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DIE KRÖNUNG UNSERES GLÜCKS von SHARON KENDRICK Millie ist glücklich: Gianferro, Thronfolger eines Fürstentums und Schwarm aller Frauen, macht ausgerechnet ihr einen Heiratsantrag! Doch die Freude wird bald getrübt: Der Prinz scheint es nur darauf abgesehen zu haben, schnell einen Erben zu bekommen ... VERLIEBT, PRINZESSIN? von VALERIE PARV Enttäuscht erfährt Prinzessin Adrienne, warum der vermögende Hugh Jordan in ihr Inselparadies gekommen ist: Er will ihrer Familie den berühmten Hengst Carazzan abkaufen! Adrienne muss glauben, dass Hughs leidenschaftlicher Kuss wohl nur aus Berechnung geschah … EINE KÖNIGLICHE AFFÄRE von MELANIE MILBURNE Cassie Kyriakis, die Königin von Aristo? Unmöglich. Trotzdem kann Kronprinz Sebastian nicht den Blick von ihr abwenden. Aber warum weicht sie ihm aus? Sebastian will den Grund wissen – und macht eine schockierende Entdeckung, die seinen Thron in Gefahr bringen könnte!
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Seitenzahl: 561
Sharon Kendrick, Valerie Parv, Melanie Milburne
JULIA ROYAL BAND 19
IMPRESSUM
JULIA ROYAL erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Neuauflage in der Reihe JULIA ROYAL, Band 19 08/2023
© 2005 by Sharon Kendrick Originaltitel: „The Future King’s Bride“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Susanne Hartmann Deutsche Erstausgabe 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA, Band 1758
© 2000 by Valerie Parv Originaltitel: „The Princess’s Proposal“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Michaela Rabe Deutsche Erstausgabe 2001 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA, Band 188
© 2009 by Harlequin Enterprises ULC Originaltitel: „The Future King’s Love-Child“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Gudrun Bothe Deutsche Erstausgabe 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA, Band 1923
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 08/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751516051
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Gianferro hatte seine Geliebten immer gut gewählt.
Neben Schönheit und Intelligenz suchte er vor allem Diskretion. Seit seinem achtzehnten Lebensjahr hatte es an Kandidatinnen für diesen inoffiziellen und wenig anerkannten Platz nie gemangelt. Darüber hatte sich niemand gewundert. Denn selbst ungeachtet der dunklen Augen, des gut aussehenden Gesichts, des kühlen, wachen Blicks und des durchtrainierten, schlanken Körpers – welche Frau sehnte sich nicht danach, von einem Prinzen geliebt zu werden.
Besonders da er eines Tages das Amt des Fürsten von Mardivino übernehmen würde, genoss Gianferro die Gunst der Frauen. Schon seit dem dreizehnten Jahrhundert regierte seine Familie das Fürstentum, das auf einer wunderschönen Mittelmeerinsel beheimatet war. Ein Prinz, der Schlösser, Flugzeuge, schnelle Autos und Rennpferde von Weltklasse besaß. Unermesslicher Reichtum lag in seinen Händen. Wer konnte es den Frauen verübeln, wenn sie diese Hände auf ihrem Körper spüren wollten?
Jetzt verfolgte er jedoch ein bestimmtes Ziel, das ihn beinah ängstigte. Weil vor ihm die vielleicht wichtigste Entscheidung seines Lebens lag. Länger konnte er das Unvermeidliche nicht aufschieben. Der Kronprinz suchte keine Geliebte, sondern eine Braut.
Und er musste die richtige Wahl treffen.
Inzwischen waren seine zwei Brüder verheiratet und hatten Nachwuchs bekommen, und darin bestand die Gefahr. Wenn Gianferro sicherstellen wollte, dass die Herrschaft von Mardivino in seine Linie überging, hatte er keine andere Möglichkeit, als zu heiraten.
Ihm war schwer ums Herz, während Gianferro sich in dem Schlafzimmer umsah, das ihm nach seiner Ankunft am Vortag zugewiesen worden war. Architektonisch unterschieden sich dieses Haus und der Regenbogenpalast grundlegend, aber es war dennoch ein sehr schönes Zimmer. Sehr englisch.
Die riesigen Sprossenfenster hatten Butzenscheiben, die das Licht aus vielen verschiedenen Winkeln einfingen und reflektierten, sodass der Raum so luftig wie ein Vogelkäfig wirkte. Gianferro verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. Einem Käfig, aus dem er höchstwahrscheinlich nicht freikommen würde.
Caius Hall hieß das herrliche Haus aus dem sechzehnten Jahrhundert. Hier wohnten die Schwestern de Vere, von denen er die ältere zu heiraten beabsichtigte. Lady Lucinda de Vere – liebevoll Lulu genannt – erfüllte alle Anforderungen, die Gianferro an eine künftige Gattin stellte. Von ebenso reinem Blut wie er, war sie obendrein auch noch blond und schön.
Ihre Familien kannten sich seit Jahren. Die Väter hatten gemeinsam studiert und waren in Kontakt geblieben, obwohl sie sich mit der Zeit zwangsläufig immer seltener trafen. Einmal hatte Gianferro sogar die Ferien auf dem Landsitz verbracht. Damals war eins der Mädchen noch ein Baby gewesen, daran erinnerte er sich.
Ende des vergangenen Jahres hatte er Lucinda bei einem Polomatch getroffen. Nicht zufällig. Die Begegnung war von einem Freund beider Familien arrangiert worden. Er erklärte Gianferro unverblümt, dass es höchste Zeit sei, eine geeignete Frau zu finden. Ohne zu überlegen, nahm der Kronprinz eine abwehrende Haltung ein. Trotzdem beeindruckten ihn Lulus Selbstsicherheit und auffallende Schönheit.
„Ich glaube, wir kennen uns, oder?“, fragte sie keck, als er ihr die Hand küsste. „Haben Sie nicht mal vor Jahren bei uns gewohnt?“
„Vor langer Zeit.“ Er runzelte die Stirn. „Ich erinnere mich daran, dass Sie damals dünne Zöpfe und Schleifen trugen.“
„Oh. Das klingt nicht sehr schmeichelhaft!“
Aber diese frühere Begegnung bot Gianferro eine gewisse Sicherheit, eine Basis, die für einen Mann in seiner Position sehr wichtig war. Lucinda de Vere war keine Fremde mit undurchsichtigen Motiven; er kannte ihre Familie und ihr Umfeld. Alle Beteiligten würden die Heirat gutheißen.
Nach dem kurzen Treffen sahen sie sich mehrmals auf Partys, die, wie Gianferro wusste, eigens zu diesem Zweck organisiert wurden. Manchmal fragte er sich, was wohl passieren würde, wenn er mit den Fingern schnippte und verlangte, dass ihm der Mond auf einem Tablett serviert wurde. Würden dann Astronauten von Mardivino aus ins All geschickt, um den Wunsch des Kronprinzen zu erfüllen?
Während der heimlich beobachteten Gespräche hatte stillschweigendes Einvernehmen über ihrer beider Bedürfnisse und Wünsche geherrscht. Er brauchte eine Ehefrau, die ihm einen Erben schenkte. Lucinda wollte Prinzessin sein. Davon träumten viele adlige junge Engländerinnen. So einfach war das.
Heute, nach dem Mittagessen, wollte Gianferro es offiziell machen. Und wenn diese unsichtbare Grenze erst einmal überschritten war, gab es kein Zurück. Dann würden hinter den Kulissen in Mardivino und England subtile Ränke geschmiedet und über die Heiratspläne verhandelt werden.
In wenigen Stunden würde er nicht mehr frei sein.
Gianferro erlaubte sich ein flüchtiges hartes Lächeln. Nicht mehr frei? Wann hatte er in seinem Leben jemals echte Freiheit erfahren? Ein Kronprinz konnte mit gutem Aussehen, Reichtum und Macht gesegnet sein, aber die Freiheiten, die die meisten Menschen für selbstverständlich hielten, lernte Gianferro niemals kennen.
Er blickte auf seine Armbanduhr. Das Mittagessen fand erst in einer Stunde statt, und das Warten machte ihn nervös. Andererseits hatte er keine Lust, schon nach unten in den Salon zu gehen und sich an dem Small Talk zu beteiligen, der ohnehin einen wesentlichen Bestandteil seiner gesellschaftlichen Verpflichtungen als Prinz ausmachte.
Vorsichtig schlüpfte er aus dem Zimmer und schlich lautlos einen der langen Flure entlang, bis er schließlich draußen war. Er atmete die herrliche englische Frühlingsluft ein wie ein Mann, der kurz vor dem Ersticken gestanden hatte.
Gelbe und weiße Narzissen schwankten im milden, duftenden leichten Wind, die Bäume blühten zuckerwatterosa und weiß. Um sie herum waren pfirsichblättrige Glockenblumen gepflanzt. Zauberhaft blau und herzzerreißend kurzlebig, dachte Gianferro, als er an dem Beet vorbeiging.
Den symmetrisch angelegten Garten verließ er und schlug einen Weg ein, der vom Haus nicht so gut einsehbar war. Langsam ging Gianferro auf die Felder und Hecken zu, die einen Teil des riesigen Landguts bildeten.
In der Ferne hörte er das Hufgetrappel eines auf ihn zugaloppierenden Pferdes. Einen kurzen, sehnsüchtigen Moment lang wünschte Gianferro, er würde jetzt auf seinem Pferd in gelöstem Tempo den mardivinischen Strand entlangreiten. So lange, bis er und sein Tier erschöpft waren.
Jetzt entdeckte er den über das Feld rasenden Falben. Ungläubig kniff Gianferro die Augen zusammen, als ihm klar wurde, dass der Reiter über die Hecke setzen wollte.
