Julia Best of Band 236 - Lisa Jackson - E-Book

Julia Best of Band 236 E-Book

Lisa Jackson

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Beschreibung

WILDER ZAUBER EINER NACHT Zärtlich zieht John die hübsche Marnie an sich, und was sanft beginnt, endet voll sinnlicher Leidenschaft. In einem alten verlassenen Hotel auf einer einsamen Insel wird Marnie die Geliebte des Mannes, dem man nachsagt, er sei ein Millionenbetrüger ... DER MILLIONÄR UND DAS COWGIRL Kyle Fortune, Playboy und Frauenheld, trifft auf der ererbten Ranch seine Jugendliebe Samantha wieder. Nur so zum Spaß lässt er seinen Charme spielen - bis er Samantha erneut rettungslos verfällt! WAS FÜR EIN KUSS! Als Nikki die Augen aufschlägt, kann sie sich nur schwach an den mysteriösen Unfall erinnern, den sie im Dschungel hatte. Aber nicht an diesen attraktiven Mann, der an ihrem Bett sitzt und behauptet, ihr Ehemann zu sein - und das mit einem heißen Kuss beweisen will ...

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Seitenzahl: 721

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Lisa Jackson

JULIA BEST OF BAND 236

IMPRESSUM

JULIA BEST OF erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Neuauflage in der Reihe JULIA BEST OFBand 236 - 2021 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 1991 by Lisa Jackson Originaltitel: „Sail Away“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Dorothee Halves Deutsche Erstausgabe 1992 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe TIFFANY, Band 500

© 1996 by Harlequin Books S. A. Originaltitel: „The Millionaire and the Cowgirl“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Michaela Rabe Deutsche Erstausgabe 1998 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA SPECIAL, Band 2

© 1993 by Susan Crose Originaltitel: „A Husband to Remember“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Heike Warth Deutsche Erstausgabe 1996 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BACCARA, Band 103

Abbildungen: Getty Images / Aliaksandr Antanovich, Lana Stock, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 02/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751502801

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

Wilder Zauber einer Nacht

PROLOG

Marnie Montgomery warf ihren Aktenkoffer auf die Couch unter dem Panoramafenster ihres Büros. Dann trat sie entschlossen an den Schreibtisch und wählte die Nummer ihres Vaters. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf die polierte Tischplatte aus Rosenholz. Während sie wartete, zog sich das Pochen in ihren Schläfen zu einem stechenden Schmerz zusammen.

„Büro Mr. Montgomery“, meldete sich eine freundliche Stimme. Kate Delany. Victor Montgomerys Geliebte und Assistentin.

„Ist mein Vater da?“ fragte Marnie.

„Noch nicht. Aber er müsste jede Minute hier sein.“ Arme Kate, dachte Marnie. So hoffnungslos in Dad verliebt. Victor zu lieben war nicht schwer, wie sie sehr gut selbst wusste. Aber manchmal konnte diese Liebe erdrückend werden, und Marnie hatte das Gefühl, als hätte sie einen Teil von sich selbst verloren.

„Ich schau mal kurz in seinen Terminkalender, Marnie.“ Sie hörte, wie Kate durch die Seiten blätterte. „Bis zum Lunch ist alles dicht, aber heute Nachmittag …“

„Sag ihm, wenn er kommt, dass ich ihn sofort sprechen muss.“

„Ist es wichtig?“

„Sehr wichtig“, erwiderte Marnie kurz und legte auf. Auf einmal fühlte sie sich innerlich leer. Sie blickte sich im Büro um. Die teuren Möbel, die kostbaren Bilder, der dicke lavendelfarbene Teppich, der weite Blick über die Stadtsilhouette von Seattle, es war mehr, als eine junge Frau sich wünschen konnte.

Aber Marnie wollte nichts mehr von alldem. Sie wollte nicht das gezwungene Lächeln der Angestellten und die wissenden Blicke in der Cafeteria. Vor allem wollte sie nicht dieses Schild aus Messing an ihrer Bürotür: „Marnie Montgomery – Public Relations“.

Ebenso gut hätte „Montgomerys Tochter“ draufstehen können. Die Leute, die in „ihrer“ Abteilung „für sie“ arbeiteten, konnten auch ohne sie ihren Job tun. Das hatte Victor so eingerichtet.

Sie warf den unbeschriebenen, mit ihrem Namen bedruckten Notizblock in den leeren Papierkorb. War er jemals voll? War ihr Schreibtisch je mit Papieren, Notizen, mit Nachrichten von ihrer Sekretärin übersät? Musste sie jemals wegen unerledigter Arbeiten länger im Büro bleiben? War es überhaupt nötig, dass sie nach dem Lunch zurückkam? Nein, nein und nochmals nein!

Ihr Magen begann zu kribbeln, als sie an die Konsequenz ihrer Erkenntnis dachte. Sie setzte sich an den leeren Schreibtisch und nahm ein Blatt mit ihrem Briefkopf aus der Schublade.

Wie setzte man ein Kündigungsschreiben auf? Sie knabberte am Ende ihres Füllfederhalters. Ob sie ihre Sekretärin fragen sollte? Aber die würde ihr auch nicht sagen können, wie man ein Vater-Tochter-Verhältnis kündigte.

Überhaupt, wie sollte sie ihrem Vater, der immer nur das Beste für sie gewollt hatte, erklären, dass sie sich von ihm erstickt fühlte?

Wie konnte sie ihm klarmachen, dass sie etwas Eigenes auf die Beine stellen, ihre Persönlichkeit entfalten, ihr eigenes Leben leben wollte?

Sie war nahe daran, in Tränen der Frustration auszubrechen, aber genau das hätte die schwache, die abhängige Marnie von früher getan. Also biss sie die Zähne zusammen, nahm eine entschlossene Haltung an und begann mit schnellen, sicheren Zügen zu schreiben.

Natürlich konnte sie sich nicht einfach als Tochter von Victor lossagen, und das war auch nicht ihre Absicht. Aber sie wollte endlich auf eigenen Füßen stehen.

1. KAPITEL

„Du willst kündigen?“ schäumte Victor Montgomery und hastete den Korridor entlang zum Fahrstuhl, dicht gefolgt von seiner Tochter.

Marnie musste sich zwingen, sich vom Ärger ihres Vaters nicht einschüchtern zu lassen. Victor Montgomery war einer jener Männer, die schon von ihrem Äußeren her Autorität ausstrahlten. Als Herrscher über ein riesiges Imperium war er ein Mann, der von seinen Leuten Loyalität verlangte und Rebellion nicht duldete.

„Ich möchte wissen, was in dich gefahren ist“, platzte er los, als die Fahrstuhltür sich lautlos schloss und die Kabine in atemberaubendem Tempo die sechzehn Stockwerke zur Tiefgarage hinabglitt.

„Gar nichts ist in mich gefahren“, wehrte sie sich. „Ich finde, es ist Zeit, dass ich endlich auf eigenen Füßen stehe.“

„Auf einmal?“

Sie warf ihm einen Blick zu. „So plötzlich kommt es gar nicht. Ich trage mich schon lange mit dem Gedanken.“

„Tatsächlich? Wahrscheinlich seit der Geschichte mit Drake“, mutmaßte er, und in seiner Stimme lag Abscheu.

„Nein, schon vorher“, versicherte sie ihm, obwohl wirklich nichts mehr so war wie früher, seit ihr Vater John Drake gefeuert hatte. Die Stimmung in den Büros von „Montgomery Hotels“ hatte sich seitdem verändert. Nichts Greifbares. Nichts, was man hätte benennen können. Der Betrieb war reibungslos weitergegangen, aber ohne den alten Kameradschaftsgeist, ohne Vertrauen. Jeder spürte es, auch Victor, obwohl er es nie eingestanden hätte.

Kopfschüttelnd sah er seine Tochter an. „Zuerst machst du mit Kent Schluss, und jetzt brichst du aus der Firma aus. Du verlässt ein Milliarden-Unternehmen, einfach so.“ Er öffnete ihr die Beifahrertür seines bordeauxroten Jaguar, bevor er sich ans Steuer setzte. „Du solltest dankbar sein …“

Marnie schloss die Augen. Wie konnte sie ihm erklären, dass sie sich wie eine Maus in der Falle fühlte? Dass sie sich nach einem eigenen Leben sehnte? „Ich bin dankbar, Dad. Wirklich …“ Sie wandte sich ihm zu und zwang sich zu einem Lächeln. „Aber es ist so wichtig für mich. Ich muss es tun.“

„Gerade jetzt? Haben deine Emanzipationsbestrebungen nicht noch Zeit?“ fragte er. Er schien zu spüren, dass sie schwach zu werden begann.

„Nein.“

„Nächste Woche wird das neue Hotel eröffnet. Dann brauche ich dich. Du bist für die Public Relations zuständig, zum Kuckuck!“

„Und ich habe einen sehr tüchtigen Assistenten. Du erinnerst dich sicher an Todd Byers – blond, Brille …“

Victor winkte ab. Er startete den Motor und schaltete in den Rückwärtsgang. „Ich verstehe dich überhaupt nicht mehr.“ Er lenkte leicht nach rechts und fuhr die Garagenausfahrt hinaus. „Was willst du eigentlich?“

„Ein eigenes Leben führen.“

„Das tust du doch. Die meisten Frauen würden dich beneiden.“ Sie fuhren jetzt durch die belebte Innenstadt von Seattle. „Vor ein paar Wochen dachtest du ans Heiraten“, hielt Victor ihr vor. „Aber auf einmal ist Kent dir nicht mehr gut genug. Es spielt wohl keine Rolle, dass er quasi meine rechte Hand ist …“

„Nein, es spielt keine Rolle“, sagte sie hastig und fühlte wieder diesen schmerzhaften Stich in ihrem Innern.

