Julian der Abtrünnige - Felix Dahn - E-Book

Julian der Abtrünnige E-Book

Felix Dahn

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung mit kommentierten Latein-Passagen Felix Dahns fesselnder, dreibändiger geschichtlicher Roman über den umstrittenen römischen Kaiser Julian, erstmalig vollständig, kommentiert und in Neuer Deutscher Rechtschreibung. Flavius Claudius Iulianus war von 360 bis 363 römischer Kaiser. In christlich geprägten Quellen wird er häufig als Julian der Abtrünnige bezeichnet, da er den christlichen Glauben aufgegeben hatte. Selten bezeichnet man ihn als Julian II. Sein Vetter ernannte Julian 355 zum Caesar und beauftragte ihn, Gallien gegen die Germanen zu verteidigen. Diese Aufgabe erfüllte er sehr erfolgreich. Julians kurze Regierungszeit als Alleinherrscher war innenpolitisch durch seinen vergeblichen Versuch geprägt, das durch Konstantin den Großen im Reich privilegierte Christentum zurückzudrängen. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 915

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Felix Dahn

Julian der Abtrünnige

Die Jugend – Der Cäsar – Der Imperator

Felix Dahn

Julian der Abtrünnige

Die Jugend – Der Cäsar – Der Imperator

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962810-47-4

null-papier.de/475

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Buch – Die Ju­gend

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Buch – Der Cäsar

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vierund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Fün­fund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Achtund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Buch – Der Im­pe­ra­tor

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vierund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Fün­fund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sechs­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Achtund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Neun­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel

Vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Ein­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Zwei­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Drei­und­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

Vierund­vier­zigs­tes Ka­pi­tel

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Erstes Buch – Die Jugend

»Wenn es, wie die Ge­lehr­ten sa­gen, vier Tu­gen­den gibt: Mä­ßig­keit, Weis­heit, Ge­rech­tig­keit und Tap­fer­keit, so hat Ju­lia­nus sie alle ge­übt.« Am­mi­a­nus Mar­cel­li­nus (Au­gen­zeu­ge), XXV. 4.

Erstes Kapitel

In den Vor­ge­mä­chern des Kai­ser­pa­las­tes zu Ni­ko­me­dia in der Pro­vinz Pon­tus in Klein­asi­en dräng­te sich in spä­ter Stun­de ei­ner Früh­lings­nacht – es war der zwei­und­zwan­zigs­te Mai des Jah­res drei­hun­dert­sie­ben­und­drei­ßig nach Chris­ti Ge­burt – bei dem trü­ben Licht duf­ten­der Öl­lam­pen eine ge­spann­te, teils ban­ge, teils hoff­nungs­gie­ri­ge Schar: Bi­schö­fe, Feld­her­ren, Staats­män­ner, Höf­lin­ge.

Manch­mal tra­ten Ärz­te, Frei­ge­las­se­ne, Skla­ven aus dem durch mehr­fa­che Vor­hän­ge ab­ge­trenn­ten In­nen­raum, has­ti­gen Fra­gen sel­ten Be­ach­tung, sel­te­ner Ant­wort ge­bend, aus dem Palast ei­lend mit al­ler­lei Auf­trä­gen, un­er­hör­te Arz­nei­mit­tel zu ho­len, zu be­rei­ten.

»Es geht rasch zu Ende«, flüs­ter­te, nach der Aus­gang­stü­re lau­fend, ei­ner der Heil­künst­ler. »Nahm er die Tau­fe?« forsch­te ein Bi­schof. Aber je­ner war schon vor der Türe.

Gleich dar­auf aus dem Kran­ken­zim­mer schril­les Ge­schrei: aber nicht der Trau­er, nicht To­ten­kla­ge. »Tot ist der Im­pe­ra­tor, der große Con­stan­ti­nus. Heil, Heil und Sieg dem neu­en Im­pe­ra­tor, Con­stan­ti­us, dem Herrn der Erde.« Bei dem Rufe war­fen sich alle in dem Vor­zim­mer Ver­sam­mel­ten nie­der auf das Ant­litz.

Als­bald er­schi­en der Vor­ste­her des hei­li­gen Schlaf­ge­ma­ches, der Prä­po­si­tus sa­cri Cu­bi­cu­li, und wink­te mit er­ho­be­ner Hand: »Hin­weg!« Sie ver­schwan­den in Eile.

Nach ei­ni­ger Zeit trat aus dem Ster­be­ge­mach ein jun­ger Mann in Pur­pur­ge­wän­dern, asch­fahl von Ant­litz, von rast­los un­s­te­tem Blick der tief lie­gen­den schwar­zen Au­gen; er zit­ter­te vor Auf­re­gung; sein Schritt wank­te, er stütz­te sich schwer auf einen lan­gen gol­de­nen Stab: es war der Stab der Welt­be­herr­schung; er hat­te ihn eben auf­ge­nom­men. Das Haupt hing auf die Brust, die schma­len vor­ge­beug­ten Schul­tern schie­nen die Wucht der neu­en Wür­de nicht tra­gen zu kön­nen; er sah starr vor sich nie­der auf den Mar­mo­re­strich.

Ein Kriegs­tri­bun, in vol­len Waf­fen ge­rüs­tet, war der ers­te, der ihm aus dem In­nen­ge­mach folg­te: er hielt eine Pa­py­rus­rol­le in der Hand. Gleich hin­ter ihm wan­del­te der Bi­schof der Stadt be­dacht­sa­men Schrit­tes in das Vor­zim­mer. »Bleibt es da­bei, o Im­pe­ra­tor?« frag­te mit lei­sem Grau­en der Ge­pan­zer­te.

Con­stan­ti­us sah nicht auf. »Hab ich’s zu­rück­ge­nom­men?« frag­te er ent­ge­gen; schein­bar ru­hig, aber sei­ne Lip­pe zuck­te. Er sah zwei­felnd zu dem Prä­po­si­tus hin­über, aber die­ser hob war­nend, fast dro­hend den Fin­ger.

»Herr, die Lis­te ist lang!« sprach der Kriegs­mann. »Dei­ne drei Ohei­me? Also alle Brü­der dei­nes eben ver­ewig­ten Va­ters, dar­un­ter auch der Pa­tri­ci­us Ju­li­us, dein eig­ner Schwie­ger­va­ter, der Va­ter dei­ner ver­stor­be­nen Ge­mah­lin? Und dei­ne Vet­tern, alle sie­ben? Sind zehn! Alle dei­ne Ver­wand­ten? Son­der Aus­nah­me? Sie sind …« – »Fein­de des Im­pe­ra­tors«, un­ter­brach die­ser. »Und der hei­li­gen Kir­che«, fiel der Bi­schof vor­tre­tend ein. »Heim­lich heid­nisch oder, was noch schlim­mer, ket­ze­risch ge­son­nen im Her­zen. Hilf doch, Eu­se­bi­us!« Da schritt der Prä­po­si­tus in sei­nem gold­strot­zen­den Ge­wan­de dicht an den Tri­bun her­an und herrsch­te ihm mit hei­se­rer Stim­me zu: »Kann ein Krie­ger nicht mehr ge­hor­chen?« – »Auch die Frau­en, die Mäd­chen?« – »Alle, die noch hei­ra­ten kön­nen«, nick­te der Im­pe­ra­tor. »Sie sind so ge­fähr­lich wie die Män­ner.« – »Oft rach­süch­ti­ger und schlau­er!« er­gänz­te Eu­se­bi­us. Er war der obers­te Eu­nuch des Palas­tes.

»Hier ste­hen aber auch drei Kin­der! Auch die? Dei­ne bei­den jun­gen Nef­fen? Dei­ne klei­ne Nich­te?« – »Was fragst du?« knirsch­te der Au­gus­tus, mit dem Fuß auf­stamp­fend. »Alle, die mir jetzt oder künf­tig scha­den kön­nen. Soll ich die Rä­cher her­an­wach­sen las­sen?«

Gleich dar­auf krach­ten die Hau­stü­ren gar man­cher Pa­läs­te zu Ni­ko­me­dia von au­ßen nach in­nen: Waf­fenk­lir­ren – ro­ter Schein von Pech­fa­ckeln – Lärm – Wi­der­spruch, hier und da Wi­der­stand der Haus­skla­ven – gleich dar­auf Weh­ge­schrei von Ster­ben­den.

In das Haus des Pa­tri­ci­us Ju­li­us, des einen Bru­ders des eben Ver­stor­be­nen, drang ein Cen­tu­rio mit ei­ner Schar von blon­den bar­ba­ri­schen Söld­nern. Der Haus­herr selbst trat ih­nen im Atri­um rasch mit teil­nahms­vol­ler Sor­ge ent­ge­gen.

»Wie steht’s mit un­se­rem Herr­scher, mei­nem Bru­der?« – »Das frag ihn selbst im Ha­des! Oder viel­leicht im Him­mel der Chris­ten!« schrie der Cen­tu­rio. »Mich sen­det der neue Herr: dein Nef­fe Con­stan­ti­us, der schickt dir – durch mich – dies!« Er stieß ihn nie­der; das kur­ze Rö­mer­schwert durch­drang die lin­ken Rip­pen und fuhr im Rücken her­aus. »Wo ist die Frau?« schrie der Wil­de. »Wo das Mäd­chen?«

»Hier, Mör­der!« rief eine aus­neh­mend schö­ne Frau von etwa vier­zig Jah­ren, die ein klei­nes Mäd­chen an der Hand führ­te. »Lass uns mit ihm ster­ben!«

Der Le­gio­när zück­te das brei­te Schwert ge­gen sie; da­bei sah er ihr in das Ant­litz: so wun­der­bar schön wa­ren die­se Au­gen – er senk­te er­schüt­tert für eine kur­ze Wei­le die Waf­fe, die vom Blu­te des Man­nes troff.

Der wand sich ster­bend und stöhn­te noch ein­mal. Da ver­gin­gen der Gat­tin die Sin­ne; be­wusst­los sank sie auf ihr Ant­litz über der Lei­che zu­sam­men. Laut wein­te und schrie das ge­ängs­tig­te Kind.

Mit dem Fuß schob der Cen­tu­rio die Ohn­mäch­ti­ge zur Sei­te und hol­te noch ein­mal aus, sie vom Rücken zu durch­boh­ren.

Da stürz­ten aus ei­nem der Schlafräu­me zur Rech­ten zwei sei­ner Söld­ner has­tig zu­rück: »Mach, dass du fort­kommst«, schrie der ers­te ver­stört, fass­te ihn am Arm und dräng­te ihn ge­gen die Aus­gangs­tür. »Seid ihr fer­tig?« frag­te er. »Was ist euch? Wo sind die Köp­fe? Zwei Kna­ben: Gal­lus heißt der eine, der an­de­re …« – »Gal­lus liegt im Ster­ben«, ant­wor­te­te der Söld­ner. »So sag­te uns der Arzt, ein klei­ner bu­cke­li­ger …« – »An den schwar­zen Blat­tern, be­stä­tig­te uns ein Mönch, der da­bei­stand«, er­gänz­te der zwei­te. »Den Blat­tern?« rief der Cen­tu­rio. »Weh! Beim Styx! Die ste­cken an! Also der äl­te­re – ge­fähr­li­che­re – stirbt. Und was ist’s mit dem jün­ge­ren, he, Bero, Ale­man­nen­bär?« – »Der jün­ge­re? Das ist ein Kind von kaum sechs Jah­ren. Ich mor­de kei­ne Kin­der«, zürn­te der Rie­se und schüt­tel­te die ro­ten wirr-zot­ti­gen Lo­cken. »Willst du, so tu’s selbst. Ich nicht! Geh hin­ein! Er liegt schluch­zend über den ster­ben­den Bru­der hin­ge­streckt. Geh, schlach­te du ihn ab!« – »Ich dan­ke! Ich scheue jene schwar­zen Beu­len. Fort aus dem ver­pes­te­ten Hau­se!« – »Al­les, was scha­den kann, sag­te der Ober-Eu­nuch.« – »Kin­der kön­nen doch nicht scha­den. Auch nicht die­se Klei­ne da! Wei­ter! Die Lis­te ist gar lang und kurz die Mai­en­nacht. Und die Son­ne darf kei­nen mehr am Le­ben fin­den, so hieß es. Fort! Hin­aus!«

Zweites Kapitel

In Ki­li­ki­en nahe bei Tar­sus rag­te in ei­ner ab­ge­le­ge­nen öden Vor­stadt aus düs­te­ren Zy­pres­sen ein düs­te­res Ge­bäu­de; wie eine Fes­te um­schlos­sen es hohe Stein­mau­ern.

