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Herausgeber: Jürgen Ruszkowski: Geburtsjahrgang 1935 – Kriegskind – 1945 Flucht aus Hinterpommern – Jugend im Nachkriegs-Mecklenburg. – fünf Jahre harte Schule im Rauhen Haus in Hamburg-Horn: Ausbildung zum Diakon und Wohlfahrtspfleger – Fürsorger bei jungen Bergleuten, Stahlwerkern und Bierbrauern in Dortmund – Geschäftsführer bei der Inneren Mission im malerischen Soest in Westfalen – 27 Jahre als "Himmelslotse" mit Sealords unter einem Dach im Seemannsheim in der Weltstadt Hamburg im Schatten des Michels. Die letzten großen Tage deutscher Seemannschaft und ihr langsamer Niedergang engagiert vor Ort miterlebt in unaufdringlicher christlicher Präsens inmitten harter Lebenswirklichkeit "christlicher Seefahrt" – Rückblicke und Reflexionen im Ruhestand – Hobby-Verleger – Herausgeber von über 60 Büchern - überwiegend Seemanns-Erinnerungsliteratur: maritime gelbe Zeitzeugen-Buchreihe
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Seitenzahl: 279
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Günter George
Junge, komm bald wieder… – Ein Junge aus der Seestadt Bremerhaven träumt von der großen weiten Welt
Band 35 in der maritimen gelben Reihe bei Jürgen Ruszkowski
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort des Herausgebers
Widmung und Vorwort des Autors
Meine Kindheit in Bremerhaven
Lederhose und Sandalen
Wir bekommen ein Auto
Am Radio träumte ich von der weiten Welt und von der Seefahrt
Bremerhaven – Heimat der Fischdampfer
Klassenreise ins Schullandheim Barkhausen
Konfirmand
Von der Schulbank in die Berufstätigkeit
Zur See
Meine erste Reise als Messejunge auf MS „VEGESACK“
Erstmals in Amerika
Durch den Panamakanal
Äquatortaufe
Guayaquil in Equador
Bootsmanöver
Überfahrt nach Schweden
Reisen auf der „BLUMENTHAL“
Reisen auf der „PICA“
Alltag eines Kochs auf See
Weihnachten auf See
Ende meiner Seefahrt
Seemännische Umgangssprache und Fachausdrücke
Erwähnte Schiffe
Personenregister:
Die maritime gelbe Buchreihe
Weitere Informationen
Impressum neobooks
Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig 140 Betten. In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.
Im Februar 1992 begann ich, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen, dem ersten Band meiner gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“: Seemannsschicksale.
Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften zu meinem Buch. Diese positiven Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage ermutigen mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben. Diese Zeitzeugen-Buchreihe umfasst inzwischen fast sechs Dutzend maritime Bände.
Rezensionen, etwa: Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe“. Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights der Seefahrts-Literatur. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechselungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlich hat. Alle Achtung!
In diesem Band 35 können Sie wieder Erinnerungen, Erlebnisberichte und Reflexionen eines ehemaligen Seemanns kennen lernen, der von 1965 bis 1970 zunächst als Messejunge, später als Küchenhelfer, Kochsmaat und verantwortlicher Koch unterwegs war. Er erzählt in farbigen Milieubeschreibungen ausgiebig von seiner Kindheit in der Seestadt Bremerhaven, wo seine Eltern im Fischereihafen ihr Geld zum Unterhalt der Großfamilie verdienten und von seinen Seereisen.
Herrn Egbert Kaschner (†) sei für die Korrekturhilfe herzlich gedankt.
Hamburg, im September 2007 / 2015 Jürgen Ruszkowski
Ob Nebensächliches erwähnt, oder Wichtiges vergessen. Erst später stellt es sich heraus.
In Dankbarkeit meinen Eltern gewidmet.
Vorwort des Autors:
Die gegenwärtige Überhäufung der Kinder und Jugendlichen mit der Masse an Konsumgütern und die oft damit einhergehende Unzufriedenheit und Ideenlosigkeit der jungen Generation haben mich bewogen, einfach mal aufzuschreiben, wie es mir in meiner Kindheit erging, unsere Wertvorstellungen und die Art und Weise unserer Erziehung zu schildern. An die schönen und weniger guten Begebenheiten denke ich noch heute zurück. Mancher in meinem Alter wird sich ebenfalls an kleine zeitgeschichtliche Einzelheiten gut erinnern können.
Günter George
Ich wuchs in einer norddeutschen Hafenstadt auf. Meine Kindheit war frei von Einflüssen, die in heutiger Zeit u. a. durch Fernsehwerbung, Konsumzwang und technischen Fortschritt insbesondere auf das Verhalten der Kinder und Jugendlichen einwirken und in fast alle Bereiche unseres Lebens vordringen und sie oft sogar bestimmen.
Durch diesen Druck vollzieht sich eine massive Werteverschiebung zu Ungunsten unserer Gesellschaft.
Damals bereiteten uns Kleinigkeiten, worüber man heute verächtlich lachen würde, riesige Freude. Wir kannten nicht die erschreckenden Worte wie Terrorismus, Arbeitslosigkeit, Politikverdrossenheit oder Globalisierung. Umweltschäden oder Tierseuchen waren kaum bekannt.
Unser geographischer Horizont reichte soweit, wie uns der Erdkundeunterricht in der Hauptschule führte.
