Julia Saison Band 72 - Cara Colter - E-Book
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Cara Colter

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Beschreibung

GESCHENK DES SCHICKSALS von CARA COLTER Überraschend steht Mandys Exmann Fletcher vor der Tür, an der Hand ein kleines Mädchen. Er bittet sie, mit ihm zusammen für die Kleine zu sorgen. Doch wer ist das Kind – und hat Mandy nun die Chance für einen Neubeginn mit Fletcher? DAS BABY VON SEITE 1 von CANDACE CAMP Als Beth sich, ihr Baby und den berühmten Regisseur Jackson Prescott auf den Titelseiten der Klatschblätter sieht, ist sie wütend und traurig zugleich. War Jacksons liebevolle Hilfe bei der Geburt ihres Sohnes nur ein billiger Werbegag? EINSAME HERZEN von SHARON KENDRICK Angels Welt zerbricht, als sie verlassen wird. Nur die Arbeit mit den Kindern schenkt ihr Kraft. Erst ein neuer Mann heilt ihr zerbrochenes Herz. Zärtlich bittet er sie um eine Chance für Liebe, Glück, Familie – wenn sie den Mut hat ...

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Seitenzahl: 515

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Cara Colter, Candace Camp, Sharon Kendrick

JULIA SAISON BAND 72

IMPRESSUM

JULIA SAISON erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Neuauflage in der Reihe JULIA SAISON, Band 72 02/2023

© 2002 by Cara Colter Originaltitel: „What Child Is This?“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Jochen Gaida Deutsche Erstausgabe 2003 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA MUTTERTAGSBAND, Band 17

© 1998 by Candace Camp Originaltitel: „Tabloid Baby“ erschienen bei: Silhouette Books, New York Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Jochen Gaida Deutsche Erstausgabe 1999 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BIANCA BABY, Band 1

© 1998 by Sharon Kendrick Originaltitel: „The Baby Bond“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Katja Thomsen Deutsche Erstausgabe 2000 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA, Band 1381

Abbildungen: Yaruta / Depositphotos, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 02/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751519816

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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Geschenk des Schicksals

1. KAPITEL

Fletcher Harris mochte den Frühling nicht. Und besonders wenig hatte er für den Monat Mai übrig. Dafür gab es gute Gründe: Erstens stiegen zu dieser Jahreszeit die Temperaturen, und keiner der Streifenwagen von Windy Hollow verfügte über eine Klimaanlage. Eine solche Anschaffung war im diesjährigen Haushaltsplan des Städtchens nicht vorgesehen, und nach allem, was Fletcher gehört hatte, würde wohl auch im nächsten Jahr nichts daraus werden.

Zweitens plante seine Großmutter, die vor kurzer Zeit einundachtzig geworden war, am kommenden Wochenende ihren Garten zu bepflanzen. Sie würde Unmengen von Blumen anschaffen, die zwischen die anderen Pflanzen im Vorgarten gesetzt werden mussten, Saatgut besorgen, das ausgesät werden sollte, und Blumentöpfe, die ein Dutzend Mal hin und her geschoben werden mussten, bevor sie endlich zufrieden war.

In dem Gemüsegarten hinter ihrem Haus wollte sie Beete anlegen für Erbsen, Karotten, Bohnen und Kartoffeln. Ihre Pläne sahen außerdem vor, dass die Fliegengitter vor Fenstern und Türen angebracht, die Wege gereinigt und vielleicht die Fensterläden neu gestrichen werden sollten.

Und natürlich würde sie nie im Leben zugeben, dass sie selbst nicht mehr in der Lage war, alle diese Arbeiten alleine durchzuführen.

Der dritte Grund, weshalb Fletcher den Frühling nicht mochte, war der, dass die jungen Männer von Windy Hollow in dieser Zeit besonders leichtsinnig wurden. Sie fuhren zu schnell, tranken zu viel und versuchten, sich in ihrem unvernünftigen Verhalten gegenseitig zu übertreffen. Und die jungen Frauen trugen kurze Röcke und bauchnabelfreie Oberteile und ließen sich von dem Gehabe der jungen Männer beeindrucken.

Nein, der Frühling war nichts für ihn. Fletcher ließ es kalt, wenn die Eisbrocken in den Flüssen wegtauten und die Schneegrenze immer weiter nach oben wanderte. Er machte sich nichts aus Blütenkelchen und zarten Grüntönen. Wenn die Tage länger wurden und die Temperaturen stiegen, legte sich ein Schatten auf sein Gemüt. Und das bedeutete nichts Gutes für die Übeltäter von Windy Hollow.

Heute war der einundzwanzigste Mai, und es war ungewöhnlich heiß im nördlichen Teil des Bundesstaates Montana. Umso schlimmer, dass Fletcher in dem dunklen Lieferwagen seines Cousins Brian saß. Die Sitze waren aus schwarzem Kunststoff, das Lenkrad war schwarz, und überhaupt schien alles in diesem Fahrzeug dem Zweck zu dienen, sich bei Sonneneinstrahlung möglichst stark zu erhitzen und die Wärme möglichst lange zu speichern.

Fletcher hatte den Wagen am Morgen im Schatten eines großen Ahornbaumes geparkt, doch der Schatten war schon vor Stunden weitergewandert. Inzwischen waren es wahrscheinlich fast vierzig Grad im Inneren des Wagens. Wenn Fletcher ein Hund gewesen wäre, hätte ihn längst eine Gruppe von Tierschützern gerettet. Sehnsüchtig fiel sein Blick auf die Schneemassen, die immer noch die Spitze des Bitterroot-Gebirges zierten.

Er hatte sich den Lieferwagen geliehen, um eine Überwachung vorzunehmen. Die Polizeistation von Windy Hollow hatte für solche Fälle kein eigenes Zivilfahrzeug, und es wäre auch sinnlos gewesen, ein solches anzuschaffen. Denn innerhalb weniger Tage würde sich in der Ortschaft herumgesprochen haben, um welches Auto es sich handelte, und alle Bewohner würden Fletcher fröhlich zuwinken, während er sich bemühte, unbemerkt zu bleiben.

Sein Cousin lebte in Belleview, einer fünfzig Kilometer entfernten Stadt, und war sofort einverstanden gewesen, seinen alten Pick-up für ein paar Tage gegen Fletchers Privatauto zu tauschen.

Trotz der Hitze war der Wagen perfekt geeignet. Schmutzig und verbeult, unterschied er sich in nichts von den anderen Wagen, die in dieser schmalen Gasse standen, in einer Gegend, in der vor allem Holzfäller wohnten. Daher hatte Fletcher für seinen Einsatz als verdeckter Ermittler auch ein kariertes Hemd und eine alte Jeans gewählt. Er wusste, wie Holzfäller aussahen, schließlich war sein Vater einer gewesen, und auch Fletcher selbst hatte eine Zeit lang auf diese Weise seinen Lebensunterhalt verdient. Doch das war lange her. Bevor er Amanda kennengelernt hatte.

Fletcher runzelte die Stirn. Er hatte sich fest vorgenommen, heute nicht an sie zu denken, was gar nicht so einfach war angesichts der Gerüchte, dass die Beziehung zwischen ihr und diesem Arzt immer ernster wurde.

Genau das war das Problem von Überwachungseinsätzen. Man hatte viel zu viel Zeit zum Nachdenken.

Wenn es stimmte, dass im Haus mit der Nummer 1057 mit Drogen gehandelt wurde, hoffte er, dass er bald irgendwelche Anzeichen für solche kriminellen Aktivitäten erhalten würde. Ihm war bewusst, dass der anonyme Hinweis auch nur ein schlechter Scherz sein konnte, den sich ein verfeindeter Nachbar oder eine verlassene Freundin ausgedacht hatte.

Bis jetzt hatte sich in dem Gebäude nichts geregt. Dennoch gab es Anhaltspunkte, dass der Verdacht nicht völlig unbegründet war. Der Garten und das Gebäude sahen vernachlässigt aus: Vor der Haustür stapelten sich ungelesene Zeitungen, ein Fenster war mit Brettern verschlagen, und vor dem Haus wuchs meterhoch das Unkraut. Der hohe Zaun, der das Grundstück umgab, sah dagegen so aus, als sei er erst vor Kurzem repariert worden, und ab und zu konnte Fletcher dahinter einen Rottweiler erblicken, der an einer schweren Kette lag und rastlos auf und ab schlich.

Verdächtig, aber wohl kaum ausreichend, um einen Durchsuchungsbefehl zu erwirken.

Fletchers Pager vibrierte in seiner Jackentasche. Er hatte das Gerät auf stumm geschaltet, um wenigstens die Fenster des Wagens öffnen zu können. Und er hatte Jenny, der ältlichen Bürokraft, eingeschärft, ihn nur im Notfall zu kontaktieren. Denn jedes Telefongespräch, das er im Wagen führte, würde nur unnötig Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das Problem war, dass Jennys Definition von einem Notfall sich deutlich von der seinen unterschied. In Jennys Augen war bereits der Ausnahmezustand eingetreten, wenn Herbert Solenbergs preisgekröntes Kaninchen wieder einmal entwischt war. Oder wenn jemand einen BH von Leila Evenshaws Wäscheleine gestohlen hatte. Was ebenfalls mit einer gewissen Regelmäßigkeit geschah.