Und es war auch eine Fes­te: eine Wehr­burg der Kir­che, eine Klos­ter­schu­le, in wel­cher Kna­ben und Jüng­lin­ge, streng ab­ge­sperrt von dem Lärm und von den Ver­füh­run­gen des Le­bens, für den Pries­ter­be­ruf vor­ge­bil­det wur­den. Nicht alle hat­ten frei­wil­lig die­se Lauf­bahn ge­wählt: es wa­ren vie­le Wai­sen dar­un­ter, meist Söh­ne von »Hoch­ver­rä­tern«; oder doch von – Hin­ge­rich­te­ten.

An das schwei­gen­de Haus mit sei­nen schma­len, licht­ar­men Gän­gen und den schmuck­lo­sen, ein­fenst­ri­gen Zel­len der Zög­lin­ge stieß ein nicht min­der freud­los an­mu­ten­der Gar­ten: ent­lang den al­ters­grau­en Mau­ern starr­ten die dun­kel­grü­nen, fins­te­ren Zy­pres­sen, und in je­dem Eck der recht­win­ke­li­gen Um­wal­lung schüt­tel­te eine ein­sa­me Pi­nie, ver­träumt und trau­rig, das schwer­mü­ti­ge Haupt.

Der Ra­sen des Gar­tens war von der hei­ßen Son­ne braun ge­brannt. In der Mit­te lag der ver­wit­ter­te Stein­brun­nen fast aus­ge­trock­net: er soll­te einen Spring­quell vor­stel­len; aber nur ein kläg­lich dün­ner Was­ser­strahl hob sich mit schwa­cher Re­gung ein paar Fuß aus dem schwar­zen Mar­mor­grund, um als­bald wie to­des­matt und le­bens­mü­de, wie ver­zwei­felnd ge­räusch­los wie­der her­ab­zuglei­ten.

Es war Hoch­som­mer­zeit. Mit­leid­los brann­te die grel­le Mit­tags­son­ne senk­recht nie­der auf die blen­dend wei­ßen Sand­we­ge, die den vier­e­cki­gen Raum, ein Kreuz bil­dend, schnit­ten. Kein Busch, kei­ne Blu­me ward hier ge­dul­det; sie hät­te auch ver­schmach­ten müs­sen; da­her flog hier auch nie ein Fal­ter, kein Vo­gel sang; die Schwal­be hielt im Zwit­schern ein, flog sie über den öden Raum da­hin; rings al­les still bis auf das ein­för­mi­ge Ge­zirp der Zi­ka­den auf den in der Glut ba­den­den waag­rech­ten Äs­ten der Pi­ni­en.

Zwölf Jah­re nach je­ner Mord­nacht wa­ren ver­gan­gen; da wan­del­ten un­er­mü­det, un­un­ter­bro­chen, trotz der drücken­den Hit­ze auf den schat­ten­lo­sen We­gen, lang­sam, in im­mer gleich­mä­ßi­gem Schrit­te da­hin, ein Mann in rei­fen Jah­ren und ein halb­wüch­si­ger Jüng­ling: bei­de bar­häup­tig, ba­r­ar­mig und bar­fuß, bei­de in lan­ge weiß­graue Kut­ten als ein­zi­ges Ge­wand ge­klei­det; die wa­ren von Zie­gen­fell, das Haar nach in­nen ge­kehrt; ein drei­fach ge­kno­te­ter der­ber Strick hielt das raue Kleid über den Hüf­ten zu­sam­men.

Der Jüng­ling be­merk­te, wie der zu sei­ner Rech­ten Schrei­ten­de schwer un­ter der sen­gen­den Hit­ze litt: Er at­me­te mit An­stren­gung, er wisch­te wie­der­holt den Schweiß von der ho­hen, tief ge­furch­ten Stir­ne. »Wie kann ich dir dan­ken?« sprach der Jün­ge­re, das dunkle see­len­vol­le Auge mit den lang schat­ten­den schwar­zen Wim­pern zu je­nem auf­schla­gend. »In Chri­sto Ge­lieb­ter, du mein Leh­rer, mein ein­zi­ger Freund auf Er­den, du mein ein und al­les! Mir legt der Abt die Buße auf, und du – du teilst sie frei­wil­lig mit mir! Nur um sie …« – »Dir zu er­leich­tern, mein in Gott ge­lieb­ter Sohn! Ein­tau­send Va­terun­ser sind dir auf­er­legt, hin­ter­ein­an­der in der Son­nenglut zu be­ten, dann mir zu beich­ten und die von mir über dich zu ver­hän­gen­de wei­te­re Buße zu leis­ten. Ich be­glei­te dich, bis du tau­send Ge­be­te zu Ende ge­spro­chen: ich weiß, du wan­delst leich­ter, schrei­te ich ne­ben dir.« Dank­bar drück­te ihm der Jüng­ling die Hand. »Darf ich jetzt – nach­dem ich die Stra­fe er­lit­ten – fra­gen, wes­halb ich be­straft ward? Vor­her ist es ja ver­bo­ten.« Der an­de­re nick­te, ließ das durch­drin­gen­de, fast un­heim­lich scharf bli­cken­de Auge auf ihm ru­hen und strich ihm über das glän­zend schwar­ze, ganz kurz ge­scho­re­ne Haar. »Jetzt darfst du fra­gen. Du wur­dest ge­straft we­gen geist­li­cher Hoff­art, o mein Ju­lia­nus.«

»Ich?« rief der Jüng­ling und blieb er­schro­cken ste­hen. »Oh, die Hei­li­gen wis­sen, wie de­mü­tig ich bin im tiefs­ten Her­zen, wie zer­knirscht im Be­wusst­sein mei­nes Un­wer­tes, mei­ner Sünd­haf­tig­keit. Was habe ich ver­bro­chen?«

»Du hast, als du dich un­be­ach­tet glaub­test in dei­ner Zel­le, einen Sta­chel­gür­tel um die Len­den ge­schnürt.« Jä­hes Blut schoss in die wachs­fah­len, ein­ge­sun­ke­nen Wan­gen des jun­gen Bü­ßers: die schmäch­ti­ge, noch bei­na­he kna­ben­haf­te Ge­stalt beb­te. »Wer hat …? Wie ist es mög­lich …? Ich war ganz al­lein.« – »So wähn­test du. Aber Gott nicht nur – auch der Abt sieht dich, wo dich nie­mand sieht.« Da wech­sel­te der Aus­druck auf dem schma­len, ha­ge­ren Ant­litz des Jüng­lings; zor­nig lo­der­te nun sein dunkles Auge, die blau­en Adern in den Schlä­fen schwol­len an: »Ly­si­as, das ist elen­de Auf­laue­rei.«

Er­schro­cken sah sich Ly­si­as um. Er leg­te war­nend den Zei­ge­fin­ger der Lin­ken auf den Mund.

Da lag der Jüng­ling schon, wie vom Blit­ze nie­der­ge­streckt, vor ihm im Staub, um­fass­te sei­ne Knie und fleh­te: »O ver­gib den Fre­vel: die Tod­sün­de des Zor­nes.«

»Und die schlim­me­re des Zwei­fels, wür­de Abt Ko­non sa­gen«, sprach Ly­si­as, ihn er­he­bend. »Kann Gott dem hei­li­gen Abt nicht ent­hül­len, was du im Ver­bor­ge­nen treibst? Es ist aber Über­he­bung, ist geist­li­cher Hoch­mut, durch heim­li­che Kas­tei­ung mehr Ruhm als die Brü­der vor Gott ge­win­nen zu wol­len. Nun zu dei­ner Beich­te. Aber be­vor wir da­mit be­gin­nen«, hier ver­schärf­te sich wie­der wie dro­hend der spä­hen­de Blick, »ich muss bis in die tiefs­ten Wur­zeln dei­ner Ge­dan­ken, bis in die feins­ten Kei­me dei­ner Nei­gun­gen drin­gen und dei­ne gan­ze Ver­gan­gen­heit über­schau­en, um dich, den Ge­wor­de­nen, zu be­grei­fen: Er­zäh­le mir also von An­fang, von dei­ner frü­he­s­ten Kind­heit an die Ge­schich­te dei­nes jun­gen Le­bens. Nur stück­haft, ge­trübt durch der Men­schen Hass oder Vor­lie­be, kam mir man­che Kun­de da­von zu in – in der Ein­sam­keit die­ses Klos­ters«, füg­te er zö­gernd bei. »Gern, mein Va­ter. Aber du weilst noch nicht lang – nicht häu­fig im Klos­ter. Wo …?« Ein leich­tes Ge­wölk zog über die tief ge­furch­te Stirn des Man­nes. »Lass das! Einst­wei­len nur so­viel: Ich rei­se oft nach Ägyp­ten, mei­ner Hei­mat, zu­rück.«

»Wohl in das Mut­ter­klos­ter un­se­res Klos­ters; wie fast al­ler an­dern, wel­ches Pa­cho­mi­us der From­me auf je­ner In­sel des Nil­stroms, Ta­ben­nae …?« – »Nicht doch! Fra­ge nicht! Dann – zu rech­ter Zeit – wirst du viel mehr aus mei­nem Mun­de ver­neh­men, als du je ah­nen könn­test. Be­gin­ne. »Ich weiß also: Du bist der Sohn des Pa­tri­ci­us Ju­li­us, der Nef­fe des großen Im­pe­ra­tors Con­stan­tin, der Vet­ter un­se­res jet­zi­gen Herrn, Con­stan­ti­us …« – »Dem Gott lan­ges Le­ben und Sieg ver­lei­he«, un­ter­brach der Jüng­ling, die ma­ge­ren, schma­len Hän­de fromm zum Ge­be­te fal­tend. Scharf prüf­te da­bei der Äl­te­re den Aus­druck sei­ner Mie­nen: er fand – mit Über­ra­schung –, die Wor­te der vor­ge­schrie­be­nen For­mel wur­den nicht for­mel­haft oder er­zwun­gen, viel­mehr mit tiefer Emp­fin­dung, auf­rich­tig ge­spro­chen. »Noch in der Stun­de des To­des des großen Herr­schers«, fuhr Ly­si­as fort, »wur­den alle sei­ne Ver­wand­ten ge­tö­tet, auf Be­fehl des neu­en Herrn, Con­stan­ti­us.«

»Dem Gott lan­ges Le­ben und Sieg ver­lei­he!« wie­der­hol­te Ju­li­an; aber dies­mal furchte sich ihm wi­der Wil­len die wei­ße Stirn.

»Aus­ge­nom­men nur sei­ne bei­den Brü­der, Const­ans und Con­stan­ti­nus, mit de­nen er sich, nach des Va­ters Ge­bot, in das Reich tei­len muss­te. Zu ih­rem Glücke weil­ten sie nicht in Ni­ko­me­dia. Da­mals ward auch … hin­ge­rich­tet dein Va­ter, ob­wohl er dem Con­stan­ti­us nicht nur Va­ters­bru­der, auch noch sonst ver­bun­den war. Nicht?« frag­te er lau­ernd.

»Ge­wiss! Er war mei­nes Va­ters Ei­dam, er ist nicht nur mein Vet­ter, auch mein Schwa­ger: er war mit mei­ner kurz vor­her ver­stor­be­nen Schwes­ter ver­mählt, un­ser Im­pe­ra­tor Con­stan­ti­us, dem Gott …«, er brach kurz ab.

