Ben - Günter George - E-Book

Ben E-Book

Günter George

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Beschreibung

Der deutsche Studiendirektor Alexander Meiners befindet sich mit seiner Frau Hannah, den 2 Töchtern Susie und Tina und seinem 10- jährigen autistischen Sohn Ben auf einer Urlaubsreise quer durch Kalifornien und Nevada. In Lone Pine, einer Kleinstadt am Fuße des Mounts Whitney verschwindet plötzlich deren Sohn Ben, was die Eltern an den Rand des Wahnsinns bringt. Wochenlange, erfolglose Nachforschungen durch staatliche Sicherheitsbehörden und private Ermittler lassen die Eltern verzweifeln. Ben bleibt verschwunden. Nach mehreren Wochen fügt sich die ganze Familie resigniert in ihr Schicksal und fliegt ohne ihren vermissten Sohn zurück nach Deutschland. In der Heimat gerät die Mutter, eine hochbegabte Sologeigerin, in das Räderwerk einer sektenähnlichen Gruppe, die durch medizinische und pharmazeutische Forschungserfolge sowie mit Hilfe dichter Verschachtelungen und Einflussnahmen in Wirtschaft und Politik massive Machtpositionen ausübt. Auch die Entführung ihres Sohnes wurde anscheinend durch die Gruppe geplant und ausgeführt, um das Kind für medizinische Forschungszwecke zu missbrauchen. Mittlerweile verschwinden im Großraum Los Angeles immer mehr Personen.

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Das Cover-Motiv wurde von der

Berliner Künstlerin Mona Pfürtner gemalt,

und mir von Frau Dr. Irmgard Pfürtner-Bloos

freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Herzlich Dank dafür.

Für Julius und Nils

Wenn Geduld nicht ausreicht, um das Warten zu ertragen, macht Schmerz sich breit, der die Seele foltert

aufgewühlt zischende Gischt steigert die Sehnsucht

während die Gelassenheit im Meer versinkt

mit jeder sich brechenden Welle schlägt Besorgnis dein Herz, worauf sich Raureif setzt

nur wohltuende Gedanken an das Kommende

lassen die Eiseskälte tauen und das Gemüt

mit süßer Salbe der Hoffnung heilen

G.G.

Sie waren froh, endlich das Motel erreicht zu haben. Viel zu lang schien die Fahrt gewesen zu sein. Bis hier her haben die Kinder trotz der langen Strecke gut durchgehalten. Doch nun sind alle geschafft.

„Lass den Kleinen noch schlafen, während wir auspacken“, flüsterte Alex Hannah zu und strich dem Jungen über die Wangen, der im Kindersitz tief schlummerte und die Hand seines Vaters nicht spürte. Gut so, denn im wachen Zustand würde sich Ben kaum berühren, geschweige denn zärtlich streicheln lassen.

Hannah, seine Mutter stieg lächelnd aus, als sie den zufriedenen Ausdruck in Ben ‘s schlafendem Gesicht sah. Sie nahm die Papiere aus dem Handschuhfach, ermahnte dabei Susi nicht sofort wieder fortzurennen.

„Ich gehe mit dir Mama“, bot sich Tina an.

„ Ja, komm, wir werden schon mal einchecken. Alex, sieh nach Susi, bitte.“

Die Strenge in ihrer Stimme zeigte ihm, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, endlich Ruhe zu finden, sich lang zu machen und abzuschalten und Kraft zu sammeln für den nächsten Tag.

Susi, 6 Jahre alt, und in ihrer Art manchmal kaum zu bändigen, war dabei den Parkraum zu vermessen und die verschiedenen Autos auf dem Parkplatz des Motels zu zählen. Dabei versuchte sie es in Englisch zu tun, was ihr misslang, ihren Vater jedoch erheiterte.

Alex lehnte entspannt am Van und beobachtete Susi, die singend auf einem Bein hüpfend die parkenden Autos umrundete.

Die langen roten Zöpfe flogen ihr bei jedem Hüpfer ins Gesicht.

Er hielt sich schützend die Hand wie einen Schirm vor die Augen, weil ihn die noch warme Abendsonne blendete.

Nun ist sie auch schon ein großes Kind, wird Mitte des Jahres eingeschult, dachte er.

Doch vom Typ her ganz anders als ihre 14-jährige Schwester Tina, die vernünftig, ruhig und manchmal schon fast zu erwachsen wirkt. Sie ist Klassenbeste in ihrer Schule und in fast allen Belangen ein tadelloses Kind. Manchmal schleichen sich in Alex’ Gedanken sorgenvolle Nuancen ein, ob dieser perfekten Vollkommenheit. Die Bedachtsamkeit und Ruhe, die das junge Mädchen ausstrahlt, brachten den Vater oft ins Grübeln. Eine ausgesprochene Schönheit ist sie obendrein, kommt nach ihrer Mutter.

Mag die bevorstehende pubertäre Phase noch einiges an ihrem Verhalten ändern, doch im Grunde bleibt sie wohl die Perfektionistin. Kommt sie vom Klavierunterricht nach Hause, lässt sie keine Minute verstreichen, um anschließend hastig zu beginnen, das eben Gelernte in mindestens 2-stündiger Übung noch zu verfestigen. So, wie sie jede Herausforderung angeht. Niemals hört man sie klagen.

