Justiz am Abgrund - Patrick Burow - E-Book

Justiz am Abgrund E-Book

Patrick Burow

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Beschreibung

In Zeiten der Angst und der Unsicherheit verlangt "Volkes Stimme" nach kurzem Prozess und härteren Strafen. Tatsächlich aber, so Strafrichter Patrick Burow, kann die Justiz ihren Beitrag zur inneren Sicherheit gar nicht mehr leisten. Freigesprochene Mörder, lasche Strafen und verschleppte Prozesse sind Indizien einer Krise des Rechtsstaats. Die Justiz steht im Zentrum aktueller gesellschaftlicher Debatten. Der Autor legt mit seiner brisanten Bestandsaufnahme den Finger in zahlreiche Wunden. Er schreibt sehr persönlich über die Kuscheljustiz, krasse Fehlurteile und Deals hinter verschlossenen Türen. Klar und deutlich sagt er, was sich ändern muss, damit die Justiz auch in Zeiten des Terrors ihren Beitrag zur inneren Sicherheit leisten kann.

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Dr. Patrick Burow

JUSTIZ AM

ABGRUND

Ein Richter klagt an

© für die Originalausgabe und das E-Book: 2018 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: STUDIO LZ, Stuttgart

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7844-3458-2

www.langen-mueller-verlag.de

INHALT

Einleitung

I. Justiz am Limit

1. Der Justiz droht der Kollaps

2. Warum Richter keine Zeit haben: Gerechtigkeit minutengenau getaktet

3. Überlastung im Justizalltag

4. Der Mindestlohnmann in der schwarzen Robe

5. Die Mangelverwaltung des Rechts

6. Die Justiz: ein ungeliebtes Stiefkind der Politik

II. Milde Strafen durch die Kuscheljustiz

1. Warum die meisten Urteile nicht mehr »im Namen des Volkes« ergehen

2. Schluss mit der Kuscheljustiz: Bringen härtere Strafen etwas?

III. Härte nur bei Bußgeldern

1. Unnachgiebige Verfolgung von Verkehrsverstößen

2. Abzocke oder Verkehrssicherheit?

IV. Folgen der Überlastung

1. Akten setzen Schimmel an

2. Im Zweifel gegen die Anklage: die Staatsanwaltschaft als Einstellungsbehörde

3. Justitia als Dealerin: der Handel mit der Gerechtigkeit

4. Fehlurteile: Wenn Unschuldige verurteilt werden

5. Kapitulation bei Alltagskriminalität

6. Wirtschaftsverbrecher haben es gut

V. Wo der Rechtsstaat auch nicht mehr funktioniert

1. Die Kleinen hängt man auf, die Großen lässt man laufen

2. Jugendkriminalität: Hätschelkurs für junge Intensivtäter

3. Neue Gesetze lassen das Schiff sinken

4. Gefängnisausbrüche

5. Die Flüchtlingskrise überfordert den Rechtsstaat

6. Bröckelnde Säulen der Gerechtigkeit

7. Autoritäts- und Vertrauensverlust der Justiz

VII. Zukunft der Justiz

1. Neue Herausforderungen

2. Schlussplädoyer: Wie die Justiz gerettet werden kann

Schlusswort

Anmerkungen

EINLEITUNG

Die Angst der Bürger, Opfer eines Verbrechens zu werden, wächst seit Jahren. So hat die Zahl der Einbrüche von 2005 bis 2015 um 58 Prozent zugenommen, während der Rechtsstaat hier längst kapituliert hat.1 Sie erreichte 2015 mit 167000 Fällen ein neues Rekordhoch, seitdem sinkt die Zahl wieder. Nur bei 15 Prozent der Einbrüche wird ein Täter ermittelt und nur in 2,6 Prozent der Wohnungseinbrüche kommt es zu einem Gerichtsverfahren gegen einen Verdächtigen. Meist bleibt es bei einem Beileidsbesuch der Polizei und einem Zettel für die Versicherung.

Die Flüchtlingsbewegungen in den vergangenen Jahren haben Polizei und Justiz vor ganz neue Herausforderungen gestellt. Die Verwaltungsgerichte werden von einer Welle von Asylklagen überspült. Abgelehnte Asylbewerber können nicht abgeschoben werden. Die Silvesternacht 2015/2016 in Köln war ein Offenbarungseid des Rechtsstaates. Hinzu ist die Terrorangst gekommen, bedingt durch eine Serie von Amokläufen und Attentaten. 65 Prozent der Bürger haben Angst, sie könnten Opfer eines Terroranschlages werden.2 Dieser Wert basiert auf einer Umfrage noch vor dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt.

