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Der vor dem Hintergrund der französischen Revolution spielende Klassiker der erotischen Literatur, entführt in eine bizarre Welt des Lasters. De Sade beschäftigt sich mit der Philosophie der Tugend, die der Untugend nicht gewachsen scheint. Dieses Buch entstand 1787 in der Haftzeit in der Bastille. Dieses Buch ist für Leser unter 18 Jahren nicht geeignet.
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Es wäre die Hauptaufgabe der Philosophie, die Mittel aufzudecken, deren sich das Schicksal zur Erreichung seiner Zwecke bedient. Dann müßte sie diesem unglückseligen zweifüßigen Wesen Verhaltungsmaßregeln für seinen dornenvollen Lebensweg aufzeichnen, damit es nicht von den bizarren Launen dieses Schicksals – das man bald Bestimmung, bald Gott oder Vorsehung, dann wieder Zufall oder Vorausbestimmung genannt hat – abhängig sei.
So sehr wir auch durchtränkt sind von einer unnützen, lächerlichen und abergläubischen Ehrfurcht für unsere unsinnigen gesellschaftlichen Gebräuche, wird es doch vorkommen, daß Leute, die entweder grundsätzlich oder aus Neigung oder aus Temperament lasterhaft sind, glauben, daß es besser ist, sich dem Laster hinzugeben, als sich ihm zu widersetzen: Denn wie oft sehen sie nicht, daß Bösewichte für ihre Missetaten nur süßen Lohn ernten?
Werden sie nicht mit einiger Berechtigung sagen, daß die Tugend, so schön sie sein mag, der schlechteste Teil ist, denn man ergreifen kann, wenn sie zu schwach ist, um gegen das Laster anzukämpfen und daß in einem so verderbtem Zeitalter, wie das unsere ist, das Beste darin besteht, so wie die Anderen zu handeln? Bei mehr philosophischer Betrachtung könnten sie auch mit dem Engel Zesrad de Zadig sagen, daß es nichts Böses gibt, aus dem nicht Gutes entstünde und daß sie sich demnach dem Bösen so viel hingeben könnten, wie sie wollten, da das in Wirklichkeit nur eine Form ist, Gutes zu tun? Werden sie nicht hinzufügen, daß, wenn die Tugend vom Unglück verfolgt wird, das Laster gedeiht und beides in den Absichten der Natur liegt, es unendlich besser ist, mit den Bösewichtern zu gehen, die begünstigt sind, als mit den Tugendhaften, die zugrunde gehen.
Um diese Anschauung zu unterstützen – ein längeres Verschleiern ist unnütz – wollen wir der Oeffentlichkeit die Geschichte der tugendhaften Justine berichten. Es handelt sich darum, daß die Dummköpfe endlich aufhören, jenes lächerliche Götzenbild der Tugend anzubeten, das sie nur mit Undankbarkeit belohnt und daß Leute mit Verstand sich umso sicherer fühlen, wenn sie die verblüffenden Beispiele von Glück und Wohlfahrt sehen, die das Laster und die Ausschweifung fast mit unumstößlicher Gewißheit begleiten. Es ist zweifellos peinlich, einerseits die schrecklichen Unglücksfälle schildern zu müssen, von denen die sanfte und empfindsame Frau überhäuft wird, die aufs Beste der Tugend gehorcht und andererseits zeigen zu müssen, wie die Leute glücklich sind, die diese selbe Frau quälen und zu Tode hetzen. Aber der Schriftsteller, der genug Philosoph ist, um die Wahrheit sagen zu können, steht über diesen Unannehmlichkeiten und durch die Notwendigkeit zur Grausamkeit gezwungen, reißt er mit unbarmherziger Hand die abergläubischen Hüllen herab, mit denen die Dummheit die Tugend verschönern will, und zeigt dem unwissenden Mann, den man betrog, das Laster inmitten der Reize und Genüsse, die ihm ununterbrochen folgen.
Solche Empfindungen werden diese Schrift leiten. Und aus diesen Gründen werden wir mit der zynischesten Sprache, den unsittlichsten und gottlosesten Ideen das Verbrechen beschreiben, wie es ist, das heißt, stets triumphierend, immer zufrieden und beglückt und die Tugend wird man gleicherweise immer unglücklich, bekümmert und gepeinigt sehen.