Auch kann man ihr stets die Beaufsichtigung ihres Bruders Ben übertragen, noch nie war sie nachlässig oder missmutig, wenn Dinge zu erledigen waren, die andere Kinder ihres Alters nur ungern tun. Sie hat wie sonst niemand den Weg gefunden, Bens geistige Betonkuppel zeitweise aufzubrechen und in das von Eisblumen in Milchglas verwandelte Fenster seines Lebens kleine Löcher hineinzuhauchen. Tina weiß ihren Bruder anzusprechen, wenn er sie mit fragenden Augen ansieht.

Verträumt lenkte sich Alex’ Blick in den Innenraum des Fahrzeugs, wo Ben noch immer den Schlaf der Gerechten hielt, den Malstift in der rechten Hand wie einen Haltegriff fest umschlungen. Ben war im Januar 10 Jahre alt geworden.

Ja, er ist das Sorgenkind der Familie. Seit sie vor einer Woche in den USA gelandet waren, hatte Ben vielleicht 5-6 unvollständige Sätze mit ihnen gesprochen. Ansonsten äußert er sich wie gewohnt verbal lediglich mit kaum hörbarem, fortdauernde ja oder nein, mit Nicken oder Kopfschütteln, das er erst dann beendete, wenn man die Hand auf sein Knie legt oder ihm ein lauteres „Es ist gut, Ben“ direkt ins Gesicht spricht.

Ansonsten erledigt er notwendige Konversation fast ausschließlich über seine Zeichnungen.

Das tonangebende Objekt in seinen Bildern ist ein Amselmännchen aus dem heimischen Garten. Seit Langem sein uneingeschränkter Favorit. Dieser Vogel sang im vorletzten Frühling jeden Morgen und jeden Abend eine besondere Melodie, eine Art Jingle, den Ben in sich abgespeichert hat und seitdem manchmal 30-40-mal hintereinander monoton vor sich hin pfeift.

Rief Hannah ihn zum Essen, oder ließ seinen Namen laut durchs Haus schallen, antwortete Ben manchmal fast automatisch mit einem zigfachen Jingle des Amselmannes. Dieser Gesang versetzte ihn zuweilen in eine charakteristische Hochstimmung, die seine Eltern freudig erregt zur Kenntnis nahmen.

Er zeichnet den Vogel seit diesem besagten Frühling in allen Variationen und Lebenslagen. Mal lächelnd, mal traurig, mal in Originalfarben und dann verspielt übertrieben bunt, wie einen Paradiesvogel.

Er verknüpft in seinen Zeichnungen Erlebtes mit scheinbaren Wunschvorstellungen, lässt den Vogel Ball spielen oder Straßenbahn steuern, Fahrrad fahrend oder mit einer Einkaufstüte unter dem Gefieder auf dem Gehweg herumspazieren. Aber auch mit Doktorhut und vor dem Computer sitzend.

Für jede alltäglich anmutende Situation musste dieses Tier in Ben’s Zeichnungen bereits Modell stehen.

Der Junge lebt in einem einzigartigen Exil, das sich glaskuppelförmig über seine Persönlichkeit gestülpt hat. Gefühlsregungen verlassen seinen Körper, sein Gesicht oder seinen Augen äußerst selten. Seine Individualität wird von einer merkwürdigen Stille belagert, die kaum zu deuten ist und noch weniger zum aktiven Leben geweckt werden kann. Persönliche Beziehungen geht er so gut wie gar nicht ein, obwohl er sich unbewusst zum Zentrum in der familiären Struktur entwickelt hat, und jeder sich auf ihn eingestellt hat.

Sein Sozialverhalten, was kaum veranschaulicht werden kann, zeigt sich wechselhaft und manchmal unkalkulierbar.

Er bewegt sich in einem Raum, dessen Ausmaße sich ständig verändern. Sie changieren von der erdrückenden Enge eines Kellerverlieses, bis hin zu opernhausähnlichen Weiten, sichtbar gemacht in seinen kommunikativen Bildmitteilungen.

Die Magie seiner Zeichnungen, durch die er sich hinauswagt aus seiner verschlossenen Welt, umschreibt sein Inneres, sein Mitteilungsbedürfnis und seinen nonverbalen Wortschatz.

Der kleine Amselmann, den er bildhaft auf die Reise schickt, um Familie und Umwelt wortlose Nachrichten aus seinem Seelenleben zu überbringen, wird mehr und mehr zum Tunnel nach außen. Sind seine Nachrichten letztlich Fragen, die nicht auf Beantwortung warten können? Oder sind es Warnungen? Hinweise auf Konsequenzen, die bei Fortführung irgendwelcher Handlungen, oder Aktionen zu irreparablen Schäden oder Nachteilen führen würden?

******

Während des zwölfstündigen Fluges in die USA blickte er fast ständig stur und gelangweilt aus dem Fenster, um zwischendurch kaum Erkennbares auf seinen Zeichenblock zu bringen, bis ihn plötzlich eine seltsame Unruhe erfasste. Er überkritzelte blitzartig unter massivem Keuchen seine Zeichnungen, rieb sich heftig die Augen, rutschte im Sitz hin und her, atmete rasend schnell und bekam Schweißausbrüche. Sein Vater versuchte vergeblich ihn zu beruhigen. Die Verwirrung in ihm verstärkte sich mit jedem weiteren Versuch sie einzudämmen. Die anderen Fluggäste wurden auf sein Verhalten aufmerksam und steckten die Köpfe zusammen.

Ihre Aufmerksamkeit wurde erst unterbrochen, als das Anschnallzeichen an der Kabinendecke aufleuchtete und die Durchsage des Flugkapitäns für die nächsten Minuten schwere Turbulenzen ankündigte. Alex half Ben den Gurt anzulegen und versuchte seine Wangen zu streicheln. Erst danach legte sich zögernd die Unruhe in dem Jungen.

