Der Salon - Günter George - E-Book

Der Salon E-Book

Günter George

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Beschreibung

Bremerhaven im Jahre 1958. Nachkriegszeit und wirtschaftlicher Aufschwung bringen Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammen. Ein kleiner Frisiersalon wird zum schicksalhaften Mittelpunkt einiger Frauen, die durch unterschiedlichste Motivation und Engagement in den Sog einer teils kriminellen und doch philanthropischen Organisation geraten. In diesem Dunstkreis gefangen befinden sich Mucki Eismann, ein stadtbekannter Kleinganove und Schwarzhändler sowie Helene Syskowicz, die als Angestellte des Frisiersalons plötzlich in ihre grausame Vergangenheit zurückkatapultiert wird.

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Der Salon

Titelseite1. KapitelImpressum

1. Kapitel

„Die Russen machen kurzen Prozess mit ihren Feinden“, knurrte Herrmann, während er die Daumen hinter die breiten Hosenträger legte, diese leicht von sich weg zog, ums sie anschließend laut hörbar zurück schnallen zu lassen. Danach blätterte er die Zeitung aufmerksam weiter.

„Was meinst Du??“, rief Marianne fragend aus dem Schlafzimmer, wohlwissend, dass das Gesagte nicht konkret ihr galt, sondern nur einer der üblichen Kommentare ihres Gatten zur weltpolitischen Lage war, die er stets weit hörbar in die Umgebung blies.

„Dieser Ungar, dieser Natsch (Anm. Nagy), ist von den Russen kurzerhand aufgehängt worden, weil er nicht mehr mitmachen wollte, bei denen“, erklärte Hermann.

Marianne stellte das Bügeleisen ab, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und ging in die Wohnküche. „Wobei nicht mehr mitmachen“, fragte sie naiv.

„Na bei den Iwans, und den anderen im Warschauer Pakt“, klärte Hermann sie grantig auf.

„Liegt Warschau denn nicht in Polen, oder etwa doch in Ungarn?“, fragte Marianne

„Mann oh Mann, klar liegt es in Polen, da wurde damals dieser Pakt beschlossen. Und wir haben die Nato, und jetzt lass mich meine Zeitung lesen“, befahl Hermann mürrisch und beendete gereizt das Gespräch, während aus dem Radio ein Lied erklang, in dem Caterina Valente von einem Ort sang, an dem ihre Sonne scheint.

Marianne ging schweigend, wie ein geprügelter Hund zurück ins Schlafzimmer, warf noch einmal betrübt einen Blick hinter sich in das Zimmer, in dem ihr Hermann saß, (das Zimmer war Küche, Wohnzimmer und Vorratsraum zugleich) und widmete sich anschließend wieder still ihrer Bügelwäsche.

Manchmal, nur manchmal, doch besonders an Tagen wie heute, und genau in diesem Moment fragt sie sich, wie alles geworden wäre, hätten die Russen damals ihren Hermann für immer in ihrem kalten Teil der Erde behalten und nicht schon als einen der ersten Kriegsgefangenen nach Hause geschickt.

Gewiss, die Menschen dort in dem fremden Land waren sicherlich heilfroh, diesen allbekannten Nörgler endlich wieder loszuwerden.

Denn er wird auch bei ihnen, wie es seine Art war, an allem etwas auszusetzen gehabt, und alles und jeden kritisiert und belehrt haben.

Und hier zu Hause gibt er sich jetzt weltpolitisch interessiert und gebildet, hält schlaues Gerede wie ein Politiker, lobt den Adenauer und verteufelt die verhassten Russen, die sich doch tatsächlich erlaubten, die Ostzone, was ja eigentlich auch Deutschland ist, einfach zu behalten und sich dort breit zu machen.

Und die Amis, die störten sich überhaupt nicht daran, unternehmen einfach „gar nüscht“. Die gucken nur zu, haben zwar n Haufen Truppen hier, naja, sie sind vielleicht froh, ihre Soldaten hierher schicken zu können, damit sie ihnen zu Hause nicht als Arbeitslose auf der Tasche liegen“, sagt Hermann.

Ja, was wäre aus ihr geworden, dachte sie weiter, und ihrem Kind, das Hermann und sie während seines letzten Fronturlaubs gezeugt hatten und das sie, Marianne Eulig, ganz allein heil und gesund durch die unzähligen Bombennächte und die Wirren des Kriegsendes gebracht hatte.