Ly­si­as warf einen be­frie­dig­ten Blick auf den in­ner­lich Er­grimm­ten und fuhr fort: »Als nun das Ärgs­te ge­sche­hen war …«

»Als das Ärgs­te ge­sche­hen war«, un­ter­brach Ju­li­an mit ei­nem wohl­ge­fäl­li­gen Lä­cheln, »da ge­sch­ah erst das Ärgs­te! Ist es eine Sün­de, o Va­ter«, er er­rö­te­te sehr an­mu­tig, »dass ich mich stark er­freue an sol­chem dia­lek­ti­schen Spiel?« – »Am Wort­witz? Eine Ei­tel­keit ist es, eine Schwä­che, nicht ge­ra­de eine Sün­de. Du bist über­haupt recht wit­zig, aber noch viel mehr ei­tel als wit­zig, o Ju­lia­nus.« – »O mein Leh­rer!« – »Ja­wohl! Trotz al­ler De­mut, zu der du dich – oft schwer! – zwin­gen musst. Du gehst ver­nach­läs­sigt ein­her – aber wie So­kra­tes zu An­tisthe­nes sprach: Durch die Lö­cher dei­nes Man­tels strahlt dei­ne Ei­tel­keit hin­durch.« – »Du hast recht«, flüs­ter­te Ju­li­an und schlug die lan­gen Wim­pern nie­der. »Ich will es ab­tun.« Er bück­te sich, ihm die Hand zu küs­sen. Ly­si­as ent­zog sie. »Du wirst das nicht kön­nen, mein lie­ber Sohn. Es ist dei­ne ei­gens­te Ei­gen­art. Aber hüte dich: Man be­herrscht die Men­schen durch ihre Lieb­lings­schwä­che; dich wird man durch dei­ne Ei­tel­keit be­herr­schen.« – »Mich, den ar­men Mönch? Wer soll­te das der Mühe wert fin­den?« Ein schar­fer Blick schoss hier aus den lei­den­schaft­li­chen Au­gen des an­dern. »Wer? Nun, viel­leicht ich, Ju­lia­nus.« – »Du scher­zest! Üb­ri­gens: Von dir will ich mich be­herr­schen las­sen – im­mer­dar!« – »Willst du?« frag­te Ly­si­as mit ei­nem ste­chen­den Blick. »Ich wer­de dich die­ses Wor­tes der­einst ge­mah­nen, Ju­li­an. Aber fah­re fort. Was war noch är­ger als die­ses Ärgs­te? Als die­se … Mor­de?«

»Der Ge­brauch, der Miss­brauch, den der Mör­der von dem Er­folg mach­te, ge­gen­über den See­len von uns drei Kin­dern, die er – noch! – ver­schon­te, der Herz­ver­hass­te!« Feu­er lo­der­te aus den Bli­cken des Jüng­lings. »O ver­gib, mein Va­ter, aber ich kann ihn noch im­mer nicht recht lie­ben, den Au­gus­tus! Ich weiß ja: Lie­bet eure Fein­de – ver­ge­bet eu­ren Schul­di­gern. Und so wei­ter! Ach, was er mir ge­tan – ich ver­zeih es ihm. Aber was er Gal­lus, was der heiß ge­lieb­ten Mut­ter, der Schwes­ter – ich kann es nicht ver­zei­hen! Stra­fe mich, ver­sa­ge mir den Sün­den­er­lass – denn das ist mei­ne schlimms­te Beich­te! Aber ich kann nicht. Noch nicht!«

Und in über­wäl­ti­gen­der Qual des Ge­wis­sens warf er sich aber­mals sei­nem Beich­ti­ger zu Fü­ßen; in hei­ßer Angst, fle­hent­lich sah er zu ihm em­por.

Da zuck­te der die Ach­seln, sah sich vor­sich­tig um und sprach dann ganz ru­hig: »Wenn du nicht kannst, kannst du nicht. Ich tät’s auch nicht, ’s ist wi­der die Na­tur. Steh auf.«

In äu­ßers­ter Über­ra­schung, ja Be­stür­zung sprang der Jüng­ling auf die Füße und starr­te ihn an. »Was – was ist das? Das war kein christ­lich Wort.« – »Aber ein wah­res. Still! Kein Auf­se­hen! Die Spä­her! Sie lau­ern da oben hin­ter den Fens­ter­vor­hän­gen auf uns her­ab. Er­zäh­le wei­ter.« Doch Ju­li­an konn­te sich noch im­mer nicht er­ho­len von sei­nem Stau­nen. »Wahr­heit au­ßer der Kir­che? Ge­gen die Kir­che? Das gibt es nicht!« flüs­ter­te er ent­setzt vor sich hin. »Und du, du – bist ein Pries­ter des Herrn?« – »Ein Pries­ter bin ich. Ein Pries­ter großer Her­ren – und mei­nes Herrn. Ge­dul­de dich noch! Sprich wei­ter. Ich be­feh­le es.« Mit An­stren­gung fass­te, sam­mel­te sich Ju­li­an: Er konn­te das su­chen­de Auge nicht lö­sen von dem Ant­litz des wi­der­spruchs­vol­len, rät­sel­haf­ten Man­nes.

»Wir wa­ren, so­bald die Krie­ger hin­weg­ge­stürmt, von un­se­rem Arzt und ei­nem Mönch, ei­nem Freund un­se­res Hau­ses, der in der Mord­nacht den tod­kran­ken Bru­der pfle­gen half, aus den blut­be­spritz­ten Ge­mä­chern in das Asyl ei­ner Kir­che ge­flüch­tet. Von dort aus ließ der Im­pe­ra­tor nach meh­re­ren Ta­gen uns drei Ge­schwis­ter in den Palast ho­len. Mit Ge­walt riss uns der Kriegs­tri­bun der Prä­to­ria­ner aus den Ar­men un­se­rer Be­schüt­zer. Zum Tode, mein­ten die bei­den, wür­den auch wir nun ge­schleppt. Mir war’s gleich­gül­tig, ich weiß nicht, warum. Ob­wohl ein Kind, war ich wie le­bens­mü­de: Ich be­ru­hig­te die Schwes­ter Ju­lia­na, die sich ängst­lich an mich klam­mer­te, küss­te sie auf die Au­gen – wir ha­ben uns im­mer so lieb ge­habt! – und sprach: ›Wei­ne nicht, lie­bes Schwes­ter­lein, wir sind Wai­sen; wir ha­ben auf Er­den kei­nen Freund. Denn auch die Mut­ter ist wohl er­mor­det.‹ Der gute Mönch sag­te, sie ist aus dem Hau­se des Arz­tes, der die Be­wusst­lo­se ge­ret­tet hat­te, von Krie­gern mit Ge­walt fort­ge­führt wor­den. Wai­sen aber sind am bes­ten ge­bor­gen – im Gra­be der El­tern. Denn dann sind sie nicht Wai­sen mehr.«

»Ein sechs­jäh­ri­ger Kna­be«, staun­te Ly­si­as. »Wi­der­na­tür­lich früh­reif.«

»Aber Gal­lus, mein Bru­der, sie­ben Jah­re äl­ter als ich, in­zwi­schen ge­ne­sen, tob­te ge­gen den Tri­bun. Er schlug nach ihm, er woll­te ihm das Schwert aus der Schei­de rei­ßen; mit Ge­walt muss­te der Mann den Zap­peln­den auf den ge­pan­zer­ten Arm neh­men. In dem Vor­hof der Ba­si­li­ka wur­den wir in zwei Sänf­ten ge­ho­ben – ich mit Ju­lia­na –, den schrei­en­den Gal­lus nahm der Tri­bun in die an­de­re. Die Lä­den der Sänf­ten wur­den sorg­fäl­tig ge­schlos­sen; das Volk auf den Stra­ßen soll­te nicht er­fah­ren, wer da in das Pala­ti­um – zum Tode? – ge­bracht wer­de, auf dass es nicht ver­su­che, uns zu be­frei­en! Sech­zig Prä­to­ria­ner wa­ren auf­ge­bo­ten, drei Kin­der vom Ent­sprin­gen ab­zu­hal­ten: Waf­fenk­lir­rend um­dräng­ten sie die Sänf­ten, die Neu­gie­ri­gen, die her­zu­lie­fen, den Auf­zug zu se­hen, mit ge­fäll­ten Spee­ren ab­weh­rend.

In dem Palast an­ge­langt, wur­den wir vor den Im­pe­ra­tor ge­führt. In dem von Gold und El­fen­bein leuch­ten­den Saa­le saß er, um­ge­ben von den Gro­ßen und von den Eu­nu­chen des Ho­fes, auf dem ho­hen Thron: blut­rot der Thron, blut­rot sein Man­tel. Ich sah sein Ant­litz zum ers­ten Mal: das lei­chen­fah­le, ha­ge­re – stets von hef­ti­gem Zu­cken be­wegt – den un­s­te­ten Blick …«

»Ge­nug! Ich ken­ne ihn.«

»Mir schau­der­te: all das Blut­rot mahn­te mich des Blu­tes der Mei­nen – die ja auch die Sei­nen ge­we­sen! –, das er in Strö­men ver­gos­sen. ›Schuld­los Blut färbt wohl be­son­ders stark?‹ Das muss­te ich im­mer den­ken. Auf einen Wink des Obe­reu­nu­chen soll­ten wir vor dem Au­gus­tus auf die Knie nie­der­fal­len. Ju­lia­na ge­horch­te, auch ich, da ich mich nicht be­rüh­ren las­sen woll­te, wie Gal­lus ge­sch­ah, den sie an den Schul­tern nie­der­drück­ten. Nun ward uns ver­le­sen – uns drei Kin­dern, o mein Va­ter! – un­ser To­des­ur­teil. Mit Be­ru­fung auf Got­tes Auss­pruch, dass er die Schuld der El­tern rächt bis ins vier­te Glied. Un­se­re El­tern sei­en we­gen er­heb­li­chen Ver­dach­tes des Hoch­ver­rats hin­ge­rich­tet, wir hät­ten ver­mö­ge der vor­beu­gen­den Ge­rech­tig­keit das glei­che ver­dient, des Va­ters und der Mut­ter Ver­mö­gen sei dem Fis­kus ver­fal­len und be­reits ein­ge­zo­gen. Wir wur­den nun ge­fragt, ob wir al­les ver­stän­den? Die Schwes­ter und ich, wir nick­ten stumm. Gal­lus aber ball­te die Faust wi­der den Im­pe­ra­tor und schrie zum Thron hin­auf: ›Ja, ich ver­steh’s! Blu­ti­ger He­ro­des! Kin­der­mör­der!‹

Der Au­gus­tus ward noch blei­cher als er war – blei­cher als bleich. – Klingt das nicht zier­lich?«

»Schon wie­der ein Wort­spiel, o Ju­lia­nus, du, eit­ler als ei­tel!«

»Aber Eu­se­bi­us, der Prä­po­si­tus und Obe­reu­nuch, fuhr fort; Con­stan­ti­us hat­te kein Wort ge­spro­chen, nur scheu­en Au­ges von mir auf Gal­lus, von Gal­lus auf mich ge­blickt. ›Dem Tode seid ihr ver­fal­len. Über eu­erm Na­cken schwebt das Schwert des ge­fäll­ten Ur­teils.‹ (Ein schie­fes Bild, nicht? Ich muss­te das da­mals schon den­ken.) ›Al­lein die Gna­de des Im­pe­ra­tors lässt es – noch! – un­voll­streckt. Lebt, lebt wei­ter un­ter dem han­gen­den Schwert. Aber seid stets des­sen ge­denk: je­den Au­gen­blick – ein Zu­cken der im­pe­ra­to­ri­schen Wim­per, und es fällt auf eue­re Na­cken.‹

Gal­lus woll­te er­wi­dern; er mach­te dro­hend einen Schritt ge­gen den Thron hin; da wink­te der er­schro­cke­ne Im­pe­ra­tor has­tig mit dem Zip­fel sei­nes Pur­pur­man­tels. ›Hin­aus! Hin­aus!‹ stieß er her­vor mit hoh­ler Stim­me – es war sein ers­tes Wort –, und hur­tig scho­ben und dräng­ten die Prä­to­ria­ner uns an den Schul­tern aus dem Saal.