„Warum willst du mir nicht erzählen, was zwischen euch gewesen ist?“ fragte er, während er in die Straße einbog, die zum Hafen führte. „Es hat wohl mit deinem neuen Unabhängigkeits-Spleen zu tun, wie?“

Marnie antwortete nicht. Sie wollte nicht an Kent denken, und auch nicht daran, dass sie ihn mit seiner Sekretärin Dolores Tate überrascht hatte. Plötzlich saß ein Kloß in ihrem Hals. Sie presste die Hände zusammen. Nicht weinen, nicht jetzt. Nicht heute, da sie den ersten Schritt in ihr neues Leben tun würde.

Victor wechselte auf die linke Fahrspur, wo der Verkehr schneller floss. „Da wir schon mal von Kent reden …“

„Dad, bitte …“

„Er liebt dich.“

Marnie schluckte. „Lassen wir das Thema Kent, okay?“

Ausnahmsweise verzichtete ihr Vater auf eine Diskussion. Er sah sie nur nachdenklich von der Seite an, während er entlang der Hafenmole zum Yachthafen fuhr. Fischerboote, Schaluppen, Segelboote und Motoryachten lagen an den Piers. Ein scharfer Westwind trieb schaumgekrönte Wellen vor sich her, und nur wenige Segler hatten sich auf den Sund hinausgewagt. Riesige Tanker bewegten sich langsam dem Hafen zu. Die kleinen Fährschiffe, die zwischen den Ufern hin- und herpendelten, nahmen sich daneben wie Spielzeug aus.

Victor Montgomery parkte den Jaguar am Pier und stellte den Motor ab. „Und ich kann dich nicht umstimmen?“ fragte er. Als er Marnies entschlossenen Ausdruck sah, schien er endlich zu akzeptieren, dass sie es ernst meinte. „Ich verstehe es zwar nicht, aber wenn du meinst, dem Betrieb für eine Weile entfliehen zu müssen, werde ich versuchen, solange ohne dich auszukommen.“

„Für eine Weile?“ konterte sie. „Ich habe gekündigt, Dad.“

Er hob beschwichtigend die Hände. „Einen Schritt zur Zeit, okay? Nennen wir es eine … Beurlaubung, ja? Eine Besinnungspause sozusagen. Verlängerte Ferien.“

Sie wollte widersprechen, sagte aber nichts. Vielleicht brauchte er Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Ihr Ausdruck wurde weich, und sie berührte sanft Victors Arm. „Ihr werdet es überleben, du und die Firma.“

„Das will ich doch hoffen“, murmelte er. „Wer ziehen will, den soll man ziehen lassen, sagt man ja wohl. Aber ich akzeptiere keine offizielle Kündigung. Und ich möchte, dass du die paar Wochen bis zur Eröffnung des ‚Puget West‘ noch bleibst. Das ist wohl nicht zu viel verlangt, oder?“

Er zog den Zündschlüssel ab, stieß die Wagentür auf, und sie stiegen beide aus. Marnie atmete tief die salzige Meerluft ein, als sie über die verwitterten Planken des Piers gingen. Sie war mit Booten aufgewachsen, und der Geruch von Salz und Seetang, von Bootslack und Diesel riefen glückliche Kindheitserinnerungen zurück.

Die Schiffswimpel knatterten in der Brise. In das Tuckern der Dieselmotoren mischten sich die heiseren Schreie der Möwen, die über den Booten ihre Kreise zogen.

Marnie folgte den Möwen mit dem Blick und lächelte wehmütig. Sie sind frei, dachte sie. Frei und einsam …

„Ich kann mir schon denken, was du als Nächstes tun wirst“, knurrte ihr Vater. „Du tauschst dein neues Kabriolett gegen einen alten VW-Käfer.“

Sie unterdrückte ein Lächeln. Victor wusste noch nicht, dass sie in der vorigen Woche ihr BMW-Kabrio verkauft hatte. Nach einem alten Volkswagen hatte sie den Markt allerdings noch nicht abgesucht. Keine schlechte Idee, dachte sie, aber sie zog es vor, nicht zu antworten.

„Es bleibt also dabei“, sagte ihr Vater resolut, als hätte er eine mühselige Verhandlung beendet. „Wenn du zurückkommst, unterhalten wir uns in aller Ruhe.“

„Und wenn ich dann immer noch gehen will?“

„Dann unterhalten wir uns ausführlicher.“ Er grub in seiner Manteltasche nach dem Tabakpäckchen, stopfte seine Pfeife und blieb einen Moment mit dem Rücken zum Wind stehen, um sie anzuzünden. „Vielleicht tut dir eine Pause ganz gut. Du solltest die Zeit nutzen, um dir die Sache mit Kent nochmals gründlich zu überlegen.“

„Ich habe es mir überlegt“, antwortete sie beherrscht, obwohl sie beim Gedanken an Kent in Wut geriet. Er hatte sie einmal zur Närrin gemacht. Eine zweite Gelegenheit würde er nicht bekommen.

„Okay, okay. Kann ich mich wenigstens darauf verlassen, dass du bis zur Eröffnung des neuen Hotels bleibst?“

„Ich verspreche es. Aber meinen Entschluss wirst du mir nicht ausreden. Sobald das ‚Puget West‘ seine Pforten geöffnet hat, bin ich weg.“

„Eine Zeit lang.“ Er zog an seiner Pfeife und stieß kleine Rauchwölkchen in die Luft.

Marnie seufzte. „Vielleicht“, sagte sie ausweichend. Sie war nicht zum Nachgeben bereit, wollte ihrem Vater aber auch nicht wehtun. Marnie kletterte hinter ihrem Vater an Bord seines Lieblingsspielzeugs.

Victor Montgomery drehte sich zu ihr um. Seine blauen Augen leuchteten wie früher, wenn sie zusammen in den Sund hinausgesegelt waren. „Hast du Lust vielleicht auch zu einer kleinen Probefahrt?“

Der Wind fuhr ihr ins Haar, und sie schmeckte Salz auf den Lippen. Sie hatte das Gefühl, die Fahrt in die Freiheit anzutreten.

Dem „Seattle Observer“ nach war die Eröffnung des „Puget West-Hotels“ das gesellschaftliche Ereignis des Jahres. Die gesamte Prominenz von Seattle bis Los Angeles war eingeladen, und alle kamen.

John Drake war nicht eingeladen.

Vermutlich war er der Allerletzte, den der gute alte Victor an diesem Tag in der festlich dekorierten Hotelhalle zu sehen wünschte. Victor ahnte nicht, dass ihm die Überraschung seines Lebens bevorstand. Denn um nichts in der Welt hätte John sich die große Eröffnungsgala im „Puget West“ entgehen lassen.

Der Bug seines kleinen Bootes durchschnitt das nachtschwarze Wasser des Puget-Sunds. Wie ein überdimensionaler Weihnachtsbaum hob der hell erleuchtete, pyramidenförmige Bau sich gegen den Himmel ab. Das Boot nahm Kurs auf das Hotel.

Ein kalter Wind blies John ins Gesicht, aber er spürte die Kälte kaum. Alles, was er fühlte, war Wut. Er hatte zum Entstehen dieses Hotels beigetragen, war Projektleiter gewesen. Und zum Dank für seine Arbeit hatte er einen Tritt bekommen. Man hatte ihn eines Verbrechens bezichtigt, das er nie begangen hatte, der Unterschlagung von einer halben Million Dollar. Früher oder später würde er Montgomery und all denen, die ihn hatten fallen lassen, die Beweise für seine Unschuld liefern. Wenn das Spinnengewebe von Verleumdungen und Lügen entwirrt wäre, dann könnte er neu beginnen.

Kurz vor dem Anleger stellte John den Motor ab und ließ das Boot ein Stück treiben. Er warf die Leine um einen Poller, verknotete sie und sprang auf den neu gebauten Bootssteg. Bevor er es sich anders überlegen konnte, ging er schnell unter den bunten japanischen Lampions den Pier entlang und erreichte unbemerkt die Außenanlage des Hotels.

Über dem Sund donnerte es leise, und John warf einen Blick zum Wasser zurück, auf dem sich jetzt Schaumkronen zeigten. Dass sich ausgerechnet an diesem Abend ein Gewitter zusammenbraute, erschien ihm wie ein Symbol. Er ging schnell über den Rasen, steuerte zielstrebig auf den Seiteneingang zu. Wenn er Glück hatte, waren die Terrassentüren unverschlossen und, mit noch mehr Glück, unbewacht.

Musik und Gelächter drangen ihm entgegen, als er im Schutz der Rhododendren und Azaleen die Terrasse betrat. Durch die geöffneten Türen sah er, dass das Fest schon in vollem Gang war. Die Gäste tanzten, standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich, lachten und tranken aus hochstieligen Kelchen Victor Montgomerys Champagner.

John rückte seine schwarze Fliege zurecht und zupfte ein Blatt von der Hose seines Smokings. Er strich sich das zerzauste Haar glatt und schlüpfte rasch ins Foyer. Niemand schien ihn zu bemerken. Als ein livrierter Kellner vorbeikam, nahm er sich ein Glas Champagner von dem Silbertablett und begutachtete die Gäste.