Das süße Mädchen, das sie eines Tages zurück in des Schöpfers Hände geben musste, weil ein amerikanischer GI vor 4 Jahren sturzbetrunken die Kontrolle über seinen Jeep verlor, in eine Gruppe Schüler raste und ihre 9 jährige Tochter dabei zu Tode brachte.

Vielleicht war das über sämtliche göttliche Umwege die Rache der Russen gewesen, mutmaßte sie. Nur weil ihr Hermann damals bei Smolensk einen T 34 geknackt, und dabei die ganze Panzerbesatzung umgebracht hatte. Er ganz allein, angeblich, so wie er immer voller Stolz und Inbrunst erzählte, geradeso, als hätte er den Krieg im Alleingang gewonnen. Und bei jeder sich bietenden Gelegenheit spielte er das damalige blutige Szenario für jedwedes Publikum gestenreich nach, wobei so mancher Kehrbesen, Spaten oder Regenschirm im Anschlag als Panzerfaustattrappe herhalten musste.

Dann legte er an, kniff das linke Auge zu, wobei sein Augenlid stets nervös zuckte, und sagte dann: „Peff, alle wech, die Iwans, mit nur einem Schuss!“ Die grölende Meute spendierte Hermann dann jedes Mal einen Korn und ein Bier, was er sich dann zufrieden schmecken ließ.

Für seinen angeblichen Heldenmut hatte ihm die Heeresleitung damals irgendein Kreuz verliehen, das er stets nach der filmreifen Vorführung hervorkramte, es an die Brustmitte hielt und voller Stolz hektisch darauf schlagend vom Feldzug gegen die Bolschewisten prahlte.

Womit man sich heute nichts, aber auch gar „nüscht“ kaufen konnte, deshalb kriegt er keine höhere Schichtzulage als Stauer (Anm. Be- und Entlader im Hafen), geschweige denn einen Vorarbeiterposten.

Es ging so viele Jahre gut ohne ihn, ganz gut sogar, dachte Marianne fast verträumt.

Doch eines Tages stand Hermann vor der Tür, zerlumpt, zerrissen und ausgemergelt, ein dreckiges Bündel aus Haut und Knochen. Und hat doch tatsächlich als erstes nach n Bier gefragt. Als hätt‘ ich für mich allein Bier im Haus gehabt, ärgerte sie sich heute noch rückblickend.

Wie gut, dass sie damals am Schlachthof putzen gehen konnte, sonst hätte sie es finanziell niemals geschafft, den verfressenen Hermann auch noch mit durch zuschleifen.

Ihr Chef gab ihr ab und zu mal ein paar Schweinefüße mit nach Hause. Davon bereitete sie eine deftige Sülze, und brachte so ihren abgemagerten Hermann wieder auf die Beine. Schnell passten ihm die Hosen nicht mehr, denn umgehend legte er sich einen Wohlstandsbauch zu, den er geradezu weltmännisch pflegte. „Alles Muskeln“, prahlte er im Freundeskreis, während er sich dabei zurücklehnte und mit beiden Handflächen sich selbst lobend draufschlug.

Ja, der Schlachthofchef, der hatte ein Auge auf sie geworfen. Ein toller Mann, mit guten Manieren, nett und zuvorkommend, dachte sie voller Wehmut.

Marianne verwarf augenblicklich die schrägen Gedanken, in denen sie doch immer wieder gerne badete, als sie Hermann laut und eindringlich hüsteln hörte, wechselte gedanklich umgehend das Thema, ging an den Kleiderschrank und freute sich über das Kleid, das ihr Heidelinde Schumacher geschenkt hatte.

Es war zwar nicht mehr ganz neu, doch immer noch schöner und qualitativ tausendmal besser, als die Fummel, die sonst noch in ihrem Schrank hingen.

Frau Schumacher, zu der sie aufblickte, ja sie fast verehrte, weil deren Großherzigkeit ihr gegenüber ungewöhnlich war und ausgerechnet sie, Marianne Eulig das Glück hatte, von dieser Frau als Putzhilfe eingestellt worden zu sein.