Nach dem Abklingen der Turbulenzen begann Ben wieder unbekümmert zu zeichnen, so, als hätte es die vorherigen Augenblicke voller Angst und Unruhe nie gegeben. Im Flugzeug herrschte kurzzeitig eine unbeschreibliche Stille. Man konnte nur das erleichterte Durchatmen einiger Fluggäste hören.

Hannah, die alles beobachtet hatte, ließ sanft ihre Hand auf Alex’ Bein gleiten und nickte ihm beruhigend zu.

Ben zeichnete jetzt wieder seinen Liebling.

Die Szene im Flugzeug reihte sich in die Palette der nicht beschreibbaren Ereignisse um seine Person ein. Bens besondere Stimmungslage, die bewusst oder unwillkürlich ein bevorstehendes Ereignis ankündigte. Hier im Flieger waren es die drohenden Turbulenzen, die das Flugzeug und die Passagiere kräftig durcheinanderschüttelten und Ben schon vorher in massive Unruhe versetzt hatte. Und zu Hause? Wie oft schon hatte Ben mit seinen „Vorahnungen“ alle verblüfft und nachdenklich gemacht.

Selbst Professor Ostheim, der Ben seit seinem 3. Lebensjahr medizinisch begleitete, konnte bisher keine Erklärung für dieses phänomenale Verhalten finden. Die merkwürdigen Gefühlswallungen des Kindes waren weder nachzuvollziehen noch belegten hierzu irgendwelche fachärztliche Abhandlungen schlüssig dieses Phänomen. Kein Wissenschaftler, der sich mit den Auswirkungen dieser Erkrankung beschäftigte, hatte bisher ähnliche Geschehnisse beschrieben.

In der pädagogischen Einrichtung, die sich für Ben als ein zweites Zuhause darstellt, gilt der Junge als Musterschüler. Sein Aufenthalt dort vollzieht sich ohne Probleme. Hier nutzt er anscheinend

die Abgeschiedenheit seines Exils fernab der Familie und jeglicher unmittelbaren Fürsorge.

Wie selbstverständlich steigt er morgens ins Auto, wenn Hannah ihn in die Tagesstätte fahren will. Bei der Rückkehr räumt er seine Malsachen in sein Zimmer, legt sie griffbereit auf seinen Schreibtisch, um sie wie ein Angestellter, der sich unerledigte Arbeit nach einem langen und anstrengenden Bürotag mit nach Hause genommen hat, anschließend sorgfältig zu beenden.

Meistens waren es banale Dinge, die durch Ben’ s Verhalten eine völlig andere Bedeutung und Dimension bekamen. Sie wurden von der Familie anschließend besprochen, durchdacht und neu geordnet. Verhaltensweisen wurden neu definiert und mit anderen Namen und Bezeichnungen versehen. Verschlüsselte Zitate, wie Spione sie anwenden könnten, dienten als Benennung für Handgriffe, Vorhaben, Umstände oder Gemeinsamkeiten.

Aus „zur Toilette gehen“ wurde „Anklopfen“, da Ben neuerdings vor jedem Gang ins Bad an die Badezimmertür klopfte und erst nach Ausbleiben einer Antwort den Raum betrat.

Vor einigen Wochen saß er auf der Terrasse und malte gedankenversunken in seinem Heft. Hannah verfolgte das Geschehen nebenbei von der Küche aus, und sah, wie ihr Sohn wiederholt in die Wolken aufblickte und geblendet in die Sonne blinzelte, die aus dem sommerlichen Himmel auf sein Gesicht brannte.

Ben beobachtete zwischendurch die abseits gelandete Amselfraktion, die sich aufgeregt um die besten Plätze am Vogelbad stritt. Er zeichnete diese Szene und stellte dabei einen der Vögel farblich und größenmäßig explizit heraus. Zwischendurch hob er wieder den Kopf und schaute gen Himmel.

Minuten später legte er abrupt die Malstifte zur Seite, sah noch einmal prüfend in die Wolken und rannte unvermittelt ins Wohnzimmer. Mit beiden Armen umklammerte er den großen Übertopf, in dem der Gummibaum wie ein Mast im Wind schwankte, und wuchtete den Kübel ins Freie.

Sein Gesicht lief unter der dessen Gewicht rot an.

Am Rand der Terrasse ließ er die Last vorsichtig ins Gras sinken, zog sein Höckerchen heran, setzte sich drauf und starrte abwechselnd in die Wolken und auf das Gewächs. Mit der linken Hand zur Hälfte die Augen verdeckend blickte er in die Sonne, wie der Besucher einer Flugshow, der erwartungsvoll auf die kunstvollen Loopings der Flieger lauerte. Hannah wollte sich gerade wieder ihrer Beschäftigung zuwenden, doch das Geschehen draußen ließ sie in ihren Bewegungen verharren.

Es schien sich etwas Geheimnisvolles zu ereignen.

Die Sonne verschwand nach einigen Minuten wie ein ängstliches Kind hinter den Wolken, als würde sie vor einer drohenden Dämmerung fliehen. Der plötzlich aufkommende Wind gab dem Gummibaum kräftige Stöße in die Flanke und fuhr ihm wild durch die Blätter. Hannah verließ die Stütze bietende Seitenwand des Schrankes und ging gespannt zur Terrassentür.