Juliette und Justine, beide Töchter eines sehr reichen Pariser Banquiers, wurden bis zu ihrem vierzehnten, beziehungsweise fünfzehnten Lebensjahr in einem der berühmtesten Stifte von Paris erzogen. Dort wurde ihnen kein Ratschlag, kein Buch, keine Unterweisung vorbehalten, und sowohl die Sittlichkeit, wie die Religion und die freien Begabungen schienen jedes der jungen Mädchen für sich ausgebildet zu haben.
Zu dieser für die Tugend der beiden jungen Mädchen sehr bedrohlichen Zeit kam es, daß ihnen eines Tages plötzlich Alles fehlte. Ein vollständiger Bankerott brachte ihren Vater in eine so peinvolle Lage, daß er an dem Kummer starb. Seine Frau folgte ihm einige Monate nachher nach.
Zwei gleichgültige entfernte Verwandte berieten, was mit den jungen Waisen geschehen sollte. Ihre Erbschaft betrug, da Alles von den Gläubigern verschlungen worden war, 100 Taler für jede. Da sich niemand um sie weiter kümmern wollte, öffnete man ihnen die Pforten des Klosters und ließ ihnen die Wahl, zu werden, was sie wollten.
Die lebhafte, sehr hübsche, eitle und verdorbene ältere Juliette schien nur erfreut zu sein, nicht mehr in einem Kloster vegetieren zu müssen, ohne an die Ursachen zu denken, während die harmlosere, interessantere, vierzehnjährige Justine, die von der Natur einen düsteren und romantischen Charakter erhalten hatte, mehr das Furchtbare ihres Geschickes empfand.
Dieses junge, so vielseitig begabte Mädchen besaß die Schönheit jener wundervollen Jungfrauen Raphaels. Große braune, seelenvolle Augen, eine weiche, schmelzartige Hand, eine zarte und biegsame Taille, runde und von der Liebesgöttin selbst gezeichnete Formen, eine bezaubernde Stimme und neben einem entzückenden Munde waren die schönsten Haare der Welt ihr eigen, deren Reize weit über dem standen, was die Feder leblos beschreiben kann.
Der Leser möge sich Alles vorstellen, was seine Phantasie an Verführerischem sich andeuten kann, und es wird hinter der Wirklichkeit zurückbleiben.
Man hatte beiden vierundzwanzig Stunden Frist zum Verlassen des Stiftes gegeben. Juliette war bemüht, die Tränen Justinens zu stillen. Als sie sah, daß ihr das nicht gelang, begann sie, sie auszuzanken, statt sie zu trösten. Sie warf ihr ihre Empfindlichkeit vor. Sie sagte mit weit über ihren Jahren stehenden Gedanken, daß man über nichts in dieser Welt bestürzt sein solle und daß man in sich genug starke physische Erregungen finden könnte, um solche Angriffe abzuschlagen. Daß die wahre Klugheit darin bestände, die Zahl seiner Freuden und nicht die seiner Leiden zu vermehren. Mit einem Wort, daß man nichts unterlassen dürfe, um in sich jene niederträchtige Empfindsamkeit zu ertöten, aus der bloß die Anderen Nutzen zögen, während sie uns nur Sorgen eintrüge.
»Ich,« sagte sie, indem sie sich vor den Augen ihrer Schwester auf ein Bett warf und die Röcke bis über den Nabel emporhob, »so mache ich es, wenn ich Kummer habe. Ich kitzle mich ... ich entlade und das tröstet mich.«
Der anständigen und tugendhaften Justine war diese Handlung ein Greuel. Sie wandte die Augen ab, und Juliette fuhr fort, indem sie ihr hübsches, kleines Löchelchen weiter rieb:
»Justine, du bist dumm. Du bist schöner als ich, trotzdem werde ich immer die glücklichere sein.« Nun fing die Hure an zu stöhnen und ihre junge Samenflüssigkeit, die vor den gesenkten Augen der Tugend ausgespritzt wurde, ließ die Tränen versiegen, die sie anders vielleicht ebenso wie ihre Schwester vergossen hätte.