Fletcher beschloss, den Anruf zu ignorieren.

Nach drei Minuten vibrierte der Pager erneut. Fletcher wusste, dass er entweder zurückrufen konnte oder sich darauf einstellen musste, den Rest seines Tages angepiept zu werden. Missmutig zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Nummer des Polizeireviers. Dann zog er sich die Baseball-Kappe noch tiefer ins Gesicht.

„Windy Hollow Polizeirevier.“

Jennys gut gelaunte Stimme bestätigte ihn in seinem Verdacht, dass weder der Schnapsladen überfallen worden war, noch ein Selbstmörder drohte, sich vom Dach des Hotels zu stürzen, das mit seinen drei Stockwerken das höchste Gebäude der Stadt war.

„Fletch“, antwortete er schroff. Dabei beobachtete er im Rückspiegel, wie ein Fahrzeug in der Aufahrt des Hauses 1057 hielt. Der Hund heulte auf, und Fletcher ließ sich noch tiefer in seinen Sitz sinken.

„Hallo, Fletcher.“ Jennys Stimme hatte einen leicht vorwurfsvollen Ton angenommen. Sie hielt nichts davon, ohne Umschweife sofort zur Sache zu kommen.

Aber wie hätte er ihr böse sein können? Das wäre ungefähr so, als würde er seiner Großmutter ihre regelmäßigen Zurechtweisungen übel nehmen. Zum Beispiel, dass es von äußerst schlechtem Benehmen zeugte, den eigenen Namen anstatt einer höflichen Begrüßung zu verwenden.

In seinem Seitenspiegel konnte er beobachten, wie zwei junge Männer aus dem Auto stiegen, sich umsahen und dann die Stufen hinaufgingen, die zur Haustür führten. Die Tür öffnete sich einen Spalt, dann weiter, und die beiden Männer schlüpften ins Innere.

„Fletcher?“

„Hallo, Jenny“, antwortete er widerwillig und warf dabei einen Blick auf die Uhr.

„Genießt du das schöne Wetter?“

„Kann ich nicht behaupten.“

„Das ist aber schade!“ Sie begann, ihm von den Blumen zu erzählen, die in ihrem Hof wuchsen, und Fletcher konzentrierte sich auf das, was er in seinem Spiegel sehen konnte.

Die beiden Männer verließen wieder das Haus. Fletcher sah erneut auf die Uhr. Dreißig Sekunden. Lachend warf der Mann, der den Wagen gefahren hatte, seinem Begleiter etwas zu, dann stiegen die beiden wieder ins Auto und fuhren mit heulendem Motor davon.

Fletcher sah sich die beiden Gesichter genau an, als der Wagen an ihm vorbeibrauste, doch er erkannte keinen der Insassen wieder. Auf einem Notizblock notierte er sich die Nummer des Fahrzeugs.

„Jenny, gib über den Polizeifunk die Meldung raus, dass die Jungs nach zwei Männern Ausschau halten sollen, die in einem grünen Nova unterwegs sind. Ein älteres Modell, vielleicht von 1983 oder ’84.“ Er las ihr die Nummer des Wagens vor. „Zwei Männer, beide blond, Anfang zwanzig, einer von ihnen hat eine rote Kappe auf. Sie sollen sie unter irgendeinem Vorwand anhalten – überhöhte Geschwindigkeit, ein fehlendes Rücklicht, was weiß ich – und den Wagen nach Drogen durchsuchen.“

Jenny schnalzte missbilligend mit der Zunge. Selbst nach all den Jahren, die sie in diesem Job verbracht hatte, fiel es ihr immer noch schwer zu glauben, dass in ihrer Stadt solche Missetaten begangen wurden. Jenny war bereits seit dreißig Jahren bei der Polizei, zwanzig Jahre länger als Fletcher, doch er nahm an, dass sie noch auf ihrem Posten sein würde, wenn er einmal in den Ruhestand ging.

Zu seinem Leidwesen legte sie den Telefonhörer zur Seite und machte die Durchsage über den Polizeifunk, während er wartete und mit den Fingern auf das heiße Lenkrad trommelte.

Nach einer Weile kam sie zurück. „Ist das alles, was du wolltest?“

„Du hast mich doch angepiept“, erinnerte er sie, bemüht, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. „Was gibt es? Einen Notfall?“

„Am Busbahnhof wartet eine Lieferung für dich.“

Er seufzte. „Ich kümmere mich darum, wenn ich hier fertig bin.“

„Aber Thelma sagt, du musst sie sofort abholen. Es scheint sich um etwas leicht Verderbliches zu handeln.“

Ein Tropfen Schweiß lief ihm den Rücken herunter. „Ich habe nichts leicht Verderbliches bestellt. Du?“

„Nein. Aber vielleicht hat dir ein Freund etwas geschickt.“ Sie überlegte eine Weile. „Vielleicht ein lebender Hummer! Wäre das nicht toll?“

Er war sich nicht sicher, wie sie von etwas leicht Verderblichem zwangsläufig auf lebenden Hummer geschlossen hatte, aber er würde Jennys Gedankengänge wohl niemals nachvollziehen können. Deshalb war es ihm auch unmöglich, das System zu verstehen, nach dem sie im Büro die Akten sortierte.

Im Übrigen sollte sie längst wissen, dass er gar keine Freunde hatte, aber sie war offensichtlich eine unverbesserliche Optimistin. Jenny liebte den Frühling. In den nächsten Tagen würde sie das gesamte Revier mit Fliedersträußen schmücken. Fletcher war zwar der Meinung, dass eine Polizeistation nicht wie ein Blumenladen auszusehen hatte, aber sein Protest stieß auf taube Ohren.

Er verabschiedete sich von Jenny und sah dann erneut in den Seitenspiegel. Ein Jugendlicher mit ungekämmten Haaren und einer großen Tätowierung auf dem Oberarm war aus dem Haus getreten. Sein T-Shirt zierte ein großes Marihuana-Blatt. Der Rottweiler bellte und zerrte an seiner Leine, während der Junge den Lieferwagen betrachtete, in dem Fletcher saß. Zeit, zu verschwinden.

Nun, da der Verdächtige den schwarzen Pick-up gesehen hatte, konnte Fletcher den Wagen nicht länger zur Überwachung verwenden. Aber er konnte sich eine Sonnenbrille aufsetzen und in einem anderen Wagen wiederkommen. Nur: Von wem sollte er sich einen weiteren Wagen ausleihen?

Mit einem letzten Blick in den Rückspiegel prägte er sich das Gesicht des Jungen ein, bevor er den Wagen startete und die Lüftung auf höchste Stufe stellte.

Dadurch wurde ihm zwar auch nur heiße Luft entgegengeblasen, aber das war immer noch besser als die stehende Hitze, der er in den letzten Stunden ausgesetzt gewesen war.

Der Busbahnhof war nur drei Minuten entfernt, wie fast alles in Windy Hollow. Das flache Ziegelgebäude lag im Schatten eines riesigen Ahorns, der aus der Zeit stammen musste, als sich die ersten Siedler hier niedergelassen hatten.

Fletcher stieg aus dem Wagen und streckte sich. Dann bemerkte er den lüsternen Blick, mit dem Thelma Theobald ihn durch die Fensterscheibe ihres Büros beobachtete, und senkte die Arme wieder. Thelma war eine dieser Frauen, die eine besondere Schwäche für Männer in Uniform hatten – selbst wenn sie, wie Fletcher an diesem Tage, in Zivil waren. Er fragte sich schon, ob sie ihn vielleicht nur unter einem Vorwand hierher gelockt hatte.

Leicht verderblich? Wenn das stimmte, hoffte er, dass es eine ganze Kiste voll mit Schokoladeneis war.

Er setzte eine Miene auf, von der er hoffte, dass sie streng und abweisend genug war, und öffnete die Tür. Die kühle Luft, die ihm entgegenschlug, fühlte sich wunderbar an, doch er sorgte dafür, dass ihm seine Freude nicht anzusehen war.

„Hallo, Fletch.“ Thelmas Stimme triefte geradezu vor Freundlichkeit, und angesichts des warmen Frühlingswetters hatte sie ein Oberteil gewählt, das knapp oberhalb ihres Bauchnabels endete.

Er nickte. Thelma war eine gut aussehende Frau. Aber ihm war die Lust auf gut aussehende Frauen vergangen, und das schon seit einiger Zeit.

„Ich soll eine Lieferung abholen?“, fragte er und hoffte, dass er förmlich genug geklungen hatte, um jeden Annäherungsversuch ihrerseits im Keim zu ersticken.

Thelma, die sich über irgendetwas zu amüsieren schien, deutete mit dem Kinn über ihre Schulter.

Fletcher drehte sich um. Alles, was er sah, war ein Getränkeautomat und ein kleines Mädchen.

Er hatte sich schon fast wieder zu Thelma umgewandt, doch irgendetwas an dem Mädchen erregte seine Aufmerksamkeit, und er betrachtete es genauer. Das Kind schien höchstens fünf oder sechs Jahre alt zu sein. Es saß mit vorgebeugtem Kopf und gesenkten Schultern auf einer Bank, gekleidet in einen alten Jeans-Overall. Das braune Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden.