Entsetzt und angespannt presste sie die Hand gegen die Lippen und verfolgte mit sorgenvollem Gesicht das weitere Ereignis.

Am Terrassenausgang flogen die Gardinen wie Gespenstertücher zur Seite und drehten sich gegen die geöffnete Glastür, wobei sie Hannah ’s Gesicht leicht streichelten. Ben starrte nach wie vor angestrengt und entschlossen zum Himmel, wo sich mittlerweile wie bestellt ein kräftiges Gewitter aufbaute.

Die Mutter störte ihren Sohn nicht, griff nicht ein, überließ Ben seiner verschlossenen Welt, wo sich der Himmel mittlerweile schmerzerfüllt ausweinen wollte. Der Regen hämmerte auf den Gartentisch und ließ mit voller Wucht tausend Tropfen wie Querschläger seitlich hochschnellen. Wie Geschossgarben schlugen kleine Hagelkörner in das mittlerweile verwaiste Vogelbad.

Die Amseln hatten längst kapitulierend ihren Streit beendet und nahe gelegene Schutzzonen in den Hecken aufgesucht. Überfallartig aufkommende Windböen gaben Bens Zeichnungen kräftige Schwünge, und ließen sie flatternd durch die Luft fliegen.

Sie landeten schutzlos und müde auf dem Rasen; die schwarze Farbe verwischte sich aufgeweicht und floss unwiederbringlich in den Erdboden, der sie gierig aufsaugte.

Ben hockte hartnäckig wie versteinert vor dem Gummibaum, als wartete er auf eine Empfindung der Pflanze, lauerte auf ihre Reaktion, wollte anscheinend Antworten oder Fragen des Gewächses. Nicht einmal der starke Regen, der ihn mittlerweile völlig zudeckte, oder die zuckenden Blitze, auf die sich dröhnende Donnerschläge unmittelbar anschlossen, konnte die betonierte Unbeweglichkeit dieses kleinen Menschen erschüttern.

Hannah spürte nicht die Tränen, die über ihre Hand flossen. Nur mühsam konnte sie den Schwindel, der ihre Sinne vernebelte, bekämpfen. Sie sah mitleidvoll auf ihren Sohn, der mit fester Entschlossenheit beobachtete, wie die Wolken ungehemmt ihre Regenlast auf die Blätter des Gummibaums abluden und sie als schmale Rinnsale zu Boden gleiten ließen.

Wer oder was mag das Kind zu diesen Handlungen animiert haben? Langsam dämmerte es in Hannah. Erst vor ein paar Wochen hatte sie einige Pflanzen auf den Rasen gestellt, damit der frische Regen die Gewächse aufmuntern möge.

Da kein einziger Tropfen fiel, holte sie die Blumen zurück ins Haus und stellte sie wieder an ihre Plätze. Scheinbar hatte Ben alles beobachtet. Und wieder hat er seine Mutter mit dieser Aktion zum Nachdenken gezwungen. Neue Gedanken in ihr aufgeschüttelt, wie ein ungemachtes Bett. Sie wurde daran erinnert, dass das Leben ihres Sohnes keine Einbahnstraße ist, dass sein Gemütspegel weitaus größere Ausschläge zu vollziehen imstande ist, als sie alle in der Familie sich bisher haben vorstellen können.

Nur mitteilen, nein mitteilen wird er es ihnen wohl nie.

Nicht in der Art und Weise gewöhnlicher Menschen, die sich durch Unterhaltung mittels Wortschatzes und Gesten verständigten.

Während sich für gesunde Menschen ihre Hände, Augen, oder Gesicht zur Unterstützung der Ausdrücke anbieten, bleibt Ben’s Sprache geheimnisvoll und verhüllt in seinen Bildern.

Kein geschriebenes Wort berichtet über sein Inneres, gibt Auskunft über seine Gedanken, seine Gefühle, sein Denken und Handeln. Nur seine Bildsprache gibt Aufschluss über sein Inneres.

Er macht es unsichtbar. Öffnet sein gemaltes Vokabular gelegentlich nur einen Spalt breit, wenn man in den Bildern etwas zu erkennen vermag. Das Gesehene und Erlebte gibt er in Bildnissen mit farbverspielter Sprache wieder. Die Kolorierungen reflektieren seinen Gemütszustand, lassen in ihn hineinblicken, seine Schreie oder sein Lachen zutage treten.

Durch Worte jemanden zu kränken ist ihm nicht gegeben, einen Menschen mit freundlichen Gesten zu streicheln, kennt er nicht.

Und im letzten Herbst geschah etwas, was alle in Angst und Schrecken versetzte. Ben war verschwunden. Gerade noch spielte er auf dem Rasen. Nur kurz hatte sich Hannah vom Küchenarbeitsplatz, der ihr einen perfekten Blick auf die Terrasse samt Garten bot, verlassen, um ihren Klassik-Sender im Radio einzustellen. Als sie nach einer Minute zurückkehrte, war Ben nicht mehr zu sehen. In panischer Angst rannte sie aus dem Haus, sprang über die Buchsbaumhecke, um anschließend rufend die Nachbargrundstücke abzusuchen.

Dr. Scheller, der das Nachbarhaus bewohnte und bei Ben ein und aus ging, wurde durch die lauten Rufe ins Freie gelockt und hastete sofort der aufgebrachten Frau hinterher. Hannah schrie verzweifelt nach Ben, sich dabei aufgeregt und ängstlich mit den Fingern durch die Haare fahrend.