Wenn zu Feiertagen eine größere Pause zwischen den „Diensttagen“ lag und sie über eine Woche nicht zu Schumachers gehen konnte, war es ihr, als würde sie gefangen sein, eingesperrt in die kleine Wohnung und verbannt in das von Hermann dominierte kasernierte Leben, voller Nörgeleien und ständigen Streitgesprächen.

Dann sehnte sie sich danach, allein zu sein, den Tag für sich selber bestimmen zu können, zu entscheiden, was es zu essen gab, aufzustehen wann sie es für angebracht hielt…einfach nur sie selbst zu sein…das zu sein, was Gott ihr mit dem ersten Herzschlag gegeben hatte …ein Individuum. Und nicht eine Marionette, die sich zu bewegen hatte, wenn dieser ungepflegte, fettwänztige Hermann an den Zugseilen riss.

Sehr oft konnte sie nicht mehr hinsehen, wenn er seinen dicken Körper in die von ihr liebevoll gebügelte Wäsche zwängte, dabei grunzte, und hüstelte, und auch alle sonstigen Körperöffnungen ungehindert und ungeniert sprechen ließ.

Jedes Mal wenn Marianne ihren „Dienst“, wie sie die Arbeit im Hause der Schumachers nannte, aufnahm, betrat sie scheinbar eine andere Welt, die angefüllt war von Rücksicht, Anerkennung und innerlicher Ruhe. Die Räume bergen in ihren Augen eine Menge an Wissen, Geist und künstlerische Herrlichkeit, von alle dem sie nie genug kriegen konnte, in deren Dünsten sie badete und darin aufging, und von denen sie zuhause nicht den geringsten Atemzug spürte.

Das Haus der Schumachers lag am Rande der Stadt, grenzte unmittelbar an den kleinen Park, dessen alter Baumbestand die ersten Jahre nach dem Krieg dem Brennholzfrevel widerstanden hatte.

Das Domizil der Schuhmachers zeigte sich stolz als eine Gründerzeitvilla, die zu erwerben damals ein Herzenswunsch der Familie war. Und im Frühjahr 1934 hatten sie es geschafft, das Anwesen gehörte ihnen und wurde anschließend grundlegend renoviert und hochherrschaftlich eingerichtet.

Es bestach durch seine bescheidene Größe und durch die perfekte Symmetrie zwischen gekonnter Architektur und anschmiegsamer Verbindung zur überschwänglichen Natur, die von der Parkseite her anrainte. Diesen willkommenen Umstand nutzte der damalige Gartenarchitekt und schaffte gekonnt vermeintlich unsichtbare Übergänge, so dass der Park scheinbar in das Grundstück mündete, ja, sich hier ungehindert ausbreiten wollte.

Verließ man das Grundstück der Schumachers durch das eiserne Gartentor betrat man die herrliche Parkallee, auf dessen Kopfsteinpflaster früher die Pferdebahn umher kurvte und durch die jetzt stolz und stattlich die Elektrische fuhr.

Die Mehrzahl der Anlieger waren solvente Eigentümer, die fast ausschließlich mit der Seefahrt und deren Industrie zu tun hatten. Kleine Schiffseigner, große Reeder, Lotsen und Fabrikanten und sonstige hochgestellte Persönlichkeiten der Stadt schickten sich schon sehr früh an, in der Parkstraße Besitztümer zu erstehen.

Der Unternehmer Schumacher war damals einer der führenden Fischkonservenfabrikanten in der Region und stellte unmittelbar nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten als Parteimitglied das Unternehmen ganz in den Dienst der braunen Machthaber. Parteibonzen und regionale Politiker gingen bei ihm zu Hause ein und aus.

Der Krieg bescherte seiner Fischfabrik hohe Gewinne, denn die Verpflegungsrationen der deutschen Soldaten beinhalteten stets Schuhmachers Konserven mit Heringsfilets und sonstige Fischgerichten.

Nach Kriegsende wurde der Unternehmer Schuhmacher durch die Alliierten festgenommen, und vor ein Kriegsverbrechertribunal gestellt.

Die Entnazifizierungskommission machte ihm wegen seiner engen wirtschaftlichen Kontakte zu den Nazis den Prozess.

In einem separaten Verfahren während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse wurde er jedoch freigesprochen und konnte anschließend seine Firma schnell neu aufbauen.

Er nutzte rechtzeitig und zügig den wirtschaftlichen Aufschwung, setzte gekonnt die ihm verbliebenen Fabrikationshallen und Immobilien als Sicherheit für die erforderlichen Kreditnahmen ein.

