur ich interessierte mich für den Sinn des Lebens, Tobias hatte seine eigene Theorie entwickelt und feilte unablässig an ihr. Für ihn bestand die Welt aus mehreren parallelen Universen und alles geschah gleichzeitig.

»Stellt euch eine Badewanne voller Schaum vor. So sieht das Universum aus!«, sagte er.

»Wie eine Badewanne?« Mitti rümpfte die Nase.

»Quark! Jede Blase ist ein Universum. Es gibt große, kleine, manche zerplatzen und es entstehen andere.«

»Und in jeder Blase leben wir?« Mein Kopf begann zu schmerzen, wenn ich mir diesen Schwachsinn vorstellte.

»Wir ...« Er verstummte. Die nassen Brötchen zwischen unseren Ohren waren für solch einen Scheiß nicht geschaffen.

»Wir tun was?«, wollte ich wissen. Sein Gefasel ging mir auf den Zeiger und raubte Lebenszeit.

»In diesem Universum, besuchen wir die Schule, treffen uns später zum Fußballspielen und wohnen bei unseren Eltern.« Mit seinen hellblonden Haaren sah er ein wenig käsig aus, vermittelte jedoch einen normalen Eindruck. Nichts, was auf Wahnsinn hindeutete. Hässlich zwar, vom Geist her mittlerer Durchschnitt und was aus dem Mund quoll, konnte mit übermäßigem TV Konsum zusammenhängen.

»Was mache ich in der Zwischenzeit in den parallelen Universen?« Freddy traut sich, diese Frage zu stellen. Wir wollten seinen geistigen Dünnpfiff nicht hören.

»Das bekommst du zum Teil mit, wenn du träumst. Dann verlassen wir unseren Körper und leben in einer Parallelwelt. Wahrscheinlich gibt es sogar mehr als zwei, aber da habe ich noch nicht durchgeblickt«, sagte Tobi im Brustton tiefster Überzeugung.

Domenik Landgraf reagierte als Erster und warf ihm seine Eistüte an den Kopf. »Damit du herunterkühlst.«

Freddy überlegte und hob den Finger. »In einer Welt bin ich in ein toller Hecht, habe ein Dutzend Weiber und begatte sie pausenlos. Wie schaffe ich es, mich für dieses Universum zu entscheiden?«

»Schon mal was von Koma und Hirntod gehört? Die Leute haben ihr Leben verlassen und befinden sich in einer anderen Welt. Sie haben keinen Bock mehr auf dieses Leben. Im Prinzip könnten sie jederzeit zurück.«

»Und wenn eine Blase zerplatzt? Zufällig die, in der ich der absolute Held bin?« Freddy kratzte sich ausgiebig am Kinn.

»Die Sache wird unglaubwürdig«, sagte Atze, der die ganze Zeit schweigend zugehört hatte. »Es gibt kein Universum, in dem dich eine Frau ranlässt und du Held bist!«

Insgeheim wünschten wir uns jene Parallelwelt, in der wir die absoluten Macker waren, dicke Autos fuhren und in jedem Arm ein Mädchen hatten. Die Sehnsucht nach dem achtzehnten Geburtstag war den Gesichtern schmerzlich anzusehen. Wie junge Lachse, die spürten, dass die offene See eine Flussbiegung entfernt liegt. Wie Zugvögel, die über das Meer flogen und die ersten Anzeichen von Land sahen. Unser Ziel war nicht Afrika, sondern der vermaledeite Führerschein und ein fahrbarer Untersatz, dann gehörte uns die Welt, egal was Andreas sagte. Ich wusste, jeder von uns war bestrebt, in diesem Kaff nicht zum Schatten zu werden. Bis dahin wollte ich meine Jugend genießen und die bestand aus Pfadfindern, Fußballspielen und autoerotischen Exkursionen. Wenn ich recht darüber nachdenke, in umgekehrter Reihenfolge.

Kuhhandel

Kurioserweise hatte es zur Versetzung gereicht. Ob es am Beten lag, wagte ich zu bezweifeln. Großartig gelernt hatte ich trotz investierter Zeit nicht. Glück gehabt! Wieder Monate gewonnen.

Beim Bauer lief alles wie gewohnt. Ich durfte keinen Traktor fahren und Andreas kam regelmäßig mit, um mir über die Schulter zu schauen. Ich zeigte ihm die Arbeiten, die ich zu verrichten hatte. Helfen, Ausmisten, Schafe füttern, saubermachen. In der Schule mied Andreas den stinkigen Heinz und zu Weller hatte er ebenfalls kaum Kontakt, dafür waren sie zu verschieden. Hier, auf dem Bauernhof und unter gelockerten Umständen, entdeckten sie Gemeinsamkeiten. Die Raubzüge in den Schlecker wurden systematischer und unser Geheimversteck barst schier vor Zigaretten und Alkohol. Kondome zum Glück weniger, wiesen sie mich verdeckt darauf hin, dass ich aktiv werden musste. Trainieren war zwar befriedigend, als Soldat wollte man in die Schlacht und seinen Mann stehen. Unsere Gedanken kreisten täglich um diesen einen Moment und schmückten ihn aus.