Silberne und rote Luftballons, die mit langen, weißen Schleifen zusammengebunden waren, schwebten in Trauben der gläsernen Decke des Foyers entgegen, vier Stockwerke hoch. Gläserne Fahrstühle transportierten Gäste zu den Balkons, die die Halle umliefen. Mitten im Foyer prangte ein Springbrunnen aus Marmor, dessen Fontäne zwei Meter hoch sprudelte.

O ja, dieses Hotel war genauso atemberaubend, wie Victor Montgomery es sich vorgestellt hatte, und die rauschende Eröffnungsparty kündete bereits von seinem Erfolg. John spülte seine Bitterkeit mit einem Schluck Champagner hinunter und mischte sich unter die Gäste.

In einer Ecke der Halle, nahe bei einem der drei Restaurants, erhob sich aus einem türkisfarbenen Pool ein drei Meter hoher Neptun aus Eis, zu seinen Füßen Nixen und fantastische Seewesen, die ihm huldigten.

Wie der gute alte Victor und seine Gefolgschaft, dachte John, und im selben Moment erblickte er Kate Delany, Victors Assistentin, und den Gerüchten nach seine Geliebte. In schimmerndes Weiß gekleidet, das dunkle Haar zu einer Hochfrisur getürmt, agierte Kate als Gastgeberin. Ihr Lächeln war einstudiert, aber freundlich. Geübt in charmant unverbindlicher Konversation, schwebte sie von einer Gästegruppe zur nächsten und gab mit ihrem strahlenden Blick jedem das Gefühl, die Hauptperson zu sein.

Die eigentliche Hauptperson hatte aber noch nicht ihr großes Entree gehabt. Auch nicht Victors Tochter. Wieder sah John sich suchend um, in der Hoffnung, Marnie zu entdecken. Die schöne, reiche Marnie Montgomery, der einzige Besitz, den Victor höher schätzte als alle seine Hotels zusammen. Sein einziges Kind, verwöhnt und verhätschelt, auf die besten Schulen geschickt, auf dem exklusivsten College eingekauft und nach dem glorreichen Abschluss mit einem gewichtigen Titel belohnt: Leiterin der PR-Abteilung.

Trotz Johns Wut auf alles, was auch nur entfernt mit „Montgomery Hotels“ zu tun hatte, fand er an Marnie nichts auszusetzen. An ihr war etwas Besonderes. Das versteckte Lachen in ihren Augen, die Spur von Wehmut in ihrem Lächeln, ihr feiner Humor und ihr unkompliziertes Wesen.

All das hatte Johns Vorurteil über das reiche, von einem allzu nachsichtigen Vater verzogene und von gut bezahlten Kindermädchen verhätschelte Kind ins Wanken gebracht. Marnie war mehr als die reiche Tochter aus reichem Haus. Groß und schlank, mit ihrem fein geschnittenen Gesicht, dem hellblonden Haar und diesen strahlend blauen Augen, die ihn von Anfang an fasziniert hatten, war sie eine Schönheit. Ihr Verlobter Kent Simms, einer von Victors aalglatten Jasagern, konnte sich beglückwünschen.

Er hörte hinter sich einen überraschten Laut. Er drehte sich halb um und sah aus dem Augenwinkel, wie eine große, auffallend dünne Frau im schwarzen Samtkleid schnell den Blick abwandte.

Sie hat mich erkannt, dachte er triumphierend, hob sein Glas und trank ihr schweigend zu. Rosa Trullinger, die Innenarchitektin.

Perfekt, dachte John, und es zuckte um seine Mundwinkel. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Victor wusste, dass er hier war.

Marnie steckte ihr Haar mit einem strassbesetzten Kamm zurück, betrachtete ihr Spiegelbild und schüttelte den Kopf. Sie zog den Kamm wieder heraus und warf ihn auf den Frisiertisch. Bloß nicht übertreiben. Sie war nun einmal kein Glamour-Girl.

Es hatte sie schon Überwindung gekostet, die Halskette aus Saphiren und Diamanten mit den dazu passenden Ohrringen anzulegen. Sie trug den Schmuck, der ihrer Mutter gehört hatte, nur auf Victors inständige Bitte hin – an diesem letzten Tag ihrer Tätigkeit für „Montgomery Hotels“.

„Marnie?“ Ihr Vater klopfte leise an die Tür des kleineren Schlafzimmers seiner Suite. „Es wird Zeit.“

„Ich komme sofort“, rief sie, aber schon bei dem Gedanken an das Fest graute ihr. Sie legte die Schminktasche in den kleinen Koffer, der auf dem Bett lag, schlüpfte in ein Paar hochhackige silberne Pumps und öffnete die Tür zum angrenzenden Raum, wo ihr Vater mit einem Drink in der Hand wartete.

Ein bewunderndes Lächeln huschte über sein Gesicht, als Marnie hereinkam. Er schluckte, betrachtete sie einen langen Moment. „Mir war gar nicht klar, wie sehr du Vanessa ähnelst.“

Marnie fühlte eine beglückende Wärme. Ihr Vater hatte ihr ein verstecktes Kompliment gemacht. Er hatte seine Frau über alles geliebt und liebte sie noch über ihren Tod hinaus. Marnie wusste, dass er nie wieder heiraten würde. Sie wusste es so sicher, wie ihr klar war, dass sie Kent Simms nicht heiraten würde.

Victor hielt ihr die Tür auf, und sie traten auf die Galerie. Die Festgeräusche drangen über vier Stockwerke aus der Halle nach oben. Selbst aus der Entfernung erkannte Marnie viele Gesichter, darunter prominente Politiker, Geschäftsleute und Stars aus dem Showgeschäft. Die weniger prominenten Gäste stellten sich in sündhaft teuren Kleidern und kostbarem Schmuck zur Schau, in der Hoffnung, ihre Namen und Fotos in den Gesellschaftsspalten des „Seattle Observer“ und des „Port Stanton Herald“ wieder zu finden.

Mit gezwungenem Lächeln betrat Marnie an der Seite ihres Vaters den gläsernen Käfig des Fahrstuhls. Während sie dem Partytrubel entgegenglitten, starrte sie durch die Scheibe und betrachtete das unwirkliche Bild unter ihr. In der Nähe des Flügels bemerkte sie einen einzelnen Mann, der der Musik zuhörte. Einen attraktiven Mann, wie sie aus seiner Figur schloss. Breite Schultern, schmale Hüften, welliges schwarzes Haar. Obwohl sie ihn nur von hinten sah, kam er Marnie merkwürdig bekannt vor. Seine Haltung, die Art, wie er sich jetzt das Haar zurückstrich, weckten in ihr verschwommene Erinnerungen.

Der Mann drehte sich um und griff nach einem Glas Champagner, das ein vorbeigehender Kellner ihm anbot. Und als die Fahrstuhltür sich öffnete, starrte Marnie in ein Paar belustigt lächelnder goldbrauner Augen. Fast wäre sie im wichtigsten Moment ihres Auftritts gestolpert.

John Drake!

John Drake, der Mann, der an oberster Stelle auf Victors Liste unerwünschter Personen stand. Was war in ihn gefahren, hier uneingeladen zu erscheinen? Wollte er einen zweiten öffentlichen Skandal riskieren?

Marnie war mit ihrem Vater nie ganz einer Meinung über John Drakes Schuld gewesen. Sie wusste aber, dass Victor seinen ehemaligen Günstling für einen Verbrecher hielt und es noch jetzt bedauerte, dass der Mann nicht hinter Gittern saß.

John Drake schien das alles nicht zu stören. Er hielt Marnies Blick fest, zwinkerte ihr mit selbstironischem Lächeln zu, hob das Glas und trank mit sichtlichem Genuss von seinem Champagner.

Marnie konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Ihr Schock über seine Dreistigkeit war verflogen. Diesmal hatte John sich selbst übertroffen. Marnie hatte nie ganz geglaubt, dass er ein Dieb war, aber irgendwie haftete ihm etwas Gefährliches an, etwas Abenteuerliches. Nein, ein Verbrecher war er sicher nicht, aber Marnie fragte sich, was er über die halbe Million wusste, die von den Baugeldern für dieses Hotel abgeschöpft worden war. Was immer John Drake getan hatte, eines musste man ihm lassen – der Mann hatte Nerven.

Marnie drehte sich amüsiert zu ihrem Vater um. Doch ehe sie feststellen konnte, ob er den ungeladenen Gast bemerkt hatte, waren sie von einer Schar von Gratulanten umgeben. Victor fasste Marnies Arm und bahnte sich einen Weg zu dem Springbrunnen. Er stieg auf den marmornen Sockel und zog sie mit sich. Reporter eilten herbei, erkämpften sich mit den Ellenbogen ihre Position, hielten Victor ihre Mikrofone vors Gesicht. Kameraverschlüsse klickten, Blitzlichter blendeten Marnie, als die Meute von der Presse sich auf sie einschoss.

Victor genoss das Spektakel und beantwortete gut gelaunt alle Fragen. Vor Menschenmengen war er immer in Hochform, während Marnie nur ungern im Licht der Öffentlichkeit stand. Sie versuchte, unbemerkt zu entkommen, aber Senator Mann mit seiner notorischen Gier nach Publicity drängte sich neben ihren Vater und versperrte ihr den Weg. Doch schließlich gelang ihr die Flucht, und sie tauchte in der Menge unter.

Marnie schlenderte mit gemischten Gefühlen durch das Foyer. Sie hörte die pathetische Stimme des Bürgermeisters, der in seiner überschwänglichen Lobrede Victor Montgomerys prächtig gelungenes Projekt pries. Und ohne hinzusehen, konnte sie sich das glückliche Gesicht ihres Vaters vorstellen. Was Architektur und Innenausstattung betraf, war das „Puget West“ das Gewagteste, was er bisher gebaut hatte.