Unsere Siedlung mit ihren engen Straßen und die nähere Umgebung kannten wir in- und auswendig. Die voll gelaufenen Entwässerungsgräben, die Felder, Wiesen und Wälder, die Baggerkuhlen und Sandgruben waren unsere Spielplätze. In jedem See oder Tümpel konnte man bedenkenlos baden. Wir brauchten keine angelegten Spielplätze. Draußen fand man alles, was zum Spielen, Verstecken und Toben benötigt wurde: die freie Natur. Wurden wir mal in die Stadt mitgenommen, war das wie der Besuch in einem fremden Land. Eine Orange zu essen zählte eher zu den Ausnahmen. Wir hatten trotz vieler Entbehrungen eine schöne Kindheit.
Ich träumte schon immer von der Seefahrt.
Waren fünf Kinder nicht schon genug für eine Familie? Nun sollte doch tatsächlich noch eines dazu kommen. Wann ist es soweit? Schon seit Tagen versuchten meine Eltern mir, dem jüngsten Spross der Familie, klar zu machen, dass wir Nachwuchs erwarteten. Ich absolvierte gerade das zweite Jahr in der Hauptschule und wurde bis dahin immer der „Kleine“ genannt. Das sollte ja wohl endlich bald vorbei sein.
Mit über 40 Jahren galt meine Mutter eigentlich schon als zu alt, um noch einmal Nachwuchs zu bekommen. Mein Vater trug schon einige graue Haare, doch wegen seiner Kraft und seiner ausdauernden Vitalität erschien er mir immer jung. Und jetzt sorgten sie noch einmal für Familienzuwachs. Welch ein Ereignis?!
Mein ältester Bruder trug den Vornamen unseres Vaters, und seitdem er wusste, was unserer Familie bevorstand, sprach er noch weniger mit uns und den Eltern. Vielleicht protestierte er so auf seine Art gegen die Familienerweiterung.
Er war auch sonst das direkte Gegenteil eines redseligen Zeitgenossen, ruhig und oft in sich gekehrt, wie eigentlich alle meine Brüder. Ich hatte nämlich noch zwei weitere. Sie alle galten nicht gerade als Plaudertaschen, die einen Saal voller Menschen unterhalten konnten. Mit meiner Schwester, acht Jahre älter als ich, kam ich gut zurecht. Sie musste auch immer herhalten, wenn ich früher als kleiner Pimpf den Weg zum Klo nicht mehr schaffte. Ein stets gut gelaunter Mensch mit Humor und Lebensfreude.
Wie sollte denn wohl der oder die geartet sein, der oder die jetzt kurz davor stand, das Licht dieser Welt zu erblicken? Der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz lag nun schon einige Jahre zurück. Was sollte es sonst denn schon Interessantes zu dieser Zeit geben?
Heute fiel der erste Schnee. Und gleich eine Menge. Mein geliebtes kleines Fahrrad musste im Schuppen bleiben. Man käme sowieso nicht vorwärts damit. Also ging es zu Fuß zur Schule, die ca. fünf Kilometer von unserer Siedlung entfernt lag, ein alter Jahrhundertwende-Backsteinbau, in dem es ständig nach Bohnerwachs roch. Der kürzeste Weg führte durch den Wasserwerkswald. Es bedurfte größter Geschicklichkeit, wenn wir frühmorgens in der Dunkelheit abseits vom Waldweg liefen. Vor allem jetzt im Winter, wenn wegen der geschlossenen Schneedecke kaum zu erkennen war, wohin man trat. Geheimnisvoll und verwunschen, so sah ich immer diesen Wald und seine Umgebung.
Unsere Lehrerin hieß Frau Lösser. Sie war bei uns Jungs nicht gerade sehr beliebt. Ständig nörgelte sie an uns herum. Fast täglich hatte sie einen von uns Jungen im Visier. Immer wieder wurden wir mit Nachsitzen und oder mit anderen Strafarbeiten belegt. Meistens wurde als Bestrafung das seitenlange Niederschreiben von Verhaltensregeln gewählt: „Ich darf während des Unterrichtes nicht schwätzen“ oder so ähnlich. Auf dem Schulweg diskutierten wir oft, wie wir uns für all die Bestrafungen irgendwann mal angemessen revanchieren könnten und malten es uns schon bildlich aus.
Frau Lösser, klein und von rundlicher Statur, führte ein strenges Regiment. Über ihre Oberlippe stach ein dunkler Damenbart hervor, der stets für unsere Späße herhalten musste. Wir rätselten, ob sie sich vielleicht nass oder trocken rasierte, und ob es zwischen ihr und ihrem Ehemann morgens im Bad Streit um den Rasierer geben würde. Sie lachte selten und verteilte auch ganz gern mal Backpfeifen oder zog an unseren Ohren, dass man fast vom Boden abhob.
Ihr Gatte, ebenfalls Lehrer an einer anderen Schule, brachte sie jeden Morgen mit dem Auto zum Unterricht. Er parkte direkt vor dem Schulgebäude und stieg aus, um ihr Fahrrad aus dem Kofferraum zu heben, mit dem sie nach Schulschluss nach Hause radelte, ein kleines Klapprad, das man mit zwei Handgriffen auseinander bauen konnte. Sie stellte es in einem eigens für das Lehrerkollegium reservierten Fahrradständer ab. Bei schlechtem Wetter kam Frau Lösser oft allein mit dem Auto. Wahrscheinlich setzte sie dann ihren Mann zuerst an seiner Schule ab, bevor sie zu ihrem Unterricht fuhr.