»Du bist toll, daß du dir Sorgen machst,« fuhr dieses wollüstige Mädchen fort, indem sie sich neben Justine setzte. »Bei der Gestalt und dem Alter, das wir beide haben, ist es unmöglich, daß wir vor Hunger umkommen.« Bei dieser Gelegenheit machte sie sie auf die Tochter einer ihrer Nachbarinnen aufmerksam, die, nachdem sie aus dem Elternhaus entwichen war, heute mit glänzenden Mitteln ausgehalten wurde und zweifellos viel glücklicher war, wie wenn sie in dem Schoß der Familie geblieben wäre. »Man muß sich wohl hüten, zu glauben,« fügte sie hinzu, »daß die Heirat ein Mädchen glücklich macht. Wenn sie einmal am Altar Hymens gefesselt wurde, hat sie neben vielen Unannehmlichkeiten bloß eine sehr kleine Menge Vergnügen zu erwarten; während sie, wenn sie sich dem freien Leben hingibt, sich immer vor den Gewalttätigkeiten ihres Liebhabers beschützen oder sich durch die große Zahl trösten kann.« Bei dieser Rede schauderte Justine. »Eher würde ich den Tod vorziehen,« sagte sie und soviel ihr auch ihre Schwester vorhalten mochte, sie weigerte sich hartnäckig mit ihr zusammen zu wohnen, wenn sie sich einer Lebensführung zuwenden würde, die ihr ein Greuel war.
So trennten sich also die beiden jungen Mädchen, ohne ein Wiedersehen zu besprechen. Hätte Juliette, die eine große Dame werden sollte, ein kleines Mädchen empfangen sollen, deren tugendhafte Neigungen ihr Schande gemacht hätten; und andererseits hätte Justine sich in die Gefahr begeben sollen, ihre Sitten durch die Gesellschaft eines perversen Gechöpfes verderben zu lasen, das sich der öffentlichen Lust in die Arme warf?
Wenn der Leser gestattet, verlassen wir jetzt auf einige Zeit dieses kleine wollüstige Mädchen, damit wir ausführlich die Lebensgeschichte unserer keuschen Heroine erzählen können.
Man kann leicht sagen: Es muß ein wenig Tugend in der Welt geben; und es ist für einen Biographen1 viel angenehmer, an dem Helden, den er beschreibt, Züge von Reinheit und Wohltätigkeit zu zeigen, als den Geist ununterbrochen auf Ausschweifungen und Grausamkeiten richten zu müssen, wie der es tun muß, der in der Folge dieses Werkes die sehr skandalöse und ausschweifende Geschichte der schamlosen Juliette ausbreitet.
Justine hatte seit ihrer Kindheit eine mütterliche Freundin an der Schneiderin ihrer Mutter und so glaubte sie, daß sie auch jetzt für ihr Mißgeschick empfänglich sein würde. Sie suchte sie auf, teilte ihr ihr Unglück mit und verlangte von ihr Arbeit. Aber man wollte sie kaum erkennen und schickte sie mit rauhen Worten fort.
»Himmel,« sagte dieses arme Geschöpf, »müssen schon die ersten Schritte, die ich in der Welt mache, von Kummer begleitet sein! Diese Frau liebte mich früher, warum stößt sie mich heute zurück? Ach! Ich bin ja jetzt eine Waise und arm, ich habe keine Unterstützung mehr auf Erden und man liebt nur Leute, von denen man hofft, Annehmlichkeiten zu empfangen.«
In Tränen gebadet, wendet sich Justine an ihren Beichtvater und schildert ihm ihre Lage mit der Leidenschaft ihres Alters. Sie war weiß gekleidet, ihre Haare waren nachlässig in ein großes Tuch eingeschlagen. Ihre zart entwickelte Brust blieb dem Auge des Lüstlings durch einen doppelten Gazeschleier[4] verborgen. Ihr hübsches Gesicht war bleich durch die Aufregung und Tränen standen ihr in den Augen, was ihr Gesicht noch interessanter machte. Man konnte unmöglich schöner sein.