Kurz nach dem er die Fischfangflotte um 2 weiter Schiffe ergänzt, und die Dosenfabrik um die bisherige Größe erweitert hatte, erkrankte Schumacher an Krebs, und starb kurze Zeit später.

Da die Ehe kinderlos war, und somit keine familiäre Nachfolge für das Unternehmen vorhanden war, blieb Heidelinde Schumacher nur der Verkauf der Firma, um ihr weiteres Leben finanziell absichern zu können. Der Prokurist der Firma, Johannes Ebeling, half ihr sämtliche Verkaufsformalitäten loyal und sauber zu erledigen.

In den ersten 2 Jahren, in denen sie allein war, fand sie kaum aus dem seelischen Dilemma, das der Tod ihres Ehemannes hinterlassen hatte, heraus.

Nur sehr schwer gelang es ihr, andere Gedanken zu fassen und nicht noch mehr in Depressionen zu verfallen. Doch bald entdeckte sie in einem Frauenkreis eine neue private Heimat, fand frischen Lebensmut und zog sich mit vielerlei Aktivitäten selbst heraus aus dem tristen Dasein.

Wenn früher ihr Mann in egoistischer Unternehmermanier für sie beide alle wichtigen Entscheidungen traf, und sie selbst von allen Unbequemlichkeiten fern gehalten wurde, nahm Heidelinde jetzt mehr und mehr und auch gern und voller Begeisterung ihr eigenes Leben selbst in die Hand.

Mit Marianne Eulig verband sie eigentlich gar nichts, doch Heidelinde Schumacher genoss die Tage an denen sich die Haushaltshilfe in ihren Räumen aufhielt.

Diese naiv auftretende Frau hatte mit ihrer unbekümmerten und ehrlichen Art schnell die Sympathien der Hausherrin erworben. Heidelinde Schumacher indes gab dieses mit freundlichem und zuvorkommendem Verhalten dezent zurück, ohne dabei die gesellschaftliche Distanz zu verlieren.

2. Kapitel

Der Frisiersalon von Karola Neufeld lag unweit der großen Kirche in einer Seitenstraße abseits der „Bürger“, wie die Einheimischen diese große breite Geschäftsstraße nannten.

Die Räumlichkeiten des Salons vermittelten schon beim Betreten ein wohlig warmes Gefühl, so, als befände man sich in der eigenen guten Stube. Werbeplakate und Accessoires waren in stilvoller Harmonie angeordnet, das ansprechende Mobiliar vervollständigte das angenehme Bild des gepflegten Geschäftes. Ein Raumteiler aus Bambusrohr, in dessen Lücken Blumentöpfe hingen, bildete einen bunten Übergang zum übrigen Ladenteil. Bunte Sessel, mit ausschweifenden Lehnen luden dezent zum gemütlichen Warten auf Dauer- und Wasserwelle ein.

Als reiner Damensalon bot er den Frauen nicht nur die handwerklichen Leistungen mit Schere und Wickler, sondern galt auch für die zwischenmenschlichen Kontakte bei ihnen schon bald als beliebter Treffpunkt.

Karola Neufeld übernahm 1950 das Geschäft von ihrer Mutter, die kurz danach plötzlich verstarb.

Die ersten Jahre der Selbständigkeit waren von ständigen wirtschaftlichen Schwankungen geprägt, und brachten Karola oft an den Rand der Aufgabe.

Die Neuunternehmerin tat sich sehr schwer, was Buchhaltung und Schriftführung betrafen.

Erst nach und nach stabilisierte sich der Betrieb. Und vor gut 10 Monaten stellte sie Helene Syskowicz als ungelernte Hilfskraft ein. Mit dieser Verstärkung war ihr anscheinend der Glücksgriff schlechthin gelungen, denn seitdem die junge Frau im Betrieb mitarbeitete, konnte sich Karola Neufeld vor neuer Kundschaft kaum retten.

Frischer Wind wehte durch die Räume, gute Laune stieg auf, wenn Helene, die als gebürtige Polin schon lange in Deutschland lebte, die Damen bediente, ihnen mit sanften Waschungen die Frisuren vorbereitete, sich in höflicher Form und mit feinsinniger Wortwahl in Deutsch mit polnischem Akzent zurückhaltend mit den Kundinnen unterhielt.