Er hielt den Atem an. Zu hoch. Zu schnell. Zu … Instinktiv wollte Gianferro „Halt!“ rufen. Doch er wusste, dass es nur noch gefährlicher werden könnte, wenn er das Pferd erschreckte.
Der Reiter trieb den Falben unbeirrt an. Es war einer jener wundervollen Momente, die man gelegentlich miterlebte und die sich nie wieder einfangen ließen. Mit einer der Schwerkraft trotzenden Bewegung setzte das Pferd in einem perfekten Bogen zum Sprung an. Für den Bruchteil einer Sekunde schien es in der Luft zu schweben, bevor es das Hindernis um Haaresbreite nahm.
Langsam stieß Gianferro den angehaltenen Atem aus, während er widerwillig den Mut des Reiters bewunderte, seine Kühnheit und …
Dummheit!
Gianferro war selbst ein so talentierter Reiter, dass er daran gedacht hatte, den Sport zu seinem Beruf zu machen. Wenn es der Zufall nicht gewollt hätte, dass Gianferro als Prinz auf die Welt kam, er hätte es getan.
Unwillkürlich folgte er den Hufabdrücken zu den Stallungen. Vielleicht würde er dem Jungen den Unterschied zwischen mutig und verrückt erklären. Und danach würde Gianferro ihn vielleicht fragen, ob er Lust hätte, in Mardivino als Jockey zu arbeiten. Ein Lächeln glitt über Gianferros Züge.
Erdiger Stallgeruch schlug ihm entgegen, als er sich dem offenen Tor näherte. Gianferro hörte nur das Schnauben eines Pferds und die sanfte, glockenhelle Stimme einer Frau, die genau das murmelte, was Frauen immer zu ihren Pferden sagten.
„So ein Süßer! Ein ganz Kluger bist du. Das war ein wirklich guter Sprung.“
Gianferro erstarrte.
Hatte eine Frau den Falben geritten?
Unter Missachtung jeglicher Höflichkeit betrat er gebieterisch den Stall, ohne um Erlaubnis zu fragen oder sich bemerkbar zu machen. Sofort entdeckte er das schmächtige junge Mädchen – ein Mädchen! –, das dem Pferd ein Pfefferminzplättchen zu fressen gab. „Sind Sie völlig verrückt?“
Erschrocken drehte sich Millie um. Ihr wurde erst heiß, dann kalt und dann wieder heiß. Natürlich wusste sie, wen sie vor sich hatte. Obwohl man ihr oft vorhielt, in höheren Sphären zu schweben, hatte selbst sie mitbekommen, dass ein Prinz bei ihnen wohnte. Und dass ihre Schwester Lulu fest entschlossen war, ihn zu heiraten.
Auf dem Gut wimmelte es von Schutzpolizisten und schwer bewaffneten Bodyguards. Millies Mutter hatte nachsichtig darüber geklagt, dass die beiden Mädchen, die als Hilfen aus dem Dorf geholt worden waren, noch nicht viel gearbeitet hatten. Kein Wunder, das Haus war voller Testosteron!
Indem sie Kopfschmerzen vorgeschützt hatte, konnte sich Millie erfolgreich davor drücken, dem Prinzen beim gestrigen Abendessen zu begegnen. Millie wäre es höchst peinlich gewesen, wenn sich ihre Schwester zur Schau stellte, als sei der Prinz der Meistbietende an einem Marktstand. Deshalb hatte Millie dem Ereignis entgehen wollen. Aber jetzt war er hier, und diesmal konnte sie ihm nicht entkommen.
Wie ein Prinz sah er überhaupt nicht aus in seiner eng sitzenden Hose und einem Hemd, das zweifellos aus Seide, allerdings am Hals lässig aufgeknöpft war. Sein schwarzes Haar glänzte, er war ebenso stark und muskulös wie die Stallburschen. Und er funkelte sie aus dunklen Augen vorwurfsvoll an.
„Ich habe gefragt, ob Sie verrückt sind“, sagte er gereizt.
„Ja, ich hab’s gehört.“
Sie sprach so leise, dass er sich anstrengen musste, um sie zu verstehen. Ihr Tonfall klang zudem äußerst respektlos. Wusste sie nicht, wer er war? Gianferro konnte sehen, dass sie der Ausritt und der tollkühne Sprung angestrengt hatten. Die dünne Bluse schien an ihren kleinen festen Brüsten zu kleben. Unerwartet wurde er erregt bei dem Anblick.
„Und? Sind Sie es?“
Millie zuckte die Schultern. Seit ihrer Kindheit bekam sie ständig zu hören, sie solle mit den Pferden weniger leichtsinnig umgehen. „Das hängt wohl davon ab, wie man es betrachtet.“
Ihre Augen waren groß und so blau wie die Blumen, die um die Bäume herum blühten. Sie hatte die reinste Haut, die Gianferro jemals gesehen hatte, ungeschminkt und dennoch mit dem Schimmer der natürlichen Frische einer sportlich aktiven Jugendlichen. Unwillkürlich fragte er sich, welche Farbe wohl ihr Haar hatte, das die Reitkappe verbarg. Sein Herz begann so heftig zu hämmern, dass er an kaum etwas anderes denken konnte.
„Sie reiten sehr gut“, räumte er ein. Ohne zu überlegen, ging er einige weitere Schritte auf sie zu.
Gerade noch konnte sich Millie davon abhalten zurückzuweichen. Seine Nähe machte sie fast benommen. Schwindlig. Er war so kräftig wie die Stallburschen, ja. Aber da war noch mehr, etwas, das ihr noch nie zuvor begegnet war. In Lulus Beschreibungen hatte „ihr“ Prinz farblos gewirkt, Millie stellte sich ihn deshalb wie ein Nichts mit Titel vor. Bis vor Kurzem. Zweifellos hatte Lulu seinen gefährlich sexy Gang verschwiegen und genauso sein schamlos selbstsicheres und herrisches Auftreten, auf das Millie jetzt mit heftigem Herzklopfen reagierte. Sie blickte ihm in die dunklen Augen und versuchte, sich zu konzentrieren.
„Danke.“
„Allerdings gehört derjenige bestraft, bei dem Sie gelernt haben, solche Risiken einzugehen“, fügte Gianferro finster hinzu.
Millie blinzelte. „Wie bitte?“
„Wenn Sie so weitermachen, werden Sie sich irgendwann umbringen. Dieser Sprung war reiner Leichtsinn.“
„Aber ich habe es geschafft! Und es war noch Platz übrig!“
„Eines Tages schaffen Sie es vielleicht nicht.“
„Mit so einer Einstellung kann man doch nicht sein Leben führen“, erwiderte Millie lässig. „In Watte gepackt, ständig in Sorge darüber, was alles passieren könnte. Wenn man ängstlich ist, lebt man nicht, man existiert nur.“
Dass seine Warnung sie überhaupt nicht beeindruckte, ließ Gianferro wehmütig lächeln. Ihre Sicht der Dinge machte ihn schwermütig. Wie lange war es her, dass er sich den Luxus gestattet hatte, so zu denken? „Sie sehen das so, weil Sie jung sind“, sagte er fast traurig.
„Während Sie wie ein würdevoller alter Mann denken?“, neckte sie ihn.
Er lachte laut auf. Dann wurde er reglos. Es kam ihm vor, als würde sich irgendetwas in den Stall einschleichen, etwas nicht Greifbares, das zwischen ihnen in der Luft knisterte wie die Flammen eines plötzlich ausbrechenden Feuers.
Als Millie Gianferros durchdringendem Blick standhielt, wogte wieder eine entkräftende Schwäche über sie hinweg. Zu Pferde fühlte sie sich furchtlos. Aber das Kribbeln, das sie jetzt durchlief, hatte sehr viel Ähnlichkeit mit Angst. Der abkühlende Schweiß auf der Haut ließ Millie frösteln.
„Ich sollte zusehen, dass ich hier fertig werde“, meinte sie verlegen.
„Wer sind Sie?“, fragte er unerwartet. „Eine von den Pferdepflegerinnen?“
Der Selbsterhaltungstrieb ließ sie mit der Antwort zögern. Wenn der Prinz sie für eine der Arbeiterinnen auf dem Gut hielt, würde er wie der Blitz den Stall verlassen. Und dann bin ich in Sicherheit, dachte Millie. Sicher vor diesem gefährlichen Blick und der unerhörten erotischen Ausstrahlung.
„Ja, bin ich“, erwiderte sie.
Gianferro fühlte sich wie ein zum Tode verurteilter Mann, dem man eine letzte Mahlzeit anbot. Er sah auf den schön geschwungenen Mund der Fremden und sehnte sich danach, sie so zu küssen, wie er noch nie eine Frau geküsst hatte. Und es später nie wieder tun würde.
Einen Moment lang blitzte ein kaltes, hartes Funkeln in seinen Augen auf. Für Millie stellte sich alles in diesem einen langen Blick dar. Obwohl sie so gut wie überhaupt keine Erfahrung mit Männern hatte, wusste sie, was sich zwischen den Geschlechtern abspielte. Deshalb war Millie völlig klar, was jetzt gerade im Prinzen vorging. Flüchtig empfand sie tiefes Mitgefühl für ihre Schwester. Was, wenn er immer wieder Affären hatte? Ein Serienehebrecher, wie es ihr Vater gewesen war? Lulu würde das ändern, sie würde damit fertig werden. Seit Jahren fraßen ihr die Männer schon aus der Hand, also warum nicht auch dieser? Aber er war anders, und nicht nur wegen seines Titels, das spürte Millie.
Mühsam holte sie Luft. Vor Millie stand ein wahrhafter Traummann – mächtig, stark und männlich –, sogar sie konnte das nicht ignorieren. Frauen würden sich immer von ihm angezogen fühlen. Plötzlich schien sich ihre Meinung um einhundertachtzig Grad zu drehen, und einen Moment lang beneidete Millie ihre Schwester.