Das Sicherheitsempfinden der Bürger hat durch die Angst, Opfer eines Verbrechens oder eines Terroranschlages zu werden, stark gelitten. Was lösen Angst und Terror in einer Demokratie aus? In unsicheren Zeiten wollen die Menschen Halt durch strenge Regeln und harte Strafen. Der Ruf nach Law and Order schallt durch die Republik. Doch er trifft auf eine vor dem Kollaps stehende Justiz. Im Jahr 2017 hat sich die Zahl der Terrorverfahren fast verfünffacht.3 Die überlastete Bundesanwaltschaft versucht, der Lawine Herr zu werden, indem sie die Verfahren an die Länder abgibt oder großzügig einstellt. Tatsächlich kann die Justiz ihren Beitrag zur inneren Sicherheit gar nicht mehr leisten, weil sie von der Politik systematisch kaputtgespart wird. Der Deutsche Richterbund weist seit Jahren darauf hin, dass in Deutschland insgesamt etwa 2000 Richter und Staatsanwälte fehlen.4 Es fehlen aber auch Hilfspersonal und moderne Computertechnik.

Die Folge der Überlastung sind massenhafte Verfahrenseinstellungen schon durch die Staatsanwaltschaft, verschleppte Prozesse und Strafrabatte wegen langer Verfahrensdauer. Schwerkriminelle müssen aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil sie nicht in der gesetzlichen Sechs-Monats-Frist verurteilt werden konnten.

Freigelassene Mörder, lasche Strafen und verschleppte Prozesse sind Indizien einer Krise des Rechtsstaates. Als Amtsrichter habe ich das Ohr am Puls des Volkes und spüre den Autoritäts- und Vertrauensverlust der Justiz. Bei der Alltagskriminalität wie Wohnungseinbrüchen oder Fahrraddiebstählen hat der Rechtsstaat längst kapituliert. Auch Wirtschaftskriminalität kann nicht wirksam bekämpft werden, obwohl sie extrem hohe Schäden verursacht. Neuen Herausforderungen wie der Internetkriminalität steht die betagte Justitia weitgehend hilflos gegenüber.

Wenn Sie eine Straftat begehen, wird das höchstwahrscheinlich völlig folgenlos für Sie sein, außer wenn Sie auf dem Weg zum Tatort zu schnell fahren oder dort falsch parken. Denn dann werden Sie die ganze Härte des Rechtsstaates zu spüren bekommen. Verkehrsverstöße werden unnachgiebig verfolgt, weil der Staat die Bußgelder zum Stopfen von Haushaltslöchern braucht.

Mit der brisanten Bestandsaufnahme dieses Buches wird der Finger in zahlreiche Wunden gelegt. Es beschreibt die Kuscheljustiz, häufige Fehlurteile und Deals hinter verschlossenen Türen. Der Rechtsstaat ist überlastet und funktioniert nicht mehr. Mühsam wird nur noch der Anschein von Recht und Ordnung aufrechterhalten. Das darf nicht so bleiben. Es sagt klar und deutlich, was sich ändern muss, damit die Justiz auch in Zeiten der ausufernden Alltagskriminalität und des Terrors ihren Beitrag zur inneren Sicherheit leisten kann.

I. JUSTIZ AM LIMIT

1. DER JUSTIZ DROHT DER KOLLAPS

»Der Rechtsstaat ist nicht mehr funktionsfähig«, hat der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel festgestellt, »wir haben nicht fünf vor, sondern fünf nach zwölf.«5 Die Präsidentin des Landgerichts Berlin schrieb im September 2017 einen Brandbrief an die Justizverwaltung. »Wir sind am Ende. Wir können nicht mehr. Sämtliche großen Strafkammern sind überlastet. Es können keine Strafverfahren mehr bearbeitet werden, außer in Haftsachen, und auch diese nicht mehr in den rechtlich vorgeschriebenen Fristen. Faktisch werden nur noch Haftsachen verhandelt, die normalen Strafsachen dümpeln der Verjährung entgegen. Wir wissen nicht mehr, wie wir die Eingänge verteilen sollen.«6