Alle beteiligten sich an der Suche. Alex und Hannah befürchteten, dass ihr Sohn wieder einmal gedankenversunken das Grundstück verlassen hat, um sich auf der in Sichtweite liegenden Ruinenstätte umzusehen. Jetzt wurde dort gesucht.

Erst vor ein paar Tagen hatten Alex und Ben hier die Abrissarbeiten der alten Brauerei besichtigt. Still hatte das Kind, zeitweise die Hand seines Vaters haltend, gelangweilt dagestanden und unbeeindruckt das wiederkehrende Aufschlagen der Abrissbirne auf die alten Gemäuer verfolgt. Unbeweglich beobachtete er den Einsturz der großen Giebelwand, die sich unter riesigen Staubwolken in einen Schuttberg verwandelte.

Nach schwerem Luftholen folgte das erneut ächzende Aufbäumen des Baggers, dessen Ausleger kraftvoll und zielgenau die schwere Eisenkugel in die aufgerissenen, verwundeten Wände der Gebäude schwang. Vor Jahren hatten hier Männer mit hochgekrempelten Ärmeln und verschwitzten Gesichtern die Holzfässer mit Bier gefüllt und durch diese Arbeit ihren Familien ein genügsames, aber zufriedenes Leben ermöglicht.

Die herrschaftlichen Bauwerke aus der Jahrhundertwende mit ihren stolzen Sandsteinfassaden, den vornehm aufgesetzten Giebeln und den bogenförmigen Fenstern, waren einst von zylinderbehüteten Männern mit wohlgeformten Bärten durch mit Musik untermalten Reden würdig ihrer Bestimmung übergeben worden und hatten Rezessionen, Kriege und Unwetter mutig überlebt. Doch nun mussten die alten Häuser gedemütigt weichen, waren den gnadenlosen Abrissmaschinen schutzlos ausgeliefert.

Schwere Lastwagen transportierten eifrig die steinernen Leichenteile der Gemäuer zu entfernt liegenden unbekannten Gräbern, in denen sich ihre Geschichte für immer verlor.

Kommentar – und teilnahmslos hatte Ben damals die Sprengung des riesigen Schornsteins beobachtet, der in einer gigantischen Nebelwand wie gekränkt schreiend zusammenbrach, als hätte man einem Riesen die Beine weggezogen.

Den kindlichen Beobachter erfasste nicht die kriechend wachsende Hilflosigkeit, unter der die alten Gebäude ihre Existenz nach und nach aufzugeben verurteilt waren.

Kein einziges Mal vernahm der Vater eine Gefühlsregung in der Hand seines Sohnes, die für Augenblicke gleichgültig in seiner ruhte. Alex registrierte dieses inaktiv starrende Gesicht seines Sohnes nur sehr kurz sorgenvoll, denn es war wie immer eine nicht außergewöhnliche Reaktion. Außerordentliche Ereignisse wurden von diesem Kind stets mit apathischer Mimik quittiert. Er ließ es prüfungslos als alltäglich geschehen. Doch auch hier in den Trümmern konnten die Suchenden das Kind nicht finden. Man fahndete in panischer Erwartung weiter.

Ähnliches war bereits im Frühjahr einmal vorgekommen. Sie fanden Ben damals nach ausgiebiger Suche im gläsernen Wartehäuschen der nahen gelegenen Bushaltestelle. Gedanken versunken mit dem Reißverschluss seiner Jacke spielend, saß er auf der vollgekritzelten Holzbank, erwartungsfroh durch die mit Graffiti verschmierten Glasscheiben in Richtung Straßenkreuzung blickend.

Unabhängige Beobachter hätten vermuten können, dieser ungeduldige Fahrgast würde sich über einen Sitzplatz mit guter Aussicht sorgen und die Ankunft des Busses nunmehr gespannt ersehnen.

Doch auch hier an der Haltestelle, keine Spur von Ben.

Nach geraumer Zeit konzentrierte man die Suche auf das Innere des elterlichen Hauses, wo Alex seinen Sohn Ben schließlich in der Abseite im Dachgeschoss fand.

Im ausgebauten Dach des Hauses stand vor der Südseitenwand eine alte, schwere, eisenbeschlagene Kommode, die den Einstieg in die Abseite, welche als Stauraum diente, großzügig verdeckte. Immer wieder hatte Hannah ihren Mann gebeten, hier doch endlich eine Tür einzubauen. Mit leerem Blick vor sich hinstarrend kauerte Ben in der äußersten Ecke, und nahm kaum wahr, dass Alex ihn mit hartem Griff am Pullover herauszog.

Wie war es ihm gelungen, die schwere Kommode zur Seite zu bewegen, um durch die schmale Öffnung zu schlüpfen, und anschließend die Luke wieder von innen mit dem Möbelstück zu verbarrikadieren? Noch tagelang hatten Hannah und Alex über diese Begebenheit geredet und sich neue Verhaltensregeln gegeben, um weitere Aktionen dieser Art künftig weitestgehend ausschließen zu können. Hannahs Vater, Johannes Lendte, den man noch in der Nacht von dem Zwischenfall in Kenntnis setzte, konnte das Geschehene kaum fassen.

Der Großvater lebte auf dem Lande und kam nur ungern in die Stadt, wenn, dann auch nur, um seine Tochter zu besuchen.