Während sie die anmaßend vorgeschobenen Hüften ansah, merkte sie, dass sie rot wurde. Und sie hatte schreckliche Angst, dass er den Inhalt ihrer Gedanken erraten könnte. „Ich … ich sollte besser gehen“, stammelte sie.
Er antwortete wieder mit einem Lachen, doch diesmal hörte es sich bedauernd an. Darin schwang noch etwas anderes mit, das sie nicht deuten konnte.
„Ja, ab mit Ihnen, Kleine“, sagte er leise.
„Ich bin neunzehn!“, verteidigte sie sich gekränkt.
„Sie sollten trotzdem davonlaufen“, erwiderte er seidenweich.
Nach einem Blick in seine dunklen Augen tat Millie genau das: Sie rannte aus dem Stall, als würde der Prinz Jagd auf sie machen. Millie stürmte nach draußen in den Frühlingstag, den das Aprilwetter inzwischen verwandelt hatte: Fort war der strahlende Sonnenschein, Wolken waren aufgezogen und aufgerissen, es goss in Strömen. Ihre fieberhaft geröteten Wangen wurden von den Tropfen gekühlt, während Millie verwirrt zum Herrenhaus zurückging.
Völlig durchnässt lehnte sich Millie an die Mauer des Obst- und Gemüsegartens. Ihre Atmung normalisierte sich allmählich, aber ihr Herz hämmerte noch immer wie verrückt. Ihr war, als hätte der Prinz all ihre Gefühle aufgewühlt und durcheinandergebracht, sodass sie sich überhaupt nicht mehr wie Millie vorkam, sondern wie irgendeine zitternde Fremde.
Und sie musste noch das Mittagessen durchstehen.
„Millie, du kommst zu spät!“
Über dem Stimmengewirr der plaudernden Gäste konnte Millie deutlich die Verärgerung ihrer Mutter heraushören. Dazu erzogen, ihre Gefühle nur selten zu zeigen, trat sie gewöhnlich sehr beherrscht auf. Aber unter diesen besonderen Umständen – mit einer Tochter, die kurz davor stand, in eine Fürstenfamilie einzuheiraten – konnte auch die Countess aus der Fassung geraten, wenn Millie unzumutbar spät erschien.
Millie hatte versucht, unbemerkt in den Blauen Salon zu schlüpfen, in dem sich alle vor dem Mittagessen versammelten. Nur drängten sich die meisten Gäste direkt gegenüber der Tür um die große, eindrucksvolle Gestalt des Prinzen. „Tut mir leid“, sagte Millie und richtete den Blick auf den unbezahlbaren Perserteppich. Denn sie wagte nicht, irgendwo anders hinzusehen. Weil sie schreckliche Angst hatte, zufällig in die gefährlichen dunklen Augen des Prinzen zu sehen.
Warum? Weil sie in der ganzen Zeit, die sie gebraucht hatte, um zu duschen und etwas halbwegs Passendes anzuziehen, nur an den schockierend attraktiven Mann hatte denken können – der ihr Schwager werden würde? Und weil sie die Vorstellung nicht verdrängen konnte und sich ausmalte, wie es gewesen wäre, wenn sie sich geküsst hätten.
„Einen Prinzen warten zu lassen gehört sich einfach nicht, Millie“, schalt ihre Mutter. Dann fügte sie flüsternd hinzu: „Und hättest du dich nicht schminken können, Liebling? Wenn du willst, kannst du so hübsch aussehen.“
Was bedeutete, dass sie im Moment nicht hübsch aussah. Tja, das ist nur gut so, dachte Millie. Sie wollte nicht, dass er sie auf diese seltsame Art anblickte, sie dazu brachte, diese Dinge zu empfinden und sich zu sehnen, sich zu fragen …
„Dann hätte ich mich noch mehr verspätet“, erklärte sie, als plötzlich ein Schatten über sie fiel. Millie wusste sofort, wessen. Sobald der Prinz vor ihnen stehen blieb, erschauerte sie vor Erregung und hoffte, dass ihre Mutter es nicht bemerkte.
„Prinz Gianferro“, säuselte die Countess de Vere, so breit lächelnd, wie Millie es noch nie zuvor bei ihrer Mutter erlebt hatte, „ich möchte Ihnen meine jüngere Tochter Millicent vorstellen.“
Weiterhin auf den Boden zu schauen wäre äußerst unhöflich gewesen. Deshalb riskierte es Millie aufzusehen … und blickte direkt in sein Gesicht mit den sehr aristokratischen hohen Wangenknochen und den dunklen Augen, die vor Spott funkelten. Sag, dass wir uns schon kennengelernt haben, dann ist alles okay, flehte sie stumm.
Aber er tat es nicht, sondern hob ihre Fingerspitzen an seinen Mund. Und beim flüchtigen Druck seiner Lippen durchrieselte Millie ein Hauch von Verlangen.
„Molto lieto“, murmelte er. „Millicent.“
„Millie“, verbesserte sie sofort, während sie ihre Hand seiner Berührung entzog und ihm einen tadelnden Blick zuwarf. Die Furchtlosigkeit kehrte zurück. „Soll ich einen Knicks machen?“
Er lächelte. „Wollen Sie?“
Bildete sie sich das nur ein, oder war es eine Fangfrage, und, du lieber Himmel, wie kam sie überhaupt auf den Gedanken? Der Prinz gehörte Lulu, nicht ihr. Dass er jemals ihr gehören könnte, war völlig unvorstellbar. Sogar wenn Lulu keinen Anspruch auf ihn erhob.
Millie nickte und machte mühelos einen sehr graziösen Knicks. Sie hoffte, dass die förmliche Begrüßung den gebührenden Abstand zwischen ihnen schaffen würde.
„Perfetto.“
„Ja, das war ein schöner Knicks, Liebling“, lobte ihre Mutter zufrieden, doch leicht irritiert. „Und jetzt entschuldige dich beim Prinzen für deine Verspätung!“
„Ich …“
Übermut blitzte in seinen Augen auf. „Vermutlich hatten Sie etwas Spannenderes zu tun?“
Immer tiefer zog er sie in die Täuschung hinein. Millie überlegte, wie er wohl reagieren würde, wenn sie erwiderte: „Sie wissen genau, was ich gemacht habe.“ Die Antwort blieb ihr erspart, als die Tischglocke läutete.
„Mittagessen“, sagte sie höflich.
„Vom Gong gerettet“, entgegnete er spöttisch.
Millie fiel auf, dass ihre Mutter jetzt noch verwirrter aussah. Wahrscheinlich fragte sie sich verwundert, wie es ihre ungestüme Tochter bloß geschafft hatte, das Interesse des Prinzen länger als eine Sekunde zu fesseln!
Beim Mittagessen saßen zwanzig Personen an der Tafel. Wie Millie es vorhergesehen hatte, nahm sie den Platz am entgegengesetzten Ende ein, so weit wie möglich vom Prinzen entfernt. Und ich hoffe, dir schmeckt es, während ich fast an jedem Bissen ersticke, überlegte sie missmutig.
Gianferro kostete die Speisen kaum. Ein Gang nach dem anderen wurde aufgetragen, jeder hervorragend, der Rahmen war wunderschön, die Gesellschaft genau so, wie sie sein sollte. Nur dass …
Immer wieder schweifte sein Blick zu der jungen Frau am Ende des Tisches. Wie verschieden die Schwestern waren. Lulu wirkte so verwöhnt und makellos zurechtgemacht wie ein internationales Topmodel. Millie hingegen trug ein schlichtes Kleid, das ihren von Natur aus schlanken Körper betonte. Das hellblonde Haar hatte die jüngere einfach zurückgebunden und war außerdem überhaupt nicht geschminkt. Sie sah so frisch und natürlich aus wie ein Blumenstrauß.
Lulu, die neben ihm saß, beugte sich gerade zu ihm, und Gianferro fing einen Hauch ihres teuren französischen Parfüms auf. Unerklärlicherweise verglich er den Duft mit dem erdigen Geruch nach Pferd und Sattelseife im Stall des Guts.
„Sie haben Ihren Wein ja noch gar nicht angerührt, Gianferro!“, schalt Lulu.
„Ich trinke tagsüber niemals Alkohol.“
„Wie langweilig!“ Sie schnitt eine Grimasse. „Warum denn nicht?“
„Ich muss einen klaren Kopf behalten.“
„Doch wohl nicht immer? Ist es denn nicht nett, auch mal am Nachmittag … ganz entspannt zu sein?“, fragte sie und warf ihm einen koketten Blick zu.
Gianferro wusste genau, was sie andeutete, und stellte fest, dass es ihn … empörte. Oder ich suche nur nach einem Grund zur Empörung, gestand er sich ehrlich ein. Weil es um mehr ging als eine anzügliche Bemerkung. Was Frauen anbelangte, war er Experte. Nachdem er Lulu an diesem Tag in ihrer gewohnten Umgebung erlebt hatte, sagte ihm das Gefühl, dass er sie nicht heiraten konnte. Ja, sie war bildschön, selbstsicher und charmant. Aber ihr Benehmen empfand er schon als bedrohlich und fordernd wie das einer Raubkatze, seit er das Haus betreten hatte. Und obwohl er diese Eigenschaft bei einer Geliebten bewunderte, wünschte er sich eine sanftere Ehefrau.
Jetzt warf Lulu das Haar zurück und spielte mit ihrer Halskette. Verführerisch, das war ja gut und schön. Nur hatte er instinktiv noch etwas anderes erkannt, und er war sicher, dass ihn sein Gefühl nicht trog.
Sicher war Lulu keine Jungfrau mehr!