Sie gab den Damen das Gefühl, ausschließlich hier als einzige Frau in der ganzen Stadt die beste und eleganteste Pflege und Frisur zu erhalten und so verließen sie stolz und zufrieden den Salon.

Karola Neufeld war froh, durch Helene endlich eine Entlastung erhalten zu haben und zudem verstand sie sich prächtig mit der neuen Mitarbeiterin.

Sauber, adrett und ordentlich trat die junge Frau auf, zugeknöpft und still, ja manchmal verschlossen wirkte sie.

Und auch in ihr Privatleben ließ sich Helene Syskowicz nur bedingt schauen. Karola akzeptierte diese persönliche Zurückhaltung und richtete sich in den außerdienstlichen Gesprächen darauf ein.

Heidelinde Schumacher ließ sich, wenn möglich, nur von Helene bedienen. Sie mochte die stille und zurückhaltende Art, mit der die junge Polin den Kundinnen begegnete. Dieses überaus zarte, ja fast lautlos wirkende, hin und her huschende Persönchen, gab ihr oft Anlass zum Nachdenken und Grübeln, welche Persönlichkeit wohl noch in diesem Körper wohnen möge.

Zum Friseurbesuch nahm sich Heidelinde ausgiebig Zeit, saß gern vor ihrem eigentlichen Termin in den modernen Sesseln, las in den Illustrierten, die jetzt in rauen Mengen die Frauenwelt in Kaufrausch verführen sollte, und hörte bei einer guten Tasse frisch gemahlenen Bohnenkaffees den Unterhaltungen der anderen Frauen zu.

Heidelinde schmunzelte, wenn Helene die Mode ihrer Kundinnen lobte, wenngleich deren Kleider meistens längst nicht mehr dem Zeitgeist entsprachen. Helene rühmte anschmeichelnd den frischen und jugendlichen Teint der Damen, obwohl die letzten Jahre tiefe Falten in die Gesichter der Frauen gepflügt hatten.

Doch der wirtschaftliche Aufschwung gab ihnen allen nunmehr die Möglichkeit sich immer öfter etwas zu leisten, und hier sollte in erster Linie auf Äußerlichkeiten der Frauen Wert gelegt werden.

Helene unterhielt sich gewählt und kompetent über Weltpolitik und Wirtschaftsaufschwung. Gab sich diplomatisch, wenn es um nationale Belange ging und ihre Kundschaft das negative Kriegsende einhellig bedauerte.

Nach jedem Friseurbesuch genoss Heidelinde Schumacher die Fahrt mit der Straßenbahn, vorbei an den immer mehr florierenden Geschäften im Süden der Stadt.

Wie so oft weitete sie den Tag mit einer Rundfahrt auf allen Linien des Straßenbahnnetzes der Stadt aus. Sie beobachtete genau alle Handgriffe des Schaffners, wenn der mit seinen vom Nikotin der filterlosen Zigaretten braun gefärbten knochigen Finger das an seiner Hüfte hängende Geldwechselgerät bediente. Mit schnellen Bewegungen fuhren sie über die leicht nach innen gewölbten Tasten und ließen die Geldstücke aus den silberfarbenen Metallröhren in die offene Hand klingen.

Auch während er dem Fahrgast den Fahrschein übergab hatte der Schaffner präzise die Fahrtstecke im Blick, um über das an der Decke des Waggons entlang laufende Lederseil dem Fahrer durch mehrmaliges Ziehen die entsprechenden Klingelsignal zeitgerecht zu übermitteln. Der leicht hinkende Gang des Mannes zeigte, dass hier ein Kriegsversehrter in Brot und Arbeit war.

Schmerzvoll und wehmütig waren Heidelindes Gefühle wenn sie über die große Brücke (im Sprachgebrauch der Einheimischen: Rampe) fuhr und rechts den Fischereihafen liegen sah, von dem die Wohlgerüche der Räuchereien und Fischmehlfabriken herüber waberten und sie in die Vergangenheit zurückholten.

Das geschäftig laute Treiben, das in den kleinen und großen Fischverarbeitungs-betrieben herrschte, in denen Frauen die Konservendosen füllten, schwitzende Männer mit langen Haken Fischkisten und Körbe umherzogen. Dieses mit anzusehen brachte immer wieder Schmerz über das verlorene Unternehmen.