Der Rechtsstaat steht kurz vor einem Kollaps. Die Polizei klärt jedes Jahr rund 3,5 Millionen Straftaten auf. Dem stehen nur jeweils 5000 Staatsanwälte und Richter gegenüber. Ein Strafrichter am Amtsgericht muss etwa 600 bis 700 Fälle im Jahr erledigen. Urteile werden im Halbstundentakt verkündet. Aktuell wird die Polizei massiv ausgebaut, was die Anzahl der aufgeklärten Straftaten noch erhöhen wird. Der Deutsche Richterbund weist schon seit Jahren darauf hin, dass in Deutschland insgesamt etwa 2000 Richter und Staatsanwälte fehlen. Das ist keine erfundene Zahl, denn sie beruht auf der Auswertung von »Pebb§y«, einem System, mit dem die Justiz den Personalbedarf berechnet.

An vielen Gerichten und Staatsanwaltschaften herrscht eine Dauerüberlastung von 125 Prozent. Aus der 40-Stunden-Woche wird eine 60- bis 80-Stunden-Woche. Viele Staatsanwälte und Richter nehmen Akten mit nach Hause, andere verbringen auch die Wochenenden im Büro. Es gibt Strafkammern, die auch samstags verhandeln. In den Büros von Staatsanwälten stapeln sich die liegen gebliebenen Akten bis unter die Decke. Und das wohlgemerkt dauerhaft, ohne Hoffnung auf Besserung, ohne irgendeinen Ausgleich. Nach einer Allensbach-Umfrage7 geben 80 Prozent der Richter und Staatsanwälte an, eine zu hohe Arbeitsbelastung zu spüren. Zudem haben 66 Prozent der Richter und sogar 79 Prozent der Staatsanwälte nach eigenem Empfinden nicht genügend Zeit für ihre Rechtsfälle.

Ein Richter auf Probe hat 2013 im Saarland seinen Dienst wegen der Arbeitsüberlastung quittiert. In seinem Entlassungsersuchen klagte er über 180 Neueingänge im Monat bei der Staatsanwaltschaft.8 Eine tägliche Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden und Wochenenden im Büro seien zur Regel geworden. Die Verfahren hätten verschleppt oder unsachgemäß eingestellt werden müssen. Es ginge letztlich darum, die Akten möglichst schnell vom Tisch zu schaffen. Ein Kollege habe mal gesagt, wer gründlich arbeite, sei hier fehl am Platze. Ein Abteilungsleiter sagte, die Arbeitsbelastung könne nicht besonders schlimm sein, solange noch keiner der Staatsanwälte abends unter seinem Tisch liegt.

Ein Richter hat sich 2010 im Treppenhaus des Landgerichts Nürnberg-Fürth erhängt.9 Zuvor hatte er sich über eine hohe Arbeitsbelastung beklagt. Ebenfalls erhängt hat sich die Jugendrichterin Kirsten Heisig. Sie war die Hauptinitiatorin des »Neuköllner Modells zur besseren und schnelleren Verfolgung von jugendlichen Straftätern«. Sie hatte ihr Leben bis zur Selbstaufgabe dem Kampf gegen jugendliche Gewalttäter gewidmet. Ihre Ehe war dadurch zerbrochen und sie litt wahrscheinlich an einem Burn-out-Syndrom. Ihr Buch »Das Ende der Geduld – konsequent gegen jugendliche Gewalttäter« erschien postum.10

1200 Strafanzeigen wurden wegen der Silvesternacht 2015/2016 in Köln erstattet.11 Bekanntlich ist dabei nicht viel herausgekommen, denn durch das Versagen der Polizei konnten nur 83 Verdächtige ermittelt werden, denen nicht viel nachzuweisen war. Nur in 36 Fällen hat es Urteile gegeben. Was wäre aber passiert, wenn die Polizei eingeschritten und zu den 1200 Strafanzeigen eine entsprechende Anzahl Tatverdächtiger ermittelt hätte? Die Staatsanwälte und Richter, die dann die 1200 zusätzlichen Ermittlungs- und Strafverfahren hätten abarbeiten müssen, gibt es nicht.