Während Millie …
Als er wieder zum Ende der Tafel sah, stellte Gianferro fest, dass ihr verwirrter, beunruhigter Blick auf ihn gerichtet war. Gianferro schaute ihr direkt in die großen blauen Augen. Und sie biss sich auf die Lippe, bevor sie sich ruckartig abwandte.
Wieder spürte er das Pochen eines so primitiven Verlangens, das sich anfühlte wie etwas, das weit über das Sexuelle hinausging.
„Gianferro?“
Höflich lächelnd widmete er sich seiner Tischnachbarin. „Ja?“
„Möchten Sie, dass ich Sie heute Nachmittag auf dem Gut herumführe? Ihnen wirklich alles zeige, meine ich?“ Lulus Blick war unverhohlen einladend. „Hier gibt es alle möglichen verborgenen Schätze.“
Sofort wappnete sich Gianferro. Immer hatte er sein Leben im Griff gehabt und den richtigen Weg gewählt. Doch plötzlich lag die Route, der er in der letzten Zeit gefolgt war, nur noch verschwommen vor ihm. Die stillschweigende Vereinbarung zwischen Lulu und ihm würde niemals in Worte gefasst werden. Da er ihr noch keinen Antrag gemacht hatte, konnte es auch keine offene Zurückweisung geben. Natürlich würde Lulu merken, was los war, und sie würde enttäuscht sein. Aber eine kleine Verletzung zum jetzigen Zeitpunkt bot die bessere Alternative. Sonst ließen sie sich auf etwas ein, das niemals funktionieren konnte.
Am besten reiste er noch heute ab, ohne zurückzublicken. Doch gerade als sein Entschluss feststand, wurde Gianferro bewusst, dass er zufällig auf einen neuen Pfad gestoßen war, der unerwartet deutlich vor ihm lag. Gewissermaßen hatte er diesen Weg schon eingeschlagen.
„Wollen wir fürs Dessert die Plätze tauschen?“, fragte die Countess de Vere.
Gianferro nickte. „Ja, ich hätte gern die Gelegenheit, mich mit Ihren beiden Töchtern zu unterhalten.“
Es war unbestreitbar ein Befehl, auf keinen Fall wollte Millie Zeit mit dem Prinzen verbringen – oder etwa doch? Aber Millie kannte ihre Pflichten. Deshalb setzte sie sich, bemüht lächelnd, neben ihn, versuchte, die rebellische Miene ihrer Schwester zu ignorieren, und überlegte, was in aller Welt sie sagen sollte.
Oder was er sagen würde.
Spöttisch neigte er sich zu ihr und fragte leise: „Warum haben Sie mich angelogen, Millie? Warum haben Sie behauptet, eine Pferdepflegerin zu sein?“
Auf gar keinen Fall konnte sie ihm gestehen, dass er sie total aufgewühlt und konfus gemacht hatte. Er würde sie für verrückt halten! „Das war einfach eine spontane Entscheidung.“
Er zog die Augenbrauen hoch. „Handeln Sie oft impulsiv?“
„Manchmal“, gab Millie zu. „Und Sie?“
Sein Lächeln wurde wieder so wehmütig wie schon bei ihrer Begegnung im Stall. „So etwas kann ich mir bei dem Job nicht leisten.“
„Prinz von Beruf?“, neckte sie ihn.
„Kronprinz“, verbesserte er und ging auf den Scherz ein.
„Aber Sie tragen doch nicht nur einen Titel, sondern sind immer noch ein Mensch!“
Wie wundervoll leidenschaftlich sie ist, dachte Gianferro. Und wie hoffnungslos naiv. „Beides ist untrennbar miteinander verbunden.“
„Oh.“
„Aber diese Dinge langweilen nur“, sagte er energisch. „Erzählen Sie mir von sich, Millie.“
„Von mir?“ Sie blinzelte erstaunt.
„Ist es so verwunderlich, etwas über Sie erfahren zu wollen?“
Ja, aber sie hatte keine Lust, es ihm zu erklären. Nur sehr wenige Leute interessieren sich für einen, wenn man eine außergewöhnlich schöne Schwester hat, ging es Millie durch den Kopf.
Als Gianferro begann, nach ihrer Kindheit zu fragen, und es anscheinend wirklich hören wollte, legte Millie die Nervosität ab und unterhielt sich unbefangen mit ihm. Sie vergaß die seltsame und spannungsgeladene Begegnung vor dem Mittag und erzählte von der strengen Disziplin in dem Mädcheninternat, das sie besucht hatte, und von den Streichen, die sie den Nonnen gespielt hatten. Sein Lachen gab Millie das Gefühl, etwas Besonderes vollbracht zu haben.
Bis ihr bewusst wurde, dass alle anderen am Tisch verstummt waren und sie beide anblickten. Ihre Mutter wirkte überrascht, Lulu zeigte unverhohlene Verärgerung.
„Was würden Sie heute Nachmittag gern machen, Gianferro?“, fragte die Countess de Vere.
Er bemerkte, dass Lulu ihn fixierte und fragend die Augenbrauen hochzog.
„Ich möchte mir Ihre Pferde ansehen“, erwiderte er freundlich.
„Die Pferde?“ Lulu verzog gelangweilt das Gesicht.
„Ja. Ich habe in Mardivino viele großartige Pferde, und es interessiert mich, ob Sie hier Tiere haben, die es mit ihnen aufnehmen können.“
„Oh, ich denke, Sie werden feststellen, dass wir Engländer da mühelos mithalten!“, sagte einer der Männer lachend.
Lulu deutete mit einer perfekt manikürten Hand erst zum Fenster und dann auf ihr muschelrosa Haute-Couture-Kleid. „Es regnet!“
„Ich mag den Regen“, erwiderte Gianferro sanft.
Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, tippte Lulu mit dem Fingernagel gegen das glänzende Holz des Esstisches. „Wenn Sie tropfnass werden wollen, von mir aus gern. Nur erwarten Sie bitte nicht, dass ich mitkomme.“
Gianferro las ihr von den Augen ab, dass sie mit einer bestimmten Reaktion rechnete: damit, dass er kapitulierte, es sich anders überlegte und sich die Pferde ein anderes Mal ansehen wolle. Nur würde er das niemals tun. Niemals würde eine Frau ihn ihren Wünschen gefügig machen.
„Wie Sie wollen“, sagte er scharf.
Sein Missfallen war fast greifbar, und Millie merkte ihrer Mutter die Verzweiflung an, als die heitere Stimmung endgültig zu kippen drohte. Nervös befeuchtete sich Millie die Lippen. „Ich könnte dem Prinzen die Pferde zeigen, wenn du möchtest, Mom?“
Dankbar lächelte ihre Mutter sie nun an, was Millies Unbehagen und Schuldbewusstsein jedoch steigerte. „Oh, Liebling, würdest du?“
Auch Gianferro lächelte. „Wie nett von Ihnen, Millie. Danke.“
Die ungezwungene Atmosphäre zwischen ihnen war verschwunden, die merkwürdige Spannung zurückgekehrt.
Ihr schlug das Herz bis zum Hals, während Millie den Stuhl zurückschob und aufstand. Sie hasste Gianferro dafür, wie er sich benahm. Und sich selbst hasste sie ebenso, ohne recht zu wissen, warum. „Na los, dann kommen Sie mit!“, forderte sie den Prinzen ungnädig auf und wurde belohnt, als sich seine Augen verengten.
„Du musst dich erst umziehen!“, protestierte ihre Mutter.
„Ach, ein bisschen Regen hat noch niemandem geschadet“, meinte Millie energisch.
Lulu lachte gereizt. „Meiner kleinen Schwester macht es nichts aus, wenn sie bis auf die Haut nass wird. Sie ist ja solch ein Wildfang!“
Spöttische, herablassende Bemerkungen dieser Art hatte Millie durch die Jahre ständig gehört. Sie fühlte sich allerdings überhaupt nicht wie ein Wildfang, als Gianferro ihr folgte und es im Zimmer mucksmäuschenstill wurde. Unerklärlicherweise und sehr zu ihrer Beunruhigung hatte sie sich noch nie im Leben so weiblich gefühlt.
Am Osteingang öffnete Millie die Tür und blickte auf eine dichte graue Regenwand. „Wollen Sie wirklich da rausgehen?“
„Ja, will ich.“
Millie riss einen Regenmantel vom Haken und warf ihn Gianferro zu, bevor sie selbst einen überzog. „Dann los.“
Ihr Verhalten mochte ungebührlich sein. Er sollte sich dagegen behaupten. Aber ihm gefielen die unhöfliche Geste und der ärgerliche Blick. Gianferro zog lächelnd den schäbigen, alten Mantel an, der nach Pferd und Leder roch. Sobald sie nach draußen traten, spürte Gianferro den Regen in seinem Haar und auf den Wangen.
„Wir müssen rennen!“, sagte Millie neben ihm. Plötzlich wurde sie von einer eigenartigen Aufregung gepackt. Das langweilige förmliche Mittagessen hatte eine unerwartete Wendung genommen. Der Prinz wollte ihre geliebten Pferde sehen, und auf dem Gebiet fühlte Millie sich zu Hause. Nur geht es noch um mehr, Millie, und du weißt es. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie den störenden Gedanken dadurch vertreiben. „Kommen Sie!“
Lachend, mit einer plötzlichen, ungewohnten Leichtsinnigkeit, rannte Gianferro hinter ihr her, wich Pfützen aus und beobachtete, wie der Schlamm auf die helle Seide an ihren Beinen spritzte. Wahrscheinlich eine Strumpfhose, dachte er. Bestimmt trägt Millie keine Strümpfe. Im nächsten Moment fragte er sich, was er da eigentlich tat und warum er es geschehen ließ. Es war verrückt. Heller Wahnsinn. Er sollte dem sofort ein Ende bereiten.
