Schuldlos in Haft - Patrick Burow - E-Book

Schuldlos in Haft E-Book

Patrick Burow

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Beschreibung

Es kann jeden treffen! Kaum zu glauben: Selbst in Rechtstaaten wie dem unseren ist fast jede vierte richterliche Entscheidung falsch. Oft genug werden  hierzulande Menschen grundlos verurteilt und landen unschuldig hinter Gitter. Genauso schlimm: Die Justiz lernt nicht aus ihren Fehlern, sondern verteidigt (Fehl-)Urteile mit Zähnen und Klauen. Justizopfer werden mit ihren Problemen allein gelassen. Patrick Burow bietet ein bestürzendes Kompendium an fatalen Fehlurteilen und deckt die Gründe dafür auf, die zum Teil systemimmanent, mitunter aber auch erschreckend banal sind. Und er macht Reformvorschläge, wie man Justizirrtümer wenn schon nicht gänzlich vermeiden, so doch wenigstens verringern kann. 

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Schuldlos in Haft

Der Autor

Dr. iur. PATRICK BUROW, geboren 1965 in Hamburg, promovierte in seiner Geburtsstadt und ist seit 1996 Richter in Sachsen-Anhalt. Unter seinem Pseudonym Falk van Helsing veröffentlichte er viele Humorbücher mit einer Gesamtauflage von 130.000 Exemplaren. 

In unserem Hause sind von Patrick Burow außerdem erschienen:Ich habe nicht geschossen, nur ein bisschenJurafakten (gemeinsam mit Dallan Sam)Was Vermieter und Nachbarn nicht dürfen (gemeinsam mit Dallan Sam)

Das Buch

Ich bin unschuldig, behaupten viele Verurteilte – und sagen damit viel öfter die Wahrheit, als wir glauben. Bei zirka 25 Prozent liegt die Fehlurteilsquote. Strafrichter Patrick Burow beschreibt die häufigsten Ursachen für Justizirrtümer – etwa Aussageerpressung, Mangel an Beweisen, fehlerhafte Forensik, inkompetente Sachverständige, karrieresüchtige Staatsanwälte oder meineidige Zeugen. Er zeigt: Fehlurteile sind durch systemimmanente Schwächen des Justizsystems bedingt. Und er macht Vorschläge, was getan werden müsste, um Justizirrtümer zu vermeiden oder wenigstens schneller zu revidieren. Denn das Beharrungsvermögen der Justiz angesichts ihrer zahlreichen Opfer ist ein Skandal, gerade auch in Deutschland. Eine Enthüllungsschrift über das Justizversagen – spannend wie ein Krimi, tragisch wie das Leben.

Patrick Burow

Schuldlos in Haft

Ein Schwarzbuch der Justizirrtümer

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Das Buch stützt sich in Teilen auf das 2013 im Eichborn Verlag erschienene Buch des Autors mit dem Titel Das Lexikon der Justizirrtümer.

 

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juni 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Lektorat: Antonia FalkenbergUmschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Jennifer BeckerE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2962-8

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Einleitung

Was ist ein Justizirrtum? Eine Definition

Justizirrtümer sind häufig, werden jedoch verschwiegen

Verheerende Folgen von Justizirrtümern

Skandalöser Umgang mit Fehlurteilen

Falsche Anklage

Der Fall Kachelmann

Der Kinderschänderring von der Tosa-Klause

Massenhafter Kindesmissbrauch – die Wormser Prozesse

Der Seitenwechsel des Staatsanwalts

Aussageerpressung – wenn die Aussage auf Folter, Drohung oder Täuschung beruht

Geständiger Muttermörder – der Fall Peter Reilly

Durch Foltern zum Geständnis – die Guildford Four

Foltern wie in »Schurkenstaaten« – der Fall Aaron Patterson

Falsche Beschuldigungen

Mobbing unter Lehrern – der Fall Horst Arnold

Amelie – die manipulative Jungfrau

Die Tote im Schnee – der Fall David Milgaard

Nachtisch für Falschbeschuldigung – der Fall des evangelischen Pfarrers

Die Rache des Onkels – der Fall Wolfgang J.