»Sie sehen mich, mein Herr,« sagte sie zu dem heiligen Kirchenmann, »in einer Lage, die für ein junges Mädchen fürchterlich ist. Ich habe Vater und Mutter verloren. Der Himmel hat sie mir in einem Alter entführt, indem ich ihre Hilfe am meisten benötigt hätte. Sie sind als zugrunde gegangene Leute gestorben. Ich besitze nichts mehr. Das ist Alles, was sie mir hinterlassen haben,« fuhr sie fort, indem sie ihm 12 Louis zeigte, »ich besitze kein Plätzchen auf dem ich mein armes Haupt ausruhen könnte. Sie werden mit mir Mitleid haben, nicht wahr? Sie sind ein Diener der Religion und die Religion ist der Schoß aller Tugenden. Im Namen Gottes, den ich mit allen Kräften meiner Seele liebe, im Namen des höchsten Wesens, dessen Werkzeug Sie sind, sagen Sie mir als mein zweiter Vater, was ich tun soll, was ich werden soll?« Der barmherzige Priester erwiderte darauf, indem er Justine durch sein Glas betrachtete, daß die Pfarre sehr überlastet wäre, so daß es schwierig sei, neue Almosen von ihr zu erhalten; aber wenn Justine ihn bedienen wolle, wenn sie die grobe Arbeit verrichten wolle, gäbe es immer ein Stück Brot für sie in seiner Küche. Und da der Gottesmann bei diesen Worten ihr sachte die Röcke über ihren Popo zusammengezogen hatte, um sie besser betrachten zu können, stieß ihn Justine, die seine Absichten erriet, zurück, indem sie sagte:
»Mein Herr, ich verlange weder ein Almosen noch eine Stelle als Dienerin. Ich wünschte Ratschläge, weil ich ihrer bei meiner Jugend und meinem Unglücke bedarf, aber Sie wollen Sie mir zu teuer erkaufen lassen.« Der Diener Christi, der sich schämte, durchschaut zu sein, erhob sich wütend. Er rief seine Nichte und seine Magd: »Jagen Sie mir diese kleine Schurkin hinaus,« rief er ihnen zu, »Sie werden nicht erraten, was sie mir soeben vorschlug. So verdorben schon und noch so jung! Und das einem Manne, wie ich es bin! ... Hinaus mit ihr, hinaus oder ich lasse sie verhaften!« Und die Unglückliche, Verstoßene und Beschimpfte sah sich gezwungen, ein kleines möbliertes Zimmer im fünften Stock zu mieten, um ihren Tränen freien Lauf lassen zu können. Sie bezahlte es im voraus und gab sich nun ganz ihrem Kummer hin, der umso bitterer war, als sie von Natur aus sehr empfindlich und ihr Stolz grausam beleidigt worden war.
Aber damit waren für sie die Schicksalsschläge noch nicht zu Ende. Es gibt eine Unmenge von Verbrechern in der Welt, die, statt über das Unglück eines anständigen Mädchens, weich zu werden, nur danach trachten, sie weiter zu peinigen, um sie so besser in der Gewalt zu haben. Aber von allen Unglücksfällen fällen, die ihr am Anfang ihrer Laufbahn zustießen, wollen wir nur den mit Dubourg berichten, einem der herzlosesten und reichsten Leute der Hauptstadt.
Die Frau, bei der Justine wohnte, hatte sie zu ihm geschickt, als zu jemandem, deren Einfluß und dessen Reichtum am ehesten die Grausamkeit ihres Geschickes mildern könnten. Nachdem sie lange im Vorzimmer gewartet hatte, führte man sie endlich hinein. Herr Dubourg, ein dicker, untersetzter und gleich allen Geldleuten unverschämter Mann, stieg eben, mit einem Morgenrocke dürftig bekleidet, aus dem Bett. Man wollte ihn gerade frisieren. Er schickte seine Umgebung hinaus und wandte sich zu dem jungen Mädchen: »Womit kann ich Ihnen dienen, mein Kind?« fragte er sie. »Mein Herr,« erwiderte ihm unsere Kleine, ganz verwirrt, »ich bin eine arme Waise, kaum vierzehn Jahre alt und kenne schon alle Abarten des Mißgeschickes. Ich flehe Ihr Mitleid an. Helfen Sie mir, ich beschwöre Sie.« Und sie zählte mit Tränen in den Augen dem alten Verbrecher alle Leiden auf, von denen sie heimgesucht war, welche Schwierigkeiten es habe, eine Stellung zu finden und welchen Abscheu sie von diesen Stand habe, für den sie nicht geboren sei. Sie schilderte die Furcht, die sie vor der Zukunft habe und stammelte schließlich, daß sie hoffe, ein so reicher und verehrungswürdiger Mann wie Herr Dubourg werde ihr zweifellos die Existenzmittel verschaffen.