Aber die ganze Zeit über hatte eine Ahnung sein Innerstes beherrscht, ein Gefühl für das Unabänderliche, das passieren würde. Fast, als würde bald sein Schicksal besiegelt – und zwar so, wie er es am wenigsten erwartet hatte.
Als sie die Stallungen erreichten, war Millies Haar klatschnass. Sich die Regentropfen abwischend, die ihr wie Tränen übers Gesicht liefen, drehte sie sich zu Gianferro um. Ob sie das Richtige sagte oder nicht, kümmerte sie nicht mehr.
„Warum haben Sie meiner Mutter gegenüber mit keinem Wort erwähnt, dass wir uns schon kennengelernt hatten?“
„Sie wissen, warum.“
„Nein.“
„Doch. Genauso wie Sie wissen, was als Nächstes passieren wird.“
Millie schüttelte den Kopf und versuchte, die brennende Erregung zu ignorieren, die sich in ihr ausbreitete. „Sie sprechen in Rätseln!“
„Warum haben Sie angeboten, mich hierher zu führen?“, fragte Gianferro sanft.
„Sie wollen sich doch die Pferde ansehen, nicht wahr?“
Bei jeder anderen Frau wäre es eine flirtende, gespielt unschuldige Frage gewesen. Aber Millie meinte es so, wie sie es sagte. Daran zweifelte Gianferro nicht. „Nein. Ich will etwas anderes. Das, was du auch willst, wenn du dich traust, es dir einzugestehen.“
Ihre Augen weiteten sich, als sie den Gesichtsausdruck des Prinzen sah, der seine sinnliche Absicht verriet. So fremd, stark und unwiderstehlich, dass Millie sich durch Willenskraft zwingen wollte wegzugehen. Und gleichzeitig hoffte, diese Macht möge niemals verschwinden. „Nein“, flüsterte Millie. „Nein. Wir dürfen nicht!“
„Wir müssen, das weißt du“, sagte Gianferro leise. „Weil du vor Sehnsucht vergehen wirst, wenn wir es nicht tun.“ Und ich auch, dachte er.
„Gianferro!“
Er zog sie in seine Arme, drückte sie unter sich auf einen Heuballen, schob ihr eine Haarsträhne aus dem regennassen Gesicht und betrachtete Millie einen Moment lang, ohne sich zu rühren. Dann wandte er den Blick von dem verwirrten Ausdruck ihrer Augen und näherte sich ihrem sinnlichen Mund.
Er schien die Welt mit einem berauschenden Kuss auszulöschen, Millie fühlte sich, als würde sie mit ihrem Pferd das allerhöchste Hindernis überwinden. Noch nie hatte sie eine so betörende Mischung aus Erregung und Furcht empfunden. Millie spürte die Kraft seines muskulösen Körpers, während Gianferro ihr Gesicht umfasste und mit den Lippen sanft ihre liebkoste.
„Oh, bitte!“, flüsterte sie mit gebrochener Stimme. Und es war ein Wunsch nach mehr, ohne dass Millie sich bewusst war, was sie wollte. Als er die Zunge forschend in ihren Mund gleiten ließ, wurde Millie schwindlig vor Sehnsucht. Verzehrende unbekannte Empfindungen durchfluteten Millie, und sie klammerte sich an ihn. Ihr Körper schien ihrem Willen nicht länger zu unterliegen, denn wie von selbst drängte sie sich an Gianferro. Undeutlich nahm sie wahr, dass sich ihre Brustspitzen vor Erregung aufrichteten, und der prickelnde süße Schmerz weckte in ihr das Bedürfnis, Gianferro noch näher zu spüren.
Mit einem heiseren Ausruf riss er sich von ihr los und blickte schwer atmend auf ihre roten Lippen.
„Warum hörst du auf?“, fragte Millie, die Stimme samtweich, wie die einer Fremden.
„Warum?“ Gianferro lachte auf. „Was glaubst du denn?“ Dann las er in ihren großen blauen Augen die Unsicherheit und das Verlangen und runzelte die Stirn. „Hast du schon einmal einen Mann geküsst, Millie?“
Also hatte er es erraten. „Nicht … nicht so.“
„Und was ist ‚so‘?“
So innig, so intensiv, wollte sie sagen, aber sie konnte einfach nicht. Es klang so plump. Als wäre es um ein wissenschaftliches Experiment gegangen, was es überhaupt nicht gewesen war. Eher ein gewaltiges elektrisierendes Gefühl, das sie mitgerissen und dazu gebracht hatte, sich vorzukommen wie … wie …
Als könnte sie die konfusen Eindrücke dadurch ordnen, schüttelte Millie den Kopf. „Nichts.“
Triumphierend erkannte Gianferro ihre Unerfahrenheit und zog sie wieder in seine Arme. „Du küsst sehr schön. Sehr hart und leidenschaftlich.“ Mit der Fingerspitze zeichnete er ihren Mund nach und spürte, wie ihre Lippen unter seiner Berührung erbebten. „Allerdings gibt es auch noch andere Möglichkeiten, einen Mann zu küssen, und ich werde sie dir alle zeigen. Ich werde dir alles beibringen, Millie.“
Seine Worte brachten sie zur Vernunft, und Millie löste sich aus seiner Umarmung. Er hinderte sie nicht daran. Was zum Teufel deutete er denn da an? Wozu hatte er sie verleitet – und warum hatte sie es geschehen lassen? Zerstreut zupfte sie sich Heu aus dem Haar und warf es auf den Stallboden, bevor sie Gianferro fest ansah.
„Du wirst nichts dergleichen tun!“, fuhr sie ihn mit vor Aufregung zitternder Stimme an. „Was für ein Mann bist du eigentlich?“ Und was für eine Frau war sie? „Du wirst meine Schwester heiraten!“
„Nein.“
„Doch! Doch!“, rief Millie verzweifelt.
„Ich kann sie nicht heiraten“, sagte Gianferro ausdruckslos. Er streckte die Hand aus, umfasste das Kinn und hob ihr Gesicht an, um Millie mit der leuchtenden Intensität seines Blicks zu fesseln und ihr Herz zu erweichen. „Und wir beide wissen, warum.“
„Ich werde Gianferro heiraten.“
Lulu, die gerade dabei war, sich die Haare zu bürsten, hielt inne. „Bist du verrückt?“
Mühsam holte Millie Luft, aber die Worte mussten ausgesprochen werden, ganz gleich, wie die Reaktion ausfiel. „Es tut mir leid.“
Im Spiegel des Toilettentisches beobachtete sie, wie die Schwester die Augen zusammenkniff, dann wirbelte Lulu herum.
„Wovon redest du eigentlich?“
„Gianferro und ich … wir werden heiraten.“
„Sag, dass du nur Spaß machst.“
Ich wünschte, ich würde es tun, das wäre die richtige Antwort. Nur hätte es nicht gestimmt. Und Millie wollte sich nicht vor der Wahrheit drücken. Lulu würde tief verletzt sein. Schon deshalb sah Millie es als ihre Pflicht an, dazustehen und sich scharf kritisieren zu lassen. „Nein. Ich meine es ernst.“
Einen Moment verzerrte sich Lulus Gesicht. Dann sprach sie in demselben Tonfall, in dem sie Millie oft erklärte, dass Männer keinen Pferdemist an jungen Frauen riechen wollten: „Millie, du magst dich ja entschieden haben, dich in diesen kaltherzigen Kerl zu verlieben. Aber es ist wirklich keine gute Idee, in einer Fantasiewelt zu leben. Wenn du solche exzentrischen Behauptungen vom Stapel lässt, wird sich das zwangsläufig herumsprechen. Und die Leute werden lachen.“
„Ihr ist es vollkommen ernst damit, Lulu.“
Beide Schwestern drehten sich zur Tür um und sahen ihre Mutter dort stehen.
„Du wusstest es?“, fragte Millie verwirrt.
„Gianferro hat mich heute Morgen angerufen. Angeblich, um bei mir um deine Hand anzuhalten, da dein Vater tot ist. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass meine Zustimmung nicht groß ins Gewicht fällt. Ob ich es nun gutheiße oder nicht, er will dich in jedem Fall heiraten. Und er scheint nicht der Typ Mann zu sein, der ein Nein als Antwort akzeptiert.“
Wie eine Zuschauerin bei einem Tennismatch blickte Lulu von einer zur anderen. „Sie kennt ihn doch nicht einmal richtig!“, rief sie verwundert.
Die Countess und Millie schwiegen unbehaglich.
„Wie kann sie ihn heiraten?“, fuhr Lulu ungläubig fort. „Wenn sie ihn nicht gesehen hat, seit er unsere Lunchparty ruiniert und obendrein mir das Herz gebrochen hat?“
„Er hat dir nicht das Herz gebrochen, Liebling“, widersprach ihre Mutter freundlich. „Du bist seitdem wieder mit Ned Vaughn zusammen.“
Aber Lulu hörte ihr nicht zu. „Erklärst du uns das vielleicht mal, Millie? Du hast ihn nur ein einziges Mal getroffen!“
Die Countess de Vere warf ihrer jüngeren Tochter einen scharfsinnigen Blick zu. „Ich glaube, dass sie ihn sehr viel öfter getroffen hat, stimmt’s, Millie?“
Millie nickte und nahm ihren ganzen Mut zusammen.
„Wann?“, fauchte Lulu. „Und wo?“
„In Chichester. Und Cirencester. Einmal in Heathcote.“
„Auf Pferdemärkten?“ Lulu kniff die Augen zusammen.