„Ich dachte, du solltest sie nicht länger warten lassen“, sagte Thelma mitfühlend, „die Kleine ist völlig erschöpft.“

Er wirbelte herum und starrte Thelma mit aufgerissenen Augen an. „Nicht länger warten lassen? Worauf wartet sie denn?“ Nun war es an Thelma, ihn verständnislos anzusehen. „Na, auf dich. Schau doch, es steht auf ihrem Overall.“

Langsam drehte er sich wieder um. Das Mädchen hatte ihn ängstlich gemustert, wandte den Blick aber sofort wieder ab, als er es von Neuem betrachtete. Fletcher realisierte gerade noch, dass seine Augen leuchtend blau waren, blau wie der Himmel im Mai oder das Glitzern des Meeres. Dann entdeckte er den Zettel, der mit einer Sicherheitsnadel an dem Overall des Kindes befestigt war. Die Aufschrift ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um keinen von Thelmas Versuchen handelte, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Auf dem Papier stand: „An: Fletcher Harris, Windy Hollow.“

Sofort tauchten in seinem Kopf tausend Fragen auf, die er Thelma stellen wollte: Mit welchem Bus war das Kind gekommen? Woher und um welche Uhrzeit? Wer war der Fahrer des Busses, und wo war der Fahrschein des Mädchens?

Aber Fletcher hatte die Angst in den großen blauen Augen des Kindes gesehen und die Spuren getrockneter Tränen auf seinen Wangen. Die Unterlippe der Kleinen zitterte verräterisch, und Fletcher beschloss, dass seine Fragen warten mussten.

Langsam beugte er sich zu dem Mädchen vor. „Hallo, meine Kleine.“ Erschrocken über seine eigene Stimme, hielt er inne. Sein Tonfall war viel zu mürrisch gewesen, und seine Worte hatten so unbeholfen geklungen wie die ersten Versuche, sich in einer Fremdsprache verständlich zu machen.

Das Mädchen warf ihm einen ängstlichen Blick zu und sah dann schnell wieder zur Seite.

Er versuchte es erneut. „Ich bin Polizist. Du kannst ruhig mit mir reden.“

Die Kleine musterte ihn skeptisch. Sie hatte offenbar eine gewisse Vorstellung davon, wie Polizisten auszusehen hatten, und er entsprach ihrem Bild ganz und gar nicht.

Fletcher rief sich in Erinnerung, wie er aussah: Unrasiert, mit einer Baseball-Kappe auf dem Kopf, dazu ein fleckiges Arbeitshemd und eine alte Jeans. Er zog seine Brieftasche hervor und zeigte dem Mädchen seinen Ausweis und seine Dienstmarke. „Siehst du? Ich bin wirklich Polizist. Du kannst Thelma fragen, wenn du mir nicht glaubst.“

Er warf Thelma einen strengen Blick zu, der ihr signalisierte, dass jetzt nicht der Zeitpunkt für irgendwelche Späße war.

Diese verstand den Wink und nickte energisch mit dem Kopf. „Ja, es stimmt. Fletcher ist Polizist.“

Das Mädchen sank noch mehr in sich zusammen.

„Du musst keine Angst haben“, versicherte Fletcher. „Ich will dir nur ein paar Fragen stellen.“

„Heißt das, du hast sie nicht erwartet?“, fragte Thelma entgeistert. „Mein Gott, ich habe geglaubt, dass sie eine Nichte von dir ist oder so etwas. Dein Bruder hat doch Kinder, oder?“

„Meine Schwester. Aber das hier ist keins davon.“

Als ob seine Worte sie verletzt hätten, rollte eine Träne über die Wange der Kleinen und tropfte von ihrem Kinn.

„He, ist ja schon in Ordnung. Das ist alles nur ein Missverständnis. Es ist nicht deine Schuld.“ Als auch das nicht half, streckte er vorsichtig die Hand aus und berührte ihre Schulter.

Das Kind atmete tief und geräuschvoll ein, stand dann von der Bank auf und warf sich zu Fletchers Überraschung in seine Arme. Für einen Augenblick erstarrte er, verwundert über die Stärke, die in den dünnen Ärmchen der Kleinen lag. Tränen sickerten durch den Stoff seines Hemdes.

Vorsichtig legte er die Arme um das Mädchen, dann stand er auf und hob es hoch.

Es war federleicht, und das schnelle Atmen erinnerte ihn an einen kleinen Vogel, der aus seinem Nest gefallen ist.

Fletcher ging langsam zum Tresen hinüber und fragte Thelma leise: „Wie lange ist sie schon hier?“

„Seit ich auf dem Revier angerufen habe. Seit heute Morgen.“

„Hast du Jenny gesagt, dass hier ein Kind auf mich wartet?“

„Um Himmels willen, Fletch, ich bin doch davon ausgegangen, dass du sie erwartest. Ich habe mir nur einen kleinen Scherz erlaubt, als ich gesagt habe, dein Paket sei eingegangen.“

Er biss sich auf die Zunge. Ein kleines Mädchen hatte stundenlang alleine auf einem Busbahnhof gesessen, und sie hatten wichtige Zeit verloren, um seine Herkunft aufzuklären. Aber er konnte spüren, wie das Kind in seinem Arm zitterte, und wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, Thelma zur Rede zu stellen. Ansonsten würde er das Mädchen nur erschrecken, und dabei war es jetzt das Wichtigste, dass sie ihm vertraute.

„Hör zu, ich nehme die Kleine mit nach drüben in den Imbiss und besorge ihr was zu essen.“ Außerdem würde er versuchen, sie mit Pommes frites und einem Milchshake zum Reden zu bringen und ihr zu entlocken, wie und warum sie hierher gekommen war. „Ruf bitte Jenny an und sag ihr, sie soll in Erfahrung bringen, woher und in welchem Bus das Mädchen gekommen ist. Ich muss wissen, wer den Bus gefahren hat und neben wem die Kleine gesessen hat. Vielleicht hat sie mit irgendjemand während der Fahrt gesprochen.“

Thelma nickte. „Ich glaube, ich kann den Fahrer über Funk ausfindig machen.“

„Sehr gut. Und ruf mich oder Jenny an, sobald du etwas in Erfahrung gebracht hast.“

Das Mädchen hatte aufgehört zu weinen und schien ihm aufmerksam zuzuhören. Fletcher setzte sie ab, und die Kleine wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

„Wie heißt du?“, fragte er und kniete sich wieder vor sie, damit er auf einer Höhe mit ihr war.

Schweigen.

„Hast du Hunger?“

Sie nickte, und als er die Hand ausstreckte, ergriff das Mädchen sie.

„Kein Wunder, dass ich geglaubt habe, dass sie mit dir verwandt ist“, meinte Thelma. „Schau dir nur mal ihre Augen an.“

Er bedachte Thelma mit einem vorwurfsvollen Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass er sie für sämtliche Gerüchte verantwortlich machte, die in den letzten Jahren über ihn in die Welt gesetzt worden waren. Dann drehte er sich um und führte seinen Schützling auf die andere Straßenseite zum Windy Hollow Diner and Café.

Dort bestellte er für sie beide Hamburger sowie einen Schokoladenshake und Pommes frites für das Mädchen. Während er zusah, wie die Kleine das Essen herunterschlang, bemühte er sich, die neugierigen Blicke zu ignorieren, mit denen Francine, die Kellnerin, sie beobachtete.

„Ich habe eine Nichte, die sieben Jahre alt ist“, versuchte er es erneut. „Und wie alt bist du?“

Das Mädchen sah ihn aufmerksam an, zögerte und hob dann vier Finger. Nach kurzem Nachdenken nahm es den Daumen auch noch hinzu.

„Du bist fünf Jahre alt?“, fragte Fletcher.

Das Mädchen nickte.

„Meine Nichte heißt Sarah. Und wie heißt du?“

Schweigen.

„Ist der Milchshake gut?“

Heftiges Nicken.

„Möchtest du noch einen?“

Abermals heftiges Nicken.

Er versuchte alles, um auch nur irgendeine Information aus der Kleinen herauszuholen, jeden Kniff, der ihm in den Sinn kam. Doch das Kind gab keinen Piep von sich. Natürlich waren unter den Tricks, die er während seiner Ausbildung gelernt hatte, auch keine Befragungstechniken für Fünfjährige gewesen.

Als die Kleine ihre Mahlzeit beendet hatte, sah sie ihn eine Weile stumm an, während er sich weiterhin bemühte, sie zum Sprechen zu bringen. Fletcher konnte sehen, wie ihre Augen immer schwerer wurden. Und dann sackte sie auf einmal in sich zusammen und rutschte von ihrem Stuhl unter den Tisch.

Fletcher war sofort bei ihr und hob sie auf. Hilflos sah er auf den schlaffen Körper in seinen Armen. War das Kind etwa ohnmächtig geworden? Oder war es krank?

Doch dann schmiegte das Mädchen sich in seine Arme, und ein leises Schnarchen war zu hören. Erst jetzt fielen ihm die dunklen Ringe unter den Augen auf und die bleiche Gesichtsfarbe. Das Kind war nicht krank, es war vollkommen übermüdet.

Was nun? Mrs. Gauthier. Er trug die Kleine nach draußen zum Wagen und bemerkte die Hitze im Inneren, sobald er die Tür aufgeschlossen hatte. Doch das Mädchen rührte sich nicht, als er es vorsichtig auf den Sitz legte und dann selber in den Wagen stieg.