Dubourg hätte man während dieser Rede malen müssen. Da er sich für das junge Mädchen zu erhitzen begann, kitzelte er sich mit der einen Hand unter seinem Schlafrock, mit der anderen richtete er eine Lorgnette auf die sich ihm darbietenden Reize. Wenn man ihn genau beobachtete, konnte man die Grade seiner Geilheit an den Zuckungen der Gesichtsmuskeln wahrnehmen, die immer stattfanden, wenn die pathetischen Klagen Justinens lauter oder schwächer wurden.
Dieser Dubourg war ein ausgemachter Lüstling, ein Liebhaber von kleinen Mädchen, und hatte in allen Himmelsrichtungen Frauen, die ihm solches Wild zuführten. Da er nicht imstande war, sich an ihnen zu befriedigen, so richtete er sein Augenmerk gewöhnlich auf eine ebenso grausame wie seltsame Liebhaberei. Seine einzige Leidenschaft bestand nämlich darin, die Kinder, die man ihm zuführte, weinen zu sehen. Und man muß sagen, niemand auf der Welt besaß ein solches Talent, sie in diesen Zustand zu bringen, wie er. Dieser unglückselige Schuft hatte so viel Bösartigkeit in sich, daß es unmöglich für ein junges Mädchen war, sich vor seinen Ausfällen zu schützen. Die Tränen flossen dann reichlich und der überselige Dubourg fügte noch rasch einige materielle Schmerzen zu den moralischen, die er eben hervorgerufen hatte. Die Tränen rannen dann noch heftiger, wobei er entlud, indem er das Gesicht mit Küssen bedeckte, das seine Reden unter Tränen gesetzt hatte:
»Sind Sie immer anständig geblieben?« fragte Dubourg und ging damit auf sein Ziel los. – »Ach, mein Herr,« erwiderte Justine, »ich wäre nicht so arm und in so bedrängter Lage, wenn ich es nicht immer gewesen wäre.« – »Also unter welchem Vorwand verlangen Sie, daß reiche Leute Sie unterstützen, wenn Sie ihnen keinerlei Dienst erweisen?« – »O, mein Herr, ich verlange ja nach nichts Besserem, als ihnen alle Dienste erweisen zu können, die die Schicklichkeit und meine Jugend mir gestatten.« – »Ich spreche nicht davon, daß Sie mir dienen sollen: dazu fehlt Ihnen das Alter und die Gestalt. Ich spreche davon, daß Sie dem Vergnügen der Männer entgegenkommen sollen. Jene Tugend, von der Sie so viel Aufhebens machen, taugt in der Welt zu nichts. Man schätzt heutzutage nur das, mein Kind, was etwas einbringt oder was ergötzt. Und welchem Nutzen oder welchen Genuß kann uns die Tugend einer Frau einbringen? Ihre Geilheit gefällt und erfreut uns, aber ihre Keuschheit langweilt uns. Wenn Leute meiner Art etwas hingeben, so geschieht es nur, um wieder zu erhalten. Und wie kann ein kleines, ziemlich häßliches und auch ziemlich dummes Mädchen, wie Sie es sind, anders lohnen, als daß sie sich ganz hergibt? Also vorwärts, hinauf mit den Röcken, wenn Sie wollen, daß ich Ihnen Geld gebe.« Und Dubourg streckte seinen Arm aus, um Justine zwischen seine Beine zu ziehen. Aber sie flüchtete nach rückwärts, indem sie unter Tränen ausrief: »O, mein Herr, es gibt also keine Redlichkeit und keine Wohltätigkeit unter den Menschen?«