Der Personalmangel hat, wie später noch detailliert zu zeigen sein wird, gravierende Folgen. Das tägliche Arbeiten am Limit führt zu hohen Krankenständen, Burn-out und Frühpensionierungen, was die Personalsituation noch verschärft. Viele Staatsanwälte und Richter können ihren gesetzlichen Auftrag der Strafverfolgung nicht mehr erfüllen. Die Aktenflut kann nur noch bewältigt werden, indem erhebliche Abstriche bei der Qualität gemacht werden. Die Staatsanwaltschaft beschränkt Ermittlungen und stellt Verfahren massenhaft ein. Anklagen werden unter Zeitdruck schlampig verfasst. Die Richter können einen Hauptverhandlungstermin erst in Monaten anberaumen und gehen manchmal schlecht vorbereitet in die Verhandlung, da ihnen die Zeit für ein gründliches Aktenstudium fehlt. Untersuchungshäftlinge müssen wegen überlanger Haft entlassen werden. Immer öfter müssen sich Richter auf fragwürdige Verständigungen über die Strafhöhe einlassen, die sogenannten Deals, um die Akten irgendwie vom Tisch zu kriegen. Kriminelle kommen straffrei davon, weil Zeugen sich nach Jahren an nichts mehr erinnern können oder die Straftaten schlicht verjährt sind. Der Arbeitsdruck erhöht die Gefahr von Fehlurteilen. Die Ermittlungs- und Strafverfahren dauern immer länger. Dies führt dann wiederum zu Einstellungen oder zumindest zu Strafrabatten. Wenn beispielsweise ein Kinderschänder wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung nur drei statt der eigentlich angemessenen fünf Jahre Freiheitsstrafe bekommt, schüttelt der Bürger verständnislos den Kopf. Vom Strafanspruch des Staates bleibt am Ende nicht mehr viel übrig.

2. WARUM RICHTER KEINE ZEIT HABEN: GERECHTIGKEIT MINUTENGENAU GETAKTET

Mit der Einführung von »Pebb§y« sind wir Richter Fabrikarbeiter des Rechts geworden. Pebb§y steht für Personalbedarfsberechnungssystem, wobei das s durch ein Paragrafenzeichen ersetzt wurde. Es spricht sich aus wie das koffeinhaltige Erfrischungsgetränk, wirkt im Gegensatz zu diesem aber nicht belebend, sondern lähmend. Erstellt wurde es von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers. Diese Firma hat keine Ahnung von der Justiz. Sie weiß nicht, wie Richter arbeiten. Sie versteht auch nichts von Gerechtigkeit, sondern nur von Effizienz. PricewaterhouseCoopers berät sonst Banken, Versicherungen und die Automobilindustrie. Verräterisch ist schon die Sprache. Es ist nicht mehr von Urteilen und Beschlüssen, sondern von »betriebswirtschaftlich optimierten Richterprodukten« die Rede. Für die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft macht es keinen Unterschied, ob das Produkt ein Auto oder ein Urteil ist. Gerechtigkeit wird damit zur Ware, die am Fließband produziert wird. Denn Pebb§y gibt Bearbeitungszeiten in Minuten vor. Ein Strafrichter am Amtsgericht etwa hat ein Zeitbudget von 157 Minuten für die Erledigung eines Falls.12 Wie ein Fabrikarbeiter in Wolfsburg erhalten Richter und Staatsanwälte minutengenaue Zeitvorgaben, wie lange die Erledigung bestimmter Fälle maximal dauern darf. Die Bearbeitungszeiten dienen zudem in der Kombination mit den Fallzahlen dazu, den Personalbedarf zu berechnen.

Hier ein paar Beispiele minutengenau berechneter Bearbeitungszeiten:13

Ermittlungsrichtertätigkeit

35 Minuten

Ordnungswidrigkeiten

39 Minuten

Staatsanwalt: Anklage einer fahrlässigen Tötung

50 Minuten

Scheidungsverfahren

131 Minuten

Jugendstrafsache

137 Minuten

Strafsachen vor dem Strafrichter

157 Minuten

Mietsachen

180 Minuten

Sorge- und Umgangsverfahren

222 Minuten

Die Minutenwerte enthalten jeweils die gesamte Bearbeitung, vom erstmaligen Aufschlagen der Akte über die Verhandlung bis hin zur Unterschrift des Urteils. In Strafsachen beinhaltet sie sogar zusätzlich die jahrelange Bewährungsaufsicht.