Heute sollte es also soweit sein. Der Nachwuchs wollte auf die Welt. Mein Vater schickte mich zum Spielen nach draußen. Es war ja sowieso nicht außergewöhnlich, dass wir auch im Winter tagsüber ständig draußen spielten. Wir hielten uns meistens so weit entfernt wie möglich vom Elternhaus auf. So konnte man auf uns weniger schnell zugreifen. Nur bei extrem schlechtem Wetter blieben wir im Haus.
Ich ging zu Schuhmanns, um mit Hans-Jürgen zu spielen. Sie wohnten ein paar Häuser weiter. Hans-Jürgen Schuhmann, ein Junge in meinem Alter, war mein bester Freund. Wir gingen in dieselbe Klasse, saßen in einer Bank.
Frau Schuhmann war eine nette stille Person, die wenig sprach. Sein Vater war Straßenbahnfahrer, was damals für uns wohl der aufregendste Beruf sein musste. Wir beneideten unseren Freund oft um den interessanten Arbeitsplatz seines Vaters.
Mein Vater arbeitete am Fischereihafen. Es wurde dort fast immer nur nachts gearbeitet. Denn es musste ja kühl sein, wenn die Fischdampfer entladen wurden, damit die Fische nicht verdarben.
Wenn Papa dann mal länger arbeitete, bekam er auf der Arbeit ein Paar Wiener Würstchen als kostenlose Schichtzulage, die er jedoch stets mit nach Hause brachte. Als außergewöhnliches Frühstück nahm ich sie mit in die Schule und teilte sie natürlich jedes Mal mit meinem Freund Hans-Jürgen.
Auch dieses angenehme Gewohnheitsrecht stand mit der Geburt des Nachwuchses für mich auf dem Spiel. Ich lief Gefahr, durch die Geburt eines Bruders oder einer Schwester das Privileg des Vorrechtes auf die Würstchen zu verlieren. Wir werden ja sehen.
Als es dunkel wurde, schickte mich Frau Schuhmann nach Hause. Meine Mutter lag im Wohnzimmer auf der Couch, wo sie von einer Nachbarin versorgt wurde. Zum Kinderkriegen gingen die Frauen damals selten in eine Klinik, sondern gebaren den Nachwuchs meistens in heimischer Umgebung.
Man klappte das alte Sitzmöbel aus und machte so ein Bett daraus. Der Kohleofen, der doch eigentlich nur an den Wochenenden angezündet wurde, heizte das Wohnzimmer mollig warm. Das tägliche Leben spielte sich sonst in unserer Küche ab.
Da lag sie nun, meinen neuen Bruder im Arm haltend. Man wollte mir weismachen, der Weihnachtsmann habe uns diesen Bruder schon mal im Voraus geschenkt. Ob ich mich über dieses Geschenk freuen sollte?
Wo sollte dieses Kind schlafen? Kurti und ich teilten uns ein Zimmer. Edgar schlief allein, das auch nur, weil Walter zur See fuhr. Und Kurti wollte auch bald wieder auf einem Schiff anmustern. Dann wäre auch ein Zimmer frei, für mich ganz allein. Auch dieses schöne Gefühl, bald in einem eigenen Zimmer zu schlafen, wurde durch ihn, der in den Armen meiner Mutter seinen ersten irdischen Schlaf abhielt, erheblich getrübt.
Doch von jetzt galt ich nicht mehr als der Kleine. Dieses rosa Kerlchen nahm meinen Platz ein. Durch seine Geburt rutschte ich in der Familienhierarchie eine Stufe höher. Und bis Rudi (so sollte er heißen) eingeschult würde, blieben mir auch die Wiener Würstchen von Papa erhalten, denn ich stand immer noch als erster auf, und hatte somit den ersten Zugriff auf die geliebten Würstchen.
Der Winter ging schnell vorbei, und es drehte sich eigentlich alles nur um den neuen Bruder. Meine Mutter kam schnell wieder auf die Beine. Längeres Erholen konnte sie sich wegen der notwendigen Arbeiten nicht erlauben, und auch ihre sonstige körperliche Konstitution wurde durch die Geburt kaum in Mitleidenschaft gezogen.
Auch sie arbeitete am Fischereihafen. Sie verpackte gefrorenen Fisch in Kisten, die danach in den Handel gingen. Während der Schwangerschaftspause, die nur wenige Wochen dauerte, war sie von meiner Schwester vertreten worden.
Hinten auf unserem Hof befand sich in einem Anbau die Waschküche, wo meine Mutter Rudis voll geschissene Windeln wusch. Sie wurden in einem an der Außenwand befindlichen Gossenstein, wo nur kaltes Wasser den Hahn verließ, grob vorgewaschen. In der Waschküche stand an der hinteren Wand ein Waschkessel, um dessen Rauchrohr eine Vorrichtung mit lauter Drahtstäben zum Trocknen der Wäsche klemmte. Daneben hing an einem Haken der Wäschestampfer, ein langer Holzstiel, an dessen unterem Ende zwei ineinander gestülpte Metallglocken angebracht waren. Man stellte sich auf einen Schemel und stampfte damit kräftig die kochende Wäsche.
Es roch sauber nach Kernseife und Waschlauge. Rechts stand die Wringmangel, die ich oft bediente. Meine Mutter führte die Wäsche zwischen zwei gegeneinander laufende Gummirollen, die ich mit einer großen Kurbel drehte. So presste man das Wasser aus Rudis gewaschenen Windeln.