Drau­ßen wur­den wir so­fort ge­trennt – um­sonst barg ich die laut wei­nen­de Schwes­ter an mei­ner Brust: sie ris­sen sie aus mei­nen Ar­men! Ich sah sie, sah Gal­lus nie­mals wie­der. Ich ward in ge­schlos­se­ner Sänf­te aus der Stadt ge­führt, ans Meer, ein­ge­schifft und zu­erst nach Io­ni­en, als­bald aber hier­her nach Ki­li­ki­en ge­bracht. Dort, an der Schwel­le der Mau­er­pfor­te, emp­fing mich der hei­li­ge Abt und ver­kün­de­te mir, der Im­pe­ra­tor habe mir das Le­ben ge­schenkt nur un­ter der Be­din­gung, dass ich mich nie ver­mäh­le und dass ich ein Pries­ter des Herrn wer­de. Mir war al­les gleich, auch Tod oder Le­ben. Die­se ho­hen, fins­tern Mau­ern schie­nen mir Gra­bes­mau­ern. Sind wir doch hier auch so gut wie be­gra­ben! Kei­ne Kun­de von der Au­ßen­welt dringt in die­se Stel­le. Weiß ich doch nicht ein­mal, ob mei­ne Mut­ter, mei­ne Ge­schwis­ter noch am Le­ben sind. Der hei­li­ge Abt ver­bot zu fra­gen.

Nur durch dei­ne Güte er­fuhr ich ja auch von dem Wich­tigs­ten, was in die­sem Rei­che der Rö­mer ge­sche­hen ist in all die­sen zwölf Jah­ren. In un­se­rem Haus, dem der Con­stan­tier, lebt, scheint es, die Wolfs­art von Ro­mu­lus und Re­mus fort. Die drei Brü­der, die Söh­ne und Er­ben des großen Con­stan­tin, Con­stan­ti­us, Const­ans und Con­stan­tin, die sich in das Reich ge­teilt, ge­rie­ten in Streit um die Beu­te, das heißt um das Erbe der in je­ner Mai­nacht Ge­mor­de­ten: Con­stan­tin fiel, sinn­los vor Gier, nach Räu­ber­art in das Ge­biet des Const­ans ein und ward er­schla­gen wie ein Wolf im Wal­de. Zehn Jah­re dar­auf trieb Const­ans durch sei­ne Un­ge­rech­tig­keit einen tap­fe­ren Feld­herrn, Ma­gnen­ti­us, zur Verzweif­lung, zur Em­pö­rung und fiel auf der Flucht. Schwer, furcht­bar, blu­tig hat­ten des letz­ten üb­ri­gen der drei Brü­der, hat­ten des Con­stan­ti­us Heer­füh­rer zu rin­gen, bis sie Ma­gnen­ti­us nie­der­ge­kämpft hat­ten. So herrscht jetzt Con­stan­ti­us al­lein über den Welt­kreis: von den ferns­ten Atro­pa­ten öst­lich vom Ti­gris im fa­bel­haf­ten Mor­gen­land bis zu den Bri­tan­nen, die in den Ne­beln des Welt­meers ver­schwin­den, und vom Mit­tel­lauf des Nils bis zu dem grau­si­gen Rhein­strom, der manch­mal, sagt man, zu fes­tem Eis ge­frie­ren soll: Weh, wer das schau­en müss­te. Aber wel­che Fül­le der Macht! Fast zu ge­wal­tig für einen Sterb­li­chen. Kann Con­stan­ti­us …?«

Er schwieg, in Sin­nen ver­sun­ken.

Ly­si­as blieb ste­hen: »Hät­test du Lust, ihm einen Teil die­ser Bür­de ab­zu­neh­men?« Scharf, durch­drin­gend prüf­te er bei der Fra­ge die Mie­nen des jun­gen Mön­ches. Die­ser aber lä­chel­te schwer­mü­tig: »Ich? Wie du spot­test! Doch frei­lich: Wäre ich nicht zum Diens­te des Herrn be­stimmt, weißt du, was ich am liebs­ten wer­den möch­te? Ein großer Feld­herr. Im Diens­te des Rö­mer­reichs Per­ser und Ger­ma­nen und alle Bar­ba­ren hin­weg­scheu­chen von den Gren­zen in sieg­haf­ter Schlacht …« – »Nun sprüht dein dunkles, sonst so träu­me­ri­sches Auge Blit­ze! So ge­fällst du mir, o Ju­lia­nus. Aber er­zäh­le wei­ter. Wie er­ging es dir nun hier? Trotz­test du nicht dem schimpf­li­chen Zwan­ge?« – »O nein! Wil­len­los ließ ich al­les mit mir ge­sche­hen. Doch ge­sch­ah mir nichts Schlim­mes – nichts Schlim­me­res als den an­de­ren Kna­ben: ler­nen, be­ten, bü­ßen, bü­ßen, be­ten, ler­nen – so ver­stri­chen mir die Jah­re hier. So wer­den sie wohl ver­strei­chen, bis ich st­er­be – hof­fent­lich bald. Ler­nen, bü­ßen, be­ten!« Er­schöpft hielt der klei­ne Schmal­brüs­ti­ge inne.

»Ja«, mur­mel­te der an­de­re vor sich hin. »Und was be­ten? Was bü­ßen? Was ler­nen?« – »Wie meinst du, hei­li­ger Va­ter?« – »Nen­ne mich nicht hei­lig. Nicht Men­schen sind hei­lig, nur die …« – »Du sag­test: ›Was ler­nen!‹ Ja frei­lich! Es ge­nügt mir we­nig! Auf die Zwei­fel, die Fra­gen, die mich zu eif­rigst um­trei­ben, Tag und Nacht, er­hal­te ich Ant­wort we­der von den Bü­chern, die wir aus­wen­dig ler­nen, in­wen­dig wäre bes­ser, nicht?« lä­chel­te er, er­freut über die Wort­wen­dung, »noch münd­lich von den Vä­tern. Ein­ge­bun­gen der Dä­mo­nen nen­nen sie mei­ne quälends­ten Fra­gen und ver­ord­nen mir da­für Bu­ßen. Ich fra­ge gar nicht mehr! Und ich möch­te doch so gern! Bren­nend ver­langt mich zum Bei­spiel zu wis­sen – mehr zu wis­sen als die hei­li­gen Bü­cher sa­gen! – vom Wer­den und We­sen der Welt, des Lich­tes, der Son­ne da oben und der Ster­ne! Oh, wer mir da­von Kun­de gäbe! Wo fin­de ich sie?« – »Hier«, sag­te Ly­si­as, und nach ei­nem vor­sich­ti­gen Blick nach den Fens­tern des Klos­ters, griff er in sei­ne Kut­te und zog zwei star­ke Pa­py­rus­rol­len her­vor. »Und hier. Rasch! Un­ter dein Ge­wand da­mit.«

Aber Ju­li­an zö­ger­te. Er­staunt blick­te er auf die Über­schrif­ten. »Pla­tons Ti­mäos! Und Plo­tin! Sie sind streng ver­bo­ten. Bei Gei­ße­lung!« – »Fürch­test du dich, Ju­li­an? So gib sie zu­rück.« – »Nur mit mei­nem Le­ben! O Dank! Dank!« Und er woll­te sich wie­der in den Staub vor ihn wer­fen. Ly­si­as hielt ihn ab. »Nicht doch! Man kniet nur vor je­nen, die dem All das Licht ge­sandt ha­ben und dir – mich.« – »Und mei­ne Beich­te? Und die Ver­ge­bung mei­ner Sün­den?« – »Du trach­test nach dem Licht: der Gott des Lichts, der obers­te von al­len, ver­gibt dir – durch mich – alle Sün­de. Denn nur eins ist Sün­de: nicht nach dem Lich­te, nicht nach den … gu­ten Ge­wal­ten trach­ten. Du bist nun reif, so­viel zu hö­ren. Bald mehr! Ge­nug für heu­te! Es grüßt dich, Ju­lia­nus – durch mich – der gött­lichs­te Gott.« Er strich ihm mit der Rech­ten über Stirn und Au­gen.

Und ra­schen Schrit­tes eil­te er hin­weg; ver­zückt schau­te ihm der Jüng­ling nach.

Drittes Kapitel

Tag für Tag wan­del­te nun der jun­ge Mönch stun­den­lang al­lein mit Ly­si­as, dem er von dem Abt be­son­ders zur Aus­bil­dung über­wie­sen war, in dem stil­len Klos­ter­gar­ten, stun­den­lang ver­tieft in erns­te Ge­sprä­che.

Ju­li­an er­mü­de­te nie­mals zu fra­gen. Sein leuch­ten­des, schwär­me­ri­sches Auge hing ganz an den Lip­pen des Leh­rers, und die­ser er­mü­de­te nicht, zu ant­wor­ten. Frei­lich, sei­ne Ant­wor­ten ge­nüg­ten oft we­nig dem schar­fen, an Dia­lek­tik sich freu­en­den Geis­te des Schü­lers. Es schi­en, als ob der so weit über­le­ge­ne, rei­fe Mann gar oft den Fra­ger nur in den Vor­hof der Weis­heit drin­gen las­se, die letz­ten Auf­schlüs­se noch zu­rück­hal­te. Da­durch ge­riet der Jüng­ling in einen Zu­stand rast­lo­sen, na­gen­den, boh­ren­den Zwei­fels. Im­mer lei­den­schaft­li­cher ward sein Drang nach Er­kennt­nis ent­facht; hät­te Ly­si­as es auf sol­che Stei­ge­rung an­ge­legt, und zu­gleich dar­auf, den Grüb­ler im­mer fes­ter an den kar­gen Be­leh­rer zu knüp­fen, er hät­te es nicht schlau­er an­ge­hen kön­nen.

Als Ju­li­an nach ei­ni­gen Ta­gen ihm ver­stoh­len die Schrif­ten Pla­tons und Plo­tins zu­rück­gab, glüh­ten die blei­chen Wan­gen, sei­ne ma­ge­re Hand zit­ter­te. »Dank! Hei­ßen Dank! Aber mehr. Mehr! Al­les!« flüs­ter­te er. – »Du fie­berst, mein Sohn!« sprach Ly­si­as, die Rol­len sorg­fäl­tig un­ter sei­nem Ge­wan­de ver­ber­gend. »Dein Auge glänzt, dei­ne Schlä­fen bren­nen, doch dei­ne Fin­ger sind eis­kalt. Wie hast du ge­schla­fen?«

»Gar nicht. All die­se Näch­te nicht! Im­mer, im­mer las ich’s noch mal. Ich weiß nun gar viel da­von aus­wen­dig. Wie viel leich­ter, gie­ri­ger er­fasst mein Geist die­se Wun­der, die­se Of­fen­ba­run­gen als die Of­fen­ba­rung des hei­li­gen Apos­tels Jo­han­nes. Wie wüst ist die­se, wie …! Aber sprich end­lich, Meis­ter! Gar vie­les in die­sen Leh­ren – und oft ge­ra­de, was mich am glü­hends­ten be­geis­tert – wi­der­strei­tet der Leh­re der Kir­che. Ach ich fle­he dich an – ich rin­ge so hart! Was – was ist Wahr­heit?« – »So frag­ten auch an­de­re schon.« – »Ja, Pon­ti­us Pila­tus, der Mör­der des Herrn!« rief Ju­li­an mit Grau­en. »Aber doch …! Wei­che mir nicht län­ger aus. Ich ver­zweifle in die­sem Hin- und Her­schwan­ken zwi­schen den Leh­ren der Kir­che und den Ge­dan­ken im Ti­mäos oder den Ge­heim­nis­sen Plo­tins. Aber ach! Ich weiß ja gar nicht, wo­hin! Ich wage mich nicht wei­ter hin­aus auf das of­fe­ne Meer der Ge­dan­ken! Ich kann, ich will nicht den An­ker lich­ten, den ich ein Jahr­zehnt lang so tief in den Fels­grund der hei­li­gen Kir­che ver­senkt. Nur die Kir­che hat die Wahr­heit und das Heil. Ich kann nicht, ich wer­de nie­mals von ihr las­sen.« Er seufz­te. Er stöhn­te. Er sah schwär­me­risch gen Him­mel.

Ly­si­as ließ lan­ge den boh­ren­den Blick auf ihm ru­hen.