In einer Mußestunde fiel mir auf, dass die Präservative ein Haltbarkeitsdatum hatten. Was zur Hölle soll an einem Präservativ eine geringe Haltbarkeit haben und wie machte sie sich bemerkbar? Heinz wusste keine Antwort.

»Was ist der Unterschied zwischen einem Autoreifen und 365 Kondomen?«, fragte er stattdessen, während ich die Tüten inspizierte.

»Keine Ahnung. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«

»Schwachsinn! Der Autoreifen ist Goodyear und 365 Kondome sind a very good Year.« Er lachte lauthals.

»Welches ist der kleinste Dom?«, fragte ich im Gegenzug.

Er hob die Schultern. »Der Kölner Dom?«

»Ein Kon-dom. Da passt nur einer rein und der muss stehen.«

Heinz sah mich blöd an. »Da fand ich meinen besser.«

Was wir mit den Lümmeltüten wollten, war mir schleierhaft. Außer Andreas hatte niemand körperlichen Kontakt mit einem Mädchen. Ob Weller neuerdings verhütete, wenn er eine Kuh bumste? Tat er, Indianerehrenwort!

Zog sich einen Schemel heran, band den Schweif zur Seite und stand auf wackeligen Beinen, während er die Kuh flummte. Vor Ekel drehte sich mir der Magen. Er hatte keine Schmerzgrenze und nichts war ihm zuwider. Es machte mir Angst und ich wollte mir nicht vorstellen, was in seinem Leben an Kuriositäten hinzukommen würde.

Die Dieberei nahm überhand und wuchs mir über den Kopf. Andreas fügte sich nicht in den Hof-Alltag, denn immer fehlte irgendetwas und niemand war verantwortlich. Typisch, wenn er sich an einem Ort für längere Zeit aufhielt.

Der Bauer suchte verzweifelt unser Versteck und zog in Erwägung, das komplette Strohlager zu räumen. Die Ware musste weg, schnellstens. Ich wurde in das Projekt nicht mit einbezogen und stand eines Tages vor einem zusammengestürzten Strohballenberg. Andreas hatte in kurzer Zeit einen zweifelhaften Ruf erlangt, woran er nicht unschuldig war. Mir ging es darum, dass ich mein Bestes gab, ihn zu integrieren. Die Sache mit den Pfadfindern haftete ihm unschön an und bildete einen unüberbrückbaren Graben. Der Bauer betrachtete Andreas argwöhnisch und sprach ihn nie direkt an. Ein Zeichen, dass er ihn ignorierte, wie er es am Anfang bei mir tat. Vor unserem zusammengestürzten Versteck wurde mir klar, dass Andreas wegmusste, wollte ich eine Zukunft auf dem Bauernhof haben.

An der Arbeit beteiligte sich Weller von Tag zu Tag weniger und Heinz kam ausschließlich samstags, wenn es Linsensuppe gab. Auf dem Hof galt es Schafe zu scheren und ich lief dem alten Bauern in die Arme. Er war wortkarg wie ein taubstummer kenianischer Busfahrer und seine Sätze umfassten selten mehr als ein Wort.

»Komm!«, sagte er und zeigte mir zweimal, wie man das Schaf zu halten hatte und die Rasur vonstattenging. Nie werde ich den öligen Siff vergessen, den die Schafe absorbierten. »Schweiß!«, brummte der Bauer und drückte mir den nächsten Bock in die Arme, dann die elektrische Schere. Ansetzen, von unten nach oben. Ab dem vierten Schaf stank auch ich wie ein alter Bär im Schritt, hatte Routine wie ein Schäfer und der Bauer ließ mich alleine.

Derweil gaben sich meine vermeintlichen Freunde in ihrem neuen Versteck die Kante. Ich hatte Weller zuvor mit Plastikbechern gesehen und seine Spur in der Waschküche verloren. Was hatten die Kerle vor? Dieser beschissene Hof hat zu viele Gänge, Treppen und versteckte Räume: Wie konnte ich ihnen jemals auf die Schliche kommen? Sollten sie verrecken, Saubrut!

»Fester!«, sagte mein Galeerentrommler und kam mit gestopfter Pfeife aus dem Haus, um gemütlich eine zu schmauchen, während ich wie ein Sklave rackerte. Permanent kämpfte ich dagegen an, keins der Schafe vollzukotzen. War Kinderarbeit in Deutschland nicht lange verboten?