Zu seinem Schwiegersohn Alex hegte er eine zwiespältige Beziehung, die oft wellenförmig das gegenseitige Verhältnis ausdrückte. Mal redet Johannes in höchsten Tönen von ihm, um ihn im nächsten Moment für sämtliches Negative in der Familie verantwortlich zu machen. Trotz hoher Intelligenz, die den pensionierten Familienrichter auszeichnete, fiel er hin und wieder in eine geistig einspurige Denkweise zurück, die Hannah manchmal dazu nötigte, den Kontakt zum Vater tagelang einzufrieren.

Nur wenn der Großvater Sehnsucht nach seinen Enkelkindern verspürte, sah sie sich veranlasst, die Verbindung wieder aufleben zu las

*****

„Wir können das Zimmer im Motel beziehen,“! Hannah riss Alex aus seinen Gedanken und ihn buchstäblich hochschrecken.

„Ja, lasst uns hineingehen, ich werde Ben aufwecken“, antwortete er noch ziemlich durcheinander. Ben erwachte im Kindersitz und starrte seinen Vater an. Keine außergewöhnliche Geste sprach aus seinem Gesicht, kein Erstaunen ob des plötzlichen Aufwachens, keine Regung ließ seinen Ausdruck verändern, als Alex die Sicherheitsgurte öffnete.

Ben folgte ihnen fast stumpfsinnig mit mechanisch wirkenden Schritten ins Motel.

Nachdem die Kinder in einen schnellen Schlaf gesunken waren, kamen Alex und Hannah endlich zur Ruhe. Sie ließen den Tag noch einmal Revue passieren und überlegten, wie jeder den neuen beginnen sollte. „Ich wollte heute noch Pit Maurer anrufen“: fiel Alex fast erschrocken ein, „Er wird schon warten“!

Pit Maurer, sein Freund aus Studienzeiten, lebte jetzt in Los Angeles. Als Professor für Erdgeschichte und Paläontologie an der Uni in München war er seinerzeit einer derjenigen, die in Alex die Begeisterung für die Geologie so richtig gedeihen ließen.

Die beiden lernten sich während einer chaotischen Unifeier kennen. An diesem Abend hörte er gespannt zu, als Pit abseits vom Fetentrubel euphorisch vom Zauber der Forschung zur Ermittlung des Erdalters sprach. Alex war gefangen von der Art und Weise, wie sein späterer Freund das Wunder der Geologie gekonnt und voller Wissen farbenfroh und spannend ausmalte.

Der sprach von der Schönheit unserer Erde, wie von einer schönen Frau, die ihn mit ihrer Vielzahl von noch verborgenen Geheimnissen schon immer faszinierte. Deren Rätsel man wohl nie vollständig aufdecken könne, keinesfalls vor ihrer bevorstehenden völligen Vernichtung durch den Menschen.

Alex spürte auch den Schmerz in den Worten, wenn sein Freund vom Baumsterben, der Klimakatastrophe, den Hungersnöten, den Überschwemmungen, der Trinkwasserknappheit und der Vielzahl der Kerben sprach, die der Mensch in die Haut von Mutter Erde Tag für Tag aufs Neue hineingräbt.

Pit Maurer weckte in Alex den Drang, mehr über die zeitgeschichtliche Entstehung der Erde zu erfahren, neue Entdeckungen zu verfolgen, die Erdgeschichte mit den Händen zu begreifen. Dieser Abend war verantwortlich für die nachfolgenden unzähligen Besuche seiner Vorlesungen als Gaststudent.

Alex der Student im letzten Semester Lehramtsstudium, und Pit der Professor für Erdgeschichte, schlossen eine innige Freundschaft. Die Liebe zur Geologie und zu Pink Floyd hielt ihre starke Verbundenheit am Leben.

Die Universität in Los Angeles bot Pit seinerzeit eine Gastprofessur an, die er auch postwendend annahm.

Trotz der großen Entfernung und der Seltenheit persönlicher Kontakte blieb ihre Freundschaft erhalten. Und nun sollte die absolute Krönung aller bisherigen gemeinsamen Unternehmungen ihren Verlauf nehmen. Hannah merkte schon seit Stunden, dass Alex seine Ungeduld nicht mehr lange verbergen konnte. Der Urlaub mit der Familie war für ihn im Grunde nur das Mittel zum Zweck, um endlich sein lang gehegtes Vorhaben in die Tat umzusetzen. Mit dem Anruf bei Pit Maurer sollte nun das Abenteuer beginnen und die Familie ins zweite Glied rücken lassen.

Hannah fand sich schon jetzt damit ab, die nächsten Tage allein mit den Kindern etwas unternehmen zu müssen, während Alex und Pit Maurer das Death Valley erkunden würden.

Auf keinen Fall würde sie ihrem Gatten Vorhaltungen machen, oder ihm das Vergnügen, auf das er sich nun schon so lang freute, durch eigenes Anspruchsdenken vergällen.

Vielleicht würde sich Ellen, die Ehefrau von Pit ja doch noch ein paar Tage frei nehmen können, um Hannah Gesellschaft zu leisten und ihr mit den Kindern die Zeit vertreiben helfen.

Ellen hatte seit einigen Wochen die Leitung der Politik-Redaktion bei KSLA, einem der maßgeblichen Fernsehsender in Los Angeles übernommen. Für die junge Journalistin bot sich damit ein riesiger Karrieresprung.

Die ursprüngliche Zusage, mit Hannah einige Tage zu verbringen, während die Männer ihrem Hobby nachgingen, musste sie deshalb kurzfristig rückgängig machen, denn der neue Job verlangte ab sofort ihr uneingeschränktes Engagement. An Urlaub war momentan absolut nicht zu denken.