Wie eine Lüge Thomas Ewers ins Gefängnis brachte

Unterdrückte und fingierte Beweise

Todeszeitpunkt passend gemacht – der Fall Ellis Wayne Felker

Freispruch wegen Zeugungsunfähigkeit – der Mordfall Lesley Molseed

Shirley Kinge – die Mutter als Komplizin

17 unterschlagene Zeugenaussagen

Mangel an Beweisen

Pistazieneismord

Mordfall Peggy Hettrick – die Zeichnung als Geständnis

Der Fall Edith Thompson – tödliche Liebesbriefe

Sally Clark – schuldig durch Statistik

Fluch und Segen von DNA-Analysen

Rettender Spermatest

Freispruch nach 35 Jahren – der Fall James Bain

»Wenn ich es getan hätte« – der Fall O. J. Simpson

Der Fall Andrea Butzelar – Freispruch für den Mörder

Das Heilbronner Phantom – DNA-Irrtum ohne Folgen

Die nachträgliche Überführung eines Serienvergewaltigers

Der ungesühnte Mord

Ermittlungsfehler – mangelhafte und eingleisige Ermittlungen

Verhängnisvoller Korpsgeist – der Fall Harry Wörz

Fünf Todesfälle und eine getreue Krankenpflegerin

Tunnelblick der Ermittler – der Fall Anthony Porter

Kommissar Harrass 2

Freilassung gefährlicher Häftlinge

Schreiben bessert den Charakter – der Fall Jack Unterweger

Wilfried S., eine tickende Zeitbombe

Rückfall nach einer Woche – der Fall Carolin

Falsche Geständnisse

Günther Kaufmann in seiner schlechtesten Rolle

Zerstückelt und an die Hunde verfüttert – der Fall Rudi Rupp

»Damit Ruhe ist« – das Geständnis des Peter Heidegger

Geständnisse eines zwanghaften Lügners – der Fall Sean Hodgson

Die Bridgewater-Bande und der ermordete Zeitungsjunge

Ohne Worte – der Fall Stephen Brodie

Der schwedische Hannibal Lecter

»Auftragsmord einer herzlosen Mutter« – der Fall Debra Milke

Der Fall Peggy Knobloch – das Geständnis eines geistig Behinderten

Indizien sind noch kein Beweis

»Jetzt kriegt keiner von uns die Kinder« – der Fall Monika Weimar/Böttcher

Tod am Bahndamm – der Mordfall Carmen Kampa

Giftmörderin Madame Druaux

Hinrichtung einer Prostituierten ‒ der Fall Tibor Foco

Vorverurteilung durch die Medien

Der Engel mit den Eisaugen – Amanda Knox

Das Schweigen des Hundes – der Fall Sam Sheppard

Teufel im Engelskostüm – der Fall Vera Brühne

Die Satanssekte West Memphis Three

Fehlendes Motiv

888 Tage unschuldig in Haft – der Fall Monika de Montgazon

Vatermörder Philipp Halsmann

Maria Popescu, die Giftmischerin

Politische Prozesse – wenn die Regierung sich einmischt

Prozesssabotage durch Verfassungsschutz – der Schmücker-Prozess

»Man sollte sie auf jeden Fall aufhängen!« – der Fall Sacco und Vanzetti

Die roten Atomspione – Ethel und Julius Rosenberg

Auch Sachverständige können irren

Der Mörder mit dem Kälberstrick – der Fall Hans Hetzel

Leiche ohne Kopf – der Fall Maria Rohrbach

Der Mörder mit dem schiefen Zahn

Die schwarze Magie der Joyce Gilchrist

Esoterische Brandermittlung – der Fall Todd Willingham

Der Hochstapler im Labor

Tod auf der Treppe

Weggesperrt in der Psychiatrie – der Fall Gustl Mollath

Durch Falschgutachten zum Kinderschänder – der Fall Nobert Kuß

Schuldunfähige Täter

»Gib‘s ihm, Chris!« – der Fall Derek Bentley

Huys Visionen

Der Schlächter von Hannover – Fritz Haarmann

Der Kannibale von Rotenburg

Staatsanwälte – vom Jagdtrieb beseelt

Das unterschlagene Vernehmungsprotokoll – der Fall Witte

Vorverlegter Todeszeitpunkt – der Fall Steven Truscott

Staatsanwalt des Jahres

Der wahre Täter steht auf

Der Ripper von Rostow

Das übergangene Geständnis – der Fall Albert Ziethen

Der Frauenwürger von London

Taubstummes Justizopfer – der Fall Darryl Beamish

Verhängnisvolle Lüge – der Fall Scott Hornoff

Die zwei Geständnisse im Mordfall Scharnow

Nicht stattgefundene Verbrechen

She Xianglin – die Tote im Stausee

Wer tötete Baby Azaria?