»So? Nun, es be­greift sich. Die Zucht war lang, scharf und un­aus­ge­setzt. Die wer­den­de See­le des Kin­des schon ward plan­mä­ßig um­spon­nen. Es ist viel­leicht bes­ser so! Vi­el­leicht irr­te ich, denn die Ster­ne ir­ren nicht! Ich war zu rasch! O mein Sohn, die Wel­t­an­schau­ung des Men­schen ist gar nicht bloß das Er­geb­nis sei­ner Ge­dan­ken, noch mehr der Er­leuch­tung durch die Himm­li­schen und durch die eig­nen Er­leb­nis­se. Und du – du hast noch nichts er­lebt.« – »Ich däch­te doch!« er­wi­der­te er­schau­dernd der Jüng­ling. »Al­ler­dings, dei­nes Hau­ses Aus­mor­dung, das To­des­ur­teil über drei Kin­der, ver­hängt durch den from­men Im­pe­ra­tor. Es ist ziem­lich viel. Aber doch, scheint es, noch nicht ge­nug! Wie lehrt die Kir­che? ›An ih­ren Früch­ten sollt ihr sie er­ken­nen.‹ Con­stan­ti­us ist nun zwar schon eine Gift­frucht son­der­glei­chen …« – »Aber er ist nur Laie«, warf Ju­lia­nus ein.

»Wohl! Du sollst die Früch­te an den Pries­tern ken­nen­ler­nen. Er­le­ben sollst du nun die Er­kennt­nis, dann erst wie­der wei­ter for­schen, den­ken, Schlüs­se zie­hen.« – »Aber, du selbst«, rief Ju­li­an ge­quält, »du bist ja auch ein Pries­ter der Kir­che …?« – »Ein Pries­ter bin ich, ich sag­te es schon. Je­doch es gibt der Göt­ter vie­le – we­nigs­tens«, ver­bes­ser­te er rasch, »nach dem Glau­ben der Men­schen! Und es gibt Gra­de der Er­kennt­nis vie­le – wie der Wei­hen.«

»O Ly­si­as! Glaubst du, dass es ir­gend­ei­ne Weis­heit gibt, wel­che …? Ich rede nicht von der Er­kennt­nis der Welt; die­se ge­nügt mir nicht, wie sie die Vä­ter leh­ren! Ich kann nicht an den ver­häng­nis­rei­chen Ap­fel­biss im Pa­ra­die­se glau­ben. Äp­fel sind, so scheint’s, ein Obst des Un­heils (ist das nicht ein hüb­scher Witz?). Denk an die Tro­er und Achä­er, an Eris und Pa­ris. Aber gibt es ir­gend­ei­ne Leh­re, die mehr die Tu­gend ih­rer Be­ken­ner för­dert als die Selbst­ver­leug­nungs­leh­re un­se­rer hei­li­gen Kir­che? Sie ent­zückt mich, die­se be­geis­tern­de Pf­lich­ten­leh­re, die­se Ab­tö­tung des Flei­sches, wie sie Abt Ko­non übt, und die­se De­mut, die­ser Ver­zicht auf alle Macht und Herr­schaft selbst der höchs­ten Bi­schö­fe. Nie will ich an­ders von den Pf­lich­ten den­ken als die Kir­che lehrt: die Flucht aus der Welt, die Ver­ach­tung der Welt, die de­mü­ti­ge Selbst­ver­leug­nung.«

»Das also sind sie, die bei­den ›Früch­te‹, die dir den größ­ten Wert zu ha­ben schei­nen? Die Haupt­be­wei­se für die Gött­lich­keit der Kir­chen­leh­re: die Fleischab­tö­tung und die herr­schafts­ver­ach­ten­de De­mut?«

»Ge­wiss, mein Meis­ter! Die Selbst­ver­leug­nung! Die Ver­nich­tung der fleisch­li­chen Be­gier und die Ver­nich­tung der Herrsch­gier. O wie hat jüngst der Abt Ko­non den jun­gen Theo­do­re­tos, den schö­nen kraft­strot­zen­den Grie­chen, gei­ßeln las­sen, weil der den Kopf um­wand­te, um dem üp­pi­gen voll­brüs­ti­gen Fi­scher­mäd­chen nach­zu­gu­cken, wie es am Fast­tag die Fi­sche aus der Stadt dem Klos­ter ge­bracht hat­te! Er selbst, der hohe Abt, schwang die Gei­ßel, dass das Blut des nack­ten Kna­ben in Strö­men auf den Estrich schoss. Welch hei­li­ger Ei­fer! Als war es ihm Wol­lust, so glüh­te er. Und wie kas­tei­et er sich selbst! Nie einen Trop­fen Wein bringt er über die hei­li­gen Lip­pen. Und dann: wel­che De­mut so­gar der höchs­ten Pries­ter! Hast du ver­ges­sen, was neu­lich aus dem Brie­fe des Paps­tes Li­be­ri­us ver­le­sen ward? Wie der, dem schon na­he­zu alle Bi­schö­fe eine Art von Ehren­vor­rang ein­räu­men, als dem Nach­fol­ger Sankt Pe­ters selbst, wie sich der Papst vor dem Im­pe­ra­tor Con­stan­ti­us auf das Ant­litz warf, am Ein­gang der Pe­ters­kir­che, wie er sich ›den Knecht der Knech­te Got­tes‹ nann­te, ›des Im­pe­ra­tors nied­rigs­ten Skla­ven‹, wie dem Im­pe­ra­tor al­lein al­les Erd­reich und auch die Kir­che zu ge­hor­chen habe? Und doch weiß ja der hei­li­ge Va­ter, dass er von Sankt Pe­trus den Schlüs­sel des Him­mel­reichs über­kom­men hat, zu bin­den und zu lö­sen für die Erde und für den Him­mel. Wahr­lich, eine Leh­re, die sol­che Tu­gen­den er­zieht, ist gött­lich! Was wol­len da­ge­gen Pla­ton und Plo­tin! Ha­ben sie die Hei­den vor der Sün­de be­wahrt?«

»Gut, mein Sohn, an ih­ren Früch­ten, das heißt an ih­ren Pries­tern sollst du die Kir­che er­ken­nen. Und zwar nicht nur vom Hö­ren­sa­gen und nicht aus Brie­fen. Es wird all­mäh­lich Zeit, dass du den Blick aus die­sen Klos­ter­mau­ern hin­aus in die Welt schwei­fen lässt; in die Welt, wie sie ist, nicht wie sie dir ge­schil­dert wird. Noch die Pfingst­ta­ge sollst du hier er­le­ben. Dann wer­de ich den hoch­ehr­wür­di­gen Abt bit­ten, dass er dich mir als Beglei­ter mit­gibt auf eine Amts­rei­se. Freue dich, Ju­li­an! Du sollst die Welt se­hen. Du sollst Gut und Bös un­ter­schei­den ler­nen.«

Ju­li­an er­schrak hef­tig. »O Meis­ter! So sprach die Schlan­ge.«

»Ge­wiss! Hat sie ge­lo­gen? Nur wer das Böse ken­nen­ge­lernt hat, kennt auch das Gute.«

Viertes Kapitel

Das Pfingst­fest war ge­kom­men. Schon den Tag vor­her hat­te die Ein­lei­tung der from­men Fei­er be­gon­nen: stren­ge­res Fas­ten, häu­fi­ge­rer Got­tes­dienst, zahl­rei­che­re ge­mein­schaft­li­che Ge­be­te und Ge­sän­ge. Geist­li­che und Mön­che wa­ren, oft aus wei­ter Fer­ne, her­zu­ge­wan­dert, das hohe Fest in dem sei­ner Hei­lig­keit, sei­ner stren­gen Zucht we­gen be­rühm­ten Klos­ter zu be­ge­hen. Es hieß »Ha­gi­on«, »Hei­lig­tum«.

Ju­li­an traf in die­sen Ta­gen die Rei­hen­pflicht als Pfört­ner. Uner­müd­lich und ohne Kla­ge saß er, wie die schlum­mer­lo­se Nacht hin­durch, so un­ter dem hei­ßen Son­nen­brand des Mit­tags vor der Klos­ter­pfor­te und wal­te­te sei­nes Am­tes.

Da wank­te auf der stau­bi­gen Stra­ße vom Nor­den, vom Tau­rus­ge­bir­ge her, in wel­chem die nack­ten Wän­de steil in die Luft rag­ten, an sei­nem Stab aber­mals ein Pil­ger in brau­ner Mönchs­kut­te her­an. Ob­zwar noch rüs­tig an Jah­ren, war er ge­beugt in der Hal­tung: die Glut des Ta­ges, die Mühe der Wan­de­rung schie­nen schwer auf ihm zu las­ten; gleich­wohl ging er zu Fuß ne­ben sei­nem Maul­tier her; er bück­te sich oft, von dem Rand des Gra­bens die kar­gen Hal­me zu pflücken und sie dem Tie­re dar­zu­rei­chen, das dann dank­bar zu ihm auf­blick­te. Als er in Sehnä­he kam, hielt der jun­ge Pfört­ner die Hand vor die Au­gen, die blen­den­den Son­nen­strah­len aus­zu­schlie­ßen. Nun er­kann­te er of­fen­bar den Wan­de­rer. Hur­tig lief er ihm ent­ge­gen. So­bald er ihn er­reicht hat­te, woll­te er sich ihm zu Fü­ßen wer­fen, aber der An­kömm­ling hielt ihn ab und zog ihn an die Brust.

»O Jo­han­nes, mein Va­ter, mein from­mer Leh­rer!« rief der Jüng­ling in­nig und be­deck­te die ha­ge­ren son­nen­ge­bräun­ten Hän­de des Pil­gers mit Küs­sen. »Wie wohl tut es mir in der See­le, dich wie­der­zu­se­hen! All­zu lang bist du mir fern ge­we­sen.«

Der Pil­ger ließ die sanf­ten blau­en Au­gen lang auf den blei­chen er­reg­ten Zü­gen des Mön­ches ru­hen: »Ja, mein Ju­lia­nus, ich glau­be, es ist gut, dass wir wie­der ein­mal Bli­cke und Wor­te tau­schen. Ich hat­te star­ke Sehn­sucht nach dir. Und schwe­re Träu­me ängs­tig­ten mich um dich. Ich sah dich Ar­g­lo­sen um­rin­gelt von ei­ner gif­ti­gen Schlan­ge, die ihre Krei­se nä­her und nä­her um dich zog. Die Sor­ge um dei­ne See­le trieb mich her. Ich fin­de dich ver­än­dert, sehr. Gar we­nig ju­gend­lich siehst du aus! Ein­ge­fal­len die Wan­gen, bleich, nur in der Mit­te ein ro­ter bren­nen­der Fleck, schwar­ze Schat­ten um die Au­gen: all­zu hell glän­zen die aus tie­fen Höh­len her­aus. Und warum – ich sah es wohl! – sa­ßest du mit­ten im Son­nen­brand statt in dem Schat­ten des vor­sprin­gen­den Eck­turms?«

Der Pfört­ner schlug die Au­gen nie­der. Glu­ten schos­sen plötz­lich in die wachs­fah­len Wan­gen. Der schmäch­ti­ge Kör­per, der das Mit­tel­maß nicht er­reich­te, zit­ter­te. Er wank­te. Der an­de­re hielt ihn auf­recht an den Schul­tern.

»Ich ahne! Du woll­test dich wie­der ein­mal über das Ge­bot der Klos­ter­zucht hin­aus kas­tei­en! Maß­lo­se Ab­tö­tung, nein: Pei­ni­gung des Flei­sches! Selbst auf­er­leg­te Buße!« Ju­li­an barg das An­ge­sicht an sei­nem Hal­se und wein­te, wein­te bit­ter­lich. »Mein ar­mer Sohn! Mein Lieb­ling! Fas­se dich! Was quält dich so?« – »O lass mich wei­nen! Wei­nen an dei­ner treu­en Brust. Ah, das tut wohl wie Ge­wit­ter­re­gen nach ver­zeh­ren­dem Son­nen­brand. Oh, lass mich dir beich­ten.« – »Nicht mir, mein Ju­li­an! Wer ist dein vom Abte ver­ord­ne­ter Beich­ti­ger?« – »Ly­si­as.«

Da er­schrak der Alte und fuhr zu­sam­men.

»Aber er er­lässt mir alle Sün­den, die ich beich­te, ohne jede Buße. Er lä­chelt über das, was ich Sün­de nen­ne. Auch über …« Er ver­stumm­te.