Einmal im Jahr wurde in dem Waschkessel auch die Wurst von der Hausschlachtung gekocht. Mein Vater fütterte jährlich mindestens ein Schwein fett, das reichlich Fleisch und Wurst lieferte. Nach der Schlachtung ließ sich der Wurstschrank im Keller kaum schließen, und die Regale konnten die „eingeweckten“ Gläser kaum tragen. Es roch dann überall herrlich nach Gewürzen.
War die Sau schlachtreif, wurde Freddy Klinger gerufen, der auch in der Siedlung wohnte und vor einem halben Jahr die Metzgerlehre beendet hatte.
Ein großes Fest stand bevor. Meine Eltern feierten Silberhochzeit und Rudis Kindstaufe. Beides sollte an einem Tag stattfinden. Es ist für ein Ehepaar bestimmt selten, dass diese zwei Ereignisse auf einen Tag fallen.
Das ganze Haus wurde hierfür auf den Kopf gestellt. Im Schlafzimmer meiner Eltern, das total leer geräumt wurde, sollten Stühle und Tische aufgestellt werden, die in der Nachbarschaft zusammen geliehen wurden. Die schweren Betten wurden auseinander gebaut und im Schuppen aufbewahrt. Auch das Engelsbild, das sonst über der Kopfseite der Betten hing, bekam vorübergehend einen neuen Platz.
Um unsere Haustür rankte sich eine mit silbernen Schleifen verzierte Tannenzweiggirlande. Und in der Mitte prangte eine große 25.
An den Tagen vor diesem Ereignis wurden mir mehrmals am Tag die üblichen Verhaltensregeln eingetrichtert. Praktisch solle ich mich nicht bewegen, damit nichts passieren und ich nichts anstellen konnte, was die Feierlichkeiten in irgendeiner Weise trüben würde. Wie immer drohte man u. a. mit der Polizei, denn sie wussten, dass ich mir vor diesen uniformierten Herren vor Angst fast in die Hosen machte.
Meine größte Sorge an diesen Feiertagen sollte das Herausschmuggeln der Tortenstücke für Hans-Jürgen Schuhmann und meine anderen Freunde sein. Ich wollte sie unbeschadet und für die Eltern unbemerkt aus dem Haus schaffen. Mir würde schon etwas Passendes einfallen.
In unserer Küche stand beim Betreten links von der Tür der große Kochherd. Im linken Bereich befanden sich eine kleine Klappe zum Befeuern und darunter eine größere bauchige für den Backofen. Hierin wurden im Winter die Backsteine erwärmt, die man dann vorm Schlafengehen ins Bett gelegt bekam, damit man nicht erfror, denn eine Heizung oder einen Ofen gab es in den oberen Zimmern unseres Hauses nicht. Im Winter verzierten Eisblumen in filigranen Ornamenten die Fenster und ließen meiner Phantasie freien Lauf, in ihnen irgendwelche Figuren oder Gesichter zu erkennen. Diese hübschen frostigen Gebilde verschwanden schnell, nachdem die ersten Sonnenstrahlen die Scheiben berührten. Am nächsten Morgen erschienen sie in gänzlich veränderten Umrissen aufs Neue, und meine Phantasie begann wieder mit mir durchzugehen. Ich hauchte ihnen hier und da ein paar Löcher in ihr Gewand, wodurch sich Form und Größe veränderten. Keinen Gedanken verschwendete ich an den Hintergrund Ihrer Entstehung, über das Verhältnis von Luftfeuchtigkeit und Raumtemperatur, das herrschen musste, um ihr Erscheinen zu gewährleisten. Waren die Scheiben frisch geputzt, konnten die Eisblumen sich nicht bilden, erst Staub und Schmutz garantierten ihre Geburt.
Ob die Kinder in heutiger Zeit das Phänomen der Eisblumen jemals kennen lernen werden? Unwahrscheinlich, denn ihre wohl geheizten Kinderzimmer mit klinisch reinen Fenstern werden diese Erscheinung nie zulassen.
Die Kälte störte mich nicht, denn im Bett lag der warme Stein, er machte es gemütlich und kuschelig.
Die Seiten des Küchenherdes umspannte ein silbrig glänzendes Rohr, an dem links der Feuerhaken hing. Heute befand sich in der Backröhre kein Stein, sondern ein riesiger Gussbräter mit Gulasch. Und auf dem Herd, wo die Feuerstelle durch verschieden große Eisenringe verdeckt wurde, stand ein zweiter Topf, in dem die gleiche Menge dieses Fleischgerichtes brutzelte, das als Abendessen für unsere Feier vorgesehen war. Dazu sollte es Kartoffeln und Rotkohl geben.
Nachdem der Pastor meinem Bruder die erforderliche Menge Wassers über den Glatzkopf verteilt und die entsprechenden Worte gesprochen hatte, ging man zum gemütlichen Teil über. Die Torten wurden serviert, und jemand brühte in der Küche ständig frischen Kaffee auf. Die Bohnen wurden per Handbetrieb in einer hölzernen Kaffeemühle gemahlen, die sonst an der Wand hing. Bohnenkaffee galt für die Erwachsenen wohl immer als ein Hauch vom besseren Leben. Für uns gab es Lindes oder Kakao und gegen den Durst wie immer Leitungswasser.