Der Todesengel von Den Haag

Cynthia Sommer – die lustige Witwe

Farah Jama und das verhängnisvolle Spermium

Unfähige Verteidiger

Lustloser Pflichtverteidiger – der Fall Ronald Keith Williamson

Versäumnisse eines Anwalts – der Fall Federico Macias

»Gefängnis-John« sorgt für volle Zellen

Verwechslungen – wenn der Falsche verurteilt wird

Der falsche Carlos

Verwechslungskomödie im Knast

Der Doppelgänger – der Fall Donald Stellwag

Verwechslungsopfer in Zelle verbrannt

Geschrumpfter Angeklagter – der Fall Christos Orfanidis

Unrichtige Zeugenaussagen

Rache aus verschmähter Liebe – die Mariotti-Prozesse

Mord im Mondlicht – der Fall Hans Burkert

Ein Meineid gegen neun Alibizeugen – der Fall Majczek und Marcinkiewicz

Das Spitzel-System – der Fall Steve Manning

Reformvorschläge

Konkrete Maßnahmen

Institutionelle Reformvorschläge

Haftentschädigung

Quellen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Einleitung

Einleitung

Was ist ein Justizirrtum? Eine Definition

»Ich bin unschuldig!«, schreien viele Verurteilte, wenn sie aus dem Gerichtssaal abgeführt werden. »Das ist ein Justizirrtum!«, ergänzen sie gerne noch. Jeder hat so etwas schon einmal gehört, sei es real, sei es in Film und Fernsehen. Es klingt billig, kitschig, abgedroschen.

Doch was, wenn der Verurteilte die Wahrheit sagt?

Von einem Justizirrtum spricht man, wenn ein Angeklagter verurteilt wird, obwohl er unschuldig ist. Der Richter unterliegt einer Fehlvorstellung über den tatsächlichen Geschehensablauf. Dabei muss ein Justizirrtum nicht immer ein Urteil sein. Auch der Haftbefehl gegen einen Unschuldigen oder die Freilassung eines Schuldigen kann ein Justizirrtum sein.

Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit, und stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie liegen gemütlich in Ihrem Bett. Plötzlich wird mit einem lauten Krachen Ihre Wohnungstür eingetreten. Ein Spezialeinsatzkommando der Polizei stürmt in Ihr Schlafzimmer. Während zwei maskierte Einsatzkräfte Ihnen den Lauf einer MP5 vor die Nase halten, dreht Ihnen ein Dritter die Arme auf den Rücken und fixiert Ihre Hände mit einem Kabelbinder. Sie werden mäßig bekleidet durchs Treppenhaus hinabgezerrt, in einen Einsatzwagen bugsiert und stehen schon bald vor dem Ermittlungsrichter. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Vorbereitung eines Anschlags. Sie beteuern Ihre Unschuld, versichern verzweifelt, es müsse sich um einen Irrtum handeln, eine Verwechslung, ein Missverständnis. Doch man glaubt Ihnen nicht, weder jetzt noch später im Prozess. Sie wandern jahrelang unschuldig hinter Gitter. In den USA werden Sie vielleicht sogar hingerichtet.

Es kann jeden treffen. Jeder von uns kann Opfer eines Justizirrtums werden. Auch der unbescholtene Bürger, auch die unbescholtene Bürgerin kann fast über Nacht zum verurteilten Verbrecher oder zur verurteilten Verbrecherin werden. Die spektakulärsten Fälle dieser Art werden in diesem Buch geschildert. Sie lassen tief blicken in den Abgrund hoch angesehener Justizsysteme.

Übrigens: Bedenken Sie bei jedem Urteil, das Ihnen in den folgenden Kapiteln begegnet: Jedes Urteil, auch das Fehlurteil, wird »Im Namen des Volkes« verkündet – also in unser aller Namen!

Justizirrtümer sind häufig, werden jedoch verschwiegen

Sie werden erkennen, dass Justizirrtümer viel öfter vorkommen, als man denkt. Ihre Ursachen sind so banal wie alltäglich: Augenzeugen irren sich, Informanten lügen, Geständnisse werden erzwungen, Verteidiger schlafen während der Verhandlung, Sachverständige begutachten ohne Sachverstand. Opfer eines Justizirrtums kann jeder werden, vom vorbestraften Junkie über den biederen Familienvater bis hin zum Prominenten. Dabei wird die Existenz von Justizirrtümern offiziell meist verschwiegen, um das hohe Ansehen, das sich die Justiz selbst zuschreibt, nicht zu gefährden. Das institutionelle Verschweigen zeigt sich schon daran, dass »Justizirrtum« kein juristischer Fachbegriff ist: Nicht ein einziges deutsches Gesetz verwendet diesen Begriff. »Ein Richter irrt nicht« und »Wir wollen die Bevölkerung nicht beunruhigen« – das scheinen die Leitlinien zu sein. Auch die juristische Fachliteratur, die sich sonst jedes noch so unbedeutenden Rechtsproblems in epischer Breite annimmt, schweigt hierzu überwiegend. Folglich gibt es auch keine amtlichen Statistiken über Justizirrtümer oder Fehlurteile, obwohl in der Justiz sonst so gut wie alles statistisch erfasst wird. Beispielsweise wird akribisch aufgelistet, wie viele Verfahren ein Richter monatlich erledigt und auf welche Weise. Es existieren auch Statistiken zur Verfahrensdauer und zu den entstandenen Kosten. Ob das Resultat richtig oder falsch war, scheint dagegen niemanden zu interessieren. Die Justiz hat aus mehr oder weniger nachvollziehbaren Gründen nicht das geringste Interesse daran, die Häufigkeit und Ursachen von Fehlurteilen zu dokumentieren, geschweige denn zu erforschen.