Der Pil­ger strich ihm über die Stir­ne: »Auch wohl über den Zwei­fel«, er­gänz­te er, »der dir im­mer wie­der auf­taucht? Mein ar­mes Kind! Du musst nicht zwei­feln, darfst nicht grü­beln. Glau­ben musst du, oder elend sein.« – »Wo­her weißt du …?« – »Ich lie­be dich, dar­um kenn ich dich. Auch ich war ein­mal jung, war voll Flei­sches­lust, aber auch voll Lern­be­gier, war voll Hoff­art welt­li­chen Wis­sens ge­gen­über den Leh­ren des Herrn, die frei­lich wi­der die Ver­nunft ge­hen, weil über die Ver­nunft. Da­rum eben müs­sen wir glau­ben. Ver­za­ge nicht, ver­zweifle nicht, weil du noch zwei­felst, mein Sohn. Du wirst über­win­den. Glau­be mir, nicht durch die Bü­cher, nicht durch die Leh­re, durch das Le­ben al­lein wirst du un­lös­bar mit Chris­tus ver­knüpft. Man kann sei­nen Er­lö­ser nicht er­grü­beln, er­le­ben muss man ihn und sei­ne Wahr­heit! Vor je­nem aber, des­sen Na­men du vor­her ge­nannt hast, vor je­nem lass dich war­nen. Er ist –«

Da traf von hin­ten her ein hef­ti­ger Faust­schlag den Kopf des Pil­gers, dass des­sen Rei­se­hut zur Erde flog. Ly­si­as stand zorn­glü­hend zwi­schen den bei­den. So­wie Ju­li­an ihn er­kann­te, senk­te er den Arm, den er rasch zum ver­gel­ten­den Streich er­ho­ben hat­te. »Er ist dein geist­li­cher Obe­rer, du schwei­fen­der Mönch, wie die­ses Kna­ben, des pflicht­ver­ges­se­nen Pfört­ners, der, dem kin­di­schen Her­zen fol­gend, dir ent­ge­gen­lief, sei­nen Pos­ten ver­las­send. Dort ste­hen, von den an­dern Stra­ßen her an­ge­langt, vie­le Wal­ler vor der hei­li­gen Stät­te – und der Pfört­ner …?«

Schon war Ju­li­an zu­rück­ge­eilt und bat die dort Har­ren­den um Ver­zei­hung.

Einst­wei­len hob Ly­si­as dro­hend den Zei­ge­fin­ger ge­gen den An­kömm­ling, und grim­mig, bös­ar­tig, blitz­te sein Auge wi­der ihn, als er rief: »Wag es, mit mir um die­se See­le zu rin­gen! Wag es, nur noch ein­mal mit ihm al­lein zu flüs­tern, und er soll dich ken­nen­ler­nen, du Mör­der.«

»Wo ist Jo­han­nes?« frag­te Ju­li­an, so­bald er die an­ge­lang­ten Gäs­te über den Hof an die in­ne­re Türe ge­lei­tet und nun die Au­ßen­pfor­te wie­der er­reicht hat­te.

»Um­ge­kehrt.« – »Ach! Wa­rum?« klag­te der Jüng­ling. – »Weil ich es be­fahl. Er ist Sub­dia­kon. Ich bin Pres­by­ter.« – »Und warum schlugst du ihn? Und wann werd ich ihn wie­der­se­hen?« – »Nie­mals. So hoff ich.« – »Aber warum?« – »Du wagst zu fra­gen? Weil ich’s nicht will. Das ge­nü­ge dir, Kna­be. Aber da ich so tö­richt bin, dich zu lie­ben, dich un­aus­sprech­lich zu lie­ben, – will ich dei­ne ke­cke Fra­ge be­ant­wor­ten: weil er Gift ist für dei­ne See­le. Und weil er dich be­fleckt mit Blick und Wort. Die Schuld Kains be­las­tet sei­ne See­le. Und er – Er! – will dich vor mir war­nen. Der Ein­fäl­ti­ge! Hat Er Ant­wort auf die bren­nen­den Fra­gen, Er­fül­lung für den Wis­sens­drang dei­nes Geis­tes? Was riet er dir?« – »Glau­ben.« – »Dump­fes Hin­neh­men! Der Narr! Der Schwär­mer, dem das na­gen­de Ge­wis­sen die Klar­heit des Ge­dan­kens zer­rüt­tet hat. Du zwei­felst? Ich sage dir: Er ist ein Mör­der. Ihm könn­test du fol­gen? Zu­rück in die Nacht des blö­den blin­den Glau­bens, in die Knech­tung des Ver­stan­des, statt mir, in die Frei­heit des Ge­dan­kens und in das Licht? Nein, du kannst nicht an­ders! Mir musst du fol­gen. War­te nur noch bis dies Fest zu Ende. Die Aus­gie­ßung des Geis­tes, des hei­li­gen! Ja­wohl! Auch auf dich soll er aus­ge­gos­sen wer­den, der Geist mei­nes Got­tes – des Licht­got­tes! – und er­ken­nen wirst du bald an sei­nen Wir­kun­gen den Geist je­nes Got­tes, dem Jo­han­nes dient.«

Fünftes Kapitel

End­lich war der Abend auch des zwei­ten Pfingst­fei­er­ta­ges vor­über.

Mit Be­wun­de­rung hat­te Ju­li­an zu dem Abte Ko­non em­por­geblickt, der, ohne einen Bis­sen, ohne einen Trop­fen Wein zu ge­nie­ßen, in al­len die­sen Ta­gen un­er­mü­det der schwe­ren Pf­lich­ten sei­nes Am­tes ge­wal­tet hat­te in Mes­se le­sen, Pre­dig­ten hal­ten, Beich­te hö­ren, Psal­lie­ren, Um­zü­ge füh­ren, Pil­ger emp­fan­gen, ihre Wün­sche und Fra­gen an­hö­ren, er­le­di­gen und be­ant­wor­ten. Und wann nun die an­dern Geist­li­chen, er­mü­det, das La­ger such­ten, dann brann­te noch die ein­sa­me Am­pel hoch in dem tur­m­ähn­li­chen Söl­ler des obers­ten Stock­werks, wo der Abt dem Ge­bet, der Buße, der For­schung ob­lag. Und wann, lan­ge nach Mit­ter­nacht, Ju­li­an wie­der er­wach­te, noch im­mer glüh­te da oben die Am­pel, eine stil­le Be­zeu­ge­rin des Flei­ßes, der Fröm­mig­keit, der Kas­tei­ung.

Bald nach Mit­ter­nacht des Pfingst­mon­ta­ges ward Ju­li­an ge­weckt durch einen Luft­zug, der über sein Strohl­a­ger auf dem Mo­sa­ik­e­strich hin­strich. Die schma­le Tür sei­ner schma­len Zel­le war halb ge­öff­net. In dem blei­chen Licht des Mon­des, das durch die ein Fens­ter er­set­zen­de Luke – hoch oben in der Mau­er – her­ein­fiel, sah er eine dunkle Ge­stalt re­gungs­los auf der Schwel­le ste­hen. Der jun­ge Mönch er­schrak bis ins tiefs­te Herz hin­ein. Un­ter na­gen­den Zwei­feln, un­ter boh­ren­den Ge­wis­sens­qua­len war er end­lich ge­gen Mit­ter­nacht ein­ge­schla­fen.

»Hebe dich von hin­nen«, flüs­ter­te er jetzt, und kal­ter Schweiß trat ihm auf die Stirn, »im Na­men des drei­ei­ni­gen Got­tes – wei­che, Ver­su­cher, wie im­mer du hei­ßest: Sa­ta­nas oder Lu­ci­fer oder …«

»Ly­si­as«, tön­te es da eben­so lei­se von der Tür her. »Steh auf und fol­ge mir. Aber still!« Schon stand Ju­li­an hin­ter ihm auf der Schwel­le. Nun schritt er bar­fuß über die kal­ten Mar­mor­plat­ten des lan­gen Klos­ter­gan­ges. Den Jüng­ling fror.

Geräusch­los schloss Ly­si­as die schwe­re Ei­sen­tü­re des Gan­ges auf. Sie wa­ren im Gar­ten. Der Füh­rer eil­te auf des­sen Git­ter­tor zu. »Das Klos­ter ver­las­sen? Zur Nacht?« stam­mel­te Ju­li­an. »Wo­hin?« – »Zum Abt!« und Ly­si­as schob den Rie­gel zu­rück.

»Der Abt? Da – hin­ter uns – hoch oben leuch­tet sei­ne Lam­pe, ei­nem schö­nen Ster­ne gleich. Sei­ne Zel­le ist …« – »Leer. Fol­ge!« Nun ging es rasch hin­ein in das Oli­ven­wäld­chen, das sich vom Klos­ter ge­gen die Vor­hü­gel des Ge­bir­ges hin­zog. Al­les still und ein­sam. Der Mond ward hin und wie­der von zie­hen­den Wol­ken ver­deckt.

Plötz­lich schreck­te der Jüng­ling zu­sam­men, ein ver­hal­te­ner Schrei ent­fuhr ihm. Er griff mit bei­den Hän­den nach dem Kopf. »Was war das? Was husch­te über mein Haar? Ein Dä­mon!« – »Nein. Eine Eule. Der Vo­gel Athen­as … will sa­gen«, ver­bes­ser­te er rasch, »der Weis­heit. Ein gu­tes Wahr­zei­chen! Du bist auf dem Wege zur Er­kennt­nis. Vor­wärts!«

Noch eine gute Stre­cke führ­te Ly­si­as in den nun dich­teren Wald hin­ein; er hat­te als­bald den brei­ten Weg der al­ten Le­gio­nen­stra­ße nach Tar­sus ver­las­sen und einen kaum wahr­nehm­ba­ren Steig seit­ab durch dich­tes Ge­strüpp ein­ge­schla­gen. Nur mit Mühe konn­te Ju­li­an fol­gen. Die schar­fen Zwei­ge der man­nes­ho­hen Dorn­bü­sche schlu­gen ihm ins Ge­sicht, dass sei­ne Wan­gen blu­te­ten, und ris­sen Lö­cher in sei­ne Kut­te. Nun stan­den sie vor ei­nem hoch in die Nacht­luft ra­gen­den Bau stol­zer Halb­bo­gen. Es war die Was­ser­lei­tung, die in bes­se­ren Ta­gen Roms ein Im­pe­ra­tor – Ha­dri­an – er­baut hat­te; aber lan­ge schon war sie ver­fal­len. Gro­ße Stein­plat­ten la­gen auf der Erde, von Moos, von Stein­brech über­wach­sen. Ly­si­as bück­te sich und tas­te­te su­chend un­ter den Trüm­mern um­her. End­lich griff er in die ei­ser­ne Hand­ha­be ei­ner ge­wal­ti­gen Mar­mor­plat­te, die ei­nem Brun­nen­de­ckel glich. Er wand­te sich. Ju­li­an bog atem­los das Ant­litz vor: »Jetzt schwei­ge, was du auch se­hen magst, kei­nen Laut! Oder wir sind bei­de des To­des!« Er schob nun mit An­stren­gung die Plat­te zur Sei­te. Eine Schlan­ge husch­te, auf­ge­schreckt, mit Zi­schen da­von. Ein paar Stu­fen wur­den sicht­bar. Ly­si­as schritt ei­ni­ge die­ser Staf­feln hin­ab. Er wink­te dem Jüng­ling, zu fol­gen. Sie stan­den jetzt auf der aus Zie­gel­stei­nen ge­mau­er­ten Wöl­bung ei­nes un­ter­ir­di­schen, kel­ler­ähn­li­chen Rau­mes, aus wel­chem ver­wor­re­nes Geräusch bis zu ih­nen em­por­drang. Ly­si­as knie­te nie­der, beug­te das Ant­litz und lug­te durch einen schma­len Spalt in der Stein­wöl­bung in die Tie­fe, die of­fen­bar frü­her das Was­ser­be­cken für die Lei­tung ge­bil­det hat­te; aber jetzt muss­te die ehe­ma­li­ge Brun­nen­stu­be tro­cken sein, denn durch den Spalt glänz­te aus der Tie­fe ein mat­ter Licht­schim­mer her­auf.