Ihm war plötzlich klar, dass er die Kleine doch nicht zu Mrs. Gauthier bringen konnte, die normalerweise auf die Kinder aufpasste, die in Polizeigewahrsam genommen wurden. Es war viel zu laut dort. Und zu voll. Die meisten der Kinder, die dort beaufsichtigt wurden, stammten aus zerrütteten Verhältnissen. Und obwohl Mrs. Gauthier den Eindruck einer kompetenten und durchsetzungsfähigen Frau machte, wirkte sie auch immer ein wenig überlastet. Sie würde keine Zeit haben, sich um die Kleine zu kümmern.

Er drehte den Zündschlüssel herum und wusste auf einmal, wohin er sie bringen würde. Obwohl er nicht hätte sagen können, wie er auf die Idee gekommen war.

Vor seinem inneren Auge sah er das große, ruhige Haus auf dem Hügel, das um diese Jahreszeit wahrscheinlich von lauter bunten Blumen umgeben sein würde.

Sie würde die Tür öffnen und ebenso anmutig und sanft sein, wie er sie in Erinnerung hatte. Vielleicht würde er sogar einen Hauch ihres Parfums erhaschen, das nach Zitrone und nach Sommer duftete.

Er hatte sie seit Jahren nicht gesehen, nur ein paar Mal aus der Ferne. Es war nicht immer einfach gewesen, ihr aus dem Weg zu gehen, zumal in einer Stadt von der Größe Windy Hollows. Doch er war sich der Gefahr bewusst gewesen, die eine Begegnung für ihn bedeutet hätte.

Sie sah immer noch wunderschön aus, sogar von Weitem. Groß und schlank und mit langen roten Haaren, deren Locken sie nie vollständig bändigen konnte. Sie bewegte sich noch immer mit dem gleichen sinnlichen Hüftschwung, der ihm damals als Erstes an ihr aufgefallen war und der ihm klargemacht hatte, dass Amanda Cooper, die Tochter des Arztes, erwachsen geworden war.

Mein Gott, wie lange war das jetzt her? Vierzehn Jahre? Fünfzehn? Sie waren damals beide noch zur Highschool gegangen.

Sie hatte nie wieder geheiratet. Stattdessen war sie zu einer erfolgreichen Karrierefrau geworden, unterrichtete an einem nahe gelegenen College, fuhr einen funkelnagelneuen Wagen und war immer tadellos gekleidet in pastellfarbenen Kostümen, deren Röcke niemals zu kurz waren.

Sie hatte das alte Haus der Flanders vollkommen renoviert und engagierte sich in ihrer Freizeit für verschiedene wohltätige Zwecke.

Und nur jemand, der sie so gut kannte wie er, konnte die Traurigkeit in ihren großen grünen Augen sehen. Sogar aus der Entfernung.

In letzter Zeit hatte es natürlich diese Gerüchte um sie und den neuen Arzt gegeben, der sich in der Stadt niedergelassen hatte. Vielleicht würde ein neues Liebesglück das Lachen in ihren Augen wieder zum Aufflackern bringen.

Der Gedanke brachte ihn beinahe um.

Er wusste, dass es reiner Wahnsinn war, seinen kleinen Schützling ausgerechnet zu Amanda Harris zu bringen, der Frau, die an seiner Seite gewesen war, als der Frühling seinen Zauber verloren hatte.

Für immer.

Und gleichzeitig wusste er, dass er das Mädchen nirgendwo anders hinbringen konnte.

Es war, als würde ein unsichtbares Band ihn lenken und dazu bewegen, die Kleine den Hügel hinauf und zum Haus der Frau zu fahren, mit der er seit Jahren kein Wort gesprochen hatte. Zu seiner Ex-Frau.

Erst in dem Moment, als er vor dem Haus angehalten hatte, ausgestiegen war und leise die Tür geschlossen hatte, um die Kleine nicht zu wecken, kamen Zweifel in ihm auf. Es war nur allzu offensichtlich, dass Amanda sich eine neue Existenz aufgebaut hatte. Im Gegensatz zu ihm, der in einer schäbigen kleinen Hütte am Fluss hauste, hatte sie ihr Leben im Griff.

Jahrelang hatte er sich eingeredet, dass es etwas zu bedeuten hatte, dass sie nach der Trennung nicht wieder ihren Geburtsnamen angenommen hatte. Aber nun sah er ein, dass er sich nur etwas vorgemacht hatte. Während sein Leben in einer Sackgasse steckte, hatte Amanda kehrtgemacht und eine andere Richtung eingeschlagen.

Hatte dieses verflixte Gerücht um sie und den Arzt vielleicht etwas damit zu tun, dass er heute zu ihr gefahren war? Aber wozu? Was erhoffte er sich davon?

Fletcher war dem Haus, in dem sie jetzt wohnte, noch nie so nahegekommen. Obwohl die ganze Stadt darüber gesprochen hatte, wie gut die Renovierung gelungen war und dass man die Inneneinrichtung ohne Weiteres in einer dieser Zeitschriften für modernes Wohnen hätte abbilden können.

Das Haus war wirklich schön. Schöner als auf dem Bild, das in der lokalen Tageszeitung abgebildet gewesen war. Die Fassade des zweistöckigen Gebäudes war mit Holzleisten verkleidet, deren weiße Farbe in der Sonne glänzte. Die Fensterläden waren grün gestrichen, ebenso wie der Rahmen der großen Eingangstür, die hinter der schattigen Veranda lag. Überall standen Blumentöpfe und Kübel mit Pflanzen, die in allen erdenklichen Farben blühten. Eine Holzschaukel baumelte von der Decke der Veranda. Auf dem Sitz lag ein geblümtes Kissen.

Beim Anblick der Schaukel erkannte Fletcher, dass er noch nicht bereit für eine Begegnung mit Amanda war. Denn er konnte die Schaukel nicht ansehen, ohne sich zu fragen, ob Amanda nachts im Mondlicht darauf saß. Und woran sie dabei dachte. Ob sie an ihn dachte.

Oder ob jemand anders mit ihr auf der Schaukel saß. Dieser Arzt.

Fletcher betrachtete erneut das Gebäude. Es wirkte viel zu groß für eine Person. Es erschien ihm wie ein Haus, das jemand für seine Familie auswählt. Es schrie geradezu nach einer Schaukel für den großen Garten und einem Dreirad auf der Veranda.

Auf einmal wusste er nicht mehr, ob es richt ig gewesen war, hierher zu kommen, und er verspürte einen stechenden Schmerz in seiner Herzgegend. Fletcher drehte sich um und wollte gerade zum Wagen zurückkehren, da hörte er hinter sich ein Geräusch. Die Tür wurde leise geöffnet. Es war zu spät.

Zu spät wurde ihm auch bewusst, in welchem Aufzug er erschienen war, und er wünschte sich, dass er seine frisch gebügelte Uniform anhätte, so als ob er sich hinter der offiziellen Kleidung irgendwie hätte verstecken können.

Und er wünschte sich auch, mit dem Streifenwagen gekommen zu sein oder wenigstens mit seinem eigenen Auto. Das eine hätte deutlich gemacht, dass er aus einem rein beruflichen Grund hier war, das andere, dass er nicht so heruntergekommen war, wie es den Anschein hatte.

Er seufzte. Solche unüberlegten Entscheidungen waren seine Spezialität, wenn es um Amanda ging. Das war von Anfang an so gewesen. Wenn er damals länger über alles nachgedacht hätte, hätte er wohl kaum mit neunzehn Jahren geheiratet, noch dazu eine Frau, die gerade einmal siebzehn war.

Fletcher atmete tief durch und drehte sich um.

Sie stand auf der Veranda, ihre Hände auf dem Treppengeländer. Und er wusste, dass er alles noch einmal genauso machen würde. Denn sie raubte ihm immer noch den Atem, genau so, wie sie es schon damals getan hatte.

Obwohl sie äußerlich nicht mehr die Gleiche war.

Ihm fiel auf, dass sie ihr Haar anders trug. Es war nun schulterlang und ließ sie erwachsener wirken. Ganz anders als das Mädchen, das sie damals gewesen war.

Es tat ihm weh, an dieses Mädchen zu denken.

Ein fröhliches, sorgloses Wesen, dessen Augen von innen heraus geleuchtet hatten. Ein Mädchen, das ihm sein Leben anvertraut hatte.

Und er hatte sich dieses Vertrauens als vollkommen unwürdig erwiesen.

Er hatte versagt, und er versagte noch immer, denn anstatt sich zu überlegen, was er sagen sollte, blieb er stumm, und sein Blick wanderte zu ihren Lippen.

Sie hatte einen pfirsichfarbenen Lippenstift aufgetragen.

Genau so hatten ihre Küsse damals geschmeckt: nach Pfirsich. Reif und süß, voller Versprechungen. Der Geschmack des Sommers, von süßen Versprechen und der Leidenschaft.

Auf ihrer Nase waren schon die ersten Sommersprossen zu sehen. Amanda hatte ihre Nase nie gemocht, vor allem nicht den kleinen Höcker, den sie von einem Skiunfall zurückbehalten hatte.