Draußen wartete Hans-Jürgen Schuhmann im Kreise meiner Freunde auf die versprochene Torte. Ich nutzte das kleine Chaos in unserem Haus, um meine Kumpelschar mit dem Festtagskuchen zu versorgen. Als sich die Gesellschaft angeregt bei Kaffee und Kuchen unterhielt, schlich ich mich in die Speisekammer und wollte gerade ein großes Stück Torte auf einen Teller heben, als ich die Stimme meins Vaters hörte. Ich ließ den Kuchen schnell in meiner Hosetasche verschwinden und ging mit ziemlich steifem Bein und die Buttercreme von den Fingern schleckend aus dem Haus, um die meine Hose durchweichende Fracht endlich loszuwerden. Die als Torte nicht mehr erkennbare breiige Masse hat meinen Freunden trotz ihrer Deformation hervorragend geschmeckt.
Natürlich bemerkte meine Mutter die Kuchenflecken an meiner Hose, denn der Matsch hatte den Stoff ziemlich verfärbt. Mir wurde ohne große Schimpftirade eine andere Hose zum Anziehen geholt, denn man wollte ja großes Aufsehen an diesem Tag vermeiden. Ich verhielt mich anschließend unauffällig, und es sollte an diesem Tage keine weiteren erkennbaren Zwischenfälle mehr geben.
Der Pastor machte Anstalten, sich zu verabschieden, nachdem er reichlich Buttercremetorte und Blechkuchen verspeist hatte.
Mein Vater beauftragte einen meiner Brüder und mich, aus dem im Keller befindlichen Wurstschrank eine gehörige Menge Räucherschinken und Wurst von der letzten Schlachtung für den Herrn Pastor einzupacken. Uns wurde die Aktentasche des Pastors gereicht, und wir gingen die Holztreppe hinab in den Keller. Als wir die Würste abhängen wollten, fiel unser Blick auf den Stapel mit den säuberlich aufgereihten Briketts, und wir fingen an zu grinsen. Schnell waren vier davon ordentlich in Zeitungspapier eingewickelt. Sorgfältig legte mein Bruder sie in des Pastors Aktentasche. Oben drauf kam deutlich sichtbar eine doch schon leicht beschädigte Servelatwurst von der vorletzten Sau. Als wir anschließend dem Pastor stolz die Tasche überreichten, bemerkten wir ein Leuchten in seinen Augen ob des erheblichen Gewichtes seiner Tasche.
Ich ging von diesem Tag an stets als letzter in die Kirche und verließ sie als erster, um dem Kirchenchef möglichst nicht zu begegnen. Erst später im Konfirmandenunterricht sollte ich die Rache des Pastors zu spüren bekommen. Doch der Spaß, den uns diese Aktion gebracht hatte, war uns nicht mehr zu nehmen.
Mein immerwährender Respekt vor der Polizei gipfelte in einem Ereignis, an das ich gar nicht gerne denken möchte. Ich persönlich habe daran so gut wie keine Erinnerung mehr, doch meine Eltern erzählten mir oft von dem Zwischenfall, und in Gesellschaft gab mein Vater die Geschichte sehr gern zum Besten.
Meine Mutter wollte „in der Stadt“ etwas einkaufen, und ich durfte sie begleiten. Nach dem Einkaufen ging sie mit mir in die „Bürger“ (Prachtstraße in unserer Stadt) zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Unterwegs trafen wir einen Bekannten, der zu meinem großen Erschrecken in einer Polizeiuniform steckte. Man begrüßte sich und sprach über Dinge, die mein Ohr offenbar nur aus weiter Entfernung aufnahm, denn mein Gehirn befasste sich einzig und allein mit der Uniform, deren Anblick mich in traumatische Angst versetzte. Wie oft wurde mir mit der Polizei gedroht, und jetzt in diesem Moment stand sie leibhaftig und zum Greifen nahe vor mir.
Während sich meine Mutter mit dem Polizisten unterhielt und nur rein zufällig zu mir herunter sah, erschrak sie heftig, da etwas Flüssiges warm über meine Beine lief und sich anschließend über meine Schuhe und dann über den Bürgersteig in den Straßenrand ergoss. Sie fühlte schlagartig meine wie Espenlaub zitternde Hand und die Aufregung, die meinen ganzen Körper fast schütteln ließ.
Erst nach dem der Polizist sich zu mir herunter bückte, lächelnd meine Wangen streichelte und ruhig mit mir sprach, entspannte ich mich. Meine Blase war ja nun auch vollends entleert, so konnten keine weiteren Peinlichkeiten aus dieser Richtung erwarten werden. Unvermittelt verabschiedete sich meine Mutter. Damit war auch der Ausflug „in die Stadt“ jäh beendet.
Hätte mir jemand an diesem Tag erzählt, dass ich irgendwann selbst einmal solch eine Polizeiuniform tragen würde, nie im Leben wäre mir an diesem Tag dieser Gedanke in den Sinn gekommen.
Manchmal durfte ich mit meiner Schwester in die Stadt fahren, auf ihrem Fahrrad hinten auf dem Gepäckträger sitzend. Bei einem Apotheker arbeitete sie von Zeit zu Zeit „in Stellung“. In Stellung zu sein bedeutete Hausarbeit, Kochen und Einkaufen.
Die Apothekerfamilie besaß einen schönen Altbau mit prächtig verzierter Fassade. So etwas hatte ich noch nie gesehen und bestaunte jedes Mal die großen Zimmer mit den hohen Decken. Nach hinten raus war ein riesiger Garten angelegt. Und vor dem Haus ratterte die Straßenbahn vorbei, die bis zum Depot nach Langen an die Stadtgrenze fuhr, dort drehte, um wieder zurück in die Stadt zu fahren.