Ly­si­as nick­te be­frie­digt, er­hob sich, Platz zu schaf­fen, und wies Ju­li­an mit dem Zei­ge­fin­ger die Rit­ze in dem Ge­stein. Der drück­te nun das Ge­sicht dar­auf. So­fort woll­te er zu­rück­schnel­len. Aber mit ei­ser­ner Faust zwang ihm der Pries­ter den Na­cken nie­der.

Und Ju­li­an sah, muss­te se­hen! Er schloss das Auge. Al­lein nun ver­nahm er auch Wor­te! Und jetzt – un­will­kür­lich – späh­te er auch wie­der hin­ab. Da sa­ßen und la­gen in dem kreis­run­den Be­cken bei dem Schei­ne von Am­peln und Fa­ckeln auf wei­chen Pols­tern und Tep­pi­chen Ko­non der Abt mit etwa sechs sei­ner Mön­che und eben­so vie­len der Pil­ger und Ein­sied­ler, die Ju­li­an der Pfört­ner als Pfingst­gäs­te ein­ge­las­sen hat­te. Zwi­schen ih­nen aber, die Häup­ter an ihre Knie ge­schmiegt, ruh­ten etwa eben­so vie­le Mäd­chen und Wei­ber aus der na­hen Stadt in scham­lo­ser Tracht. Der Abt wieg­te auf sei­nem Schoß die üp­pi­ge Fi­scherdir­ne. Vor ihm, auf dem Tep­pich, wälz­te sich, sinn­los be­trun­ken, nackt bis auf den Len­den­gür­tel, Theo­do­ret der jun­ge Mönch. Lal­lend hielt er die lee­re Scha­le zu der Voll­bu­si­gen em­por, die ihm laut la­chend aus gold­nem Krug ein­schenk­te.

»Siehst du, Leae­na«, be­gann der Abt mit schwe­rer Zun­ge, »was der Jun­ge, der Theo­do­ret, für wei­ße Glie­der hat? Er ist schö­ner als du. Er wird dich ab­lö­sen in mei­ner Gunst, wie Ga­ny­med bei Va­ter Zeus Frau Hera ver­drängt hat. Ich merk­te es schon, als ich ihn gei­ßel­te. Ich dach­te nicht da­mals, als ich ihn so hart züch­tig­te …« – »Aus ei­tel Ei­fer­sucht!« höhn­te Leae­na. – »Dass er so bald un­se­res Ver­trau­ens sich wür­de wert er­wei­sen. Ja, ja, Kna­ben­schö­ne geht über Mäd­chen­schö­ne.« – »Nicht im­mer«, lach­te die Schwarz­lo­cki­ge. »Nicht vie­len weich ich. Nicht vie­le Jüng­lin­ge sind so schön. Zum Bei­spiel, sieht nicht der ha­ge­re Im­pe­ra­tors­vet­ter aus wie ein kran­ker Zie­gen­bock?« Schal­len­des Ge­läch­ter ant­wor­te­te ihr, un­ter­mischt mit den Ru­fen: »Der Grüb­ler!« – »Der Dumm­kopf!« – »Der from­me Narr!« – »Ich trug ihm auf«, fuhr der Abt fort, »heu­te bis Mit­ter­nacht für mein See­len­heil zu be­ten. Er ist gren­zen­los ein­fäl­tig. Rei­che den schwe­ren Wein her­vor, dort aus dem Erd­loch! Schenkt ein! Wir kön­nen nicht mehr war­ten.« »Auf wen?« frag­te ei­ner der Klos­ter­gäs­te. »Nun, auf den ein­zi­gen, der heu­te fehlt, auf Ly­si­as! – Horch! Was war das? Da oben? Was fiel da?« »Nichts! Ein Stein brö­ckel­te aus der De­cke!« ant­wor­te­te Leae­na. Aber es war Ju­li­an ge­we­sen, der, mit hal­b­er­stick­tem Schrei, ohn­mäch­tig mit dem Ant­litz auf das Ge­wöl­be nie­der­ge­stürzt war.

Sechstes Kapitel

In schwe­rem Fie­ber lag der jun­ge Mönch auf sei­nem Stroh; an sei­ner Sei­te saß Ly­si­as, mit ei­nem in Es­sig ge­tränk­ten Schwamm ihm die hei­ßen Schlä­fen küh­lend.

Schon sechs Tage wa­ren ver­gan­gen, seit er den Tau­meln­den, halb stüt­zend, halb tra­gend, mit äu­ßers­ter An­stren­gung aus je­ner Tie­fe zu­rück­ge­bracht hat­te in das Klos­ter. Hier war Ju­li­an so­fort von hef­ti­ger Ge­hirn­krank­heit er­grif­fen und dem Tode so nahe ge­bracht wor­den, dass der Klos­ter­arzt ihn ver­lo­ren gab. Nicht aber Ly­si­as. Der war Tag und Nacht nicht von sei­nem La­ger ge­wi­chen, un­er­müd­lich in sei­ner Pfle­ge; ei­fer­süch­tig hat­te er je­den an­dern fern­ge­hal­ten von den Fie­ber­re­den des Kran­ken.

»Der Arzt gibt ihn auf«, hat­te er zu dem Abte ge­sagt, »so über­lass ihn mei­ner Heil­kunst. Du weißt, ich ken­ne die ge­hei­men Kräf­te der Na­tur.« – »Ja­wohl. Zwar schwer­lich kommt dir sol­che Wis­sen­schaft vom Hei­li­gen Geist. In Ägyp­ten, in Cor­due­ne, in Per­si­en und wo sonst du dich so lang um­ge­trie­ben, da wal­ten noch die Dä­mo­nen. Aber mir kann’s gleich sein, ob der ver­rück­te Jun­ge lebt oder stirbt. Und der Au­gus­tus wird sich auch trös­ten über des lie­ben Vet­ters Tod.« So hat­te Ly­si­as freie Hand ge­habt und die Hor­cher fern­hal­ten kön­nen.

»Stirbt er, so stirbt mir – ach, den Göt­tern! – eine große, viel­leicht die letz­te Hoff­nung. Die­sen Grüb­ler und Schwär­mer, die­sen für al­les, was er für edel hält, be­geis­ter­ten und da­bei doch so eit­len Träu­mer kann man vor­aus­be­rech­nen in je­der Re­gung sei­nes Geis­tes. Und auf ihn ver­wei­sen alle si­chers­ten Zei­chen der Gestir­ne – auf ihn und … mein Haus! – Un­be­re­chen­bar aber frei­lich ist der Zu­fall. So auch der Zu­fall, dass er mich aus dem Mun­de des Ab­tes als – an­geb­li­chen – Ge­nos­sen je­ner Lüs­te ken­nen­lern­te. Das hät­te ihn fast ge­tö­tet. Und das zwingt mich nun, ihm frü­her, als ich woll­te… Er schlägt die Au­gen auf! Der Puls – das Fie­ber, ist stark ge­fal­len. Er wird le­ben! Für mich – und für … sie! – soll er le­ben! Und mehr noch: für die Olym­pier alle als ihr Ret­ter und Rä­cher!«

Zwei Mo­na­te spä­ter wan­del­ten Ly­si­as und Ju­li­an mit­ein­an­der durch die Stra­ßen Roms. Der Ge­ne­se­ne zeig­te noch viel­fach Spu­ren der Schwä­che. Oft griff er nach dem Arme sei­nes Beglei­ters und stütz­te sich auf ihn zu kur­z­er Rast. Be­wun­dernd ließ sich der Jüng­ling, der zum ers­ten Mal die Ewi­ge Stadt be­trat, von sei­nem er­fah­re­nen Füh­rer die wich­tigs­ten Bau­wer­ke, Denk­mä­ler, Erin­ne­rungs­stät­ten wei­sen und er­klä­ren.

Prü­fend ruh­ten da­bei jene schar­fen Au­gen auf ihm.

»Es ist selt­sam mit dir«, mein­te Ly­si­as, als er den jun­gen Mönch von dem Gra­be Sankt Pe­ters, wo der brüns­tig ge­be­tet hat­te, hin­weg­ge­lei­te­te, zu­rück über den Ti­ber. »Woran denkst du? Schwer­lich an die Ket­ten des Apos­tels, die du so­eben ge­küsst hast. Wo­hin? Das ist nicht der Weg in das Haus un­se­res Gast­freun­des auf dem Mons Pin­ci­us! Hier geht es ja …« – »Ei, auf das Forum! Nach dem Ka­pi­tol!« rief Ju­li­an be­geis­tert, und sein Auge leuch­te­te. »O lass mich heu­te noch ein­mal dort­hin; lass mich die Son­ne sin­ken se­hen vom Tar­pe­ji­schen Fel­sen aus. Es drängt mei­nen Geist, drängt all mein We­sen aufs Ka­pi­tol.« – »Von Sankt Pe­trus zum Ju­pi­ter des Ka­pi­tols? Ein wei­ter Weg! Wei­ter noch für den Ge­dan­ken als für den Fuß! Wie du doch hin- und her­schwankst – nicht mit den Bei­nen nur! So! Leh­ne dich nur an mich und ras­te!«

Ju­li­an drück­te das Haupt an die Schul­ter des viel hö­her Ge­wach­se­nen. »Ist es ein Wun­der, dass ich wan­ke und schwan­ke, hin- und her­ge­zo­gen? Was hab ich nicht er­lebt seit zwei Mo­na­ten!« – »Nicht eben viel. Du hast die Heu­che­lei er­kannt, die schlim­mer als tie­ri­schen Be­gier­den und Las­ter un­ter der Lar­ve der Selb­st­ab­tö­tung, der Kas­tei­ung des Flei­sches. Du hast die Eine Frucht je­ner Leh­ren er­kannt. Das Ver­bot des Na­tür­li­chen er­zeugt das Wi­der­na­tür­li­che. Das ist noch nicht viel. Und doch hät­test du schier den Ver­stand dar­über ver­lo­ren – wie den Glau­ben.« – »Zum Glück aber noch bei­de nicht! Al­lein das Ärgs­te war, dass ich auch dich als einen Ge­nos­sen je­nes Trei­bens er­ken­nen muss­te. Oh, was ich litt in je­nen Ta­gen …« – »Bis ich dir er­klä­ren konn­te … lan­ge Zeit warst du un­fä­hig zu den­ken! Nur Ge­be­te plap­per­test du und sahst über­all Dä­mo­nen und halb nack­te Wei­ber! – dass ich, um je­nen Abt und sein ein­fluss­rei­ches Klos­ter und gar vie­le die­sem Ver­bün­de­te zu Rom und am Hofe des Im­pe­ra­tors zu be­herr­schen, zum Schein ihre Las­ter teil­te und so auch ihre an­dern Ge­heim­nis­se und zu­mal ih­ren Ein­fluss bei dem Au­gus­tus.« – »Ein ge­wal­tig Op­fer! Tu­gen­den heu­cheln ist arg, aber Las­ter heu­cheln muss noch schwe­rer sein.«

»Der Zweck ver­langt es. Da­für tat ich noch ganz andres!« Un­heim­lich fun­kel­ten die heiß bli­cken­den grau­en Au­gen. »Der Zweck! Ja, wel­cher Zweck? Wann end­lich wirst du dich mir ganz ent­hül­len …?« – »Wann du ganz reif sein wirst, mich ganz zu be­grei­fen. Es fehlt noch viel. So­lan­ge du mit In­brunst die Lip­pen an jene Stücke al­ten Ei­sens pres­sest, die man dir für die Ket­ten des Fi­schers vom Ga­li­läi­schen Meer aus­gibt, der viel­leicht den Ti­ber nie ge­se­hen … so lan­ge ge­wiss nicht. Sieh, mein Sohn, ich wie­der­ho­le: Mit leich­ter Mühe könn­te ich dir im Wege der Lo­gik, der Phi­lo­so­phie die Un­mög­lich­keit der gan­zen Kir­chen­leh­re dar­tun.« Ju­li­an schüt­tel­te ernst­haft die dunklen Lo­cken, die ihm in die­sen Mo­na­ten der Frei­heit ge­wach­sen wa­ren. »Du be­zwei­felst das? Gut, eben des­halb wür­de mein Sieg in dem Streit mit Grün­den nichts hel­fen. Du wür­dest mir sa­gen: ›Ich kann dich nicht wi­der­le­gen, aber ich glau­be doch.‹« – »Wahr­schein­lich! Ge­wiss! Ja!« – »Da­rum sollst du die Un­wahr­heit der Kir­chen­leh­re nicht er­ler­nen, nein, er­le­ben.« – »Oder ihre Wahr­heit, lehr­te Jo­han­nes!« dach­te Ju­li­an bei sich, aber er sag­te es nicht. – »Dann erst bist du reif für mei­ne Of­fen­ba­run­gen und für mei­ne Plä­ne. Ein gut Stück Kir­chen­leh­re hat dir jene Nacht doch schon aus der See­le ge­ris­sen.« – »Ja lei­der, lei­der!« klag­te Ju­li­an, die Au­gen schmerz­lich schlie­ßend. »Al­lein, das ist ein Klos­ter, fern in Ki­li­ki­en. Hier an der Stät­te, die nach Je­ru­sa­lem die hei­ligs­te auf Er­den, hier, nahe den Grä­bern der Apos­tel­fürs­ten, hier, wo der Nach­fol­ger Sankt Pe­ters wirkt und wal­tet, hier wird sich die­se Leh­re rein und rei­ni­gend be­wäh­ren. Seit ich hier wand­le, füh­le ich mei­nen Glau­ben wie­der er­starkt. Das heißt …«, er stock­te.