„Richtig. Also da, wo die Pferdemärkte stattfanden. Wir sind nicht wirklich auf einem gewesen.“ Millie atmete tief ein, während sie den fragenden Blick ihrer Schwester erwiderte. Erzähl es doch einfach so, wie es ist!, befahl Millie sich. Vielleicht konnte sie es dann selbst glauben. „Gianferro wollte mich wiedersehen und meinte, wir sollten uns in Orten treffen, die zu besuchen ich einen legitimen Grund hatte. Er hielt es für den besten Weg, keinen Verdacht zu erregen.“
„Du hinterlistige kleine Ziege!“
„Lulu!“, warnte ihre Mutter.
„Nein. Sie hat jedes Recht, es zu sagen. Und noch mehr.“ Millies Stimme war noch leiser als sonst. „Es tut mir wirklich leid, Lulu. Ich wollte das nicht, und er auch nicht. Es ist einfach passiert.“
„Du kleine Närrin!“ Lulu stieß ein schrilles, gezwungenes Lachen aus. „Kapierst du denn nicht, dass er sich nur eine Masche ausgedacht hat, um dich ins Bett zu bekommen? Dein erster Liebhaber! Für einen Mann, der alles hat und schon alles erlebt hat, ist die Unschuld einer Frau natürlich von unschätzbarem Wert.“
„Wir haben nicht …“ Millie sah den ungläubigen Gesichtsausdruck ihrer Schwester und verstummte einen Moment. „Zwischen uns ist nichts gewesen. Und es wird vor der Heirat auch so bleiben. Gianferro möchte es so.“
„Gianferro möchte es so!“, ahmte Lulu wütend nach.
„Ich wollte, dass du es als Erste erfährst …“
„Mensch, danke! Danke für nichts!“ Wieder kniff Lulu die Augen zusammen. Ihr war die Wut deutlich anzusehen. „Du musst es ihm verraten haben.“
„Was?“
„Dass ich …“ Lulus Atem ging schneller. „Hast du das mit Ned und mir ausgeplaudert? Hast du Gianferro erzählt, dass wir eine Affäre hatten?“
„Natürlich nicht!“, rief Millie entsetzt.
„Daran ist nichts ‚natürlich‘. Offensichtlich warst du doch fest entschlossen, ihn dir zu schnappen. Und anscheinend ist es dir gelungen. Erwartest du im Ernst, dass ich noch daran glaube, dass er mit dem Gedanken an mich hierhergekommen ist und es sich anders überlegte, als er dich gesehen hat?“
„Ich weiß nicht, wie oder warum es passiert ist“, sagte Millie bedrückt.
„Meinen herzlichen Glückwunsch, Liebling“, mischte sich ihre Mutter mit sanfter Stimme ein. „Wir müssen uns für deine Schwester freuen, Lulu“, fügte sie energisch hinzu.
„Du willst doch nur, dass eine von deinen Töchtern in eine Fürstenfamilie einheiratet. Welche, ist dir gleichgültig!“, warf ihr Lulu mürrisch vor.
„Unsinn. Du wirst als reiche Gutsbesitzergattin, die Ned von morgens bis abends beschäftigt, sehr glücklich sein. Gianferro hätte niemals zu dir gepasst, mein Schatz: Du bist viel zu selbstbewusst und unabhängig.“
Obwohl Lulu beinah besänftigt aussah, war sie noch nicht fertig mit ihrer Schwester. „Du hast null Erfahrung mit Männern. Glaubst du wirklich, dass du mit einem Mann wie Gianferro umgehen kannst?“
„Ich weiß es nicht“, gab Millie ehrlich zu. „Ich muss es versuchen.“
Die Countess de Vere schob sie behutsam zu einem Stuhl. „Willst du uns nicht erzählen, wie es dazu gekommen ist?“
Natürlich schuldete sie ihrer Familie eine Erklärung, nur … wo sollte Millie anfangen? Und wie viel durfte sie verraten? Womit wäre Gianferro einverstanden? Inzwischen war sich Millie der Kluft zwischen ihr und dem Rest der Welt bewusst, einer Kluft, die mit jeder Sekunde größer wurde. Zu der Rolle als Braut des zukünftigen Fürsten von Mardivino gehörten Verantwortung und Zurückhaltung. Gianferro war nicht wie andere Männer. Millie durfte nicht unbefangen über alles reden, was sie erlebten oder besprachen. Keinesfalls konnte sie errötend enthüllen, wie er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte. Andererseits, dachte sie mit einem Anflug von Bedauern, würde sein Heiratsantrag sowieso nicht als einer der romantischsten in die Geschichte eingehen. Für Gianferro war es ein rein zweckmäßiges Arrangement. Millie verstand, dass es so sein musste.
Es hatte mehrere sorgfältig vorbereitete, bis ins Detail geplante diskrete Treffen gegeben. Mit leise schnurrenden Limousinen war sie von Bahnhöfen abgeholt und auf schnellstem Wege zu verschiedenen Häusern gebracht worden – sichere Häuser wurden sie genannt –, wo Gianferro auf sie gewartet hatte. Seine Leibwächter und die Sicherheitsbeamten hielten sich meist im Hintergrund, wenn Millie angekommen war.
Oft waren die Gastgeber Fremde für Millie, nur ein Ehepaar kannte sie ziemlich gut. Die Frau musterte sie von oben bis unten, unfähig, ihre Überraschung zu verbergen. Aber über diese Begegnungen durfte Millie nichts erzählen, nicht einmal ihrer Mutter. Denn Gianferro hatte absolutes Stillschweigen verlangt, und zu viel stand auf dem Spiel. Was steht auf dem Spiel?, fragte sich Millie und wagte nicht, die Frage zu beantworten, für den Fall, dass sie mit ihrer Erklärung hoffnungslos danebenlag.
Bei kleinen Lunchpartys wurde sie freundlich geprüft: wie sie zu Politik und Kunst stand, was sie von der Frauenbewegung hielt. Die Antworten klangen selbst in ihren Ohren eher lau. Dadurch erkannte Millie, wie isoliert sie auf dem Landgut lebte und über wie wenig – abgesehen von ihren Pferden – sie nachdachte.
Und wofür werde ich getestet, überlegte sie einmal. Auch wenn sie keine klare Antwort darauf fand, wusste Millie im Innersten, was von ihr erwartet wurde und wie sie sich zu benehmen hatte. Denn in gewisser Hinsicht war sie schließlich dazu erzogen worden, genau dies zu tun.
Eines Tages machte sie bei einem Rundgang durch einen herrlichen Garten höflich Konversation und zeigte echtes Interesse an all den Bäumen und Sträuchern. Millie sah ihren Gastgeber nicken und Gianferros zufriedene Miene, als sie die Knospe einer seltenen persischen Rose erkannte. In dem Augenblick kam sich Millie fast vor wie ein dressiertes Tier, das brav durch Reifen sprang.
Hinterher hätte es ihr eigentlich ein besonderes Vergnügen bereiten sollen, sich die prächtigen Andalusier des Gastgebers anzusehen. Doch zum ersten Mal in ihrem Leben wäre Millie lieber woanders gewesen, allein mit dem großen, grüblerischen Mann, den sie noch immer kaum kannte. Allein mit dem Mann, an den sie von früh bis spät dachte und von dem sie nachts träumte, seit er mit der Kraft eines hell glühenden Meteors in ihr Leben eingeschlagen war. Millie warf ihm einen Blick zu, aber Gianferro konzentrierte sich eisern auf die Pferde.
Sein Benehmen ihr gegenüber war so förmlich! Die wilden Küsse, die sie an jenem regnerischen Nachmittag in den Stallungen des Guts getauscht hatten, fanden nicht mehr statt. Millie sehnte sich danach, dass Gianferro sie in seine Arme schloss. Gleichwohl erschien es desto unvorstellbarer, dass die ganze Sache überhaupt passiert war, je mehr Zeit verstrich. Als hätte Millie es sich nur eingebildet. Da sie ihn jetzt öfter traf, spürte sie nur noch deutlicher, was für ein toller Mann er war. Und zugleich wirkte er distanzierter. Millies Verwirrung nahm in demselben Ausmaß zu wie ihre Sehnsucht nach ihm.
Bewundernd streichelte sie eins der Pferde. „Sie ist bildschön, nicht wahr?“, fragte sie zaghaft.
„Nicht übel“, meinte Gianferro.
„Nicht übel?“ Ihr Gastgeber lachte. „Andalusier sind königliche Pferde, und diese besondere Stute wird Ihnen zukünftige Champions gebären! Sie gehört Ihnen, Gianferro!“
„Nein, Sie sind zu großzügig“, protestierte er.
„Ihnen“, betonte der Gastgeber.
„Danke.“ Gianferro zeigte sich mit einem Nicken für die Ehre erkenntlich, wusste jedoch sehr wohl, dass kein Geschenk ohne Erwartungen gemacht wurde. Das ging schon sein ganzes Leben lang so. Neuerdings kam es jedoch immer öfter vor, da er bald das Amt seines Vaters übernehmen sollte. Mit Geschenken stellten die Leute eine Beziehung zu einem zukünftigen Monarchen her. Und aus demselben Grund waren sie bereit, ihm für heimliche Treffen mit Millie ihre Häuser zur Verfügung zu stellen. Sie wollten das Gefühl haben, ihm nahezustehen, aber natürlich konnte niemand ihm wirklich nahestehen. Nicht einmal seine Ehefrau. Ein Fürst zu sein bedeutete im Grunde, einsam zu sein.
Gianferro blickte Millie an, und der Gastgeber lächelte, als er die Wünsche des Prinzen richtig interpretierte.