Doch Fletcher hatte diese kleine Unvollkommenheit in ihrem ansonsten makellosen Gesicht immer geliebt.

Vielleicht weil er schon damals gewusst hatte, dass sie perfekt war und er nicht. Dass sie eine Göttin war und er nur ein gewöhnlicher Sterblicher.

Sie war ihm immer schon in allem überlegen gewesen. Klüger. Eleganter. Charmanter. Besser im Umgang mit anderen Menschen.

Er betrachtete ihre grüne Bluse, deren Smaragdton perfekt zu ihrer Augenfarbe passte. Ohne sich gut mit solchen Dingen auszukennen, erkannte er dennoch, dass es sich um Seide handelte, und er hätte zu gerne gewusst, wie es sich anfühlen würde, den weichen Stoff zu berühren.

Dazu trug sie weiße Hosen, die knapp unter den Knien endeten und die sanften Rundungen ihrer Hüfte und ihrer Beine betonten. Obwohl Amanda immer noch schlank war, hatte sie doch nicht mehr die knabenhafte Figur ihrer Jugend, sondern ihr Körper hatte stärkere Konturen angenommen, und zwar, wie Fletcher feststellte, genau an den richtigen Stellen.

Sie trug keine Schuhe, und er empfand den Anblick ihrer nackten Füße als überraschend erotisch. Dann wanderte sein Blick wieder zu ihren Augen, und er nahm einen Hauch ihres Parfums wahr. Sofort war die elektrisierende Atmosphäre wieder da, die von Anfang an zwischen ihnen bestanden hatte.

Ein Knistern, das sie dazu veranlasst hatte, ihre wohlhabende Familie zu verlassen, um mit einem armen Schlucker zusammenzuleben. Und eine Energie, die sie durch die ersten Jahre begleitet hatte, als sie arm, aber glücklich gewesen waren. Immer vollkommen erschöpft: er, weil er zwei Jobs gleichzeitig gemacht hatte, und sie, weil sie Tag und Nacht fürs College gebüffelt hatte. Sie hatten in einem düsteren Kellerloch gehaust und sich von Nudeln und Butterbroten ernährt. Wie war es möglich, dass ihm diese Zeit im Nachhinein wie ein paradiesischer Zustand erschien?

„Du hast also daran gedacht“, sagte sie leise.

Ihre Worte trafen ihn vollkommen unvorbereitet. Woran sollte er gedacht haben? Konnte sie seine Gedanken lesen? Konnte sie das Verlangen erkennen, sie in den Arm zu nehmen und zu küssen? Alles ungeschehen zu machen? Noch einmal jung zu sein und so verliebt, dass nichts ihnen etwas anhaben konnte?

Sein Blick fiel auf die goldene Kette, die Amanda um den Hals trug, und auf den Anhänger, der daran befestigt war. Er wusste, welches Bild sich in dem Medaillon befand, und sein Herz wurde ihm mit einem Mal schwer.

Und dann wurde ihm wieder einmal bewusst, dass er den sanften Tonfall, in dem sie gesprochen hatte, nicht verdient hatte.

Heute war der einundzwanzigste Mai. Der Geburtstag seiner Tochter. Sie wäre heute – er hasste sich dafür, dass er für einen Augenblick darüber nachdenken musste – neun Jahre alt geworden.

Wenn sie noch am Leben wäre.

Und Fletcher erkannte die Wahrheit, vor der er so lange davongelaufen war. Seine Abneigung gegen den Frühling war alles andere als unerklärlich.

Es war Frühling gewesen, als er eingesehen hatte, dass alles, was er an sich selbst geschätzt hatte – seinen Mut, seine Charakterstärke –, sich als Illusion erwiesen hatte.

2. KAPITEL

Amandas erster Gedanke, als sie Fletcher sah, war: Oh nein, nicht jetzt. Es war zu spät. Sie war endlich so weit, dass sie eine Nacht durchschlafen konnte, ohne zu träumen, dass er sie in seinen starken Armen hielt. Endlich konnte sie das unbekümmerte Grinsen eines jungen Mannes beobachten, ohne gleich daran denken zu müssen, wie Fletch früher gewesen war.

Sie hatte es geschafft, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Woodall war ein so netter Mann. Zuverlässig und ruhig. Das genaue Gegenteil von Fletch.

Sie musterte ihren Ex-Mann genauer und kam zu dem Schluss, dass er furchtbar aussah. Er war unrasiert, sein schwarzes Haar, das unter einer fleckigen Kappe hervorschaute, war verschwitzt, die Jeans zerschlissen und das T-Shirt eine Nummer zu klein.

Und dennoch war er der attraktivste Mann, den sie sich vorstellen konnte, und der einzige, der diese einzigartige Wirkung auf sie ausübte: Ihr Herz begann schneller zu schlagen, ihre Handflächen wurden feucht, und ein warmes Gefühl regte sich in ihrem Unterleib wie eine Raubkatze, die aus dem Schlaf erwacht ist.

Die dunklen Stoppeln auf seinen Wangen konnten nicht über die Ebenmäßigkeit seiner Gesichtszüge hinwegtäuschen: die hohen Wangenknochen, die gerade Nase und das kantige Kinn. Und doch war das, was seine besondere Ausstrahlung ausmachte, weniger sein gutes Aussehen als vielmehr seine absolute Männlichkeit. Sein ganzes Erscheinungsbild zeugte von körperlicher Kraft: der energische Gesichtsausdruck, die breiten Schultern, die durchtrainierten Arme, der athletische Oberkörper, die langen und muskulösen Beine.

Amanda erinnerte sich daran, dass sie den Geschmack seiner Haut kannte, und wusste, wie sie sich unter ihren Fingerspitzen anfühlte. Der Gedanke erfüllte sie mit dem Wunsch, diese versunkenen Erinnerungen an die Oberfläche zurückzuholen, in die Vergangenheit zu tauchen und die Verzückungen der ersten Liebe noch einmal zu erleben.

Dann riss sie sich von diesen gefährlichen Überlegungen los. Die zweite Liebe war besser als die erste. Ruhiger, vorhersehbarer. Sie mochte Woodall Lamb, und Fletcher Harris würde ihre Zufriedenheit nicht zerstören, indem er einfach vor ihrer Haustür auftauchte.

Zudem hatte sie sich offensichtlich in dem Grund für sein Kommen getäuscht. Sie hatte seinem überraschten Blick angesehen, dass er nicht an Tess’ Geburtstag gedacht hatte, und hatte auch den genauen Moment ausmachen können, als er sich daran erinnert hatte.

Das tiefe Blau seiner Augen hatte sich mit einem Mal bewölkt, und sein Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, der ihr nur zu vertraut war. Eine gequälte Miene, die ihn kühl und abweisend wirken ließ und darauf hindeutete, dass er sich so tief in sich selbst zurückgezogen hatte, dass sie ihm nicht folgen konnte.

Früher, als sie noch jung gewesen war, hatte sie geglaubt, dass ihre Liebe so stark wäre, dass sie auch die schwierigsten Hindernisse überwinden könnte. Und so hatte sie die Ermahnungen ihrer Eltern in den Wind geschlagen und war mit Fletcher zusammengezogen. Sie hatte auch nicht auf die Warnungen ihrer Freunde gehört, die ihr vorhielten, ihre Jugend zu vergeuden und ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen.

Sie hatte damals Mitleid mit diesen Freunden gehabt. Denn sie hatten offensichtlich keine Ahnung gehabt, welches Glück Amanda mit Fletcher erlebt hatte. Und dass es sich durchaus lohnen konnte, etwas aufzugeben, wenn man so viel dafür zurückbekam.

Doch das stimmte nicht ganz. Eigentlich war sie fest davon überzeugt gewesen, dass sie überhaupt nichts würde aufgeben müssen. Sie hatte geglaubt, dass sie alles haben könnte: Fletch. Liebe. Leidenschaft. Eine Karriere und eine Familie.

Im Rückblick fragte sie sich manchmal, ob sie das Schicksal durch ihre Unersättlichkeit nicht geradezu herausgefordert hatte.

Und doch hatte sie vorhin, als sie beobachtet hatte, wie er mit zusammengekniffenen Augen vor ihrem Haus stand, so etwas wie Hoffnung verspürt.

Ein Funken Hoffnung, von der sie geglaubt hatte, dass sie schon seit langer Zeit tot und begraben wäre.

Aber er war nicht gekommen, weil er sich an den Geburtstag seiner Tochter erinnert hatte. Er war nicht gekommen, um den Schmerz mit ihr zu teilen. Wenn er zu einer solchen Handlung fähig gewesen wäre, wären sie vielleicht immer noch zusammen. Er hatte sie damals verlassen. Zuerst hatte er sich innerlich von ihr entfernt, dann auch räumlich. Das musste sie sich immer wieder in Erinnerung rufen, um sich nicht von seinen tiefblauen Augen fesseln zu lassen.

„Was machst du hier, Fletch?“, fragte sie so nüchtern wie möglich.

Er senkte den Blick und trat von einem Bein aufs andere. Seine Wimpern waren so schwarz und so dicht wie die Bürsten eines Schornsteinfegers.

Die Situation erinnerte sie an ihre erste Begegnung.