Im ersten Moment stimmte Hannah diese Mitteilung traurig, um jedoch später verständnisvoll Ellen den Rücken stärkend ihr für den Job alles Gute zu wünschen. So würde sie voraussichtlich die nächsten Tage allein mit den Kindern verbringen.

Was konnte Lone Pine und die Einöde der näheren Umgebung ihr und den Kindern bieten? Dieser Ort, den sich Alex und Pit für den Start ihrer Exkursion gewählt hatten, weil er die besten Voraussetzungen für die Pläne der Hobbygeologen besaß.

Da Pit von Los Angeles aus südlicher Richtung anreiste und sie so unnötigen Zeitverlust vermeiden würden, bot Lone Pine sich schon aus geographischer Hinsicht als Startrampe an.

Die Nähe zum Mount Whitney und zum Death Valley machte den Ort zum idealen Ausgangspunkt für Wanderungen und Bergtouren. Geschäfte und Läden hielten das notwendige Equipment für Abenteurer jeglicher Art in reichhaltiger Auswahl vor.

Doch für Hannah und die Kinder??

Egal, sie wischte all ihre Bedenken weg und freute sich letztendlich doch auf die Tage, die sie mit ihren Kindern allein verbringen wird, für die es bestimmt eine willkommene Abwechslung sein könnte. Während Alex mit Pit telefonisch den ersten Tag der Exkursion plante, blätterte Hannah lustlos, nur die Zeit überbrückend, in einem uninteressanten Lone Pine Prospekt.

Die Kinder schliefen in einem Nebenzimmer, durch dessen leicht angelehnten Tür Hannah ihre Atemzüge wahrnahm, was sie mit zufriedenem Lächeln kommentierte.

Ihre Aufmerksamkeit fiel auf eine Bilderserie über den nahe gelegenen Lake Diaz, dessen Ruhe und natürliche Schönheit ausführlich beschrieben wurde. Vielleicht sollte sie dort den nächsten Tag verbringen. Das Wetter wäre hierfür geeignet, nicht zu heiß, sodass die Kinder ungefährdet über längere Zeit draußen sein könnten. Beim Frühstück würde sie Alex ihr Vorhaben unterbreiten und sich geduldig noch seine üblichen Verhaltensvorschriften anhören.

Alex, vertieft in den Planungsgesprächen mit Pit, fiel nicht auf, dass sich Hannah ins Bad begab, um sich anschließend grußlos in Bett zu legen. Sie wollte sich nicht in das Männergespräch einmischen und ihn schon gar nicht bei seinen Vorbereitungen stören.

Hannah nahm ihrem Mann den Enthusiasmus, der ihn in sein persönliches Abenteuer trieb, nicht übel. Sie ließ ihm wie gewohnt alle möglichen Eigenständigkeiten.

Ihre Ehe war seit eh und je von persönlichen Freiräumen geprägt, die einer dem anderen gönnte. Diese Verhaltensweisen hatten sich ausgesprochen gut bewährt.

Auch dass Hannah ihre eigene berufliche Karriere nach Tina ’s Geburt aufgab und sich vollkommender Kindererziehung und der Familie widmete, war nie Gegenstand irgendwelcher Diskussionen oder gar Vorhaltungen. Nur ihr Vater, Johannes Lendte, der seinerzeit die Heirat seiner Tochter grundsätzlich ablehnte, versuchte deren Vorhaben, die Musik zu Gunsten der Familie aufzugeben, ihr vehement auszureden.

Doch alle Gegenreden blieben erfolglos.

Hannah wollte Mutter sein, absolut mit Körper und Geist. Diese Rolle hatte sie verinnerlicht.

Keinen Gedanken ließ sie zu, der eine Rückkehr in die Welt Yehudi Menuhins erlauben würde. Diesem Künstler, den die Frau so sehr verehrte, hätte sie früher einmal gerne ihr Können bewiesen. Unter seinem Dirigentenstab zu spielen, war nur ein Traum geblieben. Bisweilen, und dann nur in stiller Stunde, kam immer wieder, trotz allen Pflichtgefühls gegenüber ihrer Familie, zaghaft Wehmut in ihr hoch und sie dachte an die Zeit, in der sie als aufstrebende junge Solo-Geigerin die Konzertsäle in Deutschland vor Applaus beben ließ. Fachlich versierte Kritiker sagten ihr eine vielversprechende Karriere voraus.

Doch schlug sie erfolgsträchtige Angebote weltweit renommierter Konzertagenturen aus, um sich von der Musik zu entfernen und sich ganz und gar der Familie zu widmen.

Und immer dann, wenn sie ihre Kinder zufrieden schlafen sieht, wischte sie alle Zweifel weg, und war sich sicher, dass sie den richtigen Weg gewählt hatte. An die Kinder das Musikwissen weiterzugeben, besänftigte den Verlust nur bedingt.

Besonders die Existenz ihres Sohnes Ben, der ihre ganze Aufmerksamkeit und Energie in Anspruch nimmt, degradierte ihre Liebe zur Musik und das Streben nach öffentlichem Erfolg zur absoluten Nebensache. Nichts in der Welt würde sie gegen die Bestimmung, ihrem Kind alle Fürsorge zukommen zu lassen, eintauschen. Sie ging auf in der Fülle der Aufgaben, die sich durch Bens Krankheit in ihr Leben gedrängt haben. Doch jedes Mal, wenn sie versucht sich ihrem Sohn körperlich zu nähern, ihre Hand auf seine zu legen, kommt es ihr vor, als würde plötzlich eine Zugbrücke zwischen ihrer Haut und seiner in einer Zehntelsekunde hochschnellen und jegliches Empfinden für Zärtlichkeit unter einer riesigen Eisscholle einfrieren.