Aber Marnie empfand nicht denselben Stolz wie bei der Fertigstellung anderer Hotels. Beim „Puget West“ war es von Anfang an anders gewesen. Sie dachte an die Probleme und Verzögerungen beim Kauf des Grundstücks, bei der Bauplanung, der Kalkulation, an den Ärger mit dem ersten Architekten, der auf Biegen und Brechen seine revolutionären Ideen durchsetzen wollte, sie dachte an die überreizte Stimmung in der Verwaltungsetage und – natürlich – an den Skandal.

Zuerst hatte John Drake, von Victor zum Leiter des Projekts bestellt, die Wogen geglättet. Aber dann hatte Kate die Fehler in den Büchern entdeckt, und die Hölle war losgebrochen.

Das unterschlagene Geld war nie gefunden worden. Über fünfhunderttausend Dollar waren verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Da niemand eine Erklärung für das Unerklärliche fand, wurde John Drake als Dieb hingestellt. Weder angeklagt noch verurteilt, hatte er seinen guten Ruf eingebüßt.

Und nun war er hier. Warum?

„Ein Glas Champagner, Miss Montgomery?“ Die höfliche Stimme des Kellners schreckte sie aus ihren Gedanken. Sie nahm abwesend ein Glas vom Tablett, nippte daran, und dann sah sie ihn plötzlich wieder. John stand lässig an eine Marmorsäule gelehnt, die Smokingjacke offen, die Hand in der Hosentasche. Mit seinem windzerzausten Haar sah er verwegen aus. Und sehr selbstzufrieden. Um seine schmalen und doch sinnlichen Lippen spielte ein feines Lächeln. Sein Blick war auf Victor Montgomery gerichtet.

Marnie rätselte, warum er von neuem seinen Ruf aufs Spiel setzte. Der Mann musste unzurechnungsfähig sein.

Einem plötzlichen Impuls folgend, beschloss sie, dass es an der Zeit war, ein Wort mit ihm zu reden. So paradox es war – irgendwie waren sie Leidensgefährten. Keiner von beiden gehörte hierher.

Sie drückte einem Kellner ihr halb geleertes Glas in die Hand und durchquerte die Halle.

John sah sie kommen. Sie war schön, das musste er zugeben. Ihr welliges hellblondes Haar schimmerte fast silbern. Und ihre Augen, diese tiefblauen ernsten Augen. Marnie Montgomery war oft ernst, aber er erinnerte sich, dass sie auch lachen konnte.

Heute Abend lachte sie nicht. Nein, Miss Montgomery schien sich in all dem Trallala unwohl zu fühlen. Obwohl sie zu dem Ereignis ein Kleid trug, das garantiert ein Vermögen gekostet hatte. Ganz zu schweigen von den Brillanten, die an ihrem Hals und Handgelenk blitzten.

Interessant, dass sie nicht sofort zu Daddy gerannt war, um ihm zu erzählen, dass sich in ihrer Mitte ein Verräter aufhielt. Stattdessen hatte sie ihm neugierige Blicke zugeworfen, und nun kam sie sogar zu ihm.

Ein unmerkliches Lächeln huschte um ihre Lippen, und für den Bruchteil einer Sekunde blitzte es in ihren Augen. „Guten Abend, Mr. Drake.“

„Erinnern Sie sich nicht an meinen Vornamen?“

„Wie könnte man Ihren Namen vergessen!“ Sie verbarg ihr Lächeln nicht länger. „Man wird ihn wahrscheinlich noch Jahre in den Fluren von ‚Montgomery Hotels‘ flüstern. Sie sind eine Legende, John.“

„Einer, der in die Niederungen der Bedeutungslosigkeit abgestürzt ist?“

Sie nahm sich ein Lachshäppchen von einem Tablett. „Was tun Sie hier? Ist Ihnen nicht klar, dass Sie geteert und gefedert werden, ehe die Nacht vorüber ist? Das geschieht nämlich mit Partystörern.“

Sieh einer an, dachte John überrascht. Sie versucht, mich zu ködern. Er setzte eine betroffene Miene auf. „Partystörer? Und ich dachte, die Einladung für mich sei in der Post verloren gegangen.“

„Aha“, parierte sie trocken. Ihr eisblaues Kleid schimmerte unter den Lichtern. „Ausgerechnet hier und heute zu erscheinen. Ich finde, das grenzt an Wahnsinn.“

„Ich habe mir nie eine Party entgehen lassen.“

„Sie müssen ein Masochist sein. Mein Vater flippt aus, wenn er erfährt, dass Sie hier sind. Und lange kann das nicht mehr dauern. Warum?“ Das belustigte Glitzern verschwand aus ihren Augen.

Mit lässiger, selbstsicherer Geste winkte John einen Kellner heran und reichte Marnie ein Glas. Sie trank einen Schluck und wiederholte ihre Frage. „Warum, John?“

„Weil wir miteinander reden müssen und er meinen Anrufen ausgewichen ist.“ Er sah zum Springbrunnen hinüber, der noch immer als Rednerpodium diente. Victor war gerade dabei, Kent Simms als neuen Vizepräsidenten des Unternehmens vorzustellen. Die Umstehenden klatschten, und der Bürgermeister gratulierte Kent zu seiner Beförderung. Blitzlichter flammten auf. John stürzte seinen Champagner mit einem Zug hinunter.

„Sie haben Dad angerufen?“, fragte Marnie überrascht.

John riss den Blick von der Szene am Springbrunnen los. „Ja, mehrere Male. Bin nie über Kate hinausgekommen. Hab ihr ausgerichtet, er möchte mich zurückrufen. Was er natürlich nicht für nötig hielt.“

„Aber …“

„Ich war sogar im Büro. Aber weiter als bis zu Kates Vorzimmer bin ich nicht gedrungen. Sie hat mich nicht zu ihm vorgelassen.“

Marnie konnte es nicht glauben. Ihr Vater hatte mit keinem Wort erwähnt, dass John versucht hatte, Kontakt mit ihm aufzunehmen. So wie sie Victor kannte, hätte er tagelang über Drakes Dreistigkeit getobt. „Worüber wollten Sie mit meinem Vater reden?“

„Es gibt eine ganze Menge, worüber ich mit ihm diskutieren möchte. Und wenn es mit ihm nicht möglich ist, dann tut Simms es auch.“ John deutete mit dem Kopf zum Springbrunnen. „Ihr Verlobter scheint übrigens gerade seine Sternstunde zu erleben. Müsste Ihr Platz nicht eigentlich an seiner Seite sein?“

„Das Gedränge ist mir zu groß.“

In diesem Moment warf Kate John aus einiger Entfernung einen vernichtenden Blick zu, den auch Marnie bemerkte. „Ich bin hier wohl nicht sehr beliebt“, versetzte er trocken.

Marnie musste lachen. „Ich fürchte, da haben Sie recht. Aber ganz im Vertrauen – mein Vater hat Ihr Bild nicht aus seinem Büro entfernt.“ Ihre Augen blitzten übermütig. „Er hat es auf die Dart-Scheibe geklebt. Genau in die Mitte.“

John grinste jungenhaft. Es überraschte ihn, dass Marnie die ganze Sache so humorvoll nahm.

„Soll ich meinem Vater erzählen, dass Sie hier sind?“, fragte Marnie.

Er sah sie nachdenklich an. „Ich glaube, es ist besser, wenn Sie sich da heraushalten.“

„Warum?“

„Es könnte zu einem heftigen Streit kommen.“

„Dann sollte ich erst recht dabei sein. Vielleicht muss jemand verarztet werden.“

„Wahrscheinlich schon bald“, murmelte John, als er Kent Simms erspähte, der mit hochrotem Gesicht durch die Gästeschar pflügte und direkt auf Marnie zusteuerte.

„Was zum Teufel tun Sie hier?“, fragte Kent so leise, dass es in dem Stimmengewirr kaum hörbar war.

„Eigentlich wollte ich mich mit Victor unterhalten, aber wer weiß, wie lange ihn diese Leute noch belagern. Ich muss dann wohl mit Ihnen reden.“

Kent rückte an seiner tadellos sitzenden Krawatte und strich sich übers Haar. „Weiß Victor schon, dass Sie hier sind?“

John zuckte lässig die Schultern, aber sein Ausdruck blieb unbewegt. „Ich hoffe es.“

Einem Impuls folgend, stellte Marnie sich dichter neben John. Kent nahm es irritiert wahr und warf ihr einen Blick zu, der Bände sprach. „Was wollen Sie eigentlich, Drake?“ Er starrte John feindselig an. „Warum verschwinden Sie nicht endlich?“

„Nicht, bevor Victor mir nicht gesagt hat, ob er Gerald Henderson kennt.“

„Henderson?“ wiederholte Kent und machte dabei ein so ausdrucksloses Gesicht, dass es nur gestellt sein konnte. „Hat er nicht mal bei uns gearbeitet?“

John half ihm auf die Sprünge. „In der Buchhaltung.“

„Ich erinnere mich an ihn“, mischte Marnie sich ein. „Er ist aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Ich glaube, er hatte Asthma. Er musste aus dem feuchten Klima wegziehen und bekam einen Job in einem Hotel in San Diego.“

„Der Mann lebt nach wie vor in Seattle“, klärte John sie auf. „Geht fischen und genießt sein Leben. Wenn ich mich nicht irre, bezieht er eine Rente wegen Arbeitsunfähigkeit.“

Marnie blickte von einem Mann zum anderen. „Hat es mit dem Job in Kalifornien nicht geklappt?“

„Wen interessiert das?“ wischte Kent ihre Frage fort. „Henderson ist Geschichte.“

„Vielleicht“, sagte John in einem Ton, der Marnie aufhorchen ließ. In dieser Unterhaltung schwebte etwas mit, das unausgesprochen blieb. Aber was?