»Bei Gott, sehr wenig,« erwiderte Dubourg, dessen geile Zuckungen angesichts der Tränen zunahmen. »Man ist von diesem Wahn, sich andere ohne Gegenleistung zu verpflichten, abgekommen. Man hat erkannt, daß die Freude der Wohltätigkeit nur die Wollust des Stolzes ist und man will jetzt tatsächlichere Genüsse haben. Der Ruf eines liberalen, freigebigen Mannes wiegt nicht, so glänzend er immer sein mag, die kleinste Sinneslust auf.« – »Ah, mein Herr, bei solchen Grundsätzen muß also der Unglückliche umkommen?« – »Was liegt daran! Es gibt mehr Wesen auf der Welt, als nötig sind.« – »So wäre es also besser, wenn man uns in der Wiege erwürgt hätte?« – »Sicherlich, das ist in vielen Ländern Brauch. Das war Sitte bei den Griechen und ist es bei den Chinesen. Dort werden die unglücklichen Kinder ausgesetzt oder getötet. Wozu Geschöpfe, wie Sie es sind, leben lassen, die, da sie nicht mehr auf Unterstützung seitens ihrer Eltern rechnen können oder weil sie keine mehr haben, bloß dem Staat zur Last fallen? Bastarde, Waisenkinder, schlecht versorgte Kinder müßten schon bei ihrer Geburt zum Tode verurteilt werden. Die ersten und zweiten weil sie die Gesellschaft beschmutzen und ihr eines Tages sogar verhängnisvoll werden können, und die lezteren, weil sie ihr niemals nützlich werden können. Alle sind sie für die Gesellschaft Auswüchse, die sich von den gesunden Gliedern nähren, sie entkräften und erniedrigen. Sie sind wie jene Parasiten, die sich an die gesunden Pflanzen anheften und ihnen die Lebenssäfte heraussaugen. Das Almosen, das einem solchen Abschaum Nahrung zuführt, und jene reich unterstützten Häuser, die man für sie gebaut hat, sind ein schreiender Mißbrauch. Wie wenn die Menschenart so selten wäre! So wertvoll, daß mann sie selbst in ihren scheußlichsten Vertretern pflegen müßte. Mit einem Wort, wie wenn es nicht mehr Menschen auf der Welt gäbe, als nötig ist und wie wenn es nicht für das Staatsleben und die Natur viel nötiger wäre, zu zerstören als zu erhalten.«
Hier zeigte ihr Dubourg, indem er den Rock, der seine Bewegungen verdeckte, auseinanderschlug, daß sich sein kleines, schwarzes, vertrocknetes Glied, das seine Hand seit langem bearbeitete, zu regen begann. »Vorwärts,« rief er jetzt in rohem Ton, »vorwärts, hören wir auf, weiter zu schwätzen und beklage dich nicht länger über dein Schicksal, wenn es in deiner Hand liegt, es zu verbesern.« – »Aber um welchen Preis, gerechter Gott!« – »Um einen äußerst mäßigen, da es sich nur darum handelt, daß du die Röcke aufhebst und mir zeigst, was unter ihnen ist. Ein zweifellos magerer Köder, den du nicht so hoch schätzen solltest. Vorwärts, entscheide dich. Mir steht er. Ich will Fleisch sehen. Man zeige mir sofort welches oder ich werde böse.« – »Aber, mein Herr ...« – »Dummes Geschöpf, stumpfsinnige Hure, glaubst du, daß ich mit dir mehr Umstände machen werde, wie mit den anderen!« Dabei erhob er sich wütend, verriegelte die Türe und sprang auf Justine, deren Tränen reichlich flossen. Der Lüstling küsst sie ihr weg, er verschluckt diese wertvollen Tränen. Dann schürzt er ihr selbst mit einer Hand die Röcke auf, legt sie um ihre Arme, während die andere das zum erstenmale beschmutzt, was die Natur selten noch so vollendet geschaffen hat.
»Abscheulicher Mann!« schrie Justine, indem sie eine verzweifelte Bewegung zu entschlüpfen machte. »Grausamer Mann,« fuhr sie fort, indem sie die Türe aufriegelte und flüchtete, »möge der Himmel dich eines Tages strafen, wie du es verdienst! Du bist weder des Reichtums würdig, von dem du einen so niederträchtigen Gebrauch machst, noch der Luft, die du atmest, um sie durch deine Grausamkeit und deine Verbrechen zu verpesten.« Dann ging sie hinaus.