Es mutet schon befremdlich an, die Arbeit eines Richters oder Staatsanwalts in Minuten zu messen. Das Nachdenken über Fälle und das Finden der richtigen Entscheidung ist ein durchaus schöpferischer Akt. Das geht nicht nach der Stoppuhr. Richter sind keine Urteilsautomaten, die Entscheidungen nach einer vorgegebenen Minutenzahl auswerfen. Ein Urteil, das für den Betroffenen existenziell sein kann, kann nicht wie ein Toaster am Fließband hergestellt werden. Richter sind auch Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Arbeitsweisen und keine Fließbandarbeiter des Rechts. Es gibt schnellere, langsamere, gründliche und oberflächliche Robenträger. Das Individuelle der Fälle und der Richter lassen sich nicht in das Korsett von Minutenwerten zwängen. Gerechtigkeit lässt sich nicht mathematisieren.

Die Zeitvorgaben einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zielen auf die Effizienz des Justizapparats ab. Es sollen möglichst viele Fälle in möglichst kurzer Zeit erledigt werden. Der Arbeitsauftrag der Justizverwaltung an die Wirtschaftsprüfer war gerade nicht, festzustellen, wie viel Zeit für eine sachgerechte Fallbearbeitung erforderlich wäre. Die Qualität bleibt dabei auf der Strecke. Dem Richter bleibt keine Zeit, sich länger als unbedingt nötig mit den Beteiligten zu beschäftigen, die einschlägige Rechtsprechung gründlich zu recherchieren und das Urteil sorgfältig zu begründen. Richterliche Tugenden wie gründliches Aktenstudium, den Prozessbeteiligten zuzuhören und das Nachdenken über eine gerechte Entscheidung werden systematisch abtrainiert.

Die Zeitvorgaben zwingen ihn vielmehr dazu, schnell eine Entscheidung zu fällen und diese möglichst unter Zuhilfenahme von Formularbeschlüssen oder Urteilen mit Textbausteinen zu begründen.

Wie ein »Minutenrichter« arbeitet, durfte ich einmal als Beisitzer am Landgericht erleben. Der Vorsitzende der Zivilkammer hatte im Fünf-Minuten-Abstand terminiert. Auch große, schwierige Verfahren mit fünf- oder sogar sechsstelligen Streitwerten. Den Anwälten blieb gerade genug Zeit, sich die Robe überzustreifen, sich hinzusetzen und ihre Anträge zu stellen, da war die Verhandlung auch schon wieder zu Ende. Man nannte den Vorsitzenden auch »das Maschinengewehr«, weil er abgehackte Sätze in atemberaubender Geschwindigkeit diktieren konnte. Die Urteile waren mit heißer Nadel gestrickt und selten länger als fünf Seiten. Im Landgericht wurde er als »König der Erledigungen« gefeiert. Die mangelnde Qualität der Urteile rächte sich dann in der Berufungsinstanz. Das Oberlandesgericht musste die meisten dieser Urteile aufheben.

Von Richtern werden die Zeitvorgaben nach Pebb§y als unrealistisch eingestuft. Die tatsächlich für eine sachgerechte Bearbeitung erforderlichen Zeiten sind höher als die Pebb§y-Vorgaben. Sie gehen am Gerichtsalltag und der tatsächlichen Arbeitsbelastung vorbei. Das hat verschiedene Gründe.

So geht Pebb§y davon aus, dass der Richter 40 bis 42 Arbeitsstunden in der Woche Zeit für die juristische Fallbearbeitung hat. In der Wirklichkeit müssen Richter viele Zusatzaufgaben erledigen, die früher Geschäftsstellen, Protokollführer und Wachtmeister erledigt haben. Es wird erwartet, dass Richter Urteile und Beschlüsse selbst schreiben und das Protokoll, außer in Strafsachen, selbst führen. Auch Faxen und Kopieren gehört nach der Ausdünnung von Geschäftsstellen zum richterlichen Arbeitsalltag. An meinem Gericht sind beispielsweise Ausfälle des Wachtmeisterdienstes ein häufiges Ärgernis. So beginnt ein Arbeitstag nicht selten damit, mehrere weit auseinanderliegende Geschäftsstellen aufzusuchen und die Akten in das Dienstzimmer zu tragen. In Pebb§y kommen all diese Zusatzaufgaben nicht vor.