Kent schluckte. „Ich glaube nicht, dass die Sache Victor interessiert“, entgegnete er betont forsch.

„Auch nicht, wenn Gerald ihm einen Tipp über das verschwundene Geld geben könnte?“

„Was?“ fragte Marnie und hielt unwillkürlich den Atem an.

„Unsinn!“ fuhr Kent auf. „Woher soll Henderson wohl wissen …“

„John Drake?“ Judith Marx, Reporterin des „Seattle Observer“, die offenbar etwas von der Unruhe mitbekommen hatte, kam in den Bankettsaal und gesellte sich ungeniert zu der Gruppe. „Es überrascht mich, Sie hier zu sehen.“

Die Untertreibung des Jahres, dachte Marnie belustigt.

„Ich konnte mir dieses Ereignis unmöglich entgehen lassen“, erwiderte er locker.

„Kann ich das schreiben?“

„Nein!“ fuhr Kent dazwischen. Sein Gesicht war rot, und an seiner Schläfe pochte eine Ader. „Mr. Drake ist nicht eingeladen, und wenn Sie das drucken, werde ich zum ‚Oberserver‘ gehen und mit John Forrester persönlich reden.“

„Unser Verleger legt Wert darauf, dass Nachrichten gedruckt werden“, belehrte die Reporterin Kent lächelnd.

Der fuhr sichtlich nervös zu John herum. „Was immer Sie wollen, Drake“, sagte er so leise, dass Judith Marx Mühe hatte, ihn zu verstehen, „es kann bis später warten.“

Inzwischen hatte die interessante Gruppe mehr Gäste angezogen. Immer mehr Neugierige strömten in den Raum. Die Blicke, das herumschwirrende Geflüster, das sich wie Nebelfetzen verdichtete und wieder auflöste, versetzte Kent in Panik.

Judith Marx spürte, dass etwas in der Luft lag. Sie witterte eine Story und dachte nicht daran, sich die entgehen zu lassen. „Mr. Drake? Hatten Sie nach dieser dummen Geschichte nicht Rache geschworen?“ fragte sie unumwunden.

„Ich habe gesagt, dass ich meine Unschuld beweisen würde“, antwortete John ruhig. Er sah aus dem Augenwinkel, wie Kent einem bei der Tür stehenden Wachmann ein Zeichen gab.

„Ist das nicht geschehen?“ fragte die Reporterin. „Sie wurden doch nicht einmal angeklagt.“ Sie griff in ihre Tasche, um ihren Rekorder herauszunehmen. Doch John kam nicht mehr dazu, ihr zu antworten.

In Sekundenschnelle packten zwei Männer ihn an den Handgelenken und führten ihn mit sanfter Gewalt durch eine Hintertür hinaus.

Er wehrte sich nicht. Wozu auch? Er hätte doch nur den Kürzeren gezogen. Aber er gab sich nicht geschlagen, o nein. Sein nächster Schritt würde geschickter sein.

Seine Bewacher schleiften ihn durch die Küche und dann aus dem Personaleingang. Nicht gerade behutsam deponierten sie ihn auf dem nassen Asphalt im Hof.

Der Wind schnitt John kalt ins Gesicht, als er über den glitschigen Steg zum Boot ging. Weit hatte ihn diese Aktion nicht gebracht, außer dass seine Vermutungen über Kent Simms sich bestätigt hatten. So wie Simms sich heute Abend benommen hatte, wusste er mehr, als er vorgab. John hatte kaum noch Zweifel, dass Kent in die Unterschlagung verwickelt war.

Der nächste Schritt wäre also eine kleine Unterhaltung mit diesem aalglatten Streber. Bei dem Gedanken, sich Victors Wunderknaben vorzuknöpfen, lächelte John in sich hinein. Je mehr Informationen er Montgomery vorsetzen konnte, desto besser. Und irgendwie spürte er, dass Kent Simms ihm eine Menge erzählen könnte. Vielleicht noch an diesem Abend.

John verlor keine Zeit. Er blickte über die Schulter und vergewisserte sich, dass die beiden Wachmänner ihn beobachteten, als er sein Boot bestieg. Nachdem er die Leinen losgemacht hatte, startete er den Motor und fuhr in Richtung Seattle davon.

Das jedenfalls dachten die Wachen, die nach getaner Pflicht wieder auf ihre Posten ins Hotel gingen. Doch nach zwanzigminütiger Fahrt wendete John und steuerte wieder auf Port Stanton zu, auf die Anlegepiers des Hotels.

Prachtvolle Luxusschiffe schaukelten in der Dünung, darunter die „Marnie Lee“, eine schneeweiße neue Motoryacht. Kent Simms’ und Marnies Schiff war am zweiten Pier festgemacht, und als John dicht daneben anlegte und den in Goldlettern gemalten Namen las, musste er an die Namensgeberin denken.

Wie konnte eine so sensible und kluge Frau sich mit einem Blender wie Simms zusammentun? Es war John ein Rätsel.

John hatte einen Anflug von schlechtem Gewissen, als er sein Boot vertäute, auf den Steg sprang und schnell an Bord der Yacht kletterte. Er wollte Marnie nicht verletzen. Obwohl alle Welt sich gegen ihn verschworen hatte, war sie fair zu ihm gewesen.

Vergiss nicht, dass sie mit Simms verlobt ist, ermahnte er sich. Marnie und Simms würden heiraten, und bei dem Gedanken zog sich Johns Magen zusammen.

Er ignorierte das Gefühl. Pech für Marnie. Aber jeder war seines Glückes eigner Schmied. Eine Frau, die ihr Herz einem Gauner wie Simms schenkte, verdiente nichts anderes.

Entschlossen ergriff Marnie ihren Koffer, marschierte aus der Suite und ging über den Korridor zu einem privaten Fahrstuhl, der sie direkt zur Garage beförderte. Von dort waren es nur ein paar Schritte zu den Gartenanlagen des Hotels, über die man zu den Piers gelangte.

Marnie hatte ihre Pflicht erfüllt, hatte an der Seite ihres Vaters die strahlende Gastgeberin gespielt, aber jetzt war sie frei. Endlich. Nach einem Eklat im Bankettsaal – Kent hatte sich doch tatsächlich erdreistet, in aller Öffentlichkeit zu verkünden, Marnie und er wollten im August heiraten! – hatte Marnie sich verletzt von ihrem Vater verabschiedet und fluchtartig das Fest verlassen.

Draußen strich der Wind durch die Baumkronen. In stetem Rhythmus klatschten die Wellen ans Ufer. Marnie liebte diese Stimmung am Sund sehr und ging den Pfad zum Wasser hinunter, unter der Kette der tanzenden bunten Lampions.

Als sie die „Marnie Lee“ erblickte, lächelte sie. Kent würde sich in Krämpfen winden, wenn er erfuhr, dass sie sich genommen hatte, was er als sein persönliches Eigentum ansah. Als stolzer Kapitän war er in den vergangenen Monaten auf der Yacht herumgeschippert, die ihr Vater ihnen beiden zur Verlobung geschenkt hatte. Jetzt übernahm sie das Kommando, und Kent sollte in seinem eigenen Saft schmoren. Hochzeit im August – von wegen!

Sie warf ihren Koffer mit Schwung an Deck und machte gekonnt die Leinen los. Dann kletterte sie an Bord. Der Motor sprang sofort an, und die Schraube wirbelte weiße Gischt auf. Marnie manövrierte das Schiff geschickt um die anderen Boote herum und steuerte auf den offenen Sund zu.

Ihr Ziel war Orcas Island. Dort gab es eine leer stehende alte Ferienanlage, die ihr Vater gekauft hatte und zu modernisieren gedachte. Der Park des Hotels war ein idealer Ort, um draußen zu kampieren. Marnie stellte sich vor, dass sie in der Abgeschiedenheit der Insel, in der freien Natur und ganz mit sich allein am besten herausfinden würde, was sie mit ihrem Leben anfangen könnte.

Zwei Dinge schieden von vornherein aus. Sie würde weder Victor Montgomerys ewiges Kind bleiben, noch Kent Simms’ Frau werden. Blieb Marnie Montgomery, eine ledige junge Frau, die bis zu diesem Tag pflichtbewusst alle Wünsche ihres Vaters erfüllt hatte.

Sie gab Gas, und das Boot schoss vorwärts. Der Bug durchschnitt das dunkle Wasser, der Wind zauste in ihrem Haar. Zum ersten Mal in ihrem vierundzwanzigjährigen Leben fühlte sie sich vollkommen frei.

Ein ausgelassener Jauchzer stieg in die Nachtluft auf.

2. KAPITEL

John bewegte vorsichtig seine verkrampften Muskeln. Er hielt sich schon eine Dreiviertelstunde in einem Vorratsschrank des Laderaums versteckt, und seit fünfzehn Minuten bewegte sich das Schiff. Genauer gesagt raste die „Marnie Lee“, sie schoss in den Wellen auf und ab und schlingerte bei plötzlichen Böen.

Der Sturm muss stärker sein, als vom Wetterdienst vorausgesagt, dachte John. Aber Kent Simms fuhr mit unvermindertem Tempo weiter. Die steifen Böen schienen ihn nicht zur Umkehr zu bewegen.