Als mir das letzte Schaf aus dem Schoß rutschte und ich eingeölt war, wie bei einer Swingerparty in Thailand, erschlafften meine Arme. Der Bauer lobte mich überschwänglich.

»Gut!«

Klar, du alter Geizsack, dachte ich. Schaukel dir die Eier und lass mich arbeiten. Zwanzig Mark darf dir die Sache ruhig wert sein. Stattdessen schlurfe ich ohne Kohle nach Hause, duschte dreimal und fiel entkräftet ins Bett. Ich musste Mutter mit wenigen Worten erklären, was ich getan hatte, dann ging sie zufrieden ihrer Hausarbeit nach und ich knackte bis zum nächsten Morgen.

Mutter fand die Aktion toll und hoffte, ich könnte in Zukunft mehr Verantwortung übernehmen.

»Wenn du Schafe scheren darfst, dann hält der Bauer große Stücke auf dich. Verscherze es dir nicht!«, sagte sie.

»Klar. Eines Tages werde ich Bauer.«

»Es gibt Schlimmeres.«

»JA«, schrie ich hysterisch. »VERDAMMTE SCHAFE!«

Psychisch geschädigt war ich auf Jahre, wenn nicht für das ganze Leben. Tagelang machte ich einen Bogen um den Schafstall. Ich ging davon aus, dass eins der Mutterschafe mir zurief:. »Und, hat es Spaß gemacht? Gefallen wir dir nackt besser? Tierschänder! Willst du meine Töchter sehen, wie sie nackt durch den Stall laufen, den Böcken zum Spaß? Blöööck Blöööck.«

Nein, zu den Schafen wollte ich nicht. Stunden verbrachte ich damit, das neue Geheimversteck zu suchen, wie die sprichwörtliche Nähnadel. Stattdessen bekam mich der Bauer am Schlafittchen. Wo die anderen alle waren, wollte er wissen. Seit über einer Woche hatte er Weller und den Neuen nur flüchtig gesehen. Zu viele Worte, da war was im Busch. Hoffentlich warf er sie im hohen Bogen vom Hof, wenn er sie zu fassen bekam.

Ich suchte verbissen und wurde letztendlich belohnt. Im Anbau, der als Materiallager diente, gab es eine Leiter, oben wurde Malz gelagert und es roch herrlich. Mittendrin, hinter Säcken, Brettern und Planen fand ich, wonach mein Herz sich sehnte. Wie groß war das Erstaunen, als ich mich umsah. Die verwanzten Idioten hatten in den letzten Tagen ganze Arbeit geleistet. Neben den üblichen Zigaretten türmten sich Pornoheftchen und Weinbrand. In einem Blumentopf lagen Dutzende D-Mark Stücke. Ich wusste nun, warum sie auf dem Hof nicht mehr zu sehen waren und ich die doppelte Arbeit zu verrichten hatte.

Für den nächsten Tag nahm ich mir vor, Teile vom Diebesgut abzuzwacken, unterm Strich machte ich ihre Arbeit. Erneut fing mich der Bauer ab. Sein Sohn fuhr mit dem Traktor vom Hof und wortlos schmiss mir der Alte eine Lederschürze zu.

»Komm!«, grunzte er, wie eines seiner Schweine und packte mich an der Schulter. Mir grauste Schlimmes. Mit vereinter Kraft schoben wir einen Anhänger aus der Scheune, der mir bis dahin nie aufgefallen war. Die Ladefläche klappt hydraulisch hoch, dass sie am Ende des Aufliegers senkrecht stand. Ich musste eine Kuh aus dem Stall holen und sie mit der Flanke gegen die Wand stellen. Der Bauer zurrte das Tier fest, betätigte einen Hebel und die Ladefläche glitt in die Horizontale. Die Kuh lag festgebunden vor uns und er zog seine Lederschürze um. Nickend wies er mich an, es ihm gleichzutun, dann holte er schweres Gerät aus dem Schuppen. Mit einem Seitenschneider machte er sich an den Klauen der Kuh zu schaffen.

»Komm her!«, blaffte er mich an, obwohl ich offenen Unwillen zur Schau stellte. Ich hatte keine Lust und war vom Schafscheren traumatisiert. Ich wich seinen Blicken aus und wäre am liebsten schreiend davongelaufen.

»Hol die nächste Kuh!« Thema erledigt, alles wie zuvor.