Der tatsächliche Bearbeitungsaufwand pro Fall nimmt nach meiner Einschätzung immer mehr zu. Das Recht wird immer komplexer. Die neueren Gesetze neigen zur Überlänge und Unverständlichkeit. Es gibt immer mehr höchstrichterliche Rechtsprechung zu berücksichtigen. Die Rechtsanwälte sind zunehmend spezialisiert. Ein Amtsrichter, der nur ab und zu einen Bankrechtsfall zu bearbeiten hat, schluckt, wenn er den zwanzigseitigen Schriftsatz eines Bankrechtsspezialisten auf den Tisch bekommt. Überhaupt nimmt die Länge der Schriftsätze immer mehr zu. Zehn- oder zwanzigseitige Schriftsätze sind auch am Amtsgericht keine Seltenheit mehr. Dazu kommt noch eine spürbar steigende kritische Grundhaltung gegenüber der Justiz. Es wird mehr hinterfragt als früher. Beispielsweise werden Gerichtsgutachten oft nicht akzeptiert, sondern es werden Privatgutachten in Auftrag gegeben.

Es ist eine besorgniserregende Zunahme sogenannter Umfangsverfahren zu beobachten. Damit sind Mammutprozesse mit vielen Angeklagten, Verteidigern und sonstigen Beteiligten gemeint, die sich über Jahre hinziehen. Aktuelle Beispiele sind das NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München, der Neonazi-Prozess vor dem Landgericht Koblenz oder das Love-Parade-Verfahren vor dem Landgericht Duisburg. So hat das NSU-Verfahren mit 437 Verhandlungstagen über fünf Jahre gedauert. Beteiligt waren fünf Angeklagte, 14 Verteidiger, über 70 Nebenkläger mit mehr als 50 Anwälten, 42 Sachverständige und 815 Zeugen.14 Die Anklageschrift hatte 480 Seiten, dazu kamen 650 Aktenordner in 56 Kisten mit den Ermittlungsergebnissen der Bundesanwaltschaft. Solche jahrelangen Mammutverfahren sprengen jedes Minutenkontingent nach Pebb§y. Wer meint, dass jeder Prozess nur eine gewisse Anzahl von Minuten dauern darf, kann sich schlicht nicht vorstellen, dass die beteiligten Richter jahrelang nur mit einem einzigen Fall befasst sind.

Ein weiterer Kritikpunkt an Pebb§y ist, dass innerhalb einer Produktgattung alle Verfahren gleich zählen. Eine dünne Akte mit einem geständigen Ladendieb zählt genauso viel wie eine mehrbändige Wirtschaftsstrafsache mit einem Umzugskarton Beweismittelordnern. Der Ladendiebstahl kann in einer Hauptverhandlung in einer halben Stunde erledigt sein, die Wirtschaftsstrafsache kann Dutzende Verhandlungstage erfordern. In der Statistik zählen beide aber gleich. Der Schwierigkeitsgrad eines Verfahrens wird bestimmt durch die Anzahl der Beteiligten (Angeklagte, Verteidiger, Zeugen, Sachverständige und Dolmetscher), das Rechtsgebiet, die Beweislage und den Aktenumfang. Am Landgericht wird etwa zwischen dünnen (bis 600 Blatt), mittleren (bis 5000 Blatt) und dicken Akten (über 5000 Blatt) unterschieden.

Ein weiteres Kriterium ist das Verteidigungsverhalten (Geständnis, Bestreiten, Zahl der Befangenheits- und Beweisanträge). Man sieht schon aus diesen Schlagworten, dass Schwierigkeit und Umfang von Strafverfahren höchst unterschiedlich sind. Nach Pebb§y ist das alles irrelevant. Das wäre eine Mischkalkulation, rechtfertigt das die Justizverwaltung. Vereinzelte schwere Fälle würden durch viele einfache kompensiert. Nur stimmt nach meinem Empfinden die Mischung nicht. Es gibt nicht genug einfache, schnell zu erledigende Fälle, um die massenhaft die Minutenwerte überschreitenden Verfahren zu kompensieren.

Für Statistiken gilt der universelle Grundsatz: »Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.« Dieses Winston Churchill zugeschriebene geflügelte Wort gilt auch in der Justiz.

Die genannten Minutenwerte stammen aus dem Jahr 2014. Sie wurden teilweise bereits wieder geändert. Die Justizverwaltung versteht es, durch Nachjustierungen die Überlastung als Normalfall zu definieren. Es wird so lange an den Stellschrauben gedreht, bis die Statistik wieder stimmt. Steigen beispielsweise die Eingänge einer Produktgattung, wird einfach das Zeitkontingent reduziert. Mit Pebb§y kann die Verwaltung auch abgesoffene Gerichte als personell überbesetzt deklarieren.