„Vielleicht möchten Sie beide sich die Bibliothek ansehen, bevor das Mittagessen serviert wird?“
Zu Millies Erleichterung wurden Gianferro und sie allein gelassen und, frustriert über dieses Niemandsland, in dem sie sich befand, ließ sie sich in seine Arme fallen, unfähig, sich daran zu hindern. Sie hörte seinen Atem schneller gehen, und er neigte den Kopf, um sie zu küssen. Dennoch spürte sie seine Zurückhaltung, während sie ihren Körper an seinen drückte. Nur kümmerte es Millie nicht. Ihre Sinne waren geweckt, und sie sehnte sich nach Gianferros Berührungen. Einen Moment lang fühlte sie sich wie im Paradies, als sie seinen Herzschlag spürte. Doch als sie vor Wonne über den süßen Kuss leise aufstöhnte, befreite Gianferro sich von ihr. Millie erschien er wie jemand, der einen niedlichen, aber übereifrigen jungen Hund bändigte.
Verwirrt blickte sie ihn an. „Begehrst du mich nicht mehr?“
Gianferro unterdrückte sein Verlangen. Wie entzückend leidenschaftlich sie auf ihn reagierte! Solch eine ungeheuchelte Begeisterung war er nicht gewohnt, allerdings erkannte er die zwei Seiten dieser Ehrlichkeit. Keinesfalls durfte er vergessen, dass es eine Kehrseite ihrer Unschuld gab, und er würde Millie beibringen müssen, ihre sinnliche Begierde zu mäßigen. Sie musste lernen, dass immer jede Intimität von ihm ausgehen würde, so verlangte es das Protokoll. Es sei denn, sie befanden sich in der privaten Sphäre des Schlafzimmers.
„Du weißt, dass ich dich begehre“, erwiderte er. „Aber nicht hier und nicht jetzt. Komm, und unterhalte dich mit mir.“
„Ich kann nicht“, flüsterte sie. „Ich bin völlig ratlos und verstehe nicht, was mit mir passiert.“
„Nicht?“ Mit unnachgiebigem, verlangendem Blick umfasste Gianferro ihre Schultern. „Hast du nicht schon vermutet, warum du hier bist?“
Millie schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht.“
Es war Zeit. Gianferro atmete tief ein, und seine Stimme klang sowohl sanft als auch gebieterisch. „Du weißt, dass an jenem Tag im Stall etwas zwischen uns entstanden ist? Etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte?“
„Und das du nicht gewollt hast?“, erriet sie gequält.
Mit Selbstbeobachtung beschäftigte er sich nicht. Denn sie war ein Luxus, der keine Lösungen, sondern nur Schmerz mit sich brachte. Das musste Millie auch noch lernen. „Was ich will, ist irrelevant. Entscheidend ist, was ich benötige, und das war immer völlig klar“, erklärte er energisch. „Jetzt habe ich gefunden, wonach ich gesucht habe.“
Ihr war, als würde sie am Rand eines Abgrunds schweben und in einen Strudel aus dunklen Wolken hinabblicken. Und dennoch sah sie instinktiv deutlich den Weg vor sich, der vor ihr lag. Nur wagte sie nicht so recht, daran zu glauben. „Und was?“
„Dich“, erwiderte Gianferro ruhig. „Ich werde dich heiraten.“
Sie fühlte sich seltsam leer. „Solltest du mich nicht erst fragen?“
Ihre Naivität ließ ihn hart, fast kalt lächeln. Sollte er ihr nicht das kleine Hirngespinst gönnen, dass sie Nein sagen konnte? Dass sie das Zeug dazu hatte, sich zu widersetzen, obwohl sein Wunsch feststand? „Willst du mich heiraten?“
Millie sagte nichts.
„Dein Zögern ist gut. Denn es zeigt, dass du die Tragweite dessen begreifst, was ich dich frage.“
„Heiraten?“, wiederholte sie zittrig und mit klopfendem Herzen. Sie legte die Finger an ihre Wangen und spürte, dass sie glühten. „Kommt ein Heiratsantrag nicht normalerweise nach …“
„Nach was?“, unterbrach Gianferro sie. Er wusste jedoch, worauf sie hinauswollte. „Glaubst du, ich bin in der Lage, dir zu bieten, was andere Männer tun würden? Einen Gutenachtkuss vor der Haustür? Theaterbesuche vielleicht? Partys mit gemeinsamen Freunden?“ Er zog ihr die linke Hand vom Gesicht, drehte sie in seiner um und studierte die Innenfläche nachdenklich. „So kann es für mich niemals sein, Millie. Wenn jemand in meiner Position eine Braut wählt, lässt sich keine von den normalen Spielregeln anwenden.“
„Du meinst … du meinst, du bist darüber erhaben?“
„Ja“, sagte er schlicht, und es war keine Prahlerei, sondern die bloße Feststellung einer Tatsache. „Wenn ich mich in der Öffentlichkeit mit dir treffe, wird das einen gewaltigen Medienrummel auslösen, und nicht nur hier in England, sondern auch auf dem europäischen Festland. Es wird dich kompromittieren. Die Erwartungen werden so groß sein, dass Journalisten jeden deiner Schritte überwachen und aufzeichnen, und der Druck kann unerträglich werden. Ich habe es früher schon miterlebt. Wozu, Millie? Schließlich weiß ich, dass du alles verkörperst, was ich bei einer Braut suche.“
„Aber warum?“, fragte Millie, noch immer verwirrt. „Warum ich?“
„Die Wahrheit?“
Sie nickte. Trotzdem war sie sich vage bewusst, dass ihr die Antwort vielleicht nicht gefallen würde.
„Du erfüllst die Anforderungen. Meine Braut muss unberührt und von adliger Herkunft sein. Du hast noch keinen Liebhaber gehabt, und genau so sollte es sein.“ Seine Stimme wurde leiser, sinnlich wie eine Liebkosung. „Und dein erster Liebhaber wird alles übertreffen, was irgendein anderer Mann dir bieten könnte, das versichere ich dir.“ Dass sie bei diesen Worten errötete, gefiel ihm und erregte ihn.
„Warum nicht eine mardivinische Frau?“
„Das wäre zu kompliziert, und ich kenne alle möglichen Kandidatinnen zu gut. Unter den Frauen, die geeignet wären, fehlt der Reiz. Außerdem sind meine beiden Schwägerinnen Engländerinnen. In ihrer Gesellschaft wirst du kein Heimweh bekommen. Und deine Erziehung hat dir das nötige Rüstzeug für die Aufgabe vermittelt, die vor dir liegt.“
„Aufgabe?“, wiederholte Millie.
Gianferro nickte. „Englische Mädchen werden dazu erzogen, selbstständig, unverwüstlich und findig zu sein. Zusätzlich befähigt dich dein aristokratischer Hintergrund dazu, mit jedem bei Hofe zu verkehren und zu verstehen, wie ein zukünftiger Fürst aufgezogen wird. Denn als meine Fürstin wirst du meine Söhne gebären.“
Fürstin. Das Wort hing in der Luft, als wäre es aus einem Märchen heraus in das Gespräch gefallen. Aber es ist eindeutig kein Märchen, dachte Millie. Sonst hätte Gianferro sicherlich auch das Wort erwähnt, das jede zukünftige Braut hören wollte. Liebe. Unverwandt blickte Millie in das stolze, gut aussehende Gesicht. Sie wollte keine Liebeserklärungen, die nicht auch von Herzen kamen. Und wie könnte er ihr das bieten, wenn sie sich doch eigentlich kaum kannten?
„Trotzdem zögerst du noch immer.“ Gianferro spielte seinen letzten Trumpf aus, indem er ihre Hand an die Lippen hob und betont langsam ihre Fingerspitzen küsste, eine nach der anderen, bis Millie unter seiner Liebkosung erschauerte. „Soll ich dir sagen, was am wichtigsten von allem ist?“, fragte er seidenweich.
„J…ja“, hauchte sie atemlos. „Sag es mir.“
„Diese Verbindung zwischen uns. Sie ist stark. Mächtig. Unmöglich zu ignorieren. Du spürst sie auch, stimmt’s, Millie? Dass sie da ist, kannst du nicht leugnen. Ich kann es nicht“, fügte er gedankenverloren hinzu, wie zu sich selbst.
„Ja, ich spüre sie auch“, gab sie kühn zu. Das Blut raste durch ihre Adern, rauschte so in ihren Ohren, dass sie taub zu werden drohte, und sie bebte vor Verlangen, als Gianferro ihre Sehnsucht mit einem flüchtigen und äußerst provozierenden Kuss anfachte.
„Sieh mal, was du mit mir machst … hier.“
Als er ihre Hand führte und Millie fühlen ließ, wie erregt er war, verging sie fast vor plötzlichem heftigem Begehren, ihm nah zu sein. Ihr Körper reagierte mit einer aufflammenden Leidenschaft, die Millie dahinschmelzen ließ. Die Empfindung löschte jede andere aus. Und auch den kurzen, schmerzlichen Gedanken, dass diese gegenseitige Anziehungskraft und ihre Eignung zur Ehefrau eines Fürsten für Gianferro vielleicht alles war, das sie beide verband.