Dabei ist es ein Leichtes, zumindest die Erfolgsquote von Wiederaufnahmeanträgen statistisch zu erfassen. Einige wenige Autoren haben immerhin versucht, aufgrund der Anzahl erfolgreicher Wiederaufnahme- und Revisionsverfahren sowie anhand der von der Justiz gezahlten Haftentschädigungen Rückschlüsse auf die Fehlurteilsquote zu ziehen. Die Schätzungen variieren zwischen einem und 30 Prozent. Laut dem Richter am Bundesgerichtshof Eschelbach sei es die »Lebenslüge« der Justiz, dass es »kaum falsche Strafurteile« gebe. Er schätzt die Fehlurteilsquote auf 25 Prozent. Nach Angaben des rechtspolitischen Sprechers der SPD-Fraktion, Johannes Fechner, werden pro Jahr in Deutschland 400 Menschen zu Unrecht inhaftiert. Aber gleichgültig, ob es ein Prozent oder 30 Prozent sind, es sind auf jeden Fall zu viele.

Ein Blick nach Amerika zeigt das Ausmaß dieses Problems noch deutlicher. Ein Juraprofessor hat in New York das Innocence Project (deutsch: Projekt Unschuld) gegründet, das sich um die Aufklärung von Justizirrtümern bemüht. Studenten nehmen sich alte Strafakten vor, suchen nach Fehlern in der jeweiligen Verurteilung und versuchen, gegebenenfalls eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Seit 1992 hat das Innocence Project 375 Menschen aus den Gefängnissen befreit, darunter 21 Todeskandidaten. Das National Registry of Exonerations ist ein Projekt dreier Universitäten. Es sammelt alle bekannten Fehlurteile in den USA. Seine Mission ist, umfassend über nachträgliche Entlastungen unschuldiger Angeklagter zu informieren, um künftige Fehlverurteilungen durch Lehren aus vergangenen Fehlern zu verhindern. Seit 1989 wurden in der Datenbank über 3 200 Fehlurteile erfasst. Das entspricht 27 000 Jahren Lebenszeit, die unschuldigen Menschen geraubt wurden. Eine systematische Untersuchung in den USA kam zu dem Schluss, dass 11,6 Prozent der Häftlinge unschuldig im Gefängnis sitzen.

Allein diese aufgedeckten Fehlurteile zeigen deutlich, dass die Anzahl der Justizirrtümer allgemein viel zu hoch ist, als dass man noch von Einzelfällen sprechen könnte. Es gibt inzwischen Unschuldsprojekte in allen US-Bundesstaaten und Ländern wie Australien, Kanada und Großbritannien. Zusammengerechnet gehen die aufgedeckten Fehlurteile in die Zehntausende. In Deutschland gibt es auch erste Ansätze dazu. So haben die Universitäten Berlin und Göttingen das gemeinsame Projekt »Fehlurteil und Wiederaufnahme« ins Leben gerufen (www.wiederaufnahme.com).

Die Justizopfer der in diesem Buch geschilderten rund hundert Fehlentscheidungen haben zusammengerechnet 955 Jahre unschuldig in Haft gesessen, 13 wurden sogar hingerichtet.

Dabei sind die aufgedeckten Fehlurteile nur die Spitze des Eisbergs. Die Dunkelziffer unschuldig Verurteilter ist sehr hoch. Denn viele Justizirrtümer werden nur durch Zufall aufgedeckt, zum Beispiel, wenn der wahre Täter überraschend die Tat gesteht oder durch massive Hilfe Dritter wie Journalisten oder eben der genannten Unschuldsprojekte. Nicht wenige unschuldig Inhaftierte werden über die Jahre eher resignieren, anstatt weiter für die Aufklärung ihres Justizirrtums zu kämpfen. Auch in deutschen Gefängnissen sitzen unter Garantie zahlreiche unschuldig Verurteilte ein, denen kein rettender Zufall oder Journalist zu Hilfe kommt.

Ein weiterer Faktor, der in den letzten 20 Jahren zu einer Welle von aufgedeckten Fehlurteilen geführt hat, sind neuartige DNA-Analysen. Dadurch ist das Thema der Justizirrtümer aktueller denn je. Während früher die Analyse von am Tatort gesicherten Blutspuren, Spermien und Haaren nur ungenaue Ergebnisse lieferte, kann heute durch den genetischen Fingerabdruck eine Person zu 99,99 Prozent als Täter überführt oder aber entlastet werden. Solche wissenschaftlichen und forensischen Fortschritte machen Hoffnung, dass dadurch in Zukunft die Dunkelziffer unschuldig Verurteilter verringert, deren Wiederaufnahmeverfahren ermöglicht und bestenfalls Fehlurteilen vorgebeugt werden kann.