Jeder Richter kennt die Pebb§y-Zeitvorgaben für sein Dezernat. Sobald er eine neu eingegangene Akte das erste Mal aufschlägt, beginnt die Stoppuhr in seinem Hinterkopf zu laufen. Er muss das Verfahren so führen, dass das Zeitlimit eingehalten wird, will er nicht Feierabende oder Wochenenden dafür opfern. Dies hat erst mal atmosphärische Folgen. Der Richter wirkt gehetzt und muss den Prozessbeteiligten das Wort abschneiden, wenn sie abschweifen. Dabei kann Rechtsfrieden oft auch dadurch erreicht werden, dass der Bürger seine Sicht der Dinge ausführlich darlegen kann. Viele Verfahren – ich denke an Nachbarschaftsstreitigkeiten oder Konfliktscheidungen – haben neben einer rechtlichen vor allem auch eine emotionale Seite. Dazu gehören verletzte Gefühle, die meist nicht entscheidungserheblich, aber für die Beteiligten existenziell wichtig sind. Den zeitlichen Luxus, dem Bürger verständnisvoll zuzuhören und ihm damit zu zeigen, dass man ihn und sein Anliegen ernst nimmt, sieht Pebb§y nicht vor. Die Schaffung von Rechtsfrieden durch Zuhören und Erklären ist unter dem Diktat der Erledigungszahlen kein erwünschtes Ziel.

Unter den Zeitvorgaben nach Pebb§y dürfen Richter nicht mehr gründlich sein. Wenn ich beispielsweise Termine durch ein sorgfältiges Aktenstudium vorbereite, wäre das vorgegebene Zeitkontingent oft schon verbraucht. In Zivilsachen habe ich vor Pebb§y in schwierigen Fällen regelmäßig die Bibliothek aufgesucht. Heute muss ein Blick in den »Palandt«, das ist der Standardkommentar für das Bürgerliche Gesetzbuch, auf meinem Schreibtisch und ein Blick in die Juris-Datenbank genügen. In Strafsachen existieren neben der eigentlichen Akte nicht selten Umzugskartons voller Beweismittelordner. Das können beispielsweise umfangreiche Buchhaltungsunterlagen in Wirtschaftsstrafsachen oder Telefon- und Observationsprotokolle in Drogenhandelsfällen sein. Die Minutenvorgaben nach Pebb§y lassen die Lektüre einiger Tausend Seiten nicht zu. Wer alle zweieinhalb Stunden einen Fall erledigt haben muss, kann sich nicht mehrere Tage in einen einzigen Fall einlesen. Es bleibt nur Zeit für eine grobe Sichtung der Kartoninhalte. So gehe ich manchmal mit einem mulmigen Gefühl der Unwissenheit in die Sitzung. Was ist, wenn die entscheidende Information irgendwo in diesem Papierfriedhof vergraben ist?

Beweisanträgen steht der notgedrungen zeitbewusste Richter auch meist eher kritisch gegenüber, da sie das Verfahren verlängern.

Ein Urteil ausführlich und fundiert begründen kann man als Richter durchaus. Das wird unter Pebb§y aber eher als Hobby von Robenträgern ohne nennenswerte Freizeitinteressen angesehen. Die mit heißer Nadel gestrickten Urteile werden dann von den Obergerichten wegen »mangelnder Begründungstiefe« aufgehoben. Aber wie gut kann ein Urteil sein, für dessen Abfassung nur ein paar Minuten Zeit geblieben sind?

Aus den Pebb§y-Zahlen errechnet sich auch, wie viele Fälle ein Richter im Monat erledigen muss. Über die Erledigungen eines jeden Richters wird eine Monatsstatistik geführt. Akribisch werden der Bestand seines Dezernats, die Neueingänge und die Erledigungen aufgelistet. Die Richter bekommen ihre Statistik monatlich ausgehändigt. Die unausgesprochene Arbeitsanweisung lautet, mindestens so viele anhängige Verfahren zu erledigen wie neue eingehen. Ein Amtsrichter, der Zivil- oder Strafsachen bearbeitet, müsste mindestens 600 Fälle im Jahr, das sind im Monat immerhin 50, erledigen. Urlaub oder Krankheit erkennt die Statistik nicht als Entschuldigungsgründe an.