Sehnsüchtig vernahm sie das Knattern der Elektrokarren, die voll bepackt mit Fischkisten das feine Kopfsteinpflaster der großen bereiten Straßen zwischen den Packhallen befuhren.

Das Kreischen der Möwen, die sich um die von den Karren herunter gefallenen Fische stritten. Das unverständliche Kauderwelsch, mit dem der Auktionator bei der frühmorgendlichen Fischauktion die fein säuberlich aufgereihten Fischkisten, mit Heilbutt, Lengfisch, Rotbarsch und Schellfisch an den Mann brachte.

Das über die Fischhallen von den nahe gelegenen Werften herüber dröhnende Hämmern und Rattern der Niethämmer, das Pfeifen der Rangierer, und das melancholische 3 –malige Tuten der Typhone von Schiffen, die beim Auslaufen Richtung Nordsee das Signal als letzten Gruß an die Heimat ertönen ließen.

In Gedanken sah sie die traurigen Gesichter der Seeleute, die trotz ihres harten Wesens mit Tränen in den Augen einen letzten Blick auf die heimatliche Stadt warfen, wenn ihre Schiffe zur großen Fahrt die Wesermündung verließen.

Das alles vermisste Heidelinde sehr, wenn sie weit entfernt von diesen Geräuschen und Eindrücken allein und verlassen in ihrem großen einsamen Haus saß.

Doch in 14 Tagen würde sie wieder bei Karola Neufeld im Frisiersalon sein, und in der nächsten Woche kommt die Haushaltshilfe Marianne Eulig wieder zu ihr. Langsam nahmen wieder positive Gedanken Platz anstatt der lebensfremden depressiven Stimmung.

Jenny Olsen war der blonde Vamp wie er im Buche stand. Das knall eng anliegende Kleid brachte ihre weiblichen Proportionen gewaltig und aufreizend zur Geltung. Wenn sie ihre attraktiven Kurven über den Bürgersteig in der heißesten Straße der Stadt vorbei an den Bars und Kneipen schob, übertönte das anerkennende Pfeifen der Männer sogar die nach außen dringende Musik aus den dröhnenden Wurlitzer-Musikboxen.

Diese Straße führte schnurstracks in den Hafen. An ihren Bürgersteigen thronten alte ehrwürdige Hausfassaden, die den Bombenhagel des Krieges glücklich überstanden hatten, sie trotzten dem drohenden altersbedingten Verfall und hofften auf baldige Sanierung.

Wenn man diese Straße Richtung Hafen befuhr, sah man weit hinten die riesigen Schornsteine der Ozeanriesen und der Truppentransporter über die Abfertigungshallen der Columbuskaje hinaus ragen. Sie schienen durch ihre visuelle Nähe ein Teil der Stadt zu sein und zeigten den Damen in den Etablissements des Viertels fette Beute an.

Dieser Stadtteil war Jennys Arbeitsplatz, ihr Revier, in dem sie eine ziemlich dicke Nummer war.

Ihr richtiger Name, Bärbel Kohlmeier, passte nicht so recht zu dem, was sie darstellte und präsentierte, entsprach nicht ihrem Äußeren und auch nicht ihrer Tätigkeit.

Jenny Olsen zog besser, ja zog sogar phantastisch. Denn fast nur die feineren Herren zählten zu ihrer treuen Kundschaft. Bei ihr landeten ausschließlich die Offiziere der Schiffe, einflussreiche Männer aus Politik und Wirtschaft kannten ihre Adresse und waren verschwiegen, verhielten sich ihr gegenüber ehrlich und weltmännisch zuvorkommend.

Und Jenny revanchierte sich entsprechend. Sie war verlässlich, anständig und loyal.

Ihre „Dienstwohnung“ lag in einer schmalen, kopfsteinbepflasterten Seitenstraße, unweit ihrer Lieblings-Bar „Blauer Engel“ (in Anlehnung an Marlene Dietrichs Film) in einem Jahrhundertwende-Mietshaus, dessen Außenfassade sicher schon bessere Zeiten gesehen hatte, aber im Krieg vor dem Bombardement der alliierten Flugzeugstaffeln verschont geblieben war.

Die Wohnung verfügte über Telefon, Kühlschrank und stoffbespannter Musiktruhe, eigener Toilette und Badewanne.