Verheerende Folgen von Justizirrtümern

Die Fehler von Strafrichtern zerstören Leben, denn die Folgen von Justizirrtümern sind für die Betroffenen desaströs:

Den unschuldig Verurteilten wird wertvolle Lebenszeit, bei Todesstrafe sogar ihr Leben geraubt.

Der wahre Täter bleibt auf freiem Fuß und kann weitere Verbrechen begehen.

Die bürgerliche Existenz wird vernichtet. Der Arbeitsplatz geht verloren, und etwaiges Vermögen wird für hohe Rechtsanwaltskosten aufgebraucht. Eine Rückkehr in den alten Beruf ist selbst nach einer Rehabilitierung oft nicht möglich. Ein Justizopfer zu werden ist für die meisten gleichbedeutend mit dem existenziellen Ruin.

Ehen und Familien zerbrechen. Kinder müssen ohne ihren Vater oder ihre Mutter aufwachsen, manche davon im Heim. Auch das Leben der Angehörigen des oder der Verurteilten wird durch den Justizirrtum aus der Bahn geworfen oder sogar mit zerstört.

Unschuldig Verurteilte werden durch das Fehlurteil und ihre Inhaftierung oft traumatisiert. Eine langjährige Gefängnisstrafe ist wie ein »Tod auf Raten«. Viele Inhaftierte verlassen das Gefängnis trotz späteren Freispruchs als gebrochene, gesundheitlich und psychisch angeschlagene Menschen; einige von ihnen sterben bald oder begehen Selbstmord. Die Justiz­opfer sind zudem oft jahrelang dem gefährlichen Leben im Knast ausgesetzt. Schlägereien und sogar Vergewaltigungen sind dort keine Seltenheit.

Der gute Ruf eines unschuldig Inhaftierten bleibt dauerhaft beschädigt. Denn auch nach einer Urteilsaufhebung gibt es immer Zweifler, die meinen, der Freigesprochene habe die Tat ja sicher begangen oder zumindest irgendetwas in dieser Richtung verbrochen.

Die in Deutschland vorgesehene Haftentschädigung von 75 Euro pro Tag hat nur Symbolcharakter. Sie ist nicht ansatzweise geeignet, den angerichteten Schaden zu kompensieren. Und wenn die Justiz – wie in manchen Ländern – einen Unschuldigen gar hinrichtet, wird sie selbst zum Mörder. Nicht umsonst ist die Gefahr von Fehlurteilen ein Hauptargument gegen die Todesstrafe, denn sie kann nach der Vollstreckung nicht rückgängig gemacht werden. Wird in einem späteren Verfahren die Unschuld eines bereits Hingerichteten bewiesen, spricht man zu Recht von Justizmord. Wenigstens ist das in Deutschland kein Thema.

Schließlich schadet sich die Justiz durch Fehlurteile auch selbst. Die Justizminister werden nicht müde, das hohe Ansehen der Justiz zu betonen. Bekannt gewordene Justizirrtümer führen aber zwangsläufig zu einem schwindenden Vertrauen der Bürger in die Justiz. Wenn dieses fehlt, kann dies dazu führen, dass Gesetze nicht mehr beachtet und Urteile nicht mehr akzeptiert werden. Die Justiz kann ihre wichtige Rolle in der Gewaltenteilung des demokratischen Systems ohne Vertrauen der Bürger nicht ausüben.

Skandalöser Umgang mit Fehlurteilen

Als Richter haben mich bei dem Umgang der Justiz mit ihren Fehlurteilen vor allem drei Dinge schockiert.

Beharrungsvermögen der Justiz

Erstens die Sturheit der Justiz. Nur weil ein Inhaftierter Beweise für seine Unschuld in den Händen hält, bedeutet das oft noch lange nicht, dass die Verantwortlichen ihren Irrtum unmittelbar einsehen und für seine schnelle Freilassung sorgen. Man sollte meinen, alle Akteure im Gerichtssystem hätten ein Interesse daran, falsche Verurteilungen zu korrigieren, doch das ist tatsächlich nicht der Fall. Staatsanwälte und Richter zeigen vielmehr eine bemerkenswerte Feindseligkeit gegenüber der Aufhebung von Verurteilungen. Die unschuldige Person hat meist einen jahrelangen Kampf vor sich, denn Gerichte und Staatsanwaltschaften verteidigen hartnäckig einmal gefällte Urteile. Die Rechtskraft ist die heilige Kuh der Justiz. Auf Biegen und Brechen hält sie an einmal gefällten Entscheidungen fest. Nur widerwillig und zögernd lässt sie zu, dass als abgeschlossen betrachtete Fälle noch einmal aufgerollt werden. Gegen das Beharrungsvermögen der Justiz brauchen ihre Opfer Durchhaltevermögen, viel Geduld und einen eisernen Willen.