„Amanda Cooper, würdest du mit mir ausgehen wollen?“

Er hatte damals den Ruf eines Draufgängers gehabt, aber an diesem Tag war er überraschend schüchtern gewesen. Und schon damals waren Amanda seine Wimpern aufgefallen.

Und ein gewisses Funkeln in seinen Augen, ein Zucken seines Mundes hatten sie an diesem Tag gefangen genommen. Bis heute.

„Was machst du hier?“, wiederholte sie.

„Ach, ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht.“ Seine Stimme war tief und so sinnlich wie ein warmer Sommerregen auf nackter Haut. Und nur jemand, der ihn so gut kannte wie sie, konnte den Schmerz heraushören.

Fletcher drehte sich langsam um und legte die Hand auf die Türklinke des Lieferwagens.

Ein leises Geräusch drang aus dem Inneren des Fahrzeugs, und Fletcher zuckte zusammen. Hastig warf er die Tür auf, bückte sich und hob dann ein Kind aus dem Wagen.

Es war ein kleines Mädchen mit dünnen Armen und Beinen. Es trug einen Overall, der schon ganz durchgescheuert war, und ein schmutziges T-Shirt. Als die Kleine sich umdrehte und Amanda anschaute, bemerkte diese die getrockneten Tränen auf den Wangen des Kindes. Dann legte es den Kopf an Fletchers Schulter und steckte den Daumen in den Mund.

„Sie braucht einen Platz, wo sie eine Weile bleiben kann“, sagte Fletcher unschlüssig.

Eine ganze Weile begriff Amanda nicht, was er damit sagen wollte. Dass er das Kind hierher gebracht hatte, um es in ihre Obhut zu geben.

Als sie den Sinn seiner Worte schließlich begriff, machte sich ein jäher Zorn in ihr breit. Was fiel ihm nur ein? Nach vier Jahren, in denen er nicht ein Wort mit ihr gewechselt hatte, vor ihrer Tür zu erscheinen und sie darum zu bitten, auf ein wildfremdes Kind aufzupassen!

Und das, wo es ihr gerade gelungen war, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, und sie sogar eine neue Beziehung hatte.

Am liebsten hätte sie sich auf dem Absatz umgedreht, wäre ins Haus zurückgegangen und hätte die Tür hinter sich zugeschlagen. Doch dann bemerkte sie, dass das kleine Mädchen sie mit großen Augen beobachtete. Die Verwirrung und Trauer, die sich dahinter verbargen, waren unübersehbar. Die Kleine sah so zerbrechlich aus, dass Amandas Zorn dahinschmolz. Dennoch fragte sie sich, wie Fletch ihr das antun konnte.

Aber zu sagen, dass sie das Kind nicht bei sich aufnehmen könne, erschien ihr mit einem Mal äußerst grausam. Sie hätte den Gedanken nicht ertragen können, dafür verantwortlich zu sein, dass diesem armen Wesen noch mehr Kummer zugefügt wurde.

„Wer ist die Kleine, Fletch?“

„Wir wissen es noch nicht. Sie kam heute Morgen mit dem Bus an. Ein Zettel mit meinem Namen war an ihrem Overall befestigt.“

Amanda verspürte sofort tiefes Mitleid mit dem Kind, das auf diese Weise ausgesetzt worden war, doch sie zwang sich, sachlich zu bleiben: „Aber warum bringst du sie hierher? Gibt es für solche Fälle keine Waisenhäuser oder so etwas?“

„Doch.“ Seine Stimme war ausdruckslos, aber Amanda verstand, was er damit sagen wollte: dass Waisenhäuser trostlose Orte waren, für die ein so zartes kleines Wesen nicht robust genug war.

Amanda wusste, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als sich um das Mädchen zu kümmern. Und gab es eine bessere Möglichkeit, ihrer verstorbenen Tochter zu gedenken, als die Liebe, die sie für Tess empfunden hatte, einem anderen Kind zu schenken? Einem fremden kleinen Mädchen, das am Geburtstag ihrer Tochter aufgetaucht war.

Sie spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. „Kommt rein“, sagte sie knapp und bemühte sich dann, ihren missmutigen Tonfall durch ein Lächeln auszugleichen, das sie dem Mädchen zuwarf.

Die Kleine nahm daraufhin den Daumen aus dem Mund und lächelte zurück, wobei sie zwei Reihen schiefer Zähne entblößte.

Amanda sah zu Fletch hinüber und erkannte das Unbehagen in seiner Miene. Offensichtlich wollte er lieber nicht hereinkommen. Aber da das Kind ihm zu vertrauen schien, wollte Amanda nicht, dass er es ihr einfach in die Hand drückte und sich dann wieder aus dem Staub machte. Also ging sie voran, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen, öffnete die Tür und trat ins Haus.

Hinter sich hörte sie seine Schritte, die ihr nach einem kurzen Zögern gefolgt waren. Wie oft hatte sie in den letzten Jahren geglaubt, den Klang seiner Schritte zu hören?

Sie hielt die Tür für ihn auf, und als er an ihr vorbei ins Haus trat, nahm sie seinen Geruch wahr. Er roch nach Kernseife und Rasierwasser, aber vor allem nach Mann, ein herber und geheimnisvoller Duft, der ihr gleichzeitig so vertraut war.

Amanda beobachtete, wie er stehen blieb und sich umsah, und ihr wurde bewusst, dass ihr seine Reaktion wichtig war. Sie wünschte sich, von ihm zu hören, dass ihm ihr Haus gefiel. Sie wollte, dass ihm die warmen Holzdielen zusagten, auf denen einige handgeknüpfte Teppiche verteilt waren, die beiden gelben Sofas, die sich am Fenster gegenüberstanden, die Sonnenstrahlen, die auf den Couchtisch fielen und den Strauß mit frischen Blumen zum Leuchten brachten.

Und während sie ihn erwartungsvoll ansah, begriff sie, dass sie sich die ganze Zeit über, in der sie an diesem Haus gearbeitet hatte, etwas vorgemacht hatte. Sie hatte sich eingeredet, dass sie das alles für sich selber tat, aber in Wirklichkeit hatte sie es für ihn getan.

Sie hatte einen Ort schaffen wollen, an den er gerne zurückkehren würde.

Aber natürlich würde er niemals zu ihr zurückkommen, und eigentlich hatte sie sich auch schon seit langer Zeit damit abgefunden.

Amanda ging an ihm vorbei in die Küche. Fletcher folgte ihr, doch dann hörte sie, wie er stehen blieb, und sie drehte sich um, um zu sehen, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Es war das Bild, das auf dem Kaminsims im Wohnzimmer stand. Eine Fotografie von Tess, als sie zwei Jahre alt gewesen war, voller Energie und Lebensfreude. Sie saß mitten auf einem Berg aus Herbstlaub und sah direkt in die Kamera. Die dunklen Haare fielen ihr wirr ins Gesicht, die grünen Augen funkelten, und auf ihren Lippen lag ein verschmitztes Grinsen.

Sie trug eine rote Jacke mit einer weißen Kapuze. Die Schnüre, mit denen man die Kapuze zubinden konnte, endeten in zwei Pompons, die ebenfalls weiß waren.

Amanda erinnerte sich, dass Fletch die Jacke gekauft hatte. Als er damit nach Hause gekommen war, hatte er ganz aufgeregt, aber auch schuldbewusst ausgesehen, denn sie hatten zu dieser Zeit eigentlich überhaupt kein Geld für solche Anschaffungen gehabt.

Doch Tess war von der Jacke begeistert gewesen und hätte sie am liebsten Tag und Nacht getragen. Immer und immer wieder hatte sie sich damit im Kreis gedreht und vor Freude getanzt.

Und Amanda hatte ihren Mann angesehen und gedacht, dass sie wahrscheinlich die Einzige war, die diese Seite von ihm kannte. Während alle Welt ihn für einen harten Burschen hielt, wusste sie um die Liebe, die in seinen Augen leuchtete und seine Gesichtszüge entspannte, sobald er seine Tochter oder seine Frau ansah.

Wie genau sie sich an dieses Gefühl erinnern konnte. Diese kleinen Momente, in denen ihr bewusst geworden war, wie gut das Schicksal es mit ihr gemeint hatte. Oft hatte sie sich seitdem gewünscht, dass sie damals häufiger innegehalten und den Augenblick so lange wie möglich ausgekostet hätte. Dass sie nicht ständig damit beschäftigt gewesen wäre, zum Waschsalon oder zum Einkaufen zu hetzen oder fürs College zu lernen. Denn es waren häufig genau die Dinge, die man für selbstverständlich hielt, die in Wahrheit am kostbarsten waren.

„Wie erträgst du es nur, dieses Bild jeden Tag anzuschauen?“, fragte Fletcher mit rauer Stimme und riss sich von der Fotografie los. Er sah sie mit einer merkwürdigen Mischung aus Bewunderung und Tadel an.

„Und wie erträgst du es, sie dir nicht jeden Tag anzuschauen?“, entgegnete Amanda leise.

Er sah sie stumm an und schien über ihre Worte nachzudenken, während Amanda überlegte, ob er überhaupt Fotos von Tess besaß und ob er jemals an die Vergangenheit zurückdachte.