Gut so. Je weiter sie sich von Port Stanton entfernten, desto besser. John konnte es nicht erwarten, Simms’ Gesicht zu sehen, wenn er plötzlich an Deck erscheinen würde.

Er gab ihm noch zehn Minuten. Dann quälte er sich aus dem engen Versteck und zog seine Segeltuchtasche aus einer Ecke. Im Lauf des vergangenen Jahres hatte er gelernt, auf alles vorbereitet zu sein. Er hatte keine Ahnung, wie lange er mit Kent feststecken würde. Es hing ganz von Simms ab, ob er reden, schweigen oder einen Deal vorschlagen würde. Dass er bis zum Hals in der Unterschlagungssache steckte, stand für John fest. Sonst hätte er sich vorhin nicht so auffällig benommen. Seine hysterische Angst, er, John, könne mit Victor reden. Seine Reaktion auf den Namen Henderson. Seine Hast, die Wachen zu rufen. All das hatte sehr nach schlechtem Gewissen ausgesehen.

Ja, Simms verbarg etwas, John musste nur herausfinden, was es war und wie es mit der Unterschlagung zusammenhing.

Als er die Treppe hinaufsah, peitschten Regen und Wind ihm ins Gesicht. Er schlich mit der Tasche in die Kabine, zog seinen Smoking aus und schlüpfte in Jeans, Flanellhemd und Pullover. Zum Schluss warf er sich einen schwarzen Poncho über den Kopf. In leichten Tennisschuhen erklomm er geräuschlos die beiden Treppen zur Brücke. Bei dem Gedanken, dass er Simms zu Tode erschrecken würde, lächelte er grimmig. Wenn sonst nichts bei dieser Aktion herauskäme – allein Simms’ Schreck war die raue Seereise wert.

Als er die Tür zur Brücke einen Spalt weit öffnete, blieb er wie vom Blitz getroffen stehen. Ein Windstoß erfasste die Tür, riss ihm den Türgriff aus der Hand. Papiere raschelten und flatterten in dem eiskalten Luftzug.

Marnie Montgomery, die am Ruder stand, wirbelte mit einem erstickten Schrei herum und griff in ihre Jackentasche – wahrscheinlich nach einer Waffe. Das Ruder drehte sich wild, und das Schiff begann zu schlingern.

„Drake! Was zum Teufel tun Sie hier?“ schrie sie, während sie versuchte, das Ruder wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Ich habe fast einen Herzschlag gekriegt.“

Er war genauso fassungslos wie sie. Marnie Montgomery. Am Ruder eines kleinen Schiffes, in einem orkanartigen Sturm, der den Sund in ein unberechenbares Wellenmeer verwandelte.

„Ich habe Sie etwas gefragt“, fauchte Marnie und warf ihm einen wütenden Blick zu. Ihr Gesicht war von dem Schreck noch aschfahl, ihre blauen Augen dunkel wie der aufgepeitschte Ozean. „Und machen Sie die Tür zu, schnell!“

John bekam den Griff zu fassen und zog die Tür fest hinter sich zu. Das Heulen des Sturms wurde leiser. „Ich möchte mit Kent Simms sprechen.“

„Hier?“ Sie lachte bitter auf, und ihr verächtlicher Blick signalisierte John, er müsse nicht ganz richtig im Kopf sein. „Haben Sie erwartet, ihn an Bord zu finden?“

„Er ist nicht hier?“

„Nicht, wenn er bei Verstand ist“, murmelte sie. Dann drehte sie sich kurz John zu. „Ich nehme an, er ist noch im Hotel, genießt das schöne Leben und buckelt vor meinem Vater“, erklärte sie verächtlich und konzentrierte sich wieder aufs Wasser.

Gut so, die beiden haben also Streit, dachte John. Ein Zwist zwischen dem Paar konnte ihm nur Vorteile bringen. Sein Gehirn begann fieberhaft zu arbeiten. Ein neuer Plan musste improvisiert werden, was unter den gegebenen Bedingungen nicht einfach war …

„Was wollen Sie von Kent?“ fragte Marnie, ohne den Blick vom Schiffsbug zu nehmen.

„Ich muss mit ihm reden.“

„Worüber?“ Ihre Stimme klang beiläufig, aber als sie kurz den Kopf wandte und ihn ansah, bemerkte er in ihren Augen eine Spur von Neugier. „Nein, sagen Sie es nicht. Lassen Sie mich raten. Es geht um das Geld, das während des Hotelbaus auf so mysteriöse Weise verschwunden ist.“

Ihn störte, dass sie so locker über eine Sache sprach, die ihn zwölf Monate seines Lebens gekostet hatte. Sie tat, als ob es nicht wichtig wäre. Nichts als ein kleines Ärgernis.

„Wenn Sie meinen Rat hören wollen …“

„Ich bin nicht hier, um …“

„… dann sollten Sie einen Schlussstrich unter die Sache ziehen und Ihrer Wege gehen.“

„Ich bin nicht hier, um mir bei Ihnen Rat zu holen.“

„Dann hätten Sie sich nicht auf mein Boot schleichen dürfen.“

„Ihr Boot? Die ‚Marnie Lee‘ gehört doch Simms.“

Marnie lächelte, und ihre Züge wurden etwas weicher. Selbst in der harten Beleuchtung der Brücke, mit feuchtem Haar und ohne Make-up war sie eine schöne Frau. „Kent gehörte es nur zur Hälfte. Zu seinem Pech ist seine Hälfte an meine geschweißt, und ich habe beschlossen, die Party früher zu verlassen.“

„Warum?“

Marnie war drauf und dran zu antworten, besann sich dann jedoch anders. Es war an ihr, die Fragen zu stellen, und nicht umgekehrt. Was zum Kuckuck hatte John Drake auf ihrem Schiff zu suchen? Er machte sie nervös. Ihr war heiß, obwohl das Thermometer im Brückenhaus nicht einmal zehn Grad zeigte.

John hatte sie schon immer irritiert. Seine scharf geschnittenen Züge, sein volles schwarzes Haar und diese intensiven Augen – all das wirkte ungeheuer sexy. Sie kannte viele attraktive Männer, aber John war anders. Er sah nicht einfach nur gut aus – John Drake besaß eine elektrisierende Ausstrahlung. Rastlosigkeit. Angespannte Ruhe, hinter der ein hitziges, durch den Verstand gezügeltes Temperament lauerte. Er besaß etwas, das Marnies elementare Gefühle ansprach.

„Sie haben einen Fehler gemacht“, sagte sie ausdruckslos.

„Nur einen?“

Sie umklammerte das Ruder und fühlte, wie ihre Handflächen feucht wurden. All dieser Aufwand, um ihrer Vergangenheit zu entfliehen und ihre Identität zu finden. Und nun musste sie mit John Drake fertig werden. So faszinierend sie ihn fand – ihren ersten Ausbruch in die Freiheit wollte sie sich von ihm nicht vermasseln lassen. „Hören Sie, John, Sie müssen vom Schiff.“

„Warum?“

„Weil Sie nicht in meinen Plan passen.“

Er lachte und schob die Kapuze seines Ponchos zurück. „Wir haben mehr gemeinsam, als ich dachte. Sie passen auch nicht in meine Pläne.“

„Lassen Sie uns eines klarstellen – wir haben nichts gemeinsam.“

Er sah sie scharf an. „Dann glauben Sie also auch an die große Lüge. Sie sind überzeugt, dass ich mir diesen Batzen Geld vom ‚Puget-West-Projekt‘ unter den Nagel gerissen habe.“

„Eine andere Erklärung wurde nicht gefunden“, antwortete sie ausweichend.

„Ich wurde freigesprochen, verdammt noch mal!“ Mit zwei schnellen Schritten war er so dicht neben ihr, dass sie die goldenen Sprenkel in seinen Augen bemerkte. Seine Nasenflügel bebten.

„Freigesprochen wurden Sie nicht“, sagte sie ruhig. „Es fehlte nur an Beweisen, um Sie anzuklagen.“

Er zog scharf die Luft ein. „Na ja, Miss Montgomery, ich habe mich wohl in Ihnen geirrt. Ich dachte, Sie wären der einzige Mensch in dem Unternehmen, der die Intrige gegen mich durchschaut hat. Aber Sie sind wie die anderen.“

„Nicht ganz.“ Für einen Moment überlegte sie, ob sie ihm sagen sollte, dass sie versucht hatte, ihren Vater und den Vorstand von seiner Unschuld zu überzeugen. „Im Gegensatz zu den anderen habe ich Sie als blinden Passagier am Hals. Sie sind ohne Einladung an Bord gekommen, und ich möchte, dass Sie gehen.“

„Wie denn? Sie scheinen zu glauben, ich könne übers Meer wandeln.“

„Muss ich Sie daran erinnern, dass Sie an einem Abend an zwei verschiedenen Orten uneingeladen erschienen sind? Das dürfte eine Art Rekord sein, meinen Sie nicht auch?“

„Im Moment weiß ich überhaupt nicht, was ich denken soll“, bekannte er. „Auf jeden Fall kann ich hundert Orte aufzählen, wo ich lieber wäre.“

„Willkommen im Klub“, konterte sie bissig. „Ist zufällig Chinook Harbor darunter? Dorthin fahren wir jetzt nämlich.“

„Sie wollen nach Chinook Harbor?“

„Eigentlich nicht, aber es ist der nächste Hafen, wo ich Sie absetzen kann.“ Während sie das Schiff auf die Küste zulenkte, plante sie in Gedanken die Weiterfahrt. Sie würde die Nacht über im Hafen bleiben und abwarten, bis der Sturm sich gelegt hätte. „Und dann …“ murmelte sie.