Das einzige Rechtsmittel gegen rechtskräftige Urteile ist ein Wiederaufnahmeantrag. Doch die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten ist nur unter den engen Voraussetzungen des § 359 stopp möglich. Der in der Praxis relevanteste Fall ist der des § 359 Nr. 5 stopp, also die Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel. Es reicht nicht, dass das frühere Urteil offensichtlich falsch ist, sondern der Antragsteller muss zusätzlich neue, im früheren Verfahren nicht berücksichtigte Tatsachen oder Beweismittel beibringen. Das ist schwierig, denn der lange Zeitablauf führt eher zum Verlust von Beweismitteln als zum Auftauchen neuer. Zeugen erinnern sich nicht mehr oder sind verstorben, Asservate sind verschwunden, Akten vernichtet.

Die Gerichte prüfen Wiederaufnahmeanträge streng und lehnen sie ganz überwiegend ab. Die Erfolgsquote von Wiederaufnahmeverfahren wird von Experten auf magere drei Prozent geschätzt. »Die Justiz will keine Wiederaufnahmen. Selbst wenn ein Wiederaufnahmegesuch bestens begründet ist, versuchen die mit der Wiederaufnahme befassten Gerichte immer, irgendeinen Vorwand zu finden, um diese Wiederaufnahme wegzudrücken. Die Justiz verteidigt die Rechtskraft eines einmal gesprochenen Urteils wirklich mit Zähnen und mit Klauen«, sagt Gerhard Strate aufgrund seiner Erfahrungen als Spezialist für Wiederaufnahmeverfahren.

Ein Grund dafür, dem Antragsteller maximalen Widerstand entgegenzusetzen, ist der Unfehlbarkeitswahn der Richter. »Deutsche Richter irren nicht« ist das Motto vieler Robenträger. Das eigene Selbstbild und die Autorität könnten leiden, wenn Fehlurteile aufgedeckt werden.

Ein weiterer Grund liegt auf der Hand: Wiederaufnahmeanträge sind wie Strafarbeiten in der Schule. Sie bedeuten erhebliche Mehrarbeit, im Falle ihrer Stattgabe muss sogar der ganze Prozess neu aufgerollt werden. Dabei hat der Verurteilte seinen Prozess doch schon gehabt, denken viele Richter. Sie fürchten eine Schwemme von Anträgen, wenn sie Wiederaufnahmegesuchen großzügig stattgeben.

Was zudem auffällt, sind extrem lange Verfahrensdauern. Die ursprüngliche Verurteilung erfolgte oft innerhalb weniger Monate nach der Tat. Bei Wiederaufnahmeverfahren gehen regelmäßig mehrere Jahre ins Land. Jahre, in denen der Verurteilte womöglich unschuldig im Gefängnis sitzt. Wiederaufnahmeverfahren stehen in der Prioritätenliste der Gerichte ganz weit unten und sind zusammengefasst nichts weiter als totes Recht.

Mangelnde Fehlerkultur

Zweitens lernt die Justiz nichts aus ihren Fehlern. Dabei sind Justizirrtümer eben keine untypischen Einzelfälle oder unvermeidbare Missgriffe, sondern folgen sich ständig wiederholenden Fehlermustern. Die Ursachen für einen Justizirrtum sind im Grunde immer dieselben und beruhen letztlich systembedingt auf einer abzählbaren Reihe von Gründen.

Man würde von einer modernen Justiz eigentlich erwarten, dass sie diese grundlegenden Mängel erkennt und abstellt. Errare humanum est – »Irren ist menschlich«, stellte schon Seneca fest. Richter sind auch nur Menschen, denen Fehler unterlaufen können. Doch aus Fehlern kann man lernen, um es dann beim nächsten Mal anders und besser zu machen – wenn man das will.

In Unternehmen gehört Fehlerkultur zum Tagesgeschäft. Stellt sich ein Produkt als fehlerhaft heraus, starten die Hersteller große Rückrufaktionen. So musste der Autohersteller Toyota wegen klemmender Gaspedale zwischen 2009 und 2011 mehr als zehn Millionen Fahrzeuge in die Werkstätten beordern. Wöchentlich wird in den Medien über größere und kleinere Rückrufaktionen berichtet.

Jeder Flugzeug-Crash wird von der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung analysiert. In anderen Ländern gibt es vergleichbare Stellen. In ausführlichen Untersuchungsberichten legen sie die Ursachen und Vermeidbarkeit der Unfälle dar. Zweck ist die Verhütung von Flugunfällen und damit eine Verbesserung der Flugsicherheit. Dieses System funktioniert. Fliegen ist das sicherste Verkehrsmittel.