Alle derartigen Versuche quittierte er mit einer schnellen, abwehrartigen Bewegung, als würde ein Körperkontakt die grausamste Infektion verursachen, oder eine Berührung Brandwunden hervorrufen. Niemals zahlte Ben seiner Mutter deren Aufopferung und Liebe zurück.

Die Nächte, die Hannah keinen Schlaf schenkten, waren erfüllt von Träumen, die sie mit ihrem Jungen herumtollen lassen, in denen sie sich mit ihm lachend ins Gras sinken lässt, oder mit ihm Hand in Hand durch einen warmen Gewitterregen rennen darf.

Wie so oft, erst in der Nacht, nachdem die Hektik des Tages alle negativen Empfindungen großzügig verdrängt und überdeckt hat, schwimmt sie in Gedanken mit Ben auf einen See hinaus, hält ihn mit festem schützendem Griff, umschließt seinen Oberkörper bewachend mit mütterlicher Fürsorge und Hingabe.

Mutter und Sohn schwimmen dann einträchtig durch die Fluten. Draufgängerisch und mutig taucht das Kind gekonnt unter die Wellen hindurch, getragen vom Wissen, dass die starke Hand seiner Mutter ihn trägt und behütet. Fernab jeglicher Angst lässt Ben seinen Körper durch das klare Wasser des Sees fliegen.

Doch es wird für immer ein Traum bleiben.

Neben ihm einzuschlafen, nachdem sie ihrem Sohn eine Gutenachtgeschichte erzählt hat, seinen Herzschlag spürt, einfach zu fühlen, wie das Leben in ihm blüht, sein Körper und Geist wachsen, sind und bleiben für sie unerfüllte Wünsche.

Obwohl Hannah ständig bestrebt ist, dem Kind auch körperlich die Liebe einer Mutter nahe zu bringen, bleibt der Tatendrang besonders in dieser Hinsicht nicht ein einziges Mal von Erfüllung gekrönt. Diese Enttäuschungen hat sie mittlerweile in sich vergraben und nicht selten war in ihrem Inneren das Bedürfnis aufgekommen, laut nach Hilfe zu rufen, um ihre Bedrücktheit sichtbar zu machen. Doch sie muss funktionieren. Mit allem und jeden hatte sie sich arrangiert.

Der schrullige Nachbar Dr. Scheller von nebenan, auf dessen Grundstück sich Ben mit Hannahs Einverständnis wieder zeitweise aufhalten darf, löste in ihr eine besondere Art der Eifersucht aus. Besonders wenn Schellers Hund Fido versucht, den von Ben geworfenen Ball zu erwischen, und das darauffolgende Lachen ihres Sohnes zu ihr herüberdringt.

Dann wird sie traurig, ja sogar erbost über die Tatsache, dass Ben einem fremden Menschen sein Lachen schenkt, und seiner Mutter diese Freude nach wie vor verwehrt.

Als Ben im vergangenen Winter von Fido hinterhältig in den rechten Unterarm gezwickt wurde, wovon glücklicherweise nur eine kleine Narbe in Form eines „W“ zurückblieb, unterband Hannah vorerst die Besuche beim Nachbarn.

In den darauffolgenden Tagen musste sie zusehen, wie das Kind immer wieder inständig und liebevoll den Nachbarhund zeichnete. Sie konnte seine so zutage getretenen Traurigkeiten nicht länger mit ansehen und hob das Verbot kurzfristig wieder auf.

Was wussten sie alle von diesem Dr. Scheller? Man unterhielt sich mit ihm von Zeit zu Zeit über den Gartenzaun hinweg.

Sie tauschten lediglich nachbarschaftliche Floskeln über Wetter, Baumblüte und Kompostherstellung aus.

Ein direkter freundschaftlicher Kontakt entstand hierdurch nicht. Gleichwohl erlaubten die Eltern Bens Kontakt zu dem alten Herrn, allein schon aus dem Grund ihrem Sohn die Möglichkeit zu geben, andere Menschen in sein Leben einzubeziehen und zu ihnen eine eventuelle vertrauensvolle Beziehung aufzubauen.

Dr. Scheller unterhielt bis vor 5 Jahren am Stadtrand eine Praxis für Allgemeinmedizin. Aus Altersgründen gab er sie auf und zog sich ins Privatleben zurück, er widmete sich fast ausschließlich seiner Uhrensammlung. Taschenuhren und alte Armbanduhren interessierten ihn hauptsächlich. Ein defektes Stück aus seiner Sammlung trug Ben seit einiger Zeit mit sich herum, mal schmückt es seinen linken Arm, hin und wieder verstaut er die Uhr lieblos in seiner Hosentasche.

Als das Uhrwerk seine Arbeit einstellte, waren die markanten Zeiger bei 12.15 Uhr stehen geblieben und zeigten so die Stunde ihrer Kapitulation.

Hannah fand die Uhr eines Tages beim Aufräumen und erkannte sofort die feine Verarbeitung und das noble Design. Lediglich das Lederarmband hatte unterhalb der Befestigung am Uhrengehäuse eine breite Schramme.

Fido hatte hier wahrscheinlich mit den Zähnen erneut seine Spuren hinterlassen. Eine Nachschau in entsprechenden Internetseiten brachte Gewissheit.