Sobald die Unglückliche nach Hause zurückgekehrt war, wußte sie nichts Wichtigeres zu tun, als sich bei ihrer Wirtin über die Aufnahme zu beklagen, die man ihr bei dem anempfohlenen Manne hatte zuteil werden lassen. Aber wir war sie erstaunt, als sie sich von dieser Elenden mit Vorwürfen überhäuft sah. »Armseliges dumme Ding,« sagte sie ihr zornig, »glaubst du, daß die Männer so verrückt sind, kleinen Bettlerinnen, wie du es bist, Almosen zu geben, ohne Vorteil aus ihrem Gelde zu ziehen? Herr Dubourg hat noch zu gut an dir gehandelt. Der Teufel soll mich holen, wenn ich dich an seiner Stelle hinausgelassen hätte, ohne mich befriedigt zu haben. Aber da du von der Hilfe, die dir mein Wohltätigkeitssinn anbot, keinen Gebrauch machen willst, richte dich ein, wie es dir paßt. Du bist mir Geld schuldig: zahle sogleich oder du wanderst morgen ins Gefängnis.« – »Madame, haben Sie Mitleid!« – »Ja, ja, Mitleid. Mit Mitleid kommt man vor Hunger um. Von 500 kleinen Mädchen, die ich diesem anständigen Manne verschafft habe, bist du die erste, die mir einen solchen Streich gespielt hat. Welche Schande für mich. Dieser so anständige Mann wird sagen, daß ich meinen Beruf nicht verstehe und er hat Recht. Vorwärts, mein Fräulein, Sie müssen zu Herrn Dubourg zurückgehen. Sie müssen ihn zufriedenstellen, müssen mir Geld mitbringen. Ich werde mit ihm sprechen, ihn vorbereiten und versöhnen, soviel ich kann. Ich werde ihm Ihre Entschuldigung übermitteln, aber trachten Sie danach, sich das nächstemal besser zu betragen.«
Justine saß nun allein da und hing den traurigsten Gedanken nach. »Nein,« sagte sie zu sich, »nein, ich werde gewiß nicht zu diesem Lüstling zurückgehen. Ich bin noch nicht aller Hilfsquellen beraubt, ich besitze fast noch mein ganzes Geld und das genügt für lange Zeit zum Leben. Ich werde vielleicht bis dahin weniger harte, mitleidigere Herzen finden.« Indem sie diese Worte vor sich hinsprach, war ihr erster Gedanke, ihren kleinen Schatz zu zählen. Sie öffnete die Schublade .... »O! Himmel! Er ist gestohlen ...« Es blieb ihr nur das, was sie in der Tasche hatte, was kaum 6 Pfund waren. »Ich bin verloren,« rief sie aus. »Ah, ich sehe nur zu gut, woher der Streich kommt. Dieses niederträchtige Geschöpf will mich dazu zwingen, mich in den Schoß des Lasters zu werfen. Aber ach,« fuhr sie unter Tränen fort, »bleibt mir noch ein anderes Mittel, damit ich mein Leben fristen kann? Und sind nicht in der peinvollen Lage, in der ich mich befinde, jener Unselige oder jemand noch Bösartigerer die einzigen Wesen, von denen ich überhaupt Hilfe erwarten kann?«
In ihrer Verzweiflung ging Justine zu ihrer Wirtin hinab. »Madame,« sagte sie, »ich bin bestohlen. Bei Ihnen ist mir dieser böse Streich geschehen, aus einem Möbelstück, das Ihnen gehört, ist dieses Geld geraubt worden. Ach! Es war alles, was ich besaß. Es war der unglückselige Rest meiner väterlichen Erbschaft. Da ich dieser schwachen Hilfe beraubt bin, bleibt mir nichts als der Tod. O, Madame, töten Sie mich, ich beschwöre Sie.« – »Unverschämte Kleine!« erwiderte heftig Madame Desroches. »Ehe Sie mir solche Klagen vortragen, sollten Sie mein Haus besser kennen; Sie müssen wissen, daß es bei der Polizei in sehr guten Ruf steht und daß ich Sie auf den bloßen[9] Argwohn hin, den Sie geäußert haben, sogleich bestrafen lassen könnte, wenn ich wollte.« – »Argwohn, Madame? Ich habe keinen. Aus dem, was ich sage, spricht kein Verdacht, sondern Kummer. O, Madame, was soll aus mir werden, nachdem ich diese einzige Hilfsquelle verloren habe?« – »Werdet, was Ihr wollt, das geht mich nichts an. Es gäbe wohl Mittel, alles wieder gut zu machen, aber Sie wollen sie ja nicht benützen.