Wie oft mag wohl der Vater von Hans-Jürgen Schuhmann hier schon vorbei gefahren sein und routinemäßig die Durchsagen der einzelnen Haltestellen gemacht haben. Er kannte bestimmt jede einzelne Fassade der Häuser und jede Unebenheit der im Kopfsteinpflaster eingelassenen Schienen auf seiner Strecke.
Wenn ich mal in der Straßenbahn fuhr, fand ich es herrlich anzusehen, wenn der Schaffner an dem an der Decke des Straßenbahninneren lang führenden braunen Lederseil zog, das dann eine Klingel betätigte und damit dem Fahrer „weiterfahren“ signalisierte.
Mich faszinierte bei jeder Fahrt das Wechselgeldgerät, das der Straßenbahnschaffner vor der Brust trug. Mit nahezu blinder Sicherheit tippte er mit seinen vom Rauchen braun gefärbten Eckstein-Fingern das Wechselgeld aus den Münzröhrchen. Manche der Metallfedern im Münzröhrchen quietschten und knarrten aufgrund der jahrelang zu verrichtenden Arbeit.
Jetzt, da es Frühling wurde, kam die Zeit der Lederhosen. Man brauchte nicht mehr aufzupassen, dass beim Übersteigen von Zäunen die Hosen nicht zerrissen wurden, denn das Leder hielt einiges aus. Die Flucht über Zäune und Stacheldraht nach einem gezielten Angriff auf einen Apfel- oder Pflaumenbaum der Nachbarschaft musste stets einkalkuliert werden, denn die Früchte schmeckten nur geklaut wirklich gut.
Bei uns zu Hause gab es manchmal Bananen, und die wuchsen auf unserem Küchenschrank. Noch grün, in Zeitungspapier verpackt, reiften sie dort und warteten so auf mich. Nach geraumer Zeit kamen die gelben Teile zum Vorschein, wenn Vater oder Mutter sie aus dem Zeitungspapier befreiten. Dann brachten sie unsere Augen zum Leuchten.
Wenn ich zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte, ich würde eines Tages mit dem Schiff in die Länder reisen, deren Hauptausfuhrprodukt ich als Kind jetzt genüsslich verspeiste…
Ich trug meine Lederhose wahnsinnig gern. Richtig speckig und abgewetzt sah sie aus. Wenn man den Arsch versohlt bekam, spürte man recht wenig von den Schlägen, denn das Leder hielt einiges ab. Für meinen Hintern wurde der Teppichklopfer benutzt, der hinten in unserem Hof unter der Traufe des Anbaues an einem Nagel hing.
Meine Lederhose verfügte rechts über ein aufgesetztes dreieckiges Täschchen, in dem ich mein Taschenmesser aufbewahrte. Wohl dem, dessen Taschenmesser an einem kleinen Kettchen hing. So lief man nicht Gefahr, das wertvolle Teil beim Rennen oder Flüchten zu verlieren.
Zu der Lederhose gehörten selbstverständlich breite Hosenträger. Vor der Brust war ein Querriemen angebracht, auf dem ein weißes, aus Horn geschnitztes Hirschgeweih glänzte, das mit grünem Filz hinterfüttert war. Dieses löste sich nach einer gewissen Tragezeit durch die Bewegung beim Laufen und Rennen oft ab und musste von Zeit zu Zeit mit Uhu festgeklebt werden.
Rennen gehörte zu der gängigsten Art der Fortbewegung. Wir rannten oft. Denn vielmals verfolgte uns jemand, um uns eine Tracht Prügel zu verabreichen oder einer sonstigen Bestrafung zuzuführen.
Manchmal rannten wir auch nur so zum Spaß. Von der „Ecke“ (Eingang unserer Straße), an der ein hölzerner Laternenpfahl stand, auf dem die Namen all unserer Freunde eingeritzt waren, rannte ein Läufer in Richtung Schulweg bis zu der Straßenecke, wo Wiesen und Felder als natürliche Begrenzung unsere Siedlung einrahmten.
Der andere Streckenläufer spurtete in die entgegengesetzte Richtung, die zum Bäcker und zu den anderen Geschäften führte. Oberhalb der Strecke passierte man die Omnibushaltestelle und danach den Schuster, um dann wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Jeder versuchte die beste Zeit herauszuholen. Die Kontrahenten trafen sich wieder an der Ecke, an der die jubelnde Meute sie dann anfeuernd erwartete. Die einzelnen Zeiten wurden anschließend notiert, und der Verlierer bekam an einem anderen Tag stets eine Revanche.
Meine älteren Brüder und deren Freunde lieferten sich oft Prügeleien mit Jungs aus anderen Straßen. Im Gegensatz zu den heutigen Keilereien wurde, wenn der Gegner am Boden lag, niemals weiter auf ihn eingeschlagen. Der Kampf war beendet, wenn der Kontrahent zu Boden ging. Szenen aus heutiger Zeit, wo der unten Liegende zusätzlich mit Fußtritten bearbeitet wird, wären damals undenkbar gewesen. Als Verletzung beklagte man lediglich Hautabschürfungen, blaue Augen oder leichte Prellungen. Ernsthafte Verletzungen, die ärztliche Behandlungen erforderten, gab es fast nie.