Sie drehte sich zu ihm um, und ihr Blick sagte, dass es ihn nichts anginge, wohin ihre Fahrt ging.

„Achtung!“ rief John, als er plötzlich die Boje entdeckte, die wild auf dem Wasser tanzte. „Sie sind zu nah dran!“

Die Boje verschwand in einem Wellental. Marnie starrte angestrengt nach vorn. „Zu nah an was?“

Krack! Eine heftige Erschütterung ging durch die „Marnie Lee“, und sekundenlang dachte Marnie, das Schiff würde auseinander brechen und sie würden sinken.

„Verdammt, gehen Sie aus dem Weg!“ John schob sie unsanft zur Seite und riss die Tür auf.

„Das ist Wahnsinn! Sie können nicht rausgehen …“ Der heulende Sturm trug ihre Worte fort.

„Bleiben Sie am Ruder, und steuern Sie das Boot, zum Teufel!“

Während sie verzweifelt versuchte, das Schiff wieder auf Kurs zu bringen, war John schon draußen an Deck. Er band sich ein Seil um die Mitte und kämpfte sich zum Bug vor. Dann hangelte er sich an der Reling entlang, bis er die Steuerbordseite erreichte. Er lehnte sich weit vor, duckte sich, als ein Brecher über das Deck schlug.

Von der Brücke aus sah Marnie, wie er unter den Wassermassen verschwand. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Rettungsleine spannte sich, aber dann lief das Wasser ab, und John kam völlig durchnässt wieder zum Vorschein.

Aber schon brach der nächste Wasserschwall über die Reling, und John verschwand von neuem für einige schreckerfüllte Sekunden. Als das Wasser diesmal zurückwich, bewegte er sich weiter voran und erreichte die Treppe.

Marnie lenkte das Schiff mit sicherem Instinkt. Jetzt zahlte sich aus, was ihr Vater ihr vor Jahren beigebracht hatte. Aber ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und sie horchte angstvoll nach draußen.

Nach zehn endlos lang erscheinenden Minuten kam John zurück, vollkommen durchnässt und hustend. „Am Rumpf ist ein Riss“, berichtete er. „Kein großes Leck, aber immerhin. Ich habe es notdürftig mit der Siegelmasse geflickt, die ich unten gefunden habe. Aber das wird nicht halten, jedenfalls nicht ewig.“

„Aber bis zum nächsten Hafen sind es noch Meilen!“

„Sie müssen an Land“, sagte er eindringlich. „Es muss ja nicht Chinook Harbor sein. Die Insel ist näher.“ Er zeigte auf die in der Ferne blinkenden Lichter von Orcas Island. „Halten Sie erst mal aufs Land zu. Dann sehen wir weiter.“ Er nahm das Mikrofon der Radioanlage, um die Küstenwache zu rufen, aber Marnie schaltete das Gerät aus, bevor er den Notruf aussenden konnte.

„Wir schaffen es allein“, sagte sie energisch. Sie weigerte sich, auch nur ein Stückchen ihrer gerade errungenen Freiheit aufzugeben. „Außerdem glaube ich, dass der Sturm bald vorbei ist. Es hat schon aufgehört zu regnen.“

„Haben Sie mich nicht verstanden, Marnie? Ob es regnet oder nicht, dieses Schiff hat ein Leck und wird bald wie ein Stein sinken. Mit uns.“

„So schnell wird es nicht gehen. Wie lange haben wir?“

„Wie zum Teufel soll ich das wissen?“

„Zehn Minuten? Zwanzig? Zwei Stunden?“

„Verdammt, ich weiß es nicht! Sie dürfen so ein Risiko nicht eingehen!“

„Warum nicht?“, fragte sie herausfordernd und blickte noch einmal auf die Seekarte, die sie schon vorhin studiert hatte.

Sie waren nicht weit von ihrem Ziel entfernt. An der Nordspitze der Insel hoch über den Klippen lag „Deception Lodge“, das Hotel, in dem Victors nächste Eröffnungsfeier stattfinden würde. Vorher aber wollte Marnie dort ihre neu errungene Unabhängigkeit feiern, ohne dass ihr Vater ihr zu Hilfe eilte und ihr vorhielt, dass sie noch nicht so weit wäre, um auf eigenen Schwingen zu fliegen.

„Erzählen Sie mir jetzt bloß nicht noch, dass Sie um Ihren Hals fürchten, Mr. Drake.“

„Nicht mehr als um Ihren.“ In seiner Stimme schwang Sarkasmus mit.

„Dann helfen Sie mir endlich, dieses Schiff zur Küste zu bringen.“

„Und was bekomme ich dafür?“

„Ein Handel? Sie wollen mit mir handeln?“, fragte sie fassungslos. „Genügt es Ihnen nicht, wenn Sie am Leben bleiben?“

„Sie müssen mir schon etwas Reizvolleres bieten. Mein Leben war in diesem Jahr nicht sehr berauschend.“

Unglaublich! Während das Schiff langsam mit Wasser voll lief, verlangte er einen Tauschhandel. Sie hatte keine Zeit für lange Diskussionen. „Okay, okay. Ich bin Ihnen also etwas schuldig“, sagte sie wütend und sah, wie es in seinen Augen aufblitzte.

„In Ordnung, Marnie. Sie steuern, und ich passe unten auf, dass das Leck nicht größer wird.“ Er schickte sich an zu gehen, blieb aber in der Tür stehen. „Was soll das hier eigentlich?“, fragte er über die Schulter. „Eine Art Mutprobe? Was wollen Sie beweisen?“

Als sie nicht antwortete, ging er achselzuckend nach draußen. Soll er doch denken, was er will, dachte sie. Sie war John Drake keine Erklärung schuldig.

Marnie kämpfte mit dem Ruder, und ihre Muskeln begannen zu schmerzen. Zum Glück flaute der Sturm ab, als sie nach Osten drehte und die Insel ansteuerte. Zwar wuschen die Wellen noch immer über das Deck, aber die Kraft der Böen ließ merklich nach. Die Wolken wurden dünner, und durch ihren Filter drang schwaches Mondlicht.

Jetzt erkannte Marnie die Insel, ein riesiger schwarzer Koloss, der sich wie ein Seeungeheuer aus dem aufgewühlten Meer erhob. Der Karte nach konnten sie nicht weit von Deception Point sein, der Nordspitze von Orcas Island. Marnie kniff die Augen zusammen, aber es war nicht hell genug, um die felsigen Kliffs zu erkennen. Keine Lichter leiteten sie in einen Hafen, aber das sollte für sie kein Problem sein.

Sie drosselte den Motor und manövrierte das Boot auf das Land zu. Nicht zu nah heran, sonst würden sie auf Grund laufen. Und nicht zu weit entfernt, damit sie sich nicht im Schlauchboot durch die Wellen zum Ufer kämpfen mussten.

John bemerkte am veränderten Motorengeräusch, dass das Schiff langsamer fuhr. Die Anfahrt zur Küste, endlich. Victors Tochter besaß Mut, das musste man ihr lassen. Mehr Mut als Verstand, wenn man die abenteuerliche Situation bedachte.

Nachdem John das Leck noch einmal sorgfältig abgedichtet hatte, war er sicher, dass kein Wasser mehr eindringen würde. Der Riss befand sich oberhalb des Wasserspiegels, und da die See ruhiger geworden war, würde die „Marnie Lee“ für den Rest der Fahrt gerade im Wasser liegen. Die Gefahr, dass sie bei Schlagseite voll laufen und sinken würde, war fürs Erste gebannt.

Trotzdem – warum hatte Marnie ihn daran gehindert, Hilfe anzufordern? Was für ein Spielchen spielte sie? Gehörte sie zur Sorte der gelangweilten reichen Frau, die besondere Kicks brauchte?

Sie war ihm immer so normal vorgekommen. Schön, aber nie glamourös. Elegant, aber nicht extravagant. Witzig, aber nie ausgeflippt. Warum also dieser selbstmörderische Bootstrip im Orkan? Warum kein Notruf bei der Küstenwache?

Konnte es sein, dass Marnie Montgomery vor etwas davonlief?

Der Gedanke ließ John nicht los. Er stieg die schlüpfrigen Stufen zur Brücke hoch. Marnie war so auf ihr Manöver konzentriert, dass sie kaum Notiz von ihm nahm.

„Sie sollten jetzt besser den Anker werfen“, riet er ihr nach einem Blick auf die Karten. „Wenn Sie noch weiter ranfahren, gibt’s Probleme.“ Sekundenlang trafen sich ihre Blicke, und John bildete sich ein, in ihren Augen mehr als nur Wut zu lesen. Es musste Einbildung sein. Marnie Montgomery würde nie einem Mann Interesse bekunden, der Verrat an dem kostbaren Unternehmen ihres Vaters begangen hatte.

Sie blickte weg. „Genau das habe ich vor“, sagte sie und löste den Anker. Die Kette rasselte, es gab einen leichten Ruck, und das Boot stoppte. Es rollte mit den Wellen hin und her.

John nahm das Schlauchboot aus der Halterung und pumpte es auf. „Holen Sie Ihre Sachen und Lebensmittelvorräte, falls welche da sind“, sagte er zu Marnie, und als sie nach unten kletterte, rief er schnell die Küstenwache an.

Sie wird wütend auf mich sein, aber was soll’s, dachte er, während er einige Streichholzschachteln, Notraketen und das Erste-Hilfe-Set aus dem Wandfach unter dem Radio nahm.

Minuten später saßen beide im Schlauchboot. John legte sich in die Ruder, und das Boot bewegte sich schaukelnd auf die Küste zu. Als Marnie das andere Paar Ruder ergriff, schüttelte er den Kopf. „Ich schaff das schon. Ruhen Sie sich aus“, sagte er in einem ungewohnten Anflug von Ritterlichkeit.

„Das brauche ich nicht“, antwortete sie und reckte den Rücken, als sie zu rudern begann.

John verzichtete auf eine Diskussion. Er war nicht darauf versessen, wieder mit Marnie zu streiten. Von seinem Platz am Bug aus beobachtete er die geschmeidigen Bewegungen ihrer Rückenmuskeln. Sie holte kräftig mit den Armen aus, bewegte die Schultern vor und zurück, ruderte mit der Ausdauer einer Athletin.

Die „Marnie Lee“ mit den grün und rot blinkenden Lichtern hob sich als helle Silhouette gegen den dunklen Nachthimmel ab. John und Marnie sprachen nicht. Nur das Schlagen der Wellen und das gelegentliche Pfeifen einer Bö durchbrachen die Stille.

Sie näherten sich dem Strand. John ließ die Ruder sinken und kletterte aus dem Boot. Er stand bis zur Brust im eiskalten Wasser und begann, das Schlauchboot an Land zu ziehen. „Ich habe die Küstenwache benachrichtigt“, sagte er in die Stille hinein.

Sie fuhr mit dem Kopf herum. „Was haben Sie?“

„Sie wollen doch sicher nicht, dass Ihr Vater sich Sorgen um Sie macht. Bei dem Unwetter hätte er garantiert alle Hebel in Bewegung gesetzt. Es ist besser, die Küstenwache weiß Bescheid, bevor eine große Suchaktion gestartet wird.“

„Sie hatten kein recht, das zu tun!“ rief Marnie empört.

„Wahrscheinlich nicht. Damit Sie’s wissen – das Nervenkostüm Ihres Vaters schert mich keinen Deut. Aber mir scheint, Sie legen keinen großen Wert darauf, dass er die Kavallerie hinter Ihnen herschickt. Hey, stopp, Sie brauchen nicht …“

Aber Marnie ließ sich ins kalte Wasser gleiten und half, das Boot an Land zu bugsieren.

„Hat schon irgendjemand festgestellt, dass Sie eine störrische junge Dame sind?“

Sie lachte leise.

John musterte sie abschätzend, und ihm wurde bewusst, dass er sie in den paar Jahren, in denen sie zusammengearbeitet hatten, nie richtig kennen gelernt hatte. „Was ist eigentlich mit Ihnen, Marnie? Sie schleppen etwas mit sich herum.“

„Das klingt ganz nach dem Topf, der den Ruß am Kessel bemängelt“, konterte sie. Vor Kälte schlotternd, zog sie gemeinsam mit John das Boot auf den Strand.

„Der Vergleich stimmt, aber ich bin nicht in Reichtum und Luxus aufgewachsen.“

„So wie ich, nicht wahr?“ Sie warf ihre nassen Haare zurück und griff nach ihren Taschen. „Genau das ist mein Problem. Aber ich habe nicht die geringste Lust, weiter darüber zu reden. Oben auf dem Kliff ist ein leer stehendes Hotel, wo ich zu übernachten gedenke. Wenn Sie mitkommen wollen, meinetwegen. Wenn nicht, ist es mir auch egal. Zur Stadt geht es dort entlang.“ Sie zeigte mit der Taschenlampe nach Süden. „Ein Fußmarsch von zwei bis drei Stunden. Es liegt ganz bei Ihnen.“ Damit hob sie ihre Taschen auf und stapfte in Richtung Norden den Strand entlang.

John überlegte nicht lange und folgte ihr.

Die „Deception Lodge“ lag in einem riesigen wilden Naturgelände. Das rustikale Hotel stand seit Jahren leer. Wie eine Pagode hob sich das Gebäude mit seinen zwei terrassenförmigen Stockwerken gegen den Nachthimmel ab. Die Schindeln auf den windschiefen Dächern und vortretenden Giebeln klapperten geisterhaft. Ein Fensterladen quietschte in den Angeln.

Marnie richtete die Taschenlampe auf die verwitterte Fassade. Die meisten Fenster waren heil, nur in der Veranda fehlten ein paar Scheiben. Wie schön es einmal gewesen sein muss, dachte Marnie. Ein ideales Refugium für die Städter, die Erholung auf den San-Juan-Inseln suchten.

Jetzt war die einstige Größe des Hotels kaum mehr als eine Erinnerung. Der Schein der Taschenlampe huschte über die abgeblätterten Mauern. Unter den Balkons klebten Nester von Seeschwalben. Der Boden der Veranda war an einer Seite abgesackt. Vor dem Eingang raschelten Blätter, die der Wind zusammengeweht hatte.

„Benötigt ein paar Reparaturen“, bemerkte John. Er blickte an dem baufälligen Haus hoch und stellte seine Tasche auf eine morsche Stufe der Verandatreppe.

„Es gibt nichts, was der magische Montgomery-Touch nicht wieder herstellen könnte.“ Marnie zog ihr Schlüsselbund aus der Tasche und steckte einen Schlüssel in das schwere Vorhängeschloss, das die Kette vor der Eingangstür zusammenhielt. Das Schloss klemmte einen Moment, aber dann sprang es auf. Marnie nahm die Kette fort und stieß die breite Doppeltür auf.

Sie betraten die Halle. Im Lichtkegel der Taschenlampe erkannten sie Möbel. Verstreut standen überall im Raum Tische mit hoch gestellten Stühlen. In eine Ecke der höhlenartigen Halle waren schwerere Möbel geschoben worden und mit Tüchern zugedeckt.

„Hier wollen Sie absteigen?“, fragte John ungläubig und sah sich von neuem in der staubigen Höhle um. Er zog eine Grimasse.

„Nur für ein paar Tage.“ Der Lichtstrahl tanzte vor ihr her, als sie den Raum durchquerte und hinter dem Empfangspult die Tafel mit den Lichtschaltern suchte. Sie knipste jeden Schalter an, aber nichts passierte. Es blieb dunkel.

„Und dann?“

„Dann überlege ich mir mein nächstes Ziel.“

„Ein anderes Montgomery-Hotel?“

Sie warf ihm über die Schulter ein unsicheres Lächeln zu. „Nein. Mit Sicherheit nicht.“

„Dies ist also Victors nächstes Projekt.“ John beleuchtete mit seiner Taschenlampe die Treppe und die Galerie im Obergeschoss. In den Winkeln der Holzbalken hingen Spinnengewebe. Staub tanzte in dem Lichtstrahl.

„Eines von vielen.“ Marnie entdeckte einen kurzen Flur, der von der Bar zur Küche führte, und setzte ihren Erkundungsgang fort.

Sie rief sich den Grundriss in Erinnerung, denn sie kannte die Pläne und hatte sich immer wieder Victors ausschweifende Erklärungen angehört, wie er die Lodge, wo er als Junge viele glückliche Sommer verlebt hatte, „verschönern und verjüngen“ würde.

Über den Flur gelangte sie zu der Tür, die sie suchte. Den alten Zeichnungen nach müsste hinter dieser Tür eine schmale Treppe zum Weinkeller führen.

Marnie zog an dem Knauf, aber nichts tat sich. „Mist“, murmelte sie, legte die Taschenlampe auf den Boden und zog mit beiden Händen. Fast wäre sie hintenüber gefallen, als das verzogene Holz endlich nachgab und die Tür aufsprang. Ein feuchter, modriger Geruch schlug Marnie entgegen. Sie rümpfte die Nase und ging todesmutig nach unten.

So alt die Pläne waren – keine Computerzeichnung hätte sie an Exaktheit übertroffen. Marnie fand auf Anhieb, was sie suchte: den Sicherungskasten. Sie drückte den Schalter herunter, und augenblicklich flammte oben im Haus Licht auf.

„Bingo!“ flüsterte Marnie. Nach so viel Glück würde sie auch den Thermostat für die Heizung finden. Sie wanderte durch die Gänge, bis sie nicht einen, sondern drei Heizungsregler fand – für jede Etage einen. Sie schaltete den ersten ein und hörte es kurz darauf knacken und rumpeln: die Heizung im Erdgeschoss lief.

„Bravo, Marnie!“ beglückwünschte sie sich und klopfte sich die Hände an den Jeans ab. Für Licht und Wärme war gesorgt. Überhaupt konnte sie mit sich zufrieden sein, abgesehen von dem Missgeschick auf See. Wenn bloß ihr Vater nicht auf die Idee kam, ihr zu Hilfe zu eilen!

Es genügte schon, dass sie John Drake am Hals hatte. Gut, er hatte ihr geholfen, und sie hatte nichts gegen seine Gesellschaft. Aber ansonsten verdarb er den Stil ihres Unabhängigkeitskampfes. Sie konnte sich schwerlich als selbstständige Frau bezeichnen, wenn sich ihr ein Mann an die Fersen heftete.

„Es ist nur für eine Nacht“, sagte sie sich. Bei ruhiger See würde die „Marnie Lee“ es bis zum nächsten Hafen schaffen. John Drake würde wieder in die Zivilisation entlassen werden, und nach der Reparatur des Schiffes könnte sie, Marnie, endlich in die Freiheit starten.