„Ja!“, flüsterte er triumphierend, sobald er ihre Augen dunkler werden sah und ihr atemloses kleines Seufzen hörte. „Ohne dies kann es zwischen einem Mann und einer Frau nicht funktionieren. Trotz deiner Unschuld begehre ich dich sehr. Möglicherweise mehr, als ich jemals eine Frau begehrt habe, weil ich noch nie habe warten müssen. Mein Körper wird derjenige sein, den du kennenlernst, und nur meiner. Ich werde dich in der Kunst der Liebe unterrichten und dir alles beibringen, was du wissen musst. Du wirst eines Tages Fürstin von Mardivino sein und sollst alles haben, was du dir wünschst. Die besten Rennpferde werden dir gehören. Juwelen. Antiquitäten. Alle Dinge, von denen Frauen träumen, sind in deiner Reichweite, Millie.“
Sie wollte ihm sagen, dass solche Dinge nicht wichtig waren. Dass er sie irgendwie mit einer geheimnisvollen und einschmeichelnden Gewissheit bestrickt und ihr Herz erobert hatte, um sicherzustellen, dass sie nie wieder frei von ihm sein würde … und es auch nicht wollte. „Gianferro …“
„Und ich sage dir noch etwas“, sprach er unnachgiebig weiter. „Wenn du meinen Heiratsantrag nicht annimmst, wirst du es für den Rest deines Lebens bereuen. Denn du wirst niemals einen anderen Mann finden, der so ist wie ich. Alle Männer werden im Vergleich zu mir nur Schatten sein. Deine Gedanken werden dich verspotten, weil du dich immer fragen wirst, was hätte sein können.“
Wäre Millie älter gewesen, hätte sie Gianferros Überheblichkeit vielleicht scharf kritisiert. Aber trotz ihrer fast lachhaften Unerfahrenheit erkannte sie die Wahrheit hinter seinen Worten. Wahrscheinlich hätte sie um mehr Zeit bitten sollen. Nur schien Gianferro ebenso selten über Zeit zu verfügen wie über Privatsphäre. Millie konnte nur seinen verheißungsvollen Blick erwidern, und dabei drohten ihr die Knie nachzugeben. Als wäre Gianferro ihr Rettungsanker in stürmischer See, klammerte sie sich an ihn. „Gianferro? Bitte! Bitte! Küss mich doch einfach!“
Er lächelte zufrieden, denn in diesem Moment wusste er, dass sie ihm gehörte.
Unbemerkt steckte Millie die Antibabypille in den Mund und schluckte sie. Dann ging Millie ins Schlafzimmer, das Gesicht so weiß wie das Hochzeitskleid, das dort hing. „Ich weiß nicht, ob ich es tatsächlich durchziehen kann“, sagte sie heiser.
„Dummes Zeug!“, meinte Lulu mit dem energischen unnachsichtigen Lächeln, das sich nur große Schwestern erlauben konnten. Besonders eine große Schwester, die einem erst kürzlich verziehen hatte, dass man ihr den Freund ausgespannt hatte. Ihr Lächeln wurde breiter. „Wie eine andere, die so ziemlich in meiner Situation war, einmal gespottet hat: Dein Name steht schon auf den Geschirrtüchern, es ist viel zu spät, jetzt noch auszusteigen.“
Womit Lulu recht hatte. Millies Name und Gianferros. Und nicht nur auf Geschirrtüchern, sondern auch auf Teeservice, Frühstückstabletts und eigens geprägten Münzen. Auf allen Gegenständen war dasselbe offizielle gestellte Foto von Gianferro und ihr, das an dem Tag gemacht worden war, an dem ihre Verlobung bekannt gegeben worden war.
Ob Gianferro überhaupt schon einmal ein Geschirrtuch benutzt hatte? Millie bezweifelte es. Oder er sich selbst etwas zu essen gekocht hatte? Ebenso unwahrscheinlich. Ihre Kindheit und Jugend war auch privilegiert gewesen, das ja, aber zumindest waren ihre Schwester und sie im örtlichen Pfadfinderverein gewesen. Millie konnte putzen und kochen – matschige kleine Kuchen backen, die für wohltätige Zwecke verkauft wurden.
Nicht so Gianferro. Mit jedem Tag, der verging, wurde ihr stärker bewusst, in was für einer exklusiven und abgeschotteten Welt er lebte. Bis zu ihm vorzudringen war ebenso schwierig, wie ohne Termin sofort zum Zahnarzt zu kommen. Gianferro war von Beratern umgeben, insbesondere von einem, Duca Alesso Bastistella, einem verheerend attraktiven italienischen Herzog, in den sich Lulu, wie sie ihrer Schwester gestanden hatte, „mir nichts, dir nichts verlieben“ könnte.
Tja, Millie nicht. Alesso war wie ein Schrankenwärter. Oh, er trat immer charmant und diplomatisch auf, aber er wurde anscheinend ständig zu Gianferro vorgelassen, während er das allen anderen verwehrte.
„Wir sind zusammen auf dem Internat gewesen, und er ist meine rechte Hand“, hatte Gianferro ihr erklärt. „Ich vertraue ihm“, hatte er ernst hinzugefügt, als wäre Vertrauen etwas sehr Kostbares und Seltenes.
Millie hätte gern gewusst, ob es überhaupt möglich sein würde, sich mit dem mächtigen Alesso anzufreunden. Nun, wenn sie ihrem Ehemann nahekommen wollte, würde sie es versuchen müssen.
Wenn sie mit Gianferro allein gewesen war, hatte er sie mit sinnlichen Küssen gereizt, die sie hatten dahinschmelzen lassen und eine Verheißung der kommenden Freuden gewesen waren. Leider konnte Millie diese wenigen Gelegenheiten an einer Hand abzählen. Obwohl sie dagegen ankämpfte, deprimierte sie dieser Zustand. Natürlich verstand sie, dass Gianferros Vater schwer krank war und dass wegen der bevorstehenden Hochzeit die Verfassung geändert werden musste, trotzdem …
„Außerdem sollst du in weniger als einer Stunde zur Kathedrale fahren, um dein Ehegelöbnis abzulegen. Also kannst du jetzt wirklich nicht mehr aussteigen!“
Lulus Worte holten sie in die Gegenwart. „Ich weiß“, murmelte Millie schwach und wollte sich aufs Bett setzen. Doch ihre Schwester hielt wie ein Verkehrspolizist die Hand hoch.
„Pass auf, dass du deine Dessous nicht zerknitterst!“
„Es ist doch gar nicht genug Stoff da zum Zerknittern.“
„Genau darum geht es ja gerade.“ Lulu lächelte verschmitzt. „Jedenfalls will ich dich schminken, also komm hierher und setz dich vor den Spiegel. Vorsichtig.“
Zumindest hatte sie sich mit ihrer Schwester wieder vertragen. Dem Himmel sei Dank, dachte Millie. Aber andererseits – trotz ihres aufbrausenden Wesens – hegte Lulu niemals lange einen Groll gegen jemanden. Nachdem sie sich erst einmal damit abgefunden hatte, dass die Hochzeit stattfinden würde, ganz gleich, ob es ihr gefiel oder nicht, akzeptierte sie die Heirat bereitwillig. Besonders, als Lulu klar geworden war, dass sie Brautjungfer sein konnte.
„Die einzige, hoffe ich doch?“
„Zusammen mit Gianferros kleiner Nichte, aber du bist die einzige erwachsene, ja.“
Seitdem war Lulu überglücklich.
„Denk doch nur mal an all die interessanten Männer, die ich auf der Hochzeit kennenlernen werde!“, hatte sie geseufzt.
„Und Ned?“, hatte Millie gefragt.
Lulu hatte gelacht. „Wer ist das denn?“
Seit der Verlobung im vergangenen Monat wohnte Millie in einem „kleinen“ Haus in der Parkanlage des Palasts, zusammen mit Lulu und ihrer Mutter, damit sie Millie als Anstandsdamen begleiten konnten. Nicht dass sie dafür benötigt werden, überlegte sie gekränkt, während sie ihr ungeschminktes Gesicht im Spiegel betrachtete. Schließlich waren Gianferro und sie kaum einmal einen Moment allein gewesen. Er übertrieb es mit der Zurückhaltung.
Aber das wird sich ja nach der Hochzeit ändern, sagte sie sich, als Lulu anfing, irgendeine Feuchtigkeitscreme aufzutragen. Dazu waren Flitterwochen da, jedenfalls echte altmodische Flitterwochen, in denen sich ein Ehepaar in jeder Hinsicht kennenlernte, auf die es ankam. Millie lächelte gedankenverloren.
Würde sie ihm eine gute Frau sein? Würden ihr ein instinktives Gefühl und die Bücher, die sie eifrig studiert hatte, im Schlafzimmer helfen? Ein nervöser Schauder lief ihr über den Rücken. Lulu, die gerade mit einem kleinen Schwamm Millies Gesicht grundierte, hielt die Hand still.
„Was ist jetzt los?“
Millie biss sich auf die Lippe. „Nichts.“
„Nicht besorgt wegen der Hochzeitsnacht?“, fragte Lulu scharfsichtig.
„Keine Spur“, behauptete Millie eisern. Sie konnte mit niemandem über ihre Ängste sprechen. Wenn sie damit anfing, dann würde sie schließlich – nicht zum ersten Mal – das Gefühl haben, dass ihre Unschuld der einzige Grund war, aus dem Gianferro sie heiratete.
Lulu lächelte wissend.
„Hast du die Zeitungen von heute gesehen?“, fragte Millie, um ihre Schwester von dem Thema abzulenken.
„Ich dachte, du wolltest sie nicht mehr lesen.“
„Wollte ich auch nicht, aber sie üben einen unwiderstehlichen Reiz aus. Das ist so ähnlich wie im Restaurant, wenn man davor gewarnt wird, einen heißen Teller anzufassen. Man will es sofort tun.“
In den neuen Ausgaben stand nichts, was die Journalisten nicht schon vom ersten Tag an geschrieben hatten. Die „natürliche“ englische Adlige wurde Millie genannt. Sie vermutete, dass damit im Zeitungsjargon eine Frau gemeint war, die keine Ahnung von Make-up hatte. Oder glamourösen Outfits.
Zum Glück hatte Lulu nicht im Abseits gestanden. Sie hatte Millie auf der Suche nach dem perfekten Hochzeitskleid durch die Pariser Haute-Couture-Häuser begleitet. Die Kleider, die ihnen vorgeführt worden waren, hatten Millie zumindest erkennen lassen, was sie nicht wollte.