Die Kuh, die ich am Bändel hatte, war eine der Intelligentesten. Sie war die Anführerin. Wenn es vom Stall auf die Weide ging oder umgekehrt, dann immer diese Schwarzgefleckte zuerst. Sie ließ sich anbinden, der Tisch schwenkte nach hinten und das Vieh lag waagerecht. Der Bauer packte mich, drückte mir den Seitenschneider in die Hand. Vorsichtig, als handele es sich um meine eigenen Fingernägel, ging ich zu Werke.

»Druff!«, rief der Bauer. »Das Vieh merkt nichts.«

Ich setzte erneut an und war überrascht, wie mühelos es funktionierte. Die Klaue war angenehm zu schneiden und der Bauer schien zufrieden. Das Schwierigste kam erst. Mit einer Schleifmaschine sollte ich nachbessern, damit die Klaue nicht durch Kanten und Risse anfällig wurde. Das Riesending war kaum zu bändigen und der infernale Lärm, raubte mir das Gehör. Als ich ansetze und der Bauer sagte, dass ich keine Angst haben soll, hob die Kuh ihren Hinterlauf, der zwar angeschnallt, die Halterung jedoch lose im Loch hing. Das Tier musste es bemerkt haben, denn aus dem Augenwinkel sah ich, wie präzise sie dies tat. Das Bein war frei, sie holte aus und trat dem Bauer ins Kreuz, dass er mich mitriss und wir beide einige Meter weiter auf die Schnauze fielen. Ich hatte die Schleifhexe in der Hand, deren Blatt mit 7.000 Umdrehungen kreiste. Wie durch ein Wunder blieben wir unverletzt. Er stand auf, nahm von der Werkbank einen Axtstiel, dann kam er zum Anhänger. Alle Wut ließ er an der Kuh aus, die ihn mit großen Augen anstarrte. Immer wieder tanzte der Knüppel auf Kopf, Beine und Hinterteil, bis er keuchend innehielt und von seiner Frau gestützt wurde. Sie hatte vom Küchenfenster den Vorfall beobachtet und eilte zur Hilfe.

Drei Rippen brach ihm das Tier. Nicht auszumalen, was mir zugestoßen, wenn sie meinen Kinderrücken getroffen hätte. Höchstwahrscheinlich hätte sie mich in den Orbit katapultiert.

Der Tod

Ich zog mich nach dieser Summe unerfreulicher Vorfälle vom Hof zurück. Heinz durfte wegen Läusebefall keine öffentlichen Plätze aufsuchen und hatte, wie man mir sagte, ebenfalls die Schnauze voll.

Sommerferien ohne Urlaub zogen sich wie Kaugummi. Wegen des Zeltlagers hatten meine Eltern die Entscheidung bis zum letzten Termin verschoben und ich malträtierte sie im Stundentakt. Ich musste aus dem Ort, sonst konnte ich für nichts mehr garantieren. Keine Veränderung, keine Abwechslung. Täglich die gleichen Glocken, die mit ihrem Gebimmel jeden aus dem Schlaf rissen. Scheinbar war dem Küster ebenfalls langweilig und er machte sich einen Spaß daraus, nach Gutdünken den Knopf zu drücken. Zum Wahnsinn trieb mich, dass sich nichts änderte. Die gleichen Gesichter, Stimmen, Abläufe und Nachrichten. Jeden Abend schlief ich mit der Hoffnung ein, dass sich morgen etwas änderte. Was war mit Tobis Paralleluniversum? War ich dazu verdammt, eine der Töchter zu ehelichen und auf ewig in Mendig zu bleiben?

Einsam zog ich durch die Straßen und wusste mit mir nichts anzufangen. Ich hatte die Kopfhörer meines tragbaren Kassettenspielers auf und die Metallbügel drückten auf den Schädel. Walkman durfte man nicht sagen, der mussten von Sony sein. Michael Jackson mit Beat it auf der Kassette und People Are People, was aus mir auf Jahre einen Depeche Mode Fan machte. Big in Japan von Alphaville und Self Controll von Laura Branigan, wer konnte 1984 ahnen, dass diese Lieder für die Ewigkeit geschrieben wurden?

Ich ging zum Hof, alles ruhig. Der Bauer war mit dem Traktor unterwegs und Junior bei seiner Angebeteten. Die Bäuerin sah mich, während sie mit dem Wäschekorb aus dem Haus kam.

»Das ist lieb von mir, dass du vorbeischaust. Ich habe was für dich.« Sie stellte den Korb in die Waschküche und wedelte mit einer Plastiktüte.

»Wir waren in der METRO einkaufen, da dachte ich, du könntest Schulhefte gebrauchen.«

Schulheft, na Klasse. Ich freute mich auf Bargeld – Pustekuchen. Auf Schulhefte wäre ich nie gekommen. Sie war mit sich zufrieden und wünschte mir für das kommende Schuljahr alles Gute.