Die 3 Zimmer waren geschmackvoll und großzügig eingerichtet und kosteten nicht von ungefähr einen für einen Normalverdiener kaum aufzubringenden Mietzins.

Doch die „lütte“ (kleine) Jenny, wie ihre Freier sie nannten, verdiente entsprechend, und bot ihrer Kundschaft außer den körperlichen Geschenken auch das dazu gehörende räumlich passende Ambiente. Und im Radio sang Fred Bertelmann vom lachenden Vagabunden.

Jenny Olsen kam zweimal in der Woche in Karola Neufelds Salon. Dort sah man sie als feine Dame den Raum betreten, geschmackvoll gekleidet, sanft und fraulich in Bewegung und Ausstrahlung, feinsinnig höflich und gekonnt in der Konversation. Nichts zeugte davon, dass sie auf dem Rücken liegend gegen harte Dollar ihren Lebensunterhalt bestritt.

Mittlerweile unterhielt sie zu der Besitzerin des Salons eine Freundschaft, obwohl vom Charakter total unterschiedlich, festigte sich das Verhältnis der beiden Frauen nach Karolas gescheiterter Lebensgemeinschaft mit Heinz (Heini) Brüsser.

Jenny Olsen zählte zu den ersten festen Kundinnen, und sie präsentierte allein auch durch ihr äußeres Erscheinungsbild die feine Gesellschaft. Keine der anderen Damen kannte ihre Herkunft, ihren Beruf oder gar ihren Wohnsitz. Für alle übrigen Kundinnen war sie die wohlhabende Dame, die fürs sanfte Haare waschen mit einem saftigen Trinkgeld beeindruckte.

3. Kapitel

Der 10 jährige Mucki Eismann saß im Keller seines Wohnhauses in der Nähe des Hafens vor dem mit Spielzeugsoldaten bevölkerten Schlachtfeld, das er auf einer Spielfläche auf dem Fußboden ausgebreitet hatte. Er ließ seine Panzerverbände und Infanterieeinheiten gegen die bolschewistischen Horden rollen. Gekonnt lenkten die kleinen Finger Geschütze und Mannschaften mutig durch die imaginären Frontabschnitte und zwang so die feindlichen Truppen zum Rückzug.

Mucki erhob sich ob des siegreichen Feldzuges und grüßte mit einem euphorischen „Sieg Heil“ bevor ihn ein Geräusch vom Nebenkeller her aus seinem siegestrunkenen Vormarsch holte, und seine Spielzeugarmee zum strategisch unvorbereitetem Stillstand brachte.

Er lauschte aufmerksam, verließ anschließend lautlos seine HKL (Hauptkampflinie), und schlich geduckt und für den imaginären Feind im Nebenraum nicht wahrnehmbar über den kalten Steinboden des Kellerflures, um dem geheimnisvollen Scharren aus dem Nachbarraum auf den Grund zu gehen und die neue Lage zu erkunden.

Gedeckt vor feindlichen Ausspähungen arbeitete sich Soldat Mucki auf dem Koppelschloss vorwärts, immer in niedrigster Gangart, die Hacken abgesenkt.....die scharfen Augen nach vorn gerichtet erspähte er schließlich den Geräuschverursacher.

Eine fremde männliche, breitschultrige Person brach im Nebenraum vorsichtig das lockere und bröckelige Mauerwerk in der Außenwand des maroden Kellergewölbes auseinander, sah sich immer wieder vorsichtig nach rückwärts und zur Seite um, bevor seine knöchernen Finger aus den Fugen einen losen Sandstein nach dem anderen aus dem Gemäuer heraus holten.

In den nun freien Zwischenraum steckte der Mann 2 gut verschnürte brikettgroße Päckchen, stopfte hastig Fetzen aus Zeitungspapier, loses Mauerwerk und schließlich zwei Sandsteine hintendran. Vor die nun wieder verschlossene Bruchstelle schob er eine alte Kommode und stellte einen Zinkeimer drauf. Anschließend begutachtete er nochmals das Versteck, schaute sich vorsichtig um und verließ danach eilig den Keller.

Auch ein jäh einsetzender Fliegeralarm, dessen Gefahr einflößendes Sirenengeheul die anfliegenden alliierten Bomber gespenstisch ankündigten, konnte Soldat Mucki Eismann nicht davon abhalten, das Versteck umgehend wieder aufzubrechen und in Augenschein zu nehmen.