Auch in der Medizin passieren Fehler. Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen bei den Ärztekammern analysieren Behandlungsfehler und erfassen sie statistisch. Ihre Erkenntnisse fließen in die Aus- und Fortbildung von Ärzten sowie in die Qualitätssicherung von medizinischen Einrichtungen ein. Ziel ist es, Fehlerhäufigkeiten zu erkennen und Fehlerursachen zu bekämpfen. Das klappt nicht immer, aber doch weitgehend.

Aber die Firma mit der Waage im Logo meint, auf eine Fehlerkultur gänzlich verzichten zu können.

Vernachlässigung der Opfer

Drittens werden Justizopfer im Stich gelassen. Man würde annehmen, die Justiz würde sich um eine Wiedergutmachung bemühen, wenn jemand aufgrund eines Fehlurteils unschuldig hinter Gittern gesessen hat. Eine Entschuldigung von höherer Stelle wäre angebracht. Eine schnelle, unbürokratische Entschädigungszahlung für die Haftzeit sowie Hilfen bei der Wiedereingliederung in ein bürgerliches Leben wären zweifellos angemessen und wichtig. Doch nichts dergleichen passiert. Wie schon Wiederaufnahmeverfahren dauern auch Entschädigungsverfahren ewig. Bei der Höhe der Entschädigung ist der Staat überdies knauserig, und eine Nachbetreuung ist nicht vorgesehen. Die Justizopfer werden ignoriert und sich selbst überlassen. Die Justiz hat das Leben der Betroffenen ruiniert und tut so, als wäre es nicht ihr Problem.

Eine Studie zu Justizopfern der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden hat 29 Justizirrtümer ausgewertet. Sie kommt zu diesem Fazit: »Das derzeitige Verfahren im Umgang mit zu Unrecht inhaftierten Personen erscheint objektiv verbesserungswürdig. Die Interviews zeigten [ …], dass den unschuldigen ehemals Inhaftierten nicht die Hilfe entgegengebracht wird, die sie – auch im Sinne einer Wiedergutmachung – erwarten und verdienen. Dies gilt sowohl wirtschaftlich als auch im Rahmen der schnellen und reibungslosen Wiedereingliederung in ein bürgerliches Leben. Zum Teil langjährig Inhaftierte werden nach ihrer oft kurzfristig erfolgten Haftentlassung mit ihren Problemen alleingelassen und sind damit überfordert.«

Wie das in der Praxis aussieht, zeigt der Fall Horst Arnold. Der Lehrer hatte fünf Jahre unschuldig in Haft gesessen. Sein Haftentschädigungsantrag wurde bis zu seinem Tod nicht beschieden, auch eine Wiedereinstellung als Lehrer wurde ihm verweigert. Er starb als gebrochener Mann – und als Sozialhilfeempfänger.

Wer, mag sich der juristische Laie fragen, wird bei einem nachgewiesenen Justizirrtum eigentlich zur Rechenschaft gezogen? Die Antwort: Den Polizisten, Staatsanwälten und Richtern passiert auch bei nachweisbarem Fehlverhalten in der Regel nichts. Denn die Beamtengesetze stellen sie von den Folgen ihres Handelns weitgehend frei. Sofern in einem der hier geschilderten Fälle ausnahmsweise doch jemand zur Verantwortung gezogen wurde, weise ich ausdrücklich darauf hin.

Das Buch verfolgt einen systematischen Ansatz und analysiert die häufigsten Ursachen für Fehlurteile. Sie finden dazu rund hundert Fälle mit bewegenden Einzelschicksalen, alphabetisch gegliedert nach Fehlerursachen – von »Anklage falsch« über »Ermittlungsfehler« bis zu »Zeugenaussagen unzutreffend«. Manche Fallgeschichte hätte in mehr als eine Kategorie gepasst, weil das jeweilige Fehlurteil auf verschiedenen Ursachen basierte. Für mich war entscheidend, welche davon nach meiner Einschätzung den Ausschlag gegeben hat.

Da Justizirrtümer unabhängig von den Besonderheiten des jeweiligen Rechtssystems weltweit vorkommen, stammen die geschilderten Fälle aus der ganzen Welt, überwiegend sind es aber deutsche und amerikanische Prozesse neueren Datums. Für die verhältnismäßig vielen Beispiele aus den USA gibt es zwei Gründe: Zum einen werden nirgends auf der Welt mehr Bürger wegen Straftaten verurteilt, zum anderen sind Justizirrtümer und ihre Ursachen dort durch zahlreiche Unschuldsprojekte der Universitäten besonders gut erforscht. Zudem verleiht die dort häufig verhängte Todesstrafe den Fehlurteilen eine besondere Tragik.