»Das heißt«, fuhr Ly­si­as an sei­ner Statt fort und schlug mit der Hand auf den Schild ei­nes eher­nen Ju­li­us Cäsar, zu des­sen Fü­ßen sie eben auf dem wei­ten, sta­tu­en­ge­schmück­ten Platz vor dem Thea­ter des Mar­cel­lus stan­den, »das heißt: der da stört dich in dei­nem Glau­ben und je­ner da drü­ben« – er wies auf einen mar­mor­nen Tra­jan – »und die­ser dort, der Ger­ma­nen­be­sie­ger und Phi­lo­soph Marc Au­rel – ja, auch der Ju­pi­ter und der Mars des Ka­pi­tols und Hera und Pal­las Athe­ne und dort – der Herr­lichs­te von al­len: Phö­bos Apol­lo, der ewi­ge Jüng­ling, der un­be­sieg­te Son­nen­gott!« Und aus des Man­nes har­ten Au­gen leuch­te­te eine Be­geis­te­rung, wie sie der Jüng­ling nie an ihm ge­se­hen. »Wo­her weißt du …? staun­te er.

»Oh, ich weiß noch mehr! Mir ga­ben die Göt­ter, in den See­len der Men­schen zu le­sen. Wohl zieht es dich zum Gra­be Sankt Pe­ters und zum Hau­se sei­nes Nach­fol­gers. Aber stär­ker doch be­we­gen dir, seit du hier weilst, die ju­gend­li­che See­le, die al­ten Hel­den und die al­ten Göt­ter Roms. Ich wuss­te das vor­aus! Und sieh, das ist der zwei­te Grund, aus dem ich dich bei dem ers­ten Schritt in die Welt aus je­nem Klos­ter ge­ra­de hier­her ge­führt. Du sagst dir hier in schlum­mer­lo­sen Näch­ten: »Was ward aus Rom, da es den al­ten, großen, schö­nen, er­ha­be­nen Göt­tern diente, durch die Sci­pio­nen, Cäsar, Tra­jan, Ha­dri­an? Die Her­rin der Welt! Was ward aus Rom seit Con­stan­tin …? – Sein Name sei ge­prie­sen! – Und Con­stan­ti­us, der Lieb­ling Chris­ti«, sprach er plötz­lich ganz laut. »Gott ver­leih ihm Sieg und lan­ges Le­ben.«

»Was hast du auf ein­mal?« – »Je­ner Pries­ter, er folgt uns schon lang, ist ein be­zahl­ter An­ge­ber, ein Spä­her des Obe­reu­nu­chen Eu­se­bi­us. Ich ken­ne ihn. Aber er weiß nicht, dass ich ihn ken­ne und dass ich auch zu den Günst­lin­gen des from­men Im­pe­ra­tors zäh­le.« – »Du?« – »Was also«, fuhr Ly­si­as wild lei­den­schaft­lich fort, »was ward aus Rom, seit Con­stan­tin, ab­ge­fal­len von den Göt­tern un­se­rer Vä­ter, den Le­gio­nen die al­ten Sie­ge­s­ad­ler nahm und sie er­setz­te durch …« – »Das La­ba­rum!« un­ter­brach Ju­li­an ehr­fürch­tig. »Das hei­li­ge Zei­chen des Kreu­zes und den An­fang des Na­mens Chris­ti.« – »Ein Zei­chen, das nichts von Ro­mas al­ten Sie­gen weiß! Un­ter dem die Le­gio­nen ge­schla­gen wer­den von Par­thern und Per­sern am Ti­gris, von Ja­zy­gen am Is­ter, von Fran­ken und Ale­man­nen …«

»Fran­ken? Ale­man­nen? Was sind denn das für Leu­te?« forsch­te der Jüng­ling, hoch auf­hor­chend.

»Un­ter neu­en Na­men alte Fein­de: Ger­ma­nen des Rheins. Ge­steh es nur, dei­ne Träu­me sind, seit du hier weilst im Schat­ten des Ka­pi­tols, mehr von Waf­fen als von hei­li­gen Ket­ten, mehr von Cäsar als von Chris­tus er­füllt. Des­halb ge­ra­de er­bat ich mir vom Abt – du weißt jetzt, warum er ge­wäh­ren muss, was ich ernst­lich for­de­re! – dich, den kaum Ge­ne­se­nen, zum Beglei­ter, als er mich hier­her an den rö­mi­schen Bi­schof sand­te. Dankst du mir nicht, dass ich dir das ewi­ge Rom ge­zeigt?«

»Ach wie heiß! Eine gan­ze Welt ist mir hier neu auf­ge­gan­gen. Mir schwin­delt manch­mal! Nicht all die Fül­le von Ge­stal­ten kann ich be­wäl­ti­gen, die hier aus Tem­peln und Pa­läs­ten und Bild­säu­len auf mich ein­dringt. Ich ver­ste­he noch nicht al­les.«

»Wie soll­test du! Ha­ben sie dir doch im Klos­ter von der Ge­schich­te der Hel­le­nen und der Rö­mer nur bei­ge­bracht, was dich mit Ab­scheu vor ih­ren Las­tern er­fül­len soll­te. Was er­fuhrst du von der Herr­lich­keit ih­rer Göt­ter, ih­rer Waf­fen, ih­res Hel­den­tums, ih­rer Staats­kunst, ih­rer Wel­terobe­rung? Nichts. Aber Ge­duld! Bald sollst du Roms Ge­schich­te von Män­nern ler­nen, nicht von Pries­tern.« – »Dort? Im Klos­ter?« – »Nie sieht dich das Klos­ter wie­der!« – »O Dank! Mir graut da­vor.« – Da traf ihn ein lo­dern­der Blick. »So heb es auf. Und alle sei­nes­glei­chen.« – »Ly­si­as! Du re­dest irr. Ich!« – »Willst du es?« – »Ich wollt es, wenn …« – »Willst du es?« – »Ja, ich will!« – »So wirst du’s tun. Denn wis­se: du – Lieb­ling der Göt­ter – wirst einst al­les kön­nen, was du wol­len wirst.« – »Ich ver­ste­he dich nicht, Meis­ter.« – »So­lan­ge der Papst dein Meis­ter ist, bin ich es nicht.«

Ju­li­an schwieg eine Wei­le nach­denk­lich. »Wo­hin führst du mich?« frag­te er dann er­staunt. »Du bogst längst ab von dem Wege nach dem Ka­pi­tol. Wir müs­sen weit dar­über hin­aus sein, im Os­ten der Stadt! Wo­hin ge­hen wir?« – »Zum Hei­li­gen Va­ter.« – »Zu Li­be­ri­us selbst?« rief der Jüng­ling, in Ehr­furcht er­schau­ernd. Er blieb ste­hen. »Er soll so wei­se sein, so klug sein …« – »Wie die Schlan­gen. Aber nicht ganz so harm­los wie die Tau­ben. Üb­ri­gens hat sich der Ga­li­lä­er ge­irrt; wie bei je­nem Fei­gen­baum, an dem er – der All­wis­sen­de! – Fei­gen zu fin­den glaub­te und nicht fand; denn we­der sind die Schlan­gen klug noch die Tau­ben sanft. Komm hier hin­ab, die­se Stu­fen.« – »Und so de­mü­tig ist er, so fern von je­dem welt­li­chen Ge­dan­ken, des Im­pe­ra­tors treues­ter Un­ter­tan.« – »Halt! Stol­pe­re nicht. Hier wird es dun­kel. Da, hal­te dich an mei­ne Hand.« – »Wo sind wir?« – »Auf dem Es­qui­lin, dem Spei­se­markt der Li­via, in der Kryp­ta der neu vom Papst er­rich­te­ten Ba­si­li­ka, der Li­be­ria­na, wie sie schon im Vol­ke heißt. Hier­her hat er mich be­schie­den. Er hat mir Wich­ti­ges zu ver­trau­en, einen Auf­trag. Und einen im Ur­kun­den­we­sen, in Rechts­schrif­ten ge­wand­ten Geist­li­chen soll­te ich mit­brin­gen. Du hast, un­ter­wie­sen von dem Abt, dem ehe­ma­li­gen Ju­ris­ten, die Ver­trä­ge des Klos­ters ver­fasst, vie­le Jah­re lang. So durf­te ich dich wäh­len. Aber dass du der Vet­ter des Im­pe­ra­tors bist, dem Gott … nun, sagst du die For­mel nicht mehr auf?« – »Nein! Ich mag nicht. Sie ist Lüge.« – »Das ver­schwei­ge sorg­fäl­tig.« – »Die Vet­ter­schaft ist we­der Ruhm noch Glück! Aber wes­halb nicht im Sankt Pe­ter? Wes­halb dies Ge­heim­nis?« – »Man soll nicht er­fah­ren von un­serm Ver­kehr. Halt, wir sind am Ziel. Es hieß: ›Zwölf Stu­fen, dann zwölf Schrit­te nach rechts. Dann an dem Holz­ver­schlag der Mau­er eine vor­sprin­gen­de Schei­be…‹ Hier ist sie! ›Die­se ein­wärts drücken‹, sie gibt nach! – eine schma­le Pfor­te tut sich auf; sieh: Licht schim­mert uns ent­ge­gen; fol­ge mir, tritt ein.«

Siebentes Kapitel

Sie stan­den in ei­nem halb­kreis­för­mi­gen Raum; er ent­sprach der Ap­sis oben in der Ba­si­li­ka. Die Mo­sa­ik­en an den Wän­den wa­ren be­reits ver­dun­kelt durch den Qualm ei­ner Öl­lam­pe, wel­che hier nie er­lö­schen durf­te. Die christ­li­chen Sym­bo­le: der Fisch, das Lamm, der Gute Hir­te, kehr­ten in ein­tö­ni­ger Rei­hen­fol­ge im­mer wie­der.

Da rausch­te der dun­kel­brau­ne Vor­hang, der den Ab­schluss des Halb­krei­ses ver­hüll­te, und vor ih­nen stand in rei­chem bi­schöf­li­chen Or­nat eine statt­li­che Ge­stalt. Die bei­den san­ken so­fort in die Knie; sie küss­ten den Saum des gold­ge­stick­ten Ge­wan­des. »Er­hebt euch, mei­ne Söh­ne, und emp­fangt den Se­gen des Herrn«, sprach der Papst mit wohl­lau­ten­der, ge­bie­ten­der und doch herz­ge­win­nen­der, ver­trau­en­er­we­cken­der Stim­me. Ehr­furchts­voll ruh­ten Ju­lians Au­gen auf den be­deu­ten­den, schö­nen und vom tiefs­ten Frie­den ge­weih­ten Zü­gen des etwa sech­zig­jäh­ri­gen Man­nes. Wun­sch­los ge­gen­über al­lem Ir­di­schen, nur auf das Himm­li­sche ge­rich­tet muss­te die­se See­le sein, das be­zeug­te das sanf­te, wie ver­klär­te Ant­litz; die Far­be war zart­ro­sa wie ei­nes Mäd­chens Wan­gen.