« – »Aber, Madame, ich kann dienen,« erwiderte die Unglückselige mit tränenden Augen, »es ist doch nicht gesagt, daß dem Unglück nur durch das Laster aufgeholfen werden kann.« – »O ja! Das ist heutzutage das beste. Was wollen Sie im Dienst erhalten? 10 Taler im Jahr? Wollen Sie davon leben? O! glauben Sie mir, meine Freundin, auch diejenigen, die dienen, sind genötigt, zur Wollust Zuflucht zu nehmen, um sich erhalten zu können. Ich liefere jeden Tag welche von der Art. Ich bin, wie ich wohl behaupten kann, eine der besten Kupplerinnen in Paris. Es gibt keinen Tag, an welchem mir nicht 25 bis 30 Mädchen durch die Hände gehen. Das bringt mir auch etwas ein. Weiß Gott! Ich bin überzeugt, daß keine Frau meines Standes so gute Geschäfte macht, wie ich. Sehen Sie,« fuhr sie fort, indem sie der Unglücklichen 500 oder 600 Louis, für ebensoviel Juwelen und den schönsten Wäsche- und Kleiderschrank zeigte, nur der Wollust, vor der Sie so erschrecken, verdanke ich das. Teufel, es gibt heutzutage nur mehr diesen Beruf. Glauben Sie mir, schlagen Sie diesen Weg ein. Und dann ist dieser Dubourg ein braver Mann: »Er wird sie wenigstens nicht entjungfern. Er bringt sein Glied nicht mehr zum Stehen, wie wollen Sie, daß er fickt? Einige schwache Schläge auf den Popo und ein paar auf die Wangen. Und wenn Sie sich, gut bei ihm betragen, werde ich Sie mit anderen Männern bekannt machen, die Sie, bei Ihrem Alter und Ihrem Wuchs, in den Stand setzen werden, in Paris in der Karosse herumzufahren.« – »Ich habe keine so hohen Absichten, Madame,« erwiderte Justine, »ich will kein Vermögen besitzen, namentlich, wenn ich es um den Preis meiner Ehre erkaufen muß. Ich verlange nur leben zu können; und ich biete dem, der mir das gibt, alle Dienste an, die ich mit meinem Alter leisten kann, abgesehen davon, daß ich ihm aufrichtig dankbar sein werde. Ach, Madame, da Sie so reich sind, fühlen Sie doch Mitleid mit mir. Ich erbitte ja nicht, daß Sie mir ebensoviel leihen, wie ich bei Ihnen verloren habe. Geben Sie mir nur einen Louis, bis ich einen Platz gefunden habe. Seien Sie versichert, ich werde ihn zurückgeben, gleich von dem ersten Gelde, das ich verdienen werde.« – »Ich gebe dir keine zwei Sous,« sagte Madame Desroches, sehr erfreut, ihr Opfer da zu sehen, wohin ihre Niedertracht es bringen wollte, »nein, keine zwei Sous. Ich biete dir das Mittel an zu verdienen, benütze es oder du kommst ins Hospital. Herr Dubourg ist einer der Verwalter dieses Hauses und es wird ihm leicht fallen, dich hineinstecken zu lassen. Guten Tag, meine Freundin,« fuhr die grausame Desroches zu einem großen und hübschen Mädchen gewandt fort, die zweifellos wegen eines Ratschlages gekommen war, »und dir, meine Tochter, auf Wiedersehen! Morgen Geld oder Gefängnis.« – »Nun, Madame,« sagte weinend Justine, »suchen Sie Herrn Dubourg auf; ich will nochmals zu ihm hingehen, ja, ich will hingehen, mein Unglück gebietet es mir. Aber indem ich mich vor dem Schicksal beuge, müssen Sie, Madame, daran denken, daß mir wenigstens das Recht bleibt, Sie zu verachten.« – »Unverschämtes Geschöpf!« rief die Desroches aus, indem sie die Tür hinter ihr zuwarf, »du würdest verdienen, daß ich mich in deine Angelegenheiten nicht länger einmischte. Aber ich tue es ja nicht für dich, so sind mir auch deine Gefühle gleichgültig.«
Es wäre vergeblich, die qualvolle Nacht beschreiben zu wollen, die Justine verbrachte. Sie hatte die Grundsätze der Religion, der Scham und der Tugend sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen und konnte sich von ihnen nicht ohne heftige Kämpfe trennen. Die traurigsten Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, als es heftig an der Türe klopfte.