Es geht bei diesen Fällen meist um Mord und Vergewaltigung. Der unschuldig Verurteilte wird eine geringe Strafe, zum Beispiel eine Geldstrafe wegen eines Bagatelldelikts, meist zähneknirschend hinnehmen, wohingegen er gegen eine mehrjährige, lebenslängliche oder sogar tödliche Strafe allen Anlass hat, gegen sie anzukämpfen. Auch wird nur bei Kapitalverbrechen überhaupt der Aufwand betrieben, Fälle nochmals neu aufzurollen und bereits ergangene Urteile erneut zu prüfen. So gesehen sind die hier dargestellten Fälle nur die Spitze des Eisbergs an Fehlurteilen.

Bedenken Sie, dass auf jeden nachträglich Freigesprochenen unzweifelhaft zahllose andere kommen, die – obwohl unschuldig – inhaftiert bleiben! Mit Blick auf die in diesem Buch zusammengetragenen Fälle, hinter denen immer auch menschliche Schicksale stehen, möchte ich dieses Buch mit einigen Reformvorschlägen für Maßnahmen, wie Justizirrtümer zukünftig verhindert werden könnten, abschließen.

Falsche Anklage

Nicht erst das Fehlurteil, sondern bereits die Anklage kann einen Unschuldigen zum Justizopfer machen. Monatelange Untersuchungshaft und eine öffentliche Hauptverhandlung können genauso den beruflichen und privaten Ruin bedeuten wie eine Verurteilung. Eine Anklageschrift ist schnell allein auf der Grundlage der polizeilichen Ermittlungsakte verfasst. Der Staatsanwalt erhebt Anklage, wenn er einen hinreichenden Tatverdacht bejaht und eine Verurteilung für wahrscheinlich hält. Bei dieser Einschätzung wird zulasten der Beschuldigten oft großzügig verfahren – eine altbekannte Weisheit der Staatsanwaltschaft lautet: »U-Haft schafft Rechtskraft.«

Der Fall Kachelmann

Als Jörg Kachelmann am 20. März 2010 mit seinem Gepäck auf dem Frankfurter Flughafen zum Ausgang strebte, sollten dies für mehrere Monate seine letzten Schritte in Freiheit sein. Er war soeben aus Vancouver zurückgekehrt, wo er die Olympischen Winterspiele für die ARD moderiert hatte. Zivilbeamte hatten sich unauffällig am Gepäckband, hinter der Zollabfertigung und auf dem Parkdeck, wo sein grauer Volvo stand, auf die Lauer gelegt. Sie beobachteten, wie ihm nach der Zollkontrolle seine spätere Ehefrau Miriam um den Hals fiel, und folgten dem Paar, das sich, umarmend und immer wieder küssend, in Richtung Parkhaus begab. Beide ahnten nicht, dass die Wiedersehensfreude nur von kurzer Dauer sein würde. 50 Meter vor seinem Volvo stellte sich einer der Beamten Jörg Kachelmann in den Weg und drückte ihm einen roten Haftbefehl in die Hand.

Der Grund für die Verhaftung: Die Radiomoderatorin Claudia D. hatte am Tag seines Abflugs nach Kanada Anzeige gegen Jörg Kachelmann erstattet. Sie beschuldigte ihn, sie in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2010 in ihrer Wohnung in Schwetzingen mit einem Messer bedroht und vergewaltigt zu haben. Sie sei seit elf Jahren seine Lebensgefährtin und habe sich eine Heirat und gemeinsame Kinder gewünscht. Doch am Nachmittag des Tattages hatte sie in ihrem Briefkasten angeblich einen anonymen Brief gefunden, zusammen mit einer Fotokopie von zwei Flugtickets, die vom September 2008 stammten und auf Kachelmann und eine ihr unbekannte Frau ausgestellt waren. Die entscheidende Botschaft in dem Brief: »Er schläft mir ihr!« Als Kachelmann spät in der Nacht zu ihr gekommen sei, habe sie ihn sofort damit konfrontiert. Nach einem langen heftigen Streit habe sie die Beziehung für beendet erklärt und ihn gebeten, zu gehen. Da habe er ein Messer aus der Küche geholt, ihr an den Hals gehalten und sie vergewaltigt.

Kachelmann bestritt die Vorwürfe. Seine Version: Sie hatten an dem Abend Geschlechtsverkehr, aber der war einvernehmlich. Als sie anschließend gemeinsam auf dem Sofa saßen, hielt Claudia D. ihm den Brief mit den Flugscheinen vor, woraufhin er die Beziehung mit der anderen Frau einräumte. Als Reaktion darauf wollte Claudia D. die Trennung, was er verstand und akzeptierte. Kachelmann sah in der Anzeige die Rache einer gekränkten Frau.

In der Untersuchungshaftanstalt putzte Kachelmann als Hilfsreiniger die Toiletten seiner Mitgefangenen. Über die Haftbedingungen sagte er später in einem