Und auf einmal war sie wieder da, diese undurchdringbare Mauer, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte. Die Trauer um Tess hatte ihre Eltern auf unterschiedliche Weise erfasst und sie in verschiedene Richtungen gelenkt: Während Amanda ihren Kummer nach außen getragen hatte, hatte Fletcher ihn in seinem Inneren verborgen. Und schließlich war die Kluft zwischen ihnen so groß geworden, dass keiner von beiden sie mehr hatte überwinden können.

Kein Wunder, dass er gegangen war, nachdem ihre Liebe sich in Einsamkeit verwandelt hatte, ein grausames Zerrbild ihrer einstigen Verbundenheit.

Amanda betrat die Küche. „Kaffee? Tee? Limonade?“

Sowohl der hünenhafte Mann als auch das kleine Mädchen in seinem Arm nickten erfreut bei der Aussicht auf eine kühle Limonade. Die Kleine sah sich währenddessen mit genau dem Ausdruck um, den Amanda sich von Fletch gewünscht hatte: ein ehrfurchtsvolles Staunen und eine unübersehbare Sehnsucht.

Amanda hatte die Küche mit besonderer Sorgfalt eingerichtet. Ihr hatte das Bild einer Landhausküche vorgeschwebt, wie ihre Großeltern sie gehabt hatten, mit alten Eichenmöbeln, einem großen Holzofen und einem Steinboden.

Erst jetzt, als Fletcher den Raum betrat, erkannte sie, dass das, was sie geschaffen hatte, lediglich eine Illusion war. Denn solche Küchen waren Orte, an denen große Familien beisammensaßen, miteinander aßen und redeten, während die Kinder unter dem Tisch spielten.

In Amandas Küche jedoch war das Einzige, das an ein Kind erinnerte, ein hölzernes Schaukelpferd, das in einer Ecke stand.

Und genau dieses Pferd betrachtete Fletcher, bevor er den Blick mit einem gepeinigten Ausdruck abwandte.

Er hatte es damals gemacht. Es war das erste Weihnachten gewesen, das sie mit Tess gefeiert hatten, und sie hatten kein Geld gehabt, um Geschenke zu kaufen. Amanda erinnerte sich, wie Fletcher einen alten Mopp benutzt hatte, um daraus die Mähne und den Schwanz des Pferdes zu basteln. Der Klebstoff war über seine Finger gelaufen, doch sie wusste noch genau, wie glücklich er ausgesehen hatte, als er zu ihr aufgeschaut hatte.

Niemand, der jetzt in seine trüben Augen sah, hätte ahnen können, was für ein Leuchten damals darin gelegen hatte.

Amanda goss drei Gläser mit Limonade ein und setzte sich dann an den Tisch. Sie beobachtete, wie Fletcher das Kind vorsichtig auf dem Stuhl neben ihr absetzte, doch er selbst blieb stehen. Er griff nach seinem Glas und ging damit zum Fenster hinüber.

Doch Amanda hätte schwören können, dass er die Blumen vor ihrem Haus überhaupt nicht wahrnahm.

Sie lächelte das Mädchen an und sagte: „Ich bin Amanda Harris. Und wie heißt du?“

Das Kind sah von ihr zu Fletch, der ihnen immer noch den Rücken zuwandte. Kannte es seinen Nachnamen und stellte eine Verbindung zwischen ihnen her? Wenn ja, war es ein kluges kleines Mädchen.

Aber es blieb stumm und sah Amanda nur mit einem hilflosen Ausdruck an, der ihr beinahe das Herz brach. Dann bemerkte Amanda den Zettel, der an der Kleidung des Kindes angebracht war.

Sie sah zu Fletch hinüber, der es jedoch vermied, ihren Blick zu erwidern.

„Ist sie deine Tochter?“ fragte sie, und in ihrem Kopf begann es zu arbeiten. Nach Tess’ Tod waren sie noch zwei Jahre zusammengeblieben und hatten versucht, ihre Ehe zu retten. Während dieser Zeit war Fletch manchmal für mehrere Tage verschwunden. Doch Amanda hätte niemals geglaubt, dass er sie betrogen haben könnte.

Sie sah, dass er zusammenzuckte. Dann drehte er sich endlich zu ihr um, und sie konnte seine Gedanken so deutlich lesen, als ob er sie ausgesprochen hätte: Er glaubte nicht, dass er der Vater der Kleinen war, aber er war sich nicht hundertprozentig sicher.

Nach dem Tod ihrer Tochter war er immer ruhiger und verschlossener geworden, während Amanda sich in ihre Arbeit gestürzt hatte. Dann jedoch war der Kummer eines Tages aus ihm herausgebrochen. Er hatte angefangen zu trinken und war ganze Nächte ausgeblieben. Und hatte sich dadurch immer weiter von ihr entfernt.

Früher einmal hatte sie geglaubt, dass ihre Liebe alles überstehen könnte. Und mit den üblichen Krisen wären sie auch fertig geworden, davon war sie überzeugt. Doch der Verlust, den sie erlitten hatten, war zu groß gewesen, der Schmerz zu tief. Dennoch war es nicht Amanda gewesen, die die Beziehung beendet hatte. Es war Fletch gewesen, der sie verlassen hatte.

„Das Ganze ist ein Rätsel“, sagte er nun leise. „Sie ist heute Morgen mit dem Bus angekommen, und mein Name stand auf ihrer Kleidung. Das ist alles, was ich weiß. Und dass sie nicht spricht. Zumindest nicht mit mir.“

„Und warum hast du sie hierher gebracht?“ Sie hatte ihm diese Frage zwar schon zuvor gestellt, aber er hatte ihr nicht geantwortet. Und als er es tat, verrieten seine Worte nichts über seine wahren Beweggründe.

„Ich weiß nicht. Du musst sie nicht hierbehalten, wenn du nicht willst.“

Amanda spürte, wie die Augen des Mädchens erwartungsvoll auf sie gerichtet waren.

„Natürlich kann sie hierbleiben, bis du ihre Familie gefunden hast.“

„Danke, Mandy.“

Niemand nannte sie so. Nicht ihre Eltern, nicht ihre Freunde. Und ganz bestimmt nicht Woodall. Nur Fletch.

Wie sehr hatte es ihr früher gefallen, wenn er sie so genannt hatte. Und wie überrascht war sie, als sie feststellte, dass es ihr noch immer gefiel.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte er. „Ich rufe dich an, wenn ich etwas Neues weiß.“

„Oh nein.“

„Ich soll dich nicht anrufen?“

„Das meinte ich nicht. Du kannst die Kleine hier nicht einfach bei mir abgeben und dich dann aus dem Staub machen.“

Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen.“

„Ich will damit sagen, dass du dich nicht aus der Verantwortung stehlen kannst. Im Augenblick sind zwar Ferien, aber ich habe trotzdem jede Menge zu tun. Und darüber hinaus habe ich auch ein Privatleben.“

Bildete sie sich das nur ein, oder hatte er bei ihren letzten Worten wirklich eine Grimasse geschnitten?

Amanda fuhr unbeirrt fort: „Sie braucht neue Kleider. Wie wäre es, wenn du mit ihr einkaufen gehst?“

Er öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder.

„Am Wochenende habe ich auch schon etwas vor.“ Sie und Woodall wollten auf ein paar Auktionen und Flohmärkte gehen, um nach alten Möbeln Ausschau zu halten. Der Plan hatte so herrlich geklungen, als sie ihn gefasst hatten. Warum sah sie das Vorhaben jetzt mit Fletchers Augen und wusste, dass er eine solche Unternehmung todlangweilig finden würde?

„Ich habe auch schon etwas vor. Ich habe meiner Großmutter versprochen, ihr im Garten zu helfen.“

Erneut verspürte Amanda einen Stich in ihrer Brust. Wie sehr sie seine Großmutter vermisste! Sie wusste, dass es allein der wundervollen Teresa zu verdanken war, der Frau, nach der sie ihre Tochter benannt hatten, dass Fletch nicht vollkommen vor die Hunde gegangen war.

„Perfekt“, sagte sie. „Ich bin mir sicher, dass unsere kleine Freundin hier sich freuen würde, deine Großmutter kennenzulernen und sich außerdem etwas schmutzig zu machen. Nicht wahr, mein Schatz?“

Das Mädchen nickte zögernd.

Einer ihrer größten Fehler war, dass Amanda niemals wusste, wann sie besser den Mund halten sollte.

„Und wann hast du das letzte Mal Schokoladenplätzchen gebacken, Fletch?“ Sie wandte sich an das Mädchen. „Er sieht zwar nicht so aus, aber dieser Mann kann die besten Schokoladenplätzchen backen, die ich jemals gegessen habe.“

Fletcher errötete, und Amanda dachte, dass sie wirklich die Einzige war, die alle seine Geheimnisse kannte.

„Also, Fletch“, fuhr sie fort, „du gehst am besten gleich einkaufen und besorgst die nötigen Zutaten. Ich habe nämlich nichts im Haus. Und wo du schon dabei bist, kannst du uns ja gleich auch etwas zum Abendessen mitbringen. Hühnchen wäre nicht schlecht.“

„Ob du es glaubst oder nicht“, sagte er, „ich arbeite gerade.“

„In Ordnung. Dann komm wieder, wenn du mit der Arbeit fertig bist.“

Kaum hatte sie den letzten Satz ausgesprochen, wünschte sie sich, dass er sich unter irgendeinem Vorwand herausreden würde. Hatte sie ihn allen Ernstes zum Abendessen eingeladen?