Viele Unstimmigkeiten entstanden meistens während oder nach einem Fußballspiel auf unserer Wiese, und oft waren Jungs aus dem Birkenweg darin verwickelt. Dieser gefürchtete Straßenzug lag in einer benachbarten Siedlung. Hier wohnten nach unserer Meinung wohl die härtesten Rüpel der Stadt, die sich nach einem verlorenen Fußballspiel stets mit Prügel revanchierten.
„Wiese“ nannten wir unseren Bolzplatz, auf dem ständig Kinder Fußball spielten, eine holprige, jedoch lieb gewonnene Grünfläche, die seinerzeit nicht anderweitig bewirtschaftet wurde und uns für unseren Sport zur Verfügung stand. Sie lag nicht weit von unserer Straße entfernt Richtung „Beek“. Die Beek, war ein kleines Grenzflüsschen, das für uns die Grenze zu Niedersachsen bildete.
Fußballspielen gehörte zu unseren Lieblingsbeschäftigungen. Die Spieler der Nationalmannschaft wie Hans Tilkowski, Fritz Walter, Schnellinger oder Helmut Rahn waren unsere Vorbilder. Hatte man den Ball einmal mit einem gekonnten Flugkopfball oder mittels Fallrückzieher ins Tor befördert, durfte man sofort in die Person von Uwe Seeler schlüpfen, und noch Tage später wurde man im Freundeskreis dafür gelobt und manchmal regelrecht bewundert. Als Torpfosten dienten Bekleidungsstücke, derer wir uns vor Spielbeginn entledigten oder Stöcke, die wir uns aus den nahen Büschen brachen.
Doch vor dem Fußballspielen aber kam für mich meistens die Arbeit, die ich zu Hause leisten musste. Schon in jungen Jahren wurde ich an Mithilfe in Haus und Garten gewöhnt. Straße kehren, Aufräumen, Unkraut jäten, Einkaufen oder die Ställe unserer Tiere ausmisten gehörte zu meinen Hauptaufgaben.
Gerade die Tiere spielten in unserer Familie eine besonders große Rolle. Mit uns wuchsen Hühner, Enten, Gänse, Tauben und Karnickel auf. Auch ein Hund gehörte stets zur Familie. Mein Vater liebte seine Tiere und hegte und pflegte sie entsprechend. Selber schlachten konnte er keines seiner Lieblinge. Diese Arbeit erledigte stets einer meiner älteren Brüder.
Es gab auch keine großen Diskussionen, als ich eines Tages mit einem Meerschweinchen im Arm nach Hause kam. Mein Vater sperrte es kurzerhand in den Karnickelstall zu einer Häsin. Später besorgte ich noch ein zweites und bald darauf wimmelte es in den Ställen von Meerschweinchen. Es war anrührend, wenn mein Vater nachts von der Fischereihafen-Schicht nach Hause kommend von den Meerschweinchen mit sanftem Quietschen begrüßt wurde. Sie erkannten ihn an der Stimme und der Folge seiner Schritte.
Nun wurde es Ostern. Und zu Ostern gab es meistens neue Kniestrümpfe, einen Pullunder, ein buntes Hemd und Sandalen. Man bekam zigmal auferlegt, auf seine saubere Kleidung zu achten und sich nicht sofort einzusauen. Denn mein Kleiderschrank beinhaltete nicht all zu viel Auswahl, und deshalb waren die Mahnungen auch begründet. Es gab Schulkleidung und Sachen, die man zum Spielen trug. Die finanzielle Lage meiner Eltern gab nicht mehr her, und wir waren mit dem zufrieden, was wir besaßen. Alle Kinder in unserer Siedlung sahen ähnlich gekleidet aus, also kam kein Neid unter uns auf.
Und bald fing auch die Tretroller-Saison an. Diese Gefährte konnten wir im hiesigen Fahrradgeschäft leihen. Zwei Stunden für 30 Pfennig. Schnell erkannten wir die richtige Technik. Die auf dem Fußbrett des Rollers befestigte Treteinrichtung gab dem Roller bei richtiger Anwendung eine Mordsgeschwindigkeit.
Die nächste Zeit begann jedoch mit einer neuen Verantwortung: Kindermädchen spielen. Von nun an fühlte ich mich mehr oder weniger eingeschränkt. Ständig hieß es: „Nimm’ den Kleinen mit!“ Noch heute kriege ich eine Gänsehaut, wenn ich einen nostalgischen Korb-Kinderwagen sehe. Damit fuhr ich unseren Rudi spazieren. Mittlerweile konnte er sitzen, und das Leder-Laufgeschirr, mit dem ich ihn an die Chromleiste des Kinderwagens „fesselte“, verhinderte ein Aufstehen während der Fahrt. Missmutig und widerwillig schnappte ich den kleinen Kerl, wenn ich aufgefordert wurde, auf ihn aufzupassen. Ich packte ihn in den Korbwagen und schob los.
Die Murmelspieler warteten auf mich. Fürs Murmelspielen diente der Bürgersteig als Spielfläche. Da die Fußwege nicht gepflastert waren, sondern nur aus verdichtetem Sandboden bestanden, konnte man problemlos mit dem Schuhabsatz ein Loch in den Boden drehen. Wenn der Boden es zuließ, wurde ein tieferes Loch gegraben, in das wir eine offene Konservendose versenkten. Diese konnte man nach einem Regenschauer aus dem Boden nehmen, das Wasser ausleeren. Wir besaßen dicke, mittlere und kleine Kitscher, so nannten wir die bunten Glasmurmeln. Derjenige, der alle seine eingesetzten Murmeln im Loch versenken konnte, gewann und kassierte die des Gegenspielers ein. Eine alte Socke diente oft als Behältnis, um den Gewinn zu transportieren. Manche Kinder spielten auch mit Murmeln aus gebranntem Ton, die wegen ihrer unrunden Außenhaut manchmal schlechter rollten als die Glasmurmeln. Mit dem Zeigefinger bewegten wir die Murmeln, und nach einigen Tagen Spielzeit nutzte auch das Schrubben mit der Wurzelbürste nichts mehr. Uns Murmelspieler erkannte man am schmutzigen Zeigefinger und den Knien, die aussahen, als wäre man darauf durch ein Schlammloch gerutscht.