Nach Pebb§y werden nur die Neueingänge erfasst, nicht hingegen der Bestand an Altverfahren, die sogenannten Reste. Ich habe einmal ein Zivildezernat mit 550 unerledigten Verfahren übernommen. Das entspricht in etwa einem Jahrespensum. Mit der Abarbeitung des von meinem Dezernatsvorgänger hinterlassenen Aktenbergs wäre ich ein Jahr voll ausgelastet gewesen. Tatsächlich bekam ich aber jeden Monat 50 Neueingänge dazu. Die Folge war Arbeitsüberlastung, Überstunden und Wochenendarbeit. Nach Pebb§y war ich aber nicht überlastet, denn die Altverfahren existierten in der Pensenberechnung nicht. »Lügen durch Statistik« kann man das nennen.

An vielen Gerichten herrscht sogar nach Pebb§y Personalmangel. Aber auch wenn nach der Personalbedarfsberechnung angeblich ausreichend Richter und Staatsanwälte vorhanden sind, existiert oft eine Überlastung. Denn in der Statistik werden alle besetzten Stellen berücksichtigt, auch wenn die Stelleninhaber bei dem Gericht nur auf dem Papier existieren. So werden Langzeitkranke, im Erziehungsurlaub befindliche oder an das Ministerium oder andere Gerichte abgeordnete Mitarbeiter als Personal mitgezählt, obwohl sie nicht zur Verfügung stehen. Die wirkliche Arbeitsbelastung spiegelt die Statistik daher nicht wider.

Für Einstellungen und Beförderungen von Richtern werden zwei Kernkompetenzen verlangt:

Erstens wird eine hohe Entscheidungsfreude gefordert. Die hat, wer einen Fall ohne größere Beweisaufnahme, langwierige Recherchen und längeres Nachdenken lösen kann. Wer lange verhandelt und nachdenkt, hat die nicht und gilt daher als Bedenkenträger.

Zweitens wird Belastbarkeit gefordert. Das ist die Fähigkeit und Bereitschaft, bei großer Arbeitsbelastung nicht zusammenzubrechen und entsprechend mehr zu arbeiten. Proberichter, deren Erledigungszahlen nicht stimmen, werden nicht übernommen. Hoffnung auf eine Beförderung können sich vor allem Lebenszeitrichter mit herausragenden Erledigungszahlen machen.

Die Erledigungszahlen sind das wesentliche Beurteilungskriterium für Richter. Die Qualität ihrer »Produkte« ist weitgehend irrelevant. Bei unzureichenden Erledigungszahlen droht dienstlicher Ärger, wie der Fall des Richters am Oberlandesgericht Schulte-Kellinghaus zeigt.15 Er wurde wegen unzureichender Erledigungszahlen von der Präsidentin des Oberlandesgerichts Karlsruhe ermahnt: Er würde nur 68 Prozent seines Pensums erledigen und solle sein Erledigungspensum steigern, sonst drohten ihm ein Disziplinarverfahren, Geldbußen und Gehaltskürzungen. Schulte-Kellinghaus verteidigte sich damit, er würde besonders sorgfältig arbeiten. Der Fall ging bis zum Bundesgerichtshof, der urteilte, einem Richter können durchaus unterdurchschnittliche Erledigungszahlen vorgehalten werden.16

Weniger glimpflich als mit einer Ermahnung ging die Sache für einen Freiburger Staatsanwalt aus. Der 55-Jährige war ein gestandener Staatsanwalt wie aus dem Lehrbuch. Als engagiert, zupackend und souverän wurde er beschrieben. Doch irgendwann wuchsen ihm die Aktenberge über den Kopf. Aus Zeitmangel konnte er in einzelnen Verfahren nicht oder zumindest nicht rechtzeitig Anklage erheben. Deshalb erließ er Scheinverfügungen, um die Fälle aus dem Verfahrensregister auszutragen. Zwei der Fälle verjährten, bei anderen musste wegen der Verfahrensdauer Strafmilderung gewährt werden. Er wurde wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Strafvereitelung im Amt in sechs Fällen zu einem Jahr und vier Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.17 Der Bundesgerichtshof hat das Urteil aufgehoben und zur neuen Verhandlung zurückgewiesen.18