Gerade noch rechtzeitig, bevor ein Volltreffer das Haus mitsamt dem Untergeschoss in Schutt und Asche legte, konnte Mucki Eismann aus dem Keller flüchten.

Todesmutig barg er den gerade versteckten Schatz, ohne vorher den Inhalt zu begutachten, um ihn an einem sicheren, nur für ihn zugänglichen Ort im Nebenhaus sicher zu verwahren.

Jetzt, viele Jahre später war Mucki Eismann Jenny Olsens gelegentlicher Aufpasser und gleichzeitig der wohl beliebteste Stammgast im „Hein-Wuppdi“ (Seebeck am Markt).

Das stattliche, etwas weißgräulich wirkende Gebäude am Markt, das den Tanzschuppen beherbergte, lag unweit der Rotlichtmeile der Stadt und war die Adresse der jungen Leute fürs Tanzen und Klönen.

Der große Schriftzug über dem halbrunden Eingangsbereich zeigte schon von weitem den Namen des Hauses.

Und hier war Mucki Eismann zu Hause. Seine zweite Heimat sozusagen. Hier konnte er sich ausleben, war Hahn im Korb bei den Mädchen, und geachtet bei den jungen Männern. Niemand wagte es sich gegen Mucki zu stellen. Er hatte sich seine gesellschaftliche Stellung ganz ohne Gewalt oder sonstige Ausfälligkeiten erarbeitet, Er war DER Mann in diesem Tanzschuppen. Und nicht nur hier….!

Nur er konnte sich erlauben, sein 1955-er Buick Cabrio, das in leuchtend roter Farbe stets im glänzenden Zustand daher kam, mitten auf dem Marktplatz vor dem Tanzschuppen zu parken.

Wenn er und seine Freunden aus dem Wagen sprangen, mit angefeuchteter Hand seine mit Brisk gestylte Frisur final richtete, bekamen die Mädchen in ihren weiten Petticoats leuchtende Augen und steckten flüsternd und kichernd die dauergewellten Köpfe zusammen.

Doch Mucki war beileibe nicht nur der brave Junge, den sich Eltern zum Schwiegersohn wünschten. Mucki hatte seinen Zinken, auf dem meistens eine schwarz berandete Sonnenbrille ruhte, in allem, was nach Geschäft und Profit roch. Mit seinen 25 Lenzen hatte er schon eine ansehnliche Zahl von zwangsweisen Besuchen in den Polizeirevieren der Stadt vorzuweisen. Doch nie kam er ernsthaft in die Bredouille. Schwedische Gardinen hatte er nie von innen gesehen. Zu gut funktionierten seine Beziehungen.

Keine der großen Sachen in der Stadt, wo es um bedeutsame Geschäfte ging, lief ohne Mucki Eismann und seinen Kumpanen ab. War er nicht involviert, so wusste er davon, ließ den Deal laufen…ohne einzuwirken…!

Und besonders die Frachten der amerikanischen Truppentransporter, die mit vollen Laderäumen an den Kais der Hafenbecken lagen, und alle notwendigen Gebrauchsgüter für die Gi‘s auf dem Europäischen Kontinent anlandeten, waren bei ihm besonders begehrt. Und hierfür war Mucki der Spezialist. Alles was in den Bäuchen der Truppentransporter in die Stadt gebracht wurde, stand auf seinem Merkzettel. Und nur er wusste Bescheid.

Schon als Jugendlicher hatten die amerikanischen Versorgungstransporte sein Interesse geweckt.

In der nördlich vom Hafengebiet angesiedelten US Kaserne rollten die Kohlenzüge nicht ein, ohne dass Muckis Bande sich bedient hatte und während der Fahrt Briketts und Eierkohlen in Säcke gepackt und an geeigneter Stelle vom Waggon geworfen wurden. Alleinstehende Frauen und ältere Herrschaften bediente er damit kostenlos. Sie, die Ärmsten der Stadt sollten niemals frieren. Und irgendwann und irgendwie bedankte man sich bei ihm.

Selbst einzelne vom Wachpersonal abgegebene Warnschüsse konnte Muckis Bande nicht davon abhalten, sich so mit Brennmaterial einzudecken damit Eltern, Bekannte, Freunde und Bedürftige eine warme Bude hatten.