Zum Spielen animiert, parkte ich den Korbwagen mit dem „Kleinen“ am Straßenrand und sperrte das Rad mit einem kleinen kantigen Stein. Da Rudi ständig zappelte, verrutschte der Stein, und nach einigen Minuten setzte sich das Gefährt auf der leicht abschüssigen Straße in Bewegung und rollte abwärts. Nachdem der Wagen rund 20 Meter zurückgelegt hatte, bemerkten wir die rasante Abfahrt. Die Querstraße überfahrend, holperte er auf dem Grundstück gegenüber in eine Baugrube, die der Regen zum kleinen See mit ca. einem Meter hohen Wasserstand gefüllt hatte.
Wir kamen gerade recht, um einzuschreiten, als der Wagen mit den noch rollenden Rädern nach oben zeigend im Wasser versank. Ohne Rücksicht sprangen wir zu dritt in die Grube und retteten unseren tapferen Rudi. Die Abreibung, die ich anschließend zu Hause bekam, spüre ich noch heute.
Mein Vater fuhr damals stets mit seinem Motorroller zur Arbeit. Ein Auto besaßen wir noch nicht. Der Flitzer hieß „Hobby“, und wenn man ihn starten wollte, zog man an einem Anlasserseil, wie man es heutzutage bei Rasenmähern vorfindet.
Auf dem Sozius sitzend, lernte ich die Vorschriften der Straßenverkehrsordnung. Gut sichtbares Winken mit den Armen auf Zuruf meines Vaters zum Einleiten des Abbiegevorganges war meine Pflicht. „Rechts“ rief mein Vater, und ich bewegte meinen rechten Arm wie eine sich öffnende und schließende Bahnschranke. Eine verantwortungsvolle Aufgabe für mich als Beifahrer.
Mein Vater rüstete uns beide mit sturmfesten Motorradbrillen aus. Zusätzlich trug ich noch eine Pudelmütze auf dem Kopf, mein Vater eine lederne Motorradmütze. Für die Ohren konnte er eine mit Druckknöpfen versehene Lasche seitlich öffnen.
Besonders schön waren die Fahrten in den Fischhafen, wenn mein Vater die Lohntüte bekam. Wenn ich an den vorangegangenen Tagen durch gute Führung glänzte, nahm er mich mit. Dann fuhren wir abends durch die beleuchtete Stadt, was mich immer wieder faszinierte. Die Geschäfte mit ihren großen Schaufenstern und glitzernder Lichtreklame, … ich schien in einer fremden Welt zu sein. So ging es über die Langener Landstraße Richtung „Stadt“, vorbei am legendären „Seebeck am Markt“, dem Tanzlokal, das damals auch Hein Wuppdi genannt wurde. Dorthin gingen meine großen Brüder, meine Schwester und deren Freundinnen. Sie trugen dunkle Anzüge mit schmalen Schlipsen oder auch Nietenhosen. Ihr Haar stärkten sie mit Zuckerwasser zur Tolle und fetteten es mit Brisk. Die Mädchen ließen dort beim Rock ’n Roll den Petticoat blitzen. Die steifen Unterröcke gehörten in den 1950er Jahren einfach zum modischen Outfit.
Dann kamen wir am Kaufhaus Merkur in der Hafenstraße vorbei. Wir Kinder sangen:
Bei Merkur hat’s gebrannt,
da sind wir hingerannt,
da wollten wir was klauen,
da ham se uns verhauen.
Neben Merkur in einer Seitenstraße lag der „Blaue Engel“, ein Nachtclub, der an Marlene Dietrich erinnerte. Wenn man anschließend rechts abbog, kam man in die Rickmers-Straße, die damalige „sündige Meile“ mit den Bars und Kneipen, die von den Seeleuten und amerikanischen Soldaten und Matrosen besucht wurden.
Über die Georgstraße fuhren wir über die Rampe in den Fischereihafen. Unterhalb der Rampe lag damals die Firma „Schlotterhose & Co“. Ich stelle mir dabei immer einen Chef vor, dessen Angst sich wegen des Namens auf sein Beinkleid übertrug. Verrückte Gedanken eines Kindes.
Bei der Einfahrt in den Fischhafen genoss ich diesen Duft, den die Räuchereien und Fischfabriken ausströmen ließen. Hier irgendwo arbeitete auch mal meine Mutter. In einer Packhalle füllte sie im Akkord den eiskalten Fisch in Holzkisten, die anschließend in den Versand gingen. Ich erinnere mich an die vielen Tage, an denen sie ihre steif gefrorenen Hände kaum bewegen konnte. Doch nie jammerte oder beschwerte sie sich.
Ob am Arbeitsplatz, in der Freizeit oder auf dem Tisch, der Fisch verband seinerzeit unsere Familie in allen Varianten. Ich lernte dadurch schon sehr früh den Fisch fachgerecht zu behandeln und auch zuzubereiten.