Doch er nickte nur, warf dann einen letzten Blick auf sie und das Mädchen und verschwand durch die Hintertür.

Was habe ich nur getan, fragte Amanda sich. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass er sie womöglich auf eine Weise betrogen hatte, die sie noch nie zuvor in Erwägung gezogen hatte.

Dann spürte sie auf einmal, wie sich die Hand des kleinen Mädchens auf die ihre legte.

Sie beugte sich vor. „Kannst du nicht sprechen, Liebling?“

Das Kind schüttelte traurig den Kopf.

„Ach, das macht nichts. Dann rede ich einfach umso mehr. Aber wie soll ich dich nur nennen?“

Die Kleine sah sie vertrauensvoll an.

„Ich weiß! Ich fange einfach bei A an und sage jeden Namen, der mir einfällt. Und wenn deiner dabei ist, zupfst du an meinem Ärmel. In Ordnung?“

Das Mädchen nickte begeistert.

Also begann Amanda. „Angela? Abby? Amy? Alice?“ Und während das Kind neben ihr zufrieden gluckste, zählte sie jeden Mädchennamen auf, der ihr in den Sinn kam. Und dann machte sie das gleiche mit B.

Irgendwann klopfte es an der Tür, und Amandas Herz machte einen Sprung. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie sich auf das Wiedersehen mit Fletcher gefreut hatte.

Doch als sie die Tür öffnete, stand nur Jenny davor. Die ältere Dame hielt eine Tüte mit Einkäufen in der Hand und erklärte: „Fletcher schafft es nicht, die Sachen selbst vorbeizubringen. Er verhört gerade eine Gruppe von Jugendlichen. Es geht um Drogen. Nicht zu fassen, Drogen in Windy Hollow!“

Das kleine Mädchen kam zur Tür gelaufen und versteckte sich hinter Amandas Beinen.

„Oh, da bist du ja. Unser mysteriöses Findelkind. Fletcher hat gesagt, ich darf kein Wort über sie verlieren. Er möchte nicht, dass die Presse davon Wind bekommt.“ Sie senkte die Stimme. „Er hat mich gebeten, eine Haarsträhne von der Kleinen mitzubringen.“

„Wozu das denn?“

Jenny zögerte, und im nächsten Augenblick konnte Amanda sich die Frage selbst beantworten. Fletcher wollte die DNA des Kindes untersuchen lassen und sie wahrscheinlich mit seiner eigenen vergleichen.

„Sag ihm, er soll sich die Haarsträhne selbst holen, wenn er sie braucht“, sagte Amanda.

„Mit Vergnügen“, antwortete Jenny. „Er ist nie darüber hinweggekommen, weißt du. Für jeden, der ihn vorher kannte, war es so, als sei er ein anderer Mensch geworden, als euer Kind gestorben ist. Aber er wollte dich niemals verletzen. Er hat dich verehrt.“

Amanda hatte lange Zeit darauf gewartet, diese Worte von Fletch selbst zu hören. Schließlich schienen sämtliche Bewohner des Städtchens von ihrer Richtigkeit überzeugt zu sein. Doch natürlich hatte er es niemals getan. Und jetzt war es zu spät.

„Das Ganze geht mich natürlich überhaupt nichts an“, fügte Jenny hinzu, als Amanda schwieg. „Entschuldige bitte.“

„Kein Problem, Jenny. Und danke, dass du die Einkäufe vorbeigebracht hast.“

„Keine Ursache. Und wenn du noch etwas brauchst, ruf mich einfach an.“

Amanda verabschiedete sich und schloss die Tür, bevor sie den Inhalt der Tüte begutachtete. Ein Brathähnchen und sechs Packungen mit Schokoladenplätzchen.

So einfach würde sie ihn nicht davonkommen lassen. Und dennoch konnte Amanda ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Die Geste erinnerte sie einfach zu sehr an den Fletch, den sie vor langer Zeit gekannt hatte.

3. KAPITEL

Als Fletcher den Computer an seinem Schreibtisch ausschaltete, war es bereits halb elf. Er hob die Schultern, um die Verspannung in seinem Nacken zu lösen.

Die zwei jungen Männer, die er am Morgen beobachtet hatte, waren einer Straßenkontrolle in die Hände gefallen, und man hatte Crack in ihrem Wagen gefunden. Die beiden waren nur allzu bereit gewesen, gegen ihren Dealer auszusagen. Der Haftbefehl war danach nur noch eine Formalität gewesen.

Doch trotz des Fahndungserfolges war Fletch den ganzen Abend über mit seinen Gedanken woanders gewesen. Der Fall des kleinen Mädchens beschäftigte ihn weitaus mehr als der Drogendealer, der ihnen ins Netz gegangen war.

Bis jetzt hatten sie nur herausgefunden, dass die Kleine in Stevenson in den Bus gesetzt worden war, einem ungefähr achtzig Kilometer entfernten Städtchen. Ihre Fahrkarte war auf den Namen Carol Anne Picket ausgestellt, und die Frau, die das Kind gebracht hatte, hatte mit Jane Anne Picket unterschrieben. Fletch ging davon aus, dass beide Namen falsch waren.

Doch wer auch immer das Kind nach Windy Hollow geschickt hatte, musste ihn kennen. Man schickte sein Kind schließlich keinem wildfremden Menschen.

War er der Vater des kleinen Mädchens? Die Zeit vor sechs Jahren, als das Kind gezeugt worden sein musste, war in Fletchers Erinnerung ein schwarzes Loch. Ein Teil von ihm war fest davon überzeugt, dass das Kind nicht von ihm sein konnte. Trotz seines Kummers wäre er nicht fähig gewesen, Amanda zu betrügen. Doch der Polizist in ihm verwies auf eine Reihe von Nächten, an die Fletch keine Erinnerung hatte. Nächte, die sich in einem Nebel aus Schmerz und Whiskey verloren.

Sein ganzes Leben lang hatte Fletcher geglaubt, stark und unverwundbar zu sein. Doch dann war Tess gestorben, und die Erkenntnis, dass er schwach und zerbrechlich war, hatte ihn wie ein Schlag getroffen. Von diesem Tag an hatte er nicht mehr gewusst, wer er war. Er hatte sich in einen Fremden verwandelt, und er vermochte nicht zu sagen, ob dieser Fremde fähig gewesen war, seine Frau zu betrügen.

Fletcher zwang sich, seine Gedanken auf die Tatsachen zu konzentrieren. Er hatte mit der Frau gesprochen, die das Busticket verkauft hatte, und sie hatte ihm die Frau, die das Mädchen in den Bus gesetzt hatte, genau beschrieben. Sie konnte sich deshalb so gut erinnern, weil die Frau bitterlich geweint hatte.

Blond, schlank, mit langen Haaren und blauen Augen, unter denen tiefe Ringe zu sehen waren. Ende zwanzig. Sie war früher vielleicht einmal hübsch gewesen, aber jetzt war sie es nicht mehr. Und sie kam nicht aus Stevenson, da war sich die Ticketverkäuferin ganz sicher gewesen. Obwohl es wahrscheinlich Tausende von Frauen gab, auf die diese Beschreibung zutraf, hatten die Kollegen vor Ort versprochen, die Augen nach der Unbekannten aufzuhalten, und ein Polizeizeichner würde ein Phantombild anfertigen, das man in der Gegend verbreiten wollte.

Während Jenny begonnen hatte, alle ansässigen Familien mit dem Namen Picket zu kontaktieren, hatte Fletcher die Beschreibungen sämtlicher als vermisst gemeldeten Kinder mit dem kleinen Mädchen verglichen, das so überraschend in sein Leben getreten war. Nichts.

Das Telefon klingelte. Es war Jenny, die ihm berichtete, dass sie die Einkäufe bei Amanda abgegeben hatte. „Aber sie hat gesagt, dass du dir die Haarsträhne selbst abholen sollst.“ Sie legte eine bedeutungsvolle Pause ein. „Ich finde, sie ist schöner als je zuvor.“

Er antwortete nicht. Wenn er Jenny auch nur den kleinsten Hinweis geben würde, dass ihre Einmischungen ihm willkommen waren oder dass er sich ihr in einem schwachen Moment vielleicht sogar anvertrauen könnte, würde er nie wieder seine Ruhe haben.

„Danke, Jenny, dass du die Sachen abgeliefert hast.“

Daraufhin musste er sich eine Strafpredigt anhören, dass er um diese Uhrzeit noch arbeitete.

Fletcher legte auf und seufzte. Natürlich arbeitete er lange. Seine Arbeit war schließlich alles, was ihm geblieben war. Und wenn er nur lange genug im Büro blieb, bestand immerhin die Chance, dass er abends nach Hause gehen, die schmutzige Wäsche von seinem Bett werfen und sofort einschlafen konnte. Zu müde, um über irgendetwas nachdenken oder irgendetwas fühlen zu müssen.

Er wusste, dass er seit langer Zeit nur noch eine Schattenexistenz führte. Aber das war ihm ganz recht gewesen. Bis er den Fehler gemacht hatte, das kleine Mädchen zu Amanda zu bringen.