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EIN BODYGUARD ZUM VERLIEBEN von DEBRA WEBB Der Bodyguard Doug Cooper versteht sich selbst nicht mehr: Seit er die hübsche Erbin einer Schmuckdynastie beschützen soll, handelt er so unprofessionell wie noch nie. Abbie zu küssen, ist wie ein Geschenk; sie zu lieben, die Erfüllung. Doch plötzlich ist Abbie verschwunden! DER COP, DAS HUNDEBABY UND ICH von CARA COLTER Cop Oliver hat sich nach einer Enttäuschung ins Dörfchen Kettle Bend zurückgezogen. Doch als er einem Hundebaby das Leben rettet, feiern ihn plötzlich alle als Helden. Besonders Sarah McDougall will ihn ins Rampenlicht ziehen, was ihm überhaupt nicht gefällt. Dafür aber Sarahs warmherzige Art, ihr Charme und besonders ihre Schönheit … SAG JA ZUR LIEBE, VIENNA von MARIE FERRARELLA In letzter Sekunde wird Vienna von Dr. Georges Armand aus einem brennenden Autowrack befreit. Dankbar küsst sie ihren Lebensretter – und verspürt ein ungeahnt sinnliches Prickeln. Doch das darf nicht sein. Denn Georges hat den Ruf, ein unverbesserlicher Playboy zu sein …
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Seitenzahl: 593
Debra Webb, Cara Colter, MArie Ferrarella
JULIA HERZENSBRECHER BAND 18
IMPRESSUM
JULIA HERZENSBRECHER erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Neuauflage in der Reihe JULIA HERZENSBRECHER, Band 18 05/2022
© 2003 by Debra Webb Originaltitel: „Guarding the Heiress“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Brigitte Marliani-Hörnlein Deutsche Erstausgabe 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe COLLECTION BACCARA, Band 267
© 2012 by Cara Colter Originaltitel: „The Cop, the Puppy and Me“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Tatjána Lénárt-Seidnitzer Deutsche Erstausgabe 2013 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BIANCA, Band 1899
© 2007 by Marie Rydzynski-Ferrarella Originaltitel: „Taming the Playboy“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Heike Warth Deutsche Erstausgabe 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BIANCA, Band 1675
Abbildungen: mauritius images / Westend61, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 05/2022 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751512442
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
„Bist du sicher, dass es sich bei der jungen Frau um eine Tochter von Edouard D’Martine handelt?“ Der Mann betrachtete ihn misstrauisch. „Ich brauche absolute Sicherheit. Wenn das stimmt, was du sagst, dann …“
„Ich weiß, was ich sage“, unterbrach Joe schroff. „Und ich weiß, was es bedeutet. Ich habe zwanzig lange Jahre Zeit gehabt, im Staatsgefängnis darüber nachzudenken. Deshalb bin ich auch nach meiner Entlassung als Erstes dorthin zurückgegangen.“ Er schnaubte. Ein widerliches Geräusch. „Du glaubst doch nicht, dass es damals bloß Glück war, dass ich mir den Jungen so leicht schnappen konnte?“
Der andere Mann starrte ihn ungeduldig an.
„Der Kerl war durch seine Freundin abgelenkt. Er war verliebt“, fügte Joe hinzu. „So verdammt verliebt, dass er mich erst bemerkt hat, als ich ihn mir krallte.“
Der Mann, der vor fünfundzwanzig Jahren sein Partner gewesen war, verzog spöttisch das Gesicht. „Und was hat es gebracht? Gar nichts.“ Statt der geplanten zehn Millionen Dollar Lösegeld hatten sie eine Leiche gehabt.
Und die Schuld daran traf allein Joe. Er hatte alles vermasselt. Hatte zu tief ins Glas gesehen. Deshalb war der junge Mann, Alleinerbe eines Milliardenvermögens, gestorben. Joe und seinem Partner blieb nichts mehr zu tun, als die Leiche zu entfernen und dafür zu sorgen, dass nichts auf eine Verbindung zwischen ihnen hindeutete. Die Polizei hatte nie herausgefunden, wer hinter der Entführung steckte. Und wenn Joe nicht später dieses andere Problem gehabt hätte, wäre er trotz diverser Verbrechen ein freier Mann geblieben.
So aber hatte er zwanzig Jahre im Gefängnis verbracht. Und die ganze Zeit über hatte er an nichts anderes gedacht, als daran, was ihm wegen eines Fehlers alles entgangen war. Statt in Cancún Tequila zu trinken und das Leben zu genießen, schmorte er in einer Zelle. Bis ihm ein Gedanke kam, der ihn nicht wieder losließ. Wie hatte es die kleine, unbedeutende Kellnerin geschafft, sich diesen reichen Jungen zu schnappen? Hatte sie ein Druckmittel besessen? Tag und Nacht hatte Joe darüber nachgedacht. Und an dem Tag seiner Entlassung war er in den Bus gestiegen und direkt nach Meadowbrook, Maryland, gefahren. Er hatte sich dort ein paar Tage unauffällig herumgetrieben. Und, siehe da, er hatte recht gehabt.
Edouard D’Martine hatte eine Tochter. Es bestand überhaupt kein Zweifel. Das Mädchen war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Jetzt musste Joe nur noch seinen alten Partner überzeugen. Er wollte die zweite Chance nutzen, den Rest seines Lebens in Luxus zu verbringen. Die verdammten D’Martines hatten sowieso zu viel Geld. Es würde ihnen nicht schaden, ein bisschen davon abzugeben. Dieses Mal würde er dafür sorgen, dass er sein Ziel erreichte.
„Okay“, gab sein Partner schließlich nach. „Ich werde alles in die Wege leiten.“ Er wollte sich umdrehen, zögerte dann jedoch. Sein Gesicht war so hart wie die Gefängnismauer, hinter der Joe bis vor Kurzem gesteckt hatte. „Aber keine Fehler dieses Mal.“
Joe lächelte. „Keine Fehler.“
Der alte Joe war vielleicht etwas langsam, aber er machte einen Fehler nicht zweimal.
Die Vergangenheit war drauf und dran, sich zu wiederholen.
Und niemand rechnete damit.
Doug Cooper wartete ungeduldig in Victoria Colbys Büro. Seit er vor sechs Wochen angeschossen worden war, war er zur Schreibtischarbeit verdammt gewesen. Glücklicherweise hatte die Kugel keine lebenswichtigen Organe getroffen, sondern ihn nur vorübergehend außer Gefecht gesetzt. Dennoch war es schlimm genug, nur herumzusitzen.
Jetzt aber war er körperlich wieder fit. Im Büro zu hocken und Fallstudien zu lesen langweilte ihn zu Tode. Er brauchte Action. Victoria hatte ihn vergangene Woche kurz über den Fall informiert, den er bearbeiten sollte. Der Auftrag war nicht besonders aufregend, doch spannender als Büroarbeit. Der Fall war, wie Victoria gesagt hatte, etwas sensibel und erforderte einen Bodyguard mit einem gewissen gesellschaftlichen Hintergrund. Doug verstand, was sie meinte, was aber nicht bedeutete, dass es ihm gefiel.
Dennoch wollte Doug diesen Auftrag haben. Dafür würde er alles tun, was von ihm verlangt wurde. Wenn seine Abstammung – er war der mittlere Sohn einer der reichsten Familien Amerikas – wichtig für die Ausführung dieses Auftrags war, dann würde er die elitäre Erziehung und Ausbildung nutzen, die für die Welt normal war, in die er hineingeboren war.
Er dachte an die arme ahnungslose Frau, deren Leben sich total ändern würde, und empfand Mitleid. Abigail Harper hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Mancher würde vielleicht sagen, dass das Schicksal es gut mit ihr meinte, doch Doug wusste es besser. Sie würde einen hohen Preis zahlen müssen.
Lange hatte man gedacht, Solange D’Martine wäre das letzte Mitglied der wohlhabenden D’Martine-Familie. Die letzte Erbin eines internationalen Schmuckimperiums, das seit sechs Generationen existierte. Die alte Dame war siebzig und führte ein sehr zurückgezogenes Leben. Das unerwartete Auffinden einer Enkelin brachte eine dramatische Veränderung in ihr Leben. Ganz zu schweigen davon, dass es den Fortbestand des traditionellen Familienunternehmens trotz der tragischen Vergangenheit sicherte.
Doug hatte den Bericht über das furchtbare Schicksal gelesen, das die Familie ereilt hatte. Der Sohn, Edouard D’Martine, war der Alleinerbe des Imperiums gewesen, das seine Wurzeln in Frankreich hatte. Während seines letzten Semesters an der juristischen Fakultät war Edouard gekidnappt worden. Die Kidnapper forderten ein hohes Lösegeld. Vor der Übergabe war dann irgendetwas schrecklich schiefgegangen. Der Fall war nie gelöst worden. Edouards Vater war kurze Zeit später an einem Herzanfall gestorben, ausgelöst durch die Tragödie, wie die meisten vermuteten. Und Solange D’Martine musste die Schicksalsschläge allein meistern.
Jetzt war eine mögliche Enkelin, eine gewisse Abigail Harper, von einem Vertrauten der Familie aufgetan worden. Die junge Frau lebte in Meadowbrook, Maryland, und arbeitete mit ihrem Vater – besser gesagt mit dem Mann, den sie als ihren Vater betrachtete – in der Eisenwarenhandlung der Familie. Abigails Mutter Millicent hatte Harvey Harper vor sechsundzwanzig Jahren geheiratet. Zu dem Zeitpunkt war sie bereits schwanger gewesen. Doug fragte sich, warum Millicent die Schwangerschaft verschwiegen hatte, wenn Edouard D’Martine tatsächlich der leibliche Vater ihres Kindes war.
„Tut mir leid, dass Sie warten mussten, Douglas“, sagte Victoria, als sie das große Büro über den Dächern von Chicago betrat. „Ich habe heute Morgen einen besorgten Anruf von Mrs. D’Martines Anwalt Mr. Thurston erhalten. Mrs. D’Martine möchte, dass wir uns sofort um die Angelegenheit kümmern.“
Doug nickte. „Ich bin bereit und kann noch heute Nachmittag abreisen.“
„Schön. Sie sollten einen Termin mit Mr. Thurston vereinbaren.“ Victoria betrachtete Doug einen Moment, bevor sie hinzufügte: „Ich weiß, dass bisher keine akute Gefahr für Miss Harper besteht, aber ich möchte, dass Sie den Auftrag behandeln, als sei die Bedrohung Fakt.“
„Natürlich.“
„Ich kann Mrs. D’Martines Wunsch nach besonderer Vorsicht voll und ganz verstehen. Diese junge Frau ist alles, was von ihrem Sohn geblieben ist. Egal, was Sie benötigen, um Miss Harper zu beschützen und sie auf die Veränderungen in ihrem Leben vorzubereiten, Sie können sich der Unterstützung der Agentur gewiss sein.“
Doug nickte wieder. „Ich versichere Ihnen, ich werde weder Mrs. D’Martine noch diese Agentur enttäuschen.“
„Da bin ich mir sicher.“
Sie besprachen ein paar Details, und Doug verabschiedete sich. Ein, zwei Dinge musste er vor seiner Abreise noch erledigen. Das Einzige aber, was ihn wirklich beschäftigte, war die Geheimhaltung seiner wahren Identität. Wenn die Presse Wind von der Story bekam, vor allem die Regenbogenpresse, dann würde sie sich wie Aasgeier darauf stürzen. Und es wäre für ihn so gut wie unmöglich, unerkannt zu bleiben. Er biss die Zähne zusammen. Irgendwie musste er es schaffen. Obwohl Doug seine Familie liebte, hatte er nicht die Absicht, jemals wieder deren Lebensstil zu führen. Seine Familie verstand seine Entscheidung vielleicht nicht, aber sie respektierte sie. Die Medien zeigten jedoch nur wenig Respekt, wenn es um eine heiße Geschichte ging.
Abigail Harper, von ihren Freunden Abbie genannt, war nicht die Einzige, die Gefahr lief, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren.
Für Douglas Jamison Cooper-Smith, alias Doug Cooper, stand auch viel auf dem Spiel.
„Ich gehe mit und erhöhe auf zwanzig.“
Abbie Harper lag unter dem Spülbecken in der Küche. Sie hielt in ihrer Arbeit inne und blickte überrascht zu den vier älteren Damen, die an dem antiken Esstisch in Miss Ella Browns Haus pokerten. Miss Minnie setzte nie mehr als zehn Dollar. Ein dicker Wassertropfen aus dem Abflussrohr platschte auf Abbies Stirn und erinnerte sie daran, warum sie hier war. Sie rieb sich mit dem Ärmel über das Gesicht und zog den Dichtungsring fest.
Mattie Caruthers, Minnies Zwillingsschwester, sah ihre Schwester durchdringend an. „Ich gehe mit“, sagte sie dann und legte ihren Einsatz auf den Tisch.
„Ich auch.“ Ella setzte ihre zwanzig Dollar.
Irene Marlowe blickte von ihren Karten auf und lächelte in die Runde, dann zückte sie ebenfalls eine Zwanzigdollarnote. „Bevor wir zeigen, was wir haben“, sagte sie mit dieser erotischen Stimme, die ihr einst ein kleines Vermögen auf der Leinwand eingebracht hatte, „müssen wir noch etwas anderes besprechen.“ Irene warf einen nachdenklichen Blick in Abbies Richtung.
„Ihr mögt es vielleicht vergessen haben, aber Ende des Monats wird unsere Abbie fünfundzwanzig Jahre alt“, erinnerte Irene ihre Freundinnen.
Drei entsetzt blickende Augenpaare huschten zu Abbie dann zurück zu Irene.
Abbie zuckte innerlich zusammen. Das klang ja, als litte sie unter einer unheilbaren Krankheit. Dabei wurde sie nur ein Jahr älter. „Fertig, Miss Ella“, verkündete sie. Vielleicht konnte sie das Thema beenden, bevor es ausgeschlachtet wurde.
„Setz es auf meine Rechnung“, sagte Ella schnell. Sie wollte nichts von der Diskussion verpassen, die interessant zu werden versprach.
„Das ist nicht gut“, sagte Minnie bedeutsam. Sie schüttelte langsam den Kopf. „Überhaupt nicht gut.“
„Wir müssen etwas unternehmen“, fiel Mattie ihrer Schwester ins Wort. „Bevor es zu spät ist.“
Zu spät? Wofür war es zu spät? Die Ladies spielten doch nicht darauf an, dass sie keinen Freund hatte? Dazu hatte sie gar keine Zeit. Und in Meadowbrook wimmelte es auch nicht gerade von jungen männlichen Singles. Aber „zu spät“ klang irgendwie ein bisschen übertrieben.
Ella zog nachdenklich an der illegal importierten kubanischen Zigarre, dann neigte sie den Kopf und blies den Rauch aus. „Du hast recht. Wir müssen etwas unternehmen. Sonst ist unsere Abbie dem Schicksal ausgeliefert.“
Abbie starrte die vier Damen an und wollte etwas sagen, doch Minnie kam ihr zuvor. „Hier, Ella, meine Liebe, nimm noch etwas von unserer Arznei.“ Minnie frischte Ellas Eistee mit einem Schuss aus dem Weckglas neben der Teekanne auf. Abbie wusste, dass es sich dabei um schwarzgebrannten Schnaps handelte.
„Danke.“ Ella trank einen ordentlichen Schluck und seufzte. „Das ist genau das, was ich gebraucht habe.“
„Ich glaube“, sagte Irene und zog die Aufmerksamkeit der Damen wieder auf sich, „ich habe die Lösung für unser Problem.“
„Oh, erzähl“, zwitscherte Mattie.
Abbie sah von einer der silberhaarigen Ladies zur nächsten, dann zuckte sie mit den Schultern und packte ihre Sachen weiter zusammen. Es hatte keinen Sinn, dazwischenzugehen. Es war bestimmt nicht das erste Mal und würde auch nicht das letzte Mal sein, dass ihr Familienstand, besser gesagt ihr nicht vorhandenes Eheglück, Thema bei Meadowbrooks angesehenen Damen war. Die Frauen liebten es, Amor zu spielen.
„Du hast eine Lösung für unser Problem?“, fragte Minnie eifrig.
„Heute Morgen hat ein sehr attraktiver junger Mann Miss Adas Pension betreten“, erklärte Irene mit einem verträumten Blick. „Er hat mich sofort an JFK Jr. erinnert. Verteufelt gut aussehend, sage ich euch. Mein Herz hat seit meinem ersten Filmkuss nicht mehr so schnell geschlagen.“
Abbie blieb wie angewurzelt stehen. In einer kleinen Stadt wie dieser blieb ein Fremder nicht unbemerkt. Auch Abbie hatte den Mann gesehen. Er gehörte zu den Männern, die zu Formulierungen wie „gnadenlos schön“ inspirierten. Der Mann war über einen Meter achtzig groß, schlank und drahtig. Dichte schwarze Haare und stechend blaue Augen betonten seine markanten Gesichtszüge.
Abbie verdrängte das Bild. Der Mann war in seinem schwarzen Geländewagen heute Morgen um neun in die Stadt gekommen, und um, sie blickte auf ihre Armbanduhr, Viertel nach zwei ließ sich der Damenclub schon über ihn aus. Sie betrachtete die Mitglieder. Niemand wusste genau, was dieser „Club“ eigentlich tat. Das war der Fantasie jedes Einzelnen überlassen. Doch die Kuppelei war legendär in der Stadt.
„Oh, den habe ich auch gesehen“, warfen Mattie und Minnie gleichzeitig ein.
Ella nickte. „Ich auch.“
Um Gottes willen. Hatten diese Ladies denn nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag aus dem Fenster zu schauen? Wenn sie nicht Karten spielten und ihre „Arznei“ tranken, verbesserte Abbie sich. Sei nachsichtig mit ihnen, dachte sie, es sind vier harmlose ältere Damen.
„Die einzigen Junggesellen im richtigen Alter, die es noch in Meadowbrook gibt, betrachten Abbie als Kumpel“, sagte Irene. „Mit ihnen können wir Abbie auf keinen Fall verkuppeln. Und offen gesagt, Ladies, die Zeit läuft uns davon.“
Abbie schloss ihren Werkzeugkoffer. „Miss Irene, ich weiß Ihre Sorge zu schätzen“, begann sie, „aber …“
„Aber was wissen wir von diesem Gentleman?“, fiel Mattie Abbie ins Wort. „Er könnte ein Herumtreiber sein.“ Ihre Augen funkelten. „Oder ein … Spitzel.“
Ella verdrehte die Augen und fragte: „Was müssen wir wissen?“ Sie zog wieder an ihrer Zigarre. „Kein Ehering, also ist er Single. Attraktiver als die Polizei erlaubt. Und Ada hat erzählt, dass er eine von diesen Kreditkarten ohne Limit benutzt. Er ist also offensichtlich stinkreich.“
Abbie konnte es nicht fassen. Dass der Mann keinen Ring trug, hatte nichts zu bedeuten, und ein hoher Kreditrahmen ließ nicht unbedingt auf Reichtum schließen. Diese Ladies waren einfach unmöglich! Und ihre Schlussfolgerungen dumm und haltlos. Es reichte. „Miss Ella, ich …“
„Du kannst jetzt gehen, Abbie“, sagte Ella freundlich. „Wir kümmern uns um das kleine Problem.“
„Er könnte ein entlaufener Mörder sein“, warf Minnie besorgt ein. „Er hat diesen … diesen Blick, wisst ihr.“
Mattie tat die Bemerkung ihrer Schwester verächtlich ab. „Warum sollte sich ein entlaufener Mörder ausgerechnet nach Meadowbrook verirren?“ Sie starrte Minnie an. „Dieser Blick, den du meinst, ist faszinierend. Der Mann sieht aus wie Pierce Brosnan.“
„Ladies“, versuchte Abbie es noch einmal. „Ich bin nicht auf der Suche nach einem Ehemann.“
Ella schnippte die Asche in den Aschenbecher. „Es ist der Fluch“, verkündete sie feierlich.
Verwirrt sah Abbie die Damen an. „Der Fluch?“ Ein ungutes Gefühl beschlich sie.
Minnie nickte und blickte von einer zur anderen, bis ihr Blick an Abbie hängen blieb. „Er trifft seit Generationen die Harper-Frauen, genauso wie die Talkingtons, die Seite deiner Mutter.“
„Alle Frauen, die mit fünfundzwanzig noch nicht verheiratet waren, haben nie geheiratet“, erklärte Ella. „Deine Tante Jess, deine Großtante Rosie, deine Cousine Mildred.“ Ella zuckte mit den Schultern. „Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Deine Mutter hat es gerade noch geschafft.“ Die vier tauschten wieder einen vielsagenden Blick.
„Sie glauben diesen Quatsch doch nicht wirklich“, sagte Abbie. Sie sah Irene an, die normalerweise die vernünftigste der vier Kupplerinnen war. „Das ist doch nur Zufall.“ Es war einfach lächerlich. Wie konnten sie diesen Unsinn glauben? Abbie leckte sich über die Lippen, die plötzlich ganz trocken waren.
Oder war es doch kein Unsinn?
„Abbie, Liebes, ich fürchte, meine Freundinnen haben recht“, säuselte Irene. „Ich bin nicht von Natur aus abergläubisch, aber in diesem Fall sprechen die Fakten für sich.“
Abbie konnte es einfach nicht fassen. „Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, meine Damen. Es ist absolut normal, dass eine Frau mit fünfundzwanzig unverheiratet ist.“
Ella hob eine sorgfältig gezupfte Augenbraue. „Aber wie viele fünfundzwanzigjährige Jungfrauen kennst du?“
Abbie wurde rot. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag, Ladies. Es ist Zeit für mich zu gehen.“ Abbie drehte sich um und nahm ihren Werkzeugkasten.
„Komm schon, Abbie“, schmeichelte Irene. „Du kennst nur die Eisenwarenhandlung. In dem Alter, als andere Mädchen gelernt haben, sich in Schale zu werfen, hast du gelernt, mit einem Schraubenzieher umzugehen und den Hammer zu schwingen. Du hast als Teenager Baseball und Basketball gespielt, statt als Cheerleader bei den Spielen dabei zu sein oder Tanzstunden zu nehmen.“
Minnie nickte zustimmend. „Die Jungs in deinem Alter waren viel zu eingeschüchtert von deinen sportlichen Fähigkeiten, um dich um ein Rendezvous zu bitten.“
„Es ist nicht so, als hätte ich nie ein Date gehabt“, entrüstete sich Abbie.
„Reg dich nicht auf, Mädchen“, sagte Mattie streng. „Alles wird gut.“ Sie lächelte und zwinkerte Abbie zu. „Du wirst schon sehen.“
Abbie seufzte frustriert. „Einen schönen Tag noch, meine Damen.“ Sie verließ das Haus durch die Hintertür, verstaute ihr Werkzeug im Wagen und klopfte sich die Hände an ihrer verwaschenen Latzhose ab, bevor sie sich hinter das Lenkrad setzte. Die alte Maschine sprang beim ersten Versuch an. Abbie legte den Rückwärtsgang ein und fuhr weit genug zurück, um wenden zu können. Vor ihr lag noch viel Arbeit. Sie hatte nicht die Zeit, sich über Freunde oder Ehemänner oder Dates Gedanken zu machen.
Außerdem war der gut aussehende Fremde in ihren Augen absolut kein Heiratskandidat. Sie wusste nichts über den Mann. Okay, er war attraktiv und faszinierend. Aber sonst …
Sie brauchte keinen Ehemann. Alles was sie brauchte, war viel Arbeit, damit die Kasse am Ende des Monats stimmte.
Ein leichtes Ziehen unterhalb des Bauchnabels strafte ihre Gedanken Lügen.
Abbie versuchte sich auf die Straße zu konzentrieren und das Ziehen zu ignorieren. Irene und ihre Freundinnen waren schuld daran. Mehr nicht. Kein großer, attraktiver Fremder, der plötzlich in der Stadt auftauchte, brachte sie aus dem Konzept. Ihr ganzes Leben lang war sie ein anständiges Mädchen gewesen, und sie würde jetzt nicht anfangen, irgendwelche Fehler zu machen. Man brauchte keine Erfahrung in Sachen Sex, um zu wissen, dass es den edlen Ritter nicht gab.
Sie parkte vor der Eisenwarenhandlung. Durch die altmodische Doppeltür spazierte sie in Harpers Eisenwarenhandlung, die 1918 von ihrem Urgroßvater gegründet worden war.
„Hallo, Dad.“ Abbie trat hinter den verschrammten Verkaufstresen und küsste ihren Vater auf die Wange. „Viel zu tun gehabt?“
Sie kannte die Antwort, bevor sie die Frage gestellt hatte. Kleine familienbetriebene Eisenwarenhandlungen gehörten der Vergangenheit an. Die großen Baumärkte hatten sie aus dem Markt gedrängt. Doch die Harpers hielten sich über Wasser. Sie gaben nicht kampflos aus. Nicht solange es Abbie gab.
„Wie immer“, antwortete ihr Vater und reichte ihr ein paar Notizen.
Abbie starrte ihn lange an, bevor ihr Blick auf die Zettel in ihrer Hand fiel. Seine grauen Haare waren kurz geschnitten, seine braunen Augen blickten ernster als normal. Ihr Vater war ein freundlicher und fröhlicher Mann, aber wenn sich die Rechnungen stapelten, wurde sein Gesichtsausdruck düster vor Sorgen. Noch drei Monate wie die letzten drei, und sie würden das Geschäft aufgeben müssen. Falls nicht ein Wunder geschah, würden sie im nächsten Jahr um diese Zeit … nun, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.
Sie würde nicht aufgeben. Strahlend lächelte sie ihren Vater an und sagte ganz optimistisch: „Ich hatte heute Vormittag sehr viel zu tun. Wenn das so weitergeht, stehen wir Ende der Woche ganz gut da.“
Er lächelte schwach. „Wir kommen immer irgendwie über die Runden. Dank dir.“
Abbie richtete ihre Aufmerksamkeit schnell auf die Zettel, damit ihr Vater nicht die Tränen sehen konnte, die in ihren Augen schimmerten. Sie würden es schaffen, dafür würde sie sorgen.
„Ach, das hätte ich fast vergessen“, sagte ihr Dad abrupt. „Deine Mutter hat angerufen. Sie möchte, dass du zu Hause vorbeikommst, bevor du irgendwo anders hinfährst.“ Er runzelte die Stirn. „Sie klang merkwürdig. Hat mir aber versichert, dass alles in Ordnung ist.“
Abbie nickte und lächelte wieder. „Ich bin schon auf dem Weg.“ Ihre Mutter störte nur selten bei der Arbeit. Abbie hoffte inständig, dass nichts passiert war. Drei Tage nach Abbies dreizehntem Geburtstag war ihre Mutter in einen schrecklichen Autounfall verwickelt gewesen. Sie hatte zwar überlebt, war aber seitdem gehbehindert und brauchte einen Stock zum Laufen. Trotzdem steckte sie voller Optimismus.
Abbie hatte sich diesen Optimismus zu eigen gemacht. Er half ihr, die schweren Tage zu überstehen, seit sie vor langer Zeit gelernt hatte, dass es gute Feen genauso wenig gab wie edle Ritter, und dass jeder das bekam, was das Schicksal für ihn vorgesehen hatte.
Doug klingelte ein drittes Mal. Neben ihm auf der breiten Veranda zog Mr. Thurston, der Anwalt der D’Martines, seine Krawatte zurecht. Er wirkte ungehalten, weil nicht gleich beim ersten Mal geöffnet worden war und er warten musste.
„Wir hätten die Frau vorher doch nicht anrufen sollen“, schimpfte Thurston.
Doug ignorierte den überheblichen Anwalt und machte sich stattdessen mit der Umgebung vertraut. Das Haus der Harpers war ein schmucker kleiner Bungalow mit einer einladenden Veranda. Hier fühlte sich vermutlich jeder sofort wohl. Nun, verbesserte sich Doug, jeder, nur nicht ein Mann wie Thurston.
Wie das Haus war auch der Garten außerordentlich gepflegt. Farbenfrohe Stiefmütterchen in schönen Töpfen säumten die vier Stufen zur Veranda.
Schließlich wurde die Tür geöffnet, und eine zarte Frau mit einem Stock in der rechten Hand, ohne den sie offensichtlich nicht stehen konnte, blickte sie prüfend an. „Was wollen Sie?“
Millicent Harper. Er erkannte sie aus den Unterlagen.
„Mrs. Harper“, sagte Thurston und lächelte gezwungen. Er reichte ihr seine gepflegte Hand. „Ich bin Brandon Thurston, Anwalt der Familie D’Martine. Und das ist Mr. Cooper“, er deutete vage auf Doug. „Er hat mit Ihnen telefoniert.“
Millicent Harpers Haltung wurde noch wachsamer, als der Name D’Martine fiel. Sie machte keine Anstalten, dem Anwalt die Hand zu schütteln. „Was wollen Sie?“, wiederholte sie.
„Mrs. Harper, wir würden gern hereinkommen. Wir müssen etwas sehr Wichtiges mit Ihnen besprechen. Ich denke, Sie wissen, worum es geht.“
Sie nickte benommen. Doug konnte sich vorstellen, wie sie sich in diesem Moment fühlte. Ein Geist aus der Vergangenheit tauchte nach fünfundzwanzig Jahren in der Gegenwart auf und drohte ein Leben durcheinanderzubringen, das mit dieser Vergangenheit nichts zu tun hatte.
Im Haus sah Doug sich neugierig um. Wie das Äußere des Hauses war auch das Zimmer gepflegt und anheimelnd. Fotos von Abigail Harper zierten den Kaminsims und die Wände. Die Harpers waren ganz offensichtlich stolz auf ihr einziges Kind.
„Was wollen Sie von mir?“ Die Angst war ihrer Stimme deutlich anzumerken.
„Mrs. Harper“, sagte Doug, bevor der arrogante Anwalt neben ihm die Sache noch schlimmer machte. „Wir sind wegen Ihrer Tochter Abigail hier.“
Millicents Augen weiteten sich, und sie schnappte hörbar nach Luft. „So?“
Doug nickte. „Ja, Ma’am. Wir glauben, dass Abigail die Tochter des verstorbenen Edouard D’Martine ist. Können Sie das bestätigen?“ Bevor sie etwas sagen konnte, fügte Doug hinzu: „Natürlich sind schon Maßnahmen ergriffen worden, die unsere Vermutung untermauern.“ Eine DNA-Probe war bereits ohne Abigails Wissen genommen worden. Nicht gerade ein ehrliches Vorgehen, doch die Tat war vollbracht, und es war relativ einfach gewesen.
„Bevor ich Ihnen etwas sage, muss ich mit meiner Tochter sprechen.“
„Mrs. Harper“, drängte Thurston. „Wir wissen alles, was wir wissen müssen. Aber es gibt einiges, was Sie wissen sollten.“
Sie schüttelte den Kopf, Tränen schimmerten in ihren Augen. Doug hasste diesen Auftrag. Sie waren im Begriff, das sorgfältig aufgebaute Leben dieser Frau auseinanderzupflücken. Was, wenn der Ehemann es nicht wusste? War das möglich? Doug empfand Mitleid. „Wir wollen Ihnen keine Probleme bereiten, Ma’am“, sagte er schnell. „Wir wollen Ihrer Tochter helfen.“
Sie hob beide Hände, um die Männer zum Schweigen zu bringen. „Ich muss zuerst mit meiner Tochter sprechen. Wir können uns später unterhalten.“ Sie sah Doug an. „Bitte.“
Doug warf ihr einen beruhigenden Blick zu. „Natürlich. Sie finden uns in der Pension.“
Millicent nickte erleichtert. „Ich rufe Sie an, sobald ich meiner Tochter alles erzählt habe.“
„Was willst du mir erzählen?“
Drei Augenpaare blickten zur Tür.
Abbie blickte von Thurston, der erst in diesem Moment aufstand, zu Doug und dann zu ihrer Mutter. „Wer sind diese Männer? Und was willst du mir sagen?“
Im Raum herrschte Totenstille.
Millicent sah zu Doug. „Bitte“, drängte sie.
Doug nickte und lächelte Millicent und Abbie an. „Sie wissen, wo Sie uns erreichen“, erinnerte er ihre Mutter. Dann schob er einen immer noch sprachlosen Thurston zur Tür.
Thurston blieb dort wie angewurzelt stehen. Er konnte den Blick nicht von der jungen Frau wenden, die einen Schritt zur Seite getreten war und darauf wartete, dass sie vorbeigingen.
„Meine Güte“, murmelte Thurston.
„Lassen Sie uns gehen“, drängte Doug und schob den Anwalt in Richtung Flur. Die Ähnlichkeit zwischen Abbie und ihrer Großmutter D’Martine war tatsächlich frappierend. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich hier herumzudrücken und zu gaffen.
Abbie blickte den beiden Fremden mit gemischten Gefühlen nach. Teilweise, so gestand sie sich ein, lag es an der hautnahen Begegnung mit dem tollen Mann, über den Irene und ihre Freundinnen sich ausgelassen hatten. Dann war da aber noch etwas, was sie nicht benennen konnte. Worüber hatten diese Männer mit ihrer Mutter gesprochen? Ihr Blick wanderte zurück zu ihrer Mutter, die in ihrem Lieblingssessel saß, und ihre Anspannung wuchs. Milly wirkte ängstlicher, als Abbie sie je in ihrem Leben gesehen hatte.
„Was ist passiert? Was wollten diese Leute?“
Sie eilte an Millys Seite und ging neben dem Sessel in die Hocke. „Bitte, Mom, erzähl mir, was passiert ist.“
Milly nickte. „Es gibt etwas, was ich dir schon lange hätte sagen müssen.“ Sie räusperte sich. „Aber aus ganz selbstsüchtigen Gründen habe ich es nicht getan. Jetzt wird es umso schwieriger.“
Abbies Verwirrung wuchs mit jeder Sekunde. „Wovon zum Teufel sprichst du?“
Milly seufzte tief und begann: „Vor sechsundzwanzig Jahren machte ich meinen Abschluss an der Highschool, und ich dachte, mir läge jetzt die Welt zu Füßen.“ Sie zuckte mit einer Schulter. „Meine Familie hatte nicht viel Geld, aber das konnte mich nicht aufhalten. Ich habe ein Stipendium bekommen und ging an ein teures College in Boston. Als Kellnerin habe ich mir noch etwas Geld dazuverdient.“ Ihr Blick ging ins Leere. „Alles lief bestens.“
Lange sagte Milly nichts. Abbie spürte, dass sie in Erinnerungen schwelgte. Warum hatte sie diese Geschichte nie gehört? Sie hatte nicht einmal gewusst, dass ihre Mutter ein College besucht hatte, geschweige denn, dass es eine teure Einrichtung in Boston gewesen war.
„Dann habe ich jemanden kennengelernt.“ Die Unsicherheit kehrte zurück. „Er war etwas älter als ich und im letzten Semester an der juristischen Fakultät.“ Sie lächelte abwesend. „Wir haben uns sofort ineinander verliebt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es war fast wie ein Märchen. Er war der schöne Prinz und ich das einfache Mädchen, das sein Herz erobert hatte.“
Abbie war plötzlich ganz hingerissen von der Geschichte und vergaß die Fremden, die sie im Wohnzimmer angetroffen hatte. „Mom, du hast mir nie erzählt, dass du vor Dad einen anderen Mann geliebt hast.“
Milly sah Abbie kurz an. „Nun, wir haben alle unsere Geheimnisse.“
Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort: „Wir hatten alles geplant. Nach seinem Examen wollten wir heiraten.“ Ihr Blick huschte zu Abbie. „Seine Eltern wären nie damit einverstanden gewesen, dass er ein einfaches Mädchen wie mich heiratet. Aber es war ihm egal. Wir waren verliebt, und nur das zählte.“
Abbies Herzschlag beschleunigte sich. Ungeduldig wartete sie, wie die Geschichte weiterging.
„Er wollte in den Semesterferien nach Hause fahren. Bis zu seinem Abschluss waren es nur noch ein paar Wochen.“ Sie lächelte traurig. „Wir waren so glücklich. Ich hatte es ihm gesagt … er wollte seinen Eltern die Nachricht überbringen und dann zu mir zurückkehren. Er wollte nicht einmal mehr bis zum Examen warten …“ Ihre Stimme zitterte, dann erstarb sie. Schließlich sprach sie mit gepresster Stimme weiter. „Er ist nie zu Hause angekommen.“
„Oh mein Gott.“ Abbie nahm die Hand ihrer Mutter. „Was ist passiert?“
„Er wurde gekidnappt. Die Kidnapper forderten ein hohes Lösegeld, doch es kam nicht zur Übergabe. Niemand konnte es verstehen, bis … seine Leiche gefunden wurde.“
„Wie grauenhaft. Es tut mir so leid, Mom.“ Dann fragte sie: „Was meintest du damit, du hattest es ihm gesagt? Warum wollte er nicht mehr bis zum Examen warten?“
Milly sah ihre Tochter an, und Abbie ahnte die Wahrheit, bevor ihre Mutter etwas sagte. „Ich habe ihm gesagt, dass ich schwanger bin … mit dir. Deshalb waren wir so glücklich.“
Abbie lief es kalt über den Rücken, dann wurde ihr heiß. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Sie dachte an den Mann, den sie als ihren Vater kannte … an alles, was er für sie getan hatte … an das, was er für sie war. „Das kann nicht sein. Daddy …“
„Kennt die Wahrheit“, unterbrach Milly sie. „Er wusste es von Anfang an, und er war bereit, dich als sein eigenes Kind anzunehmen, wenn er nur den Rest seines Lebens mit uns verbringen konnte. Er war schon zu Schulzeiten in mich verliebt. Ich danke Gott jeden Tag für diesen wundervollen Mann. Er hat mich davor bewahrt, den Verstand zu verlieren.“
Abbie wusste nicht, was sie denken sollte. Es war verrückt. Sie war Abbie Harper, Tochter von Milly und Harvey Harper. Die Geschichte, die sie gerade gehört hatte, konnte einfach nicht wahr sein.
Doch dann gingen ihr plötzlich viele Anzeichen durch den Kopf. Die Tatsache, dass jeder versucht hatte, irgendeinen Vorfahren der Harpers ausfindig zu machen, mit dem Abbie Ähnlichkeit hatte. Die helle Haarsträhne, die sich von der Stirn aus durch ihr rotblondes Haar zog. Ihre Mutter hatte hellbraune und ihr Vater schwarze Haare gehabt. Jetzt waren beide grau. Die braunen Augen ihrer Eltern, während sie selbst blaue hatte. Sicher, immer hatte es irgendeinen Vorfahren bei den Harpers oder auch den Talkingtons gegeben, der dafür verantwortlich gemacht werden konnte.
Abbie hatte das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen.
„Du willst also sagen, dass dieser Edouard in Wirklichkeit mein Vater ist?“ Sie schüttelte den Kopf. „Warum habt ihr es mir nicht gesagt? Ich bin fast fünfundzwanzig Jahre alt. Habt ihr geglaubt, ich würde mit der Wahrheit nicht fertig? Hatte Daddy Angst, ich würde ihn dann nicht mehr so sehr lieben? Meine Güte, er ist mein Vater. Und an meinen Gefühlen für ihn wird sich nichts ändern.“ Sie sah ihre Mutter an. „Oder für dich.“
Tränen rollten über Millys Wange, und Abbie bedauerte sofort ihren barschen Ton.
„Tut mir leid, Mom. Bitte erzähl mir den Rest der Geschichte.“
Milly nickte und wischte sich die Tränen weg. „Der Grund, weshalb ich dir nichts erzählt habe, ist, dass ich Angst hatte.“
„Angst?“
„Ich hatte Angst um dein Leben. Edouard war der Alleinerbe eines riesigen Vermögens. Da er nicht mehr lebte, wärst du als seine Tochter die Erbin gewesen. Ich wollte nicht riskieren, dass dir dasselbe passiert wie ihm.“
Eine halbe Stunde später parkte Abbie vor Ada’s Boardinghouse, einem alten viktorianisches Haus, das die Garrett-Familie seit Generationen als Pension betrieb. Ada beherbergte zudem zwei Dauergäste: Jesse Partin und Mavis Reynolds. Laut Ada nahmen die Garretts seit Generationen Dauergäste auf, um die Gemeinde zu unterstützen. Die meisten Einwohner des Ortes waren sich jedoch sicher, dass Ada einfach die Extraeinnahme gefiel.
Auf halbem Weg zur Eingangstür blieb Abbie abrupt stehen. Was, wenn die Geschichte über ihren biologischen Vater schon Thema in der Stadt war? Wenn einer der Männer Ada davon erzählt hatte … nicht umsonst wurde sie das Radio genannt.
Abbie nahm all ihren Mut zusammen und lief die Treppe hinauf. Ohne zu zögern trat sie ein und lächelte, als Ada von ihrem antiken Schreibtisch aufblickte, der in der Eingangshalle stand und als Rezeption diente.
„Guten Tag, Abbie“, flötete Ada. „Was führt Sie hierher?“ Ihr freundliches Lächeln verwandelte sich in einen mürrischen Blick. „Hat dieser verdammte Jesse Partin schon wieder wegen seiner Toilette bei Ihnen angerufen?“
Abbie rang sich ein Lächeln ab. „Keine Sorge, Miss Ada, Mr. Partin hat nicht angerufen. Ich möchte zu Ihren beiden Gästen.“
„Was Sie nicht sagen.“ Sie betrachtete Abbie eingehend. „Zu welchem möchten Sie? Zu dem jungen Mann oder zu dem in dem teuren Anzug? Ich habe den beiden Herren die schönsten Zimmer gegeben, die ich habe. Eigentlich kann sich keiner beschweren.“
„Zu dem jüngeren“, sagte Abbie kurz.
Ada lächelte verschwörerisch. „Erste Tür rechts.“
Abbie bedankte sich und lief zur Treppe.
„Wo ist Ihr Werkzeugkasten?“, fragte Miss Ada plötzlich.
Abbie blieb stehen, überdachte ihre Möglichkeiten und entschied sich für die Wahrheit. „Diesmal brauche ich mein Werkzeug nicht.“
„Sagen Sie diesem Städter, dass er mir Bescheid sagen soll, falls irgendetwas nicht in Ordnung ist!“, rief Ada hinter ihr her.
„Natürlich“, gab Abbie zurück. Sie hatte vor, dem Mann noch viel mehr zu sagen als das, aber das musste Ada nicht unbedingt wissen.
Abbie klopfte entschlossen an die Tür. Sie dachte darüber nach, wie merkwürdig das Schicksal manchmal sein konnte. Vor einer Stunde hatte sie noch in Miss Ellas Küche gestanden und den vier Kupplerinnen zugehört, die sich über Abbies nicht existierendes Liebesleben und den attraktiven Fremden in der Stadt unterhielten. In dem Moment hatte sie noch nicht geahnt, dass gerade dieser Fremde ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen würde.
„Miss Harper“, sagte der Mann, als hätte er nicht damit gerechnet, sie zu sehen. Er blickte an ihr vorbei, dann nach rechts und nach links. „Sie sind allein hier?“
Was hatte er erwartet?
„Ich möchte mit Ihnen reden. Unter vier Augen.“
„Natürlich.“ Er trat zurück. „Kommen Sie herein.“
Abbie blickte sich in dem Zimmer um, als sich die Tür hinter ihr schloss. In einer Ecke des Raumes gab es vor einem Doppelfenster eine kleine Sitzecke mit einem Fernseher. Auf der gegenüberliegenden Seite standen ein Doppelbett mit Nachttischen und ein wunderschöner Schreibtisch. Mit der handgearbeiteten Tagesdecke und den duftigen Gardinen wirkte der Raum sehr behaglich. Was für ein Kontrast zu dem Mann, der in jeder Hinsicht wie der internationale Spitzel aussah, für den der Club der Damen ihn hielt.
„Bitte nehmen Sie Platz.“ Der Mann deutete auf die gemütlichen Sessel um den kleinen Tisch herum.
Abbie setzte sich. Plötzlich verließ sie der Mut.
„Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?“, bot er an.
Sie schüttelte den Kopf. Auf einmal hatte sie das Gefühl, als würde ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt, und das lag nicht nur an dem, was ihre Mutter erzählt hatte, sondern an dem Mann selbst. Er hatte etwas an sich, was sie völlig aus dem Gleichgewicht brachte.
Reiß dich zusammen, sagte sie sich. Der Gedanke, welchen Kummer es ihrer Mutter und ihrem Vater bereiten würde, wenn die Geschichte an die Öffentlichkeit kam, ließ das Feuer in ihr wieder aufflackern, das so plötzlich erloschen war, als sie dem rätselhaften Fremden gegenüberstand.
„Wer sind Sie?“, fragte sie. Die ersten vernünftigen Worte, die über ihre Lippen gekommen waren, seit der Mann die Tür geöffnet hatte.
Er setzte sich neben sie. Seine Freizeithose und das blaue Hemd wirkten auch zu dieser späten Nachmittagsstunde so tadellos und faltenfrei, als seien die Sachen gerade gewaschen und gebügelt worden. Die Haare waren perfekt gestylt, nur die ersten Bartstoppeln zeigten sich.
„Mein Name ist Doug Cooper“, sagte er ruhig und freundlich mit dunkler, wohltönender Stimme. „Ich arbeite für die Colby Agency, eine Privatagentur für Personenschutz, die ihren Sitz in Chicago hat.“
Abbie war verwirrt. Personenschutz?
„Was wollen Sie?“
„Ihre Mutter hat Ihnen von Ihrem biologischen Vater erzählt“, mutmaßte er.
Sie war froh, dass er den Ausdruck „biologischer Vater“ benutzte, denn Harvey Harper war ihr Vater, und nichts würde das ändern. „Ja.“
„Dann wissen Sie auch, dass er der Erbe eines großen Vermögens war und dass sein Tod nicht aufgeklärt worden ist.“
Sie musste zugeben, dass ihr das leidtat. Niemand verdiente es, ermordet zu werden. Aber außer dass er der Samenspender und die erste Liebe ihrer Mutter gewesen war, verstand sie immer noch nicht, was das mit ihr zu tun hatte.
„Ja, aber welche Rolle spiele ich darin?“
„Solange D’Martine, Ihre Großmutter väterlicherseits, möchte Sie kennenlernen. Sie sind alles, was ihr von ihrem Sohn geblieben ist.“
„Schön, dass sie auch mal Interesse zeigt“, entgegnete Abbie wütend. „Wo war sie, als mein Blinddarm entfernt werden musste, mein Vater drei Tage lang nicht arbeiten konnte und die Arztkosten sich anhäuften? Oder als meine Mutter fast bei einem Autounfall ums Leben kam?“
Doug verstand ihre Wut. Sie war verwirrt und verletzt. „Ihre Großmutter hat erst kürzlich von Ihrer Existenz erfahren.“
Sie schnaubte verächtlich. „Und das ist die Schuld meiner Mutter, richtig? Ich hoffe, sie weiß auch, dass meine Mutter nur versucht hat, mich zu schützen.“
„Mrs. D’Martine wird das besser verstehen als jeder andere Mensch“, versicherte Doug ihr hastig. „Deshalb bin ich hier.“
Abbie kniff die Augen zusammen, genau wie ihre Großmutter. Die junge Frau würde sich auf etwas gefasst machen müssen. Der weiße Haarschopf in der rotblonden Mähne. Die stahlblauen Augen, der durchdringende Blick. Die Nase … das Kinn. Alles. Abigail Harper war ihrer Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten und wusste es nicht einmal.
„Was soll das heißen?“, fragte sie.
„Als Ihre Großmutter von Ihrer Existenz erfuhr, fürchtete sie sofort um Ihre Sicherheit. Die D’Martines besitzen ein Milliardenvermögen. Als Erbin dieses Vermögens ist Ihre Sicherheit oberste Priorität. Es gibt eine Menge Menschen da draußen, die gern etwas von diesem Geld hätten. Wenn die Geschichte an die Öffentlichkeit kommt, und glauben Sie mir, das wird sie, sind Sie eine wandelnde Zielscheibe.“
Er sah, dass ihre Augen größer wurden. Schließlich schüttelte sie den Kopf. Ungläubig. Konsterniert.
„Erbin? Ich bin keine Erbin, sondern nur eine Klempnerin. Ich will keine Erbin sein. Ich will einfach nur, dass meine Familie in Ruhe gelassen wird.“
Doug beugte sich in ihre Richtung. „Ich fürchte, Sie verstehen nicht, Miss Harper. Es geht nicht darum, was Sie wollen oder nicht wollen. Sie sind die Erbin des D’Martine- Schmuckimperiums. Es ist Ihr Geburtsrecht.“
Sie sprang auf und lief im Zimmer auf und ab. Doug beobachtete sie. Er beneidete sie nicht. Diese ganze Geschichte war schwer zu verdauen.
Sie blieb abrupt stehen und sah ihn an. „Was ist mit diesem anderen Mann? Dem im Anzug?“
Doug entspannte sich. „Mr. Thurston. Er ist der Anwalt von Mrs. D’Martine. Seine Aufgabe ist es, Sie über Ihre Rechte und Pflichten als ein Mitglied der Familie D’Martine zu informieren.“
„Pflichten? Welche Pflichten?“
Doug zuckte mit den Schultern. „Ihre Großmutter möchte Sie mit dem Familienunternehmen vertraut machen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Es gibt schon einen Familienbetrieb, um den ich mich kümmern muss. Mehr brauche ich nicht.“
Doug stand auf und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Natürlich, aber Sie sollten Ihre Möglichkeiten genau überdenken. Sie und Ihre Familie wären für den Rest des Lebens finanziell abgesichert.“ Er musste beinahe lachen, so sehr hatte er untertrieben. „Die Wahrheit ist, Miss Harper …“
„Abbie“, korrigierte sie.
Er nickte. „Abbie. Nicht einmal die Enkel Ihrer Enkel müssten sich Gedanken um Geld machen. Ich weiß nicht, ob Sie die Sachlage ganz begriffen haben. Sie können das Erbe nicht einfach ablehnen.“
Am liebsten hätte er ihr seine eigene Geschichte erzählt und ihr versichert, dass gerade er verstehen konnte, was sie im Moment durchmachte. Doch er durfte das Risiko nicht eingehen. Er hatte so hart daran gearbeitet, sich von der Vergangenheit zu lösen. Da konnte er nicht alles für Abbie Harper aufgeben. Sie war eine starke Persönlichkeit, sie würde ihren Weg gehen. Sein Job war es, für ihre Sicherheit zu sorgen und ihr ein paar Ratschläge mit auf den Weg zu geben.
„Ich muss mit meinem Vater sprechen“, sagte sie und ging an die Tür.
„Ich gehe mit Ihnen.“ Doug schnappte sich seine Jacke.
„Ich muss allein mit ihm reden.“
„Keine Sorge. Das sollen Sie auch. Ich lasse Ihnen genug Privatsphäre. Aber ich bin ab sofort für Ihre Sicherheit verantwortlich, und ich nehme meinen Job ernst.“
Ungläubig sah sie ihn an. „Das soll ein Witz sein, oder?“
„Was meine Arbeit betrifft, mache ich nie Witze, Abbie.“ Er trat neben sie. „Solange ich keine anderen Anweisungen von meiner Auftraggeberin Mrs. D’Martine bekomme, bin ich rund um die Uhr, sieben Tage die Woche in Ihrer Nähe.“
Abbie gab sich geschlagen. „Miss Mattie hatte recht“, sagte sie müde. „Sie sind ein Spitzel.“
„Was hat das zu bedeuten?“
Abbie starrte den Anwalt an, der ihr den Weg versperrte, als sie Dougs Zimmer verlassen wollte. Hoffentlich würde Doug dafür sorgen, dass der Mann sie in Ruhe ließ. Sie war noch nicht bereit, mit dem Rechtsvertreter der Familie D’Martine zu sprechen. Erst musste sie einige Dinge mit ihrer eigenen Familie regeln.
„Wohin gehen Sie?“, fragte Thurston. „Warum wurde ich nicht informiert, dass sie …“, er warf Abbie einen verärgerten Blick zu, „… hier ist?“
Doug hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Gott sei Dank, dachte Abbie. Zweifellos stand Miss Ada am Ende der Treppe und versuchte jedes einzelne Wort zu verstehen.
„Nicht jetzt und hier“, sagte Doug mit fester Stimme. „Wir sind in ein paar Stunden zurück, und vielleicht ist Miss Harper dann bereit, mit Ihnen zu sprechen.“
„Entschuldigen Sie bitte“, protestierte Thurston aufgebracht. „Als der bevollmächtigte Repräsentant Ihres Auftraggebers …“
Doug beugte sich zu dem Mann, den er um einiges überragte. „Nicht … jetzt.“ Er trat zurück und gab Abbie ein Zeichen, ihm zur Treppe zu folgen. „Ich melde mich bei Ihnen, Mr. Thurston.“
Auch ohne sich umzudrehen, wusste Abbie, dass der Anwalt nicht glücklich darüber war. Sie seufzte erleichtert auf.
„Das hat ja nicht lange gedauert“, sagte Ada triumphierend, als die beiden die Treppe hinunterkamen. „Ich hoffe doch, alles ist in Ordnung.“
Bevor Abbie etwas sagen konnte, erwiderte Doug charmant: „Alles in bester Ordnung, Miss Garrett.“ Er blieb an der Tür stehen, wo Abbie schon auf ihn wartete. „Vor allem, seit Miss Harper meine Einladung zum Dinner angenommen hat.“
Ada fielen fast die Augen aus dem Kopf. „Dinner? Oh!“ Sie legte die rechte Hand an die Wange. „Dann einen schönen Abend.“
Zufrieden lächelnd hielt Doug, ganz der Gentleman, Abbie die Tür auf. Wahrscheinlich meinte er, jede Spekulation über den tatsächlichen Grund seiner Anwesenheit im Keim erstickt zu haben.
Stattdessen hatte er gerade Meadowbrooks berüchtigten Kupplerinnen neuen Stoff geliefert. Abbie konnte fast hören, wie Ada aufgeregt mit Ella oder Irene oder vielleicht auch Minnie und Mattie telefonierte. Die Neuigkeit, dass sie eine Verabredung zum Dinner hatte, sprach sich ohne Zweifel schon in diesem Moment herum.
„Ich hoffe, Sie nehmen mir nicht übel, dass ich mir diese kleine Freiheit herausgenommen habe. Ich war sicher, dass Sie die wahre Geschichte im Moment noch geheim halten wollen. Deshalb war es besser, Miss Garrett eine irreführende Information zu geben. Als Ablenkung sozusagen.“
Abbie hätte fast laut gelacht. „Wenn Sie wüssten!“
Doug dachte noch über Abbies Bemerkung nach, als er hinter ihrem Truck vor dem Haus der Harpers hielt. Er beobachtete, wie sie aus ihrem Wagen sprang und zu ihrem Vater eilte, der mit hängendem Kopf auf den Stufen zu seinem Haus saß. Sie setzte sich neben ihn.
Doug seufzte. Er blieb im Auto sitzen und beobachtete seinen Schützling von dort aus. Die sorglose junge Frau hatte keine Ahnung, wie sehr sich ihr Leben verändern würde. Nichts würde wie früher sein. Sobald die Presse Wind von der Geschichte bekam, gehörte Abbies Privatleben der Vergangenheit an.
„Will der junge Mann nicht aussteigen?“, fragte ihr Vater.
Abbie schüttelte den Kopf. „Er hat versprochen, mich mit dir allein zu lassen.“
Sie war wirklich froh, dass Mr. Cooper sein Wort hielt, denn sie brauchte diesen Moment mit ihrem Vater. Musste ihn und sich selbst beruhigen.
„Ist mit Mom alles okay?“, fragte sie. Als sie nach Hause gekommen war und ihren Vater auf den Stufen gesehen hatte, war sie fast in Panik geraten. Der Gedanke, dass ihrer Mutter etwas passiert sein könnte, während sie so eigensüchtig Antworten von Mr. Cooper verlangte, war ihr gar nicht gekommen.
„Ja. Sie hat sich hingelegt.“
Abbie nickte. „Das ist gut.“ Sie zog die Knie an und schlang die Arme darum. „Das ist alles so abenteuerlich, was?“
Ihr Vater nickte. „Aber es stimmt. Deine Mutter und ich wollten dich schützen, aber vielleicht hätten wir es dir vor langer Zeit erzählen sollen.“
„Ich will es jetzt nicht wissen“, sagte Abbie, „warum hätte ich es also früher erfahren sollen?“
Ihr Vater lächelte, und ihr wurde leichter ums Herz. Sein Blick ruhte auf ihr. „Wir lieben dich. Wir haben dich immer geliebt. Und wenn wir einen Fehler gemacht haben, dann war es aus Liebe.“
Sie umarmte ihren Vater. „Ihr habt keinen Fehler gemacht.“ Sie wich zurück und blinzelte durch die Tränen, die ihren Blick verschleierten. „Denk so etwas nicht, nicht eine Sekunde. Okay?“
Er nickte zögernd. „Aber deine Großmutter Solange hätte dir so viel mehr bieten können als wir.“
Abbie lachte, um nicht zu weinen. „Was soll ich denn mit einem Schmuckimperium anfangen? Wenn es ein Leck in Mrs. Fairbanks alter Toilette nicht stopft, wofür ist es dann gut?“
Ihr Vater rang sich ein gequältes Lachen ab, und das Schweigen zog sich in die Länge. Abbie hatte das Gefühl, dass er genauso wenig wie sie wusste, wie er die Unterhaltung fortsetzen sollte. Was sagte man bei einer Gelegenheit wie dieser?
„Weißt du, diese Sache löst sich nicht einfach in Wohlgefallen auf, weil du es so möchtest“, sagte er schließlich.
Sie nickte. „Ich weiß.“ Sie zog ihre Knie noch enger an den Körper. „Was soll ich tun?“
Ihr Vater kratzte sich am Kopf und überdachte die Frage. „Ich glaube, du bist es dir und deiner Großmutter schuldig, dass du sie kennenlernst.“
„Ich habe schon die beiden besten Großmütter, die man haben kann“, protestierte Abbie. „Wozu brauche ich noch eine?“
„Hör zu, Mädchen.“ Ihr Vater legte den Arm um ihre Schulter. „Du hast etwas Besseres verdient als ein Leben als Klempnerin.“ Als sie etwas entgegnen wollte, brachte er sie mit einem strengen Blick zum Schweigen. „Der Laden läuft schon lange nicht mehr. Ich hätte längst verkaufen und mich zurückziehen sollen.“ Er hob eine Schulter und ließ sie wieder fallen. „Ich habe nur deinetwegen weitergemacht. Aber warum soll ich mich noch länger mit dem alten Laden herumplagen? Deine Mutter und ich könnten uns mehr um den Garten kümmern oder sonst etwas tun.“ Er küsste sie auf die Stirn. „Was auch immer geschieht, ich weiß, dass du das Richtige tun wirst.“
Abbie spürte ein beklemmendes Gefühl in der Magengegend. Sie wusste, was ihr Vater bezweckte. Er wollte ihr den Weg ebnen. Ihr Vater liebte die alte Eisenwarenhandlung. Er wäre verloren, wenn er nicht jeden Morgen dorthin gehen könnte. Und ihre Mutter hasste Gartenarbeit. Schon vor ihrem Unfall hatte sie lieber genäht oder gestrickt als im Garten gearbeitet.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam ihr eine Idee. Ein Lächeln zog über Abbies Gesicht. Warum hatte sie nicht sofort daran gedacht?
Abbie umarmte stürmisch ihren Vater. „Dad, du bist ein Genie!“ Sie sprang auf und strahlte ihn an. „Sag Mom, dass ich zum Dinner nicht da bin. Ich muss etwas erledigen.“
Ihr Vater winkte ihr zum Abschied, als sie zu Mr. Coopers Geländewagen lief.
„Steht die Einladung zum Dinner noch?“, fragte sie den attraktiven Mann, der sie die ganze Zeit beobachtet hatte.
„Natürlich.“ Er schenkte ihr sein charmantes Lächeln.
„Gut, dann fahren wir jetzt zu mir nach Hause. Ich muss mich umziehen. An besten, Sie fahren einfach hinter mir her.“
Zehn Minuten später erreichten sie die Einfahrt zu ihrem Cottage. Das kleine Haus hatte einst ihren Großeltern Harper gehört, doch seit sie in ein Altenheim gezogen waren, wohnte Abbie hier. Sie liebte das Häuschen. Schon als Kind hatte sie davon geträumt, eines Tages hier zu leben.
Das kleine Steinhaus stand inmitten Schatten spendender Bäume. Vor dem Haus gab es ein kleines Rasenstück, hinter dem Haus eine Terrasse und Blumenbeete. Das Häuschen selbst bestand aus zwei winzigen Schlafzimmern, einem Bad, einem großzügigen Wohn-Essbereich und einer Küche. Sogar ein Kamin war vorhanden.
Abbie sprang aus ihrem Truck und rannte beinah fröhlich die Treppe hinauf zur Haustür. Die Antwort war so einfach. Vor lauter Erleichterung fühlte sie sich schon viel besser. Bevor sie ins Haus ging, holte sie noch die Post aus dem Briefkasten. „Rechnungen, Rechnungen, Rechnungen“, murmelte sie. Nichts, was sie heute Abend noch sehen wollte.
„Schönes Haus“, sagte Mr. Cooper, der ihr gefolgt war.
Trotz aller Aufregung am heutigen Tag, und obwohl er derjenige war, der ihr die verwirrende Nachricht überbracht hatte, erbebte Abbie beim Klang seiner Stimme. Weich wie Samt und unglaublich klangvoll. Sie schüttelte den Gedanken ab und steckte den Schlüssel ins Schloss.
„Danke. Es gehört meinen Großeltern. Ich darf hier wohnen, seit sie in ein Altenheim gezogen sind.“
Sie schaltete das Licht an und bat Mr. Cooper ins Haus. Neugierig sah er sich im Wohnzimmer um. Abbie hielt den Atem an. Welchen Eindruck machte das Haus auf einen Fremden? Noch nie hatte sie sich darüber Gedanken gemacht. Sie versuchte, den Raum mit seinen Augen zu sehen. Hohe Decken, Stuckarbeiten, Holzfußböden, auf denen dicke Teppiche lagen. Die Möbel waren abgenutzt und altmodisch … wahrscheinlich aus den Fünfzigerjahren. Sie war keine Innenarchitektin, sie kannte sich damit nicht aus. Aber wenn man ihr verschiedene Wasserhähne vorlegte, würde sie das Jahr der Herstellung und den Hersteller benennen können.
„Ich brauche nicht lange, Mr. Cooper“, sagte sie. „Fühlen Sie sich wie zu Hause.“
Er drehte sich zu ihr. „Doug. Bitte nennen Sie mich Doug.“
Sie nickte und rang sich ein Lächeln ab. „Ich bin sofort wieder da, Doug.“
Doug hatte jedes Foto und jede Gobelinstickerei in dem Wohnzimmer eingehend betrachtet. Er hatte sogar die Abendzeitung überflogen. Gerade als er den Fernseher einschalten wollte, um die Abendnachrichten zu sehen, kam Abbie endlich aus ihrem Schlafzimmer.
Das Warten hatte sich gelohnt. Sie sah toll aus.
„Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat“, entschuldigte sie sich, als sie vergnügt ins Wohnzimmer schwebte.
Der Anblick ihrer hellen Haut, der klassischen Frisur und des eng anliegenden schwarzen Kleides war total anregend. Allerdings waren die Gedanken, zu denen er inspiriert wurde, absolut unangebracht.
„Was ist los?“, neckte sie ihn. „Wundern Sie sich, dass ich ein Kleid besitze?“
Jedenfalls so ein Kleid, dachte er, sagte jedoch: „Bei einer Frau wundert mich nie etwas. Ich bin nur überrascht, dass Sie sich so viel Mühe für mich gegeben haben.“
„Das war keine Mühe.“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Aber es ist eben ein Tag voller Überraschungen.“
Stimmt, dachte er.
Nachdem er Abbie auf den Beifahrersitz seines Geländewagens geholfen hatte, setzte er sich hinter das Lenkrad. „Wohin?“
„Ins Randy’s.“
Kurz darauf saßen sie schon in Meadowbrooks schönstem Restaurant und hatten ihre Bestellung aufgegeben. An einem Mittwochabend war es nur mäßig besucht, aber die Atmosphäre war angenehm und ungezwungen.
Doug wartete darauf, dass sie ihn mit Fragen bombardierte, doch nichts geschah. Vielleicht hoffte sie darauf, dass er den ersten Schritt unternahm.
„Haben Sie irgendwelche Fragen zu dem, was ich Ihnen bisher erzählt habe?“
Sie betrachtete ihn einen Moment, dann sagte sie: „Ich habe nur eine einzige Frage.“
„Was möchten Sie wissen?“
„Was genau will Mrs. D’Mar… meine Großmutter von mir?“
„Sie möchte Teil Ihres Lebens sein. Sie möchte Sie kennenlernen und Sie mit dem Familienunternehmen vertraut machen.“
Abbie kniff die Augen leicht zusammen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das alles ist.“
Der Kellner kam, und Doug wartete, bis er ihnen den Salat serviert und sich wieder entfernt hatte, bevor er fragte: „Wie kommen Sie darauf?“
„Das wäre zu einfach. Sie erwartet doch sicher nicht, dass ich das Geschäft leite. Das Einzige, was ich über Schmuck weiß, ist, dass ich ihn mir nicht leisten kann.“
Doug lehnte sich zurück und betrachtete die hübsche Frau, die ihm gegenübersaß. „Die Vorstandsmitglieder und ein sehr kompetenter Geschäftsführer kümmern sich um das Tagesgeschäft. Abgesehen davon, was wollen oder erwarten Sie? Mir scheint, Sie haben eine Entscheidung getroffen.“ Er hatte tatsächlich das Gefühl, dass sie nach dem Gespräch mit ihrem Vater einen Entschluss gefasst hatte. Sie wirkte innerlich ruhiger als zuvor. Deshalb hat sie auch der Einladung zum Dinner zugestimmt, mutmaßte er.
„Ich habe beschlossen, dass ich, wenn ich wirklich die Erbin eines solchen Vermögens bin, zumindest meiner Familie helfen kann.“ Sie blickte ihn direkt an. „Meiner richtigen Familie.“
Der Zusatz war überflüssig gewesen. Er wusste, wen sie meinte. „Ich bin sicher, dass Mrs. D’Martine genau das von Ihnen erwartet.“
„Gut, denn nur, wenn es meiner Familie hilft, lasse ich mich auf die Sache ein.“
„Ihnen ist klar, dass ich Ihr ständiger Begleiter bin – Tag und Nacht –, bis ich andere Anweisungen bekomme, und dass noch einige Detailfragen geklärt werden müssen.“
Sie nickte zögernd. „Welche Details?“
Jetzt kam der schwierige Teil. „Ich werde Sie nicht vor der Presse schützen können, die sich wie die Aasgeier auf Sie stürzen wird, sobald die Sache bekannt wird. Im Interesse der D’Martines und auch in Ihrem eigenen müssen Sie darauf vorbereitet sein.“
Sie zog die Stirn kraus. „Was heißt das?“
„Als Mitglied einer Familie in dieser gesellschaftlichen Stellung wird von Ihnen einiges erwartet. Als Erbin haben Sie öffentliche Verpflichtungen und Auftritte.“
„Sie wollen damit sagen, dass ich mich, um meiner Familie zu helfen, wie eine D’Martine-Erbin kleiden und aufführen muss?“
„Genau.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Scheint logisch, aber ich habe keine Ahnung, wie sich diese Menschen benehmen. Ich bin einfach eine ganz normale junge Frau …“
Er hatte nicht damit gerechnet, dass es so einfach werden würde. „Sonst noch Fragen?“
Es dauerte einen Moment, bis sie antwortete. „Nur eine.“
„Welche?“
„Können Sie mir beibringen, wie ich mich als Erbin verhalten muss?“
„Es ist nicht zu spät“, widersprach sein Partner vehement.
Joe war anderer Meinung, doch er hörte trotzdem dem Mann am anderen Ende der Leitung zu.
„Ich habe vor fünfundzwanzig Jahren alles aufs Spiel gesetzt, und du hast versagt. Diesmal darf nichts schiefgehen. Es ist egal, dass sie einen Bodyguard hat. Alles, was wir brauchen, ist die richtige Ablenkung, und dafür sorgt schon jemand für uns.“
Ein Lächeln glitt über Joes Gesicht, als er verstand, was sein alter Freund meinte. „Sag einfach Bescheid, wenn es so weit ist.“ Er legte auf, ohne sich zu verabschieden. Wozu die Zeit mit Höflichkeitsfloskeln verschwenden. Die Beziehung zu seinem Partner wäre bald Vergangenheit. Joe hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden noch ein paar eigene Entscheidungen getroffen.
Wenn sie eine zweite Chance bekamen, und es sah ganz danach aus, würde es keine Fehler geben.
Und es würde auch niemanden geben, mit dem er das Geld teilen musste, wenn er es endlich in den Händen hielt.
Die Tage seines alten Freundes und Partners waren gezählt.
„Halt still!“
„Wie soll ich stillhalten, wenn meine Beine von der Anstrengung, deinen fetten …“
„Mattie“, warnte Minnie.
Mattie starrte ihre Zwillingsschwester böse an. Aber Minnie hatte recht. Wenn sie Irene nicht mit vereinten Kräften hochheben würden, damit sie über die hohe Hecke spähen konnte, dann würden sie nie erfahren, was sich in Abbies Haus abspielte. Und die vier Ladies würden vor Neugier sterben, wenn sie nicht endlich herausfanden, was der Fremde … dieser Spitzel mit ihrer armen süßen kleinen Abbie tat. Es war schon neun Uhr morgens, und Abbie war immer noch nicht zur Arbeit gefahren. Und Irene war ziemlich sicher, dass der junge Mann über Nacht geblieben war. Mattie erschauderte bei dem Gedanken. Nicht dass sie Abbie einen Vorwurf machte, aber der Mann war ein Fremder … könnte ein Krimineller sein. Aber was für ein unglaublich attraktiver!
Mattie verstärkte ihren Griff um Irenes linkes Bein. „Jetzt sag uns endlich, was da los ist“, forderte sie. „Ich weiß nicht, wie lange ich dich noch halten kann.“
Ella, die entspannt gegen Irenes Cadillac lehnte, zog genüsslich an ihrer Zigarre. Dann schnaubte sie: „Kannst du noch etwas anderes als meckern, Mattie? Ich kenne keinen Menschen, der so viel klagt wie du.“
Mattie zog die Augenbrauen hoch und sah Ella an. „Warum hilfst du eigentlich nicht?“
Ella verdrehte die Augen. „Du weißt doch genau, dass ich mit meinem schlimmen Rücken nichts heben darf.“
Minnie, die unter Irenes Gewicht fast zusammenbrach, sagte keuchend: „Wir wollen jetzt nicht darüber diskutieren, woher du diesen schlimmen Rücken hast.“
Ein triumphierendes Lächeln huschte über Matties Gesicht. Gut gemacht, Schwesterherz, freute sie sich insgeheim.
„Nur weil ich sieben Ehemänner hatte, bedeutet das nicht …“
„Pst“, warnte Irene. „Ich kann sie jetzt sehen.“
Irene beugte sich ein wenig vor und blickte mit einem Fernglas über die Hecke direkt in Abbies Küche.
„Was siehst du?“, zischte Mattie. Zum Glück war Mr. Curtis, Abbies Nachbar, nicht zu Hause. Er hätte bei dem Anblick der vier neugierigen Damen in seinem Vorgarten wahrscheinlich Stielaugen bekommen.
Minnie blies den Zipfel von Irenes Rock aus dem Gesicht und forderte: „Erzähl uns, was du siehst, Irene.“
„Die beiden Fremden sind da.“
Minnie machte große Augen.
„Der ältere“, fuhr Irene flüsternd fort, „der in dem Designeranzug, hat gerade seine Aktentasche geöffnet. Und der gut aussehende, junge Mann – der, der aussieht wie JFK Jr. …“
„Pierce Brosnan“, unterbrach Ella.
„Halt den Mund, Ella“, schimpfte Mattie. „Wir wollen wissen, was Irene sieht. Deine Meinung dazu interessiert im Moment nicht.“
Ella verdrehte wieder die Augen und blies den Rauch ihrer geschmuggelten Zigarre aus.
„Er spricht jetzt mit ihr.“ Ein verträumtes Seufzen. „Oh, wenn ihr nur sehen könntest, wie Abbie ihn ansieht! Er ist der Richtige. Ich weiß es einfach.“
„Ich habe ihn erst einmal gesehen, aber der Mann würde mir auch gefallen“, gab Ella ihren Senf dazu.
„Dir gefällt doch jeder Mann!“, spielte Mattie auf Ellas Verschleiß an Ehemännern an.
Ella richtete sich auf, ging zu Mattie und hielt ihr den knallrot lackierten Fingernagel vors Gesicht. „Hör mir zu, du arrogante …“
„Es reicht!“, fuhr Minnie dazwischen. „Wir müssen jetzt an Abbie denken und nicht an uns selbst.“
„Wollt ihr nun mehr hören?“, fragte Irene. Ihre Stimme klang geheimnisvoll, als sie fortfuhr: „Abbie hat einen Stift genommen. Vor ihr liegt ein Stück Papier.“
„Und?“
„Sie unterzeichnet es!“
Minnie, Mattie und Ella sahen von einer zur anderen.
„Jetzt steckt der im Anzug das Papier in seine Aktentasche“, berichtete Irene hektisch. „Und geht!“ Irene stieß einen leisen Schrei aus. „Er küsst sie gleich!“
„Was?“, fragte Ella und reckte den Hals.
„Wer küsst sie?“
„Der Alte?“
„Nein“, erwiderte Irene ungeduldig und blickte auf ihre drei Freundinnen hinab. „Der Junge.“ Sie starrte noch einmal durchs Fernglas. „Er … oh … ach, du meine Güte.“
Bevor Mattie auf Einzelheiten bestehen konnte, verlagerte Irene ihr Gewicht. Minnie schnappte nach Luft. Mattie konnte Irene nicht mehr halten, Minnie verlor das Gleichgewicht. Und dann gingen sie alle in einem Wust an Armen und Beinen zu Boden und überrollten Ella.
„Halten Sie noch einen Moment länger still“, murmelte Doug.
Wie sollte Abbie stillhalten, wenn bei seiner Berührung ein Prickeln durch ihren Körper ging? Sie schalt sich für ihre Reaktion, aber sie konnte es einfach nicht ändern. Er stand so nah, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte. Dezent und elegant und unglaublich männlich.
Er steckte den winzigen Mechanismus, nicht größer als die Spitze eines Radierstifts, hinter ihr Ohr und drückte ihn gegen ihre Haut. Dann trat er zurück und lächelte sie beruhigend an. „Das ist ein Sender, der uns immer Ihren Aufenthaltsort verrät.“
Sie kaute auf ihrer Unterlippe und überlegte. „Wenn mich also jemand entführt, dann können Sie mich mithilfe dieser Technik finden.“
Er nickte. „Genau.“
„Aha.“ Noch etwas beschäftigte sie. „Sind Sie wirklich sicher, dass das Dokument, das ich unterzeichnet habe, mich zu nichts verpflichtet, was ich später bereuen werde?“
„Absolut. Der Anwalt unserer Agentur hat den Text geprüft. Ich hätte Sie nicht ermutigt zu unterschreiben, wenn irgendwelche Dinge unklar gewesen wären. Mr. Thurston genießt einen ausgezeichneten Ruf, trotzdem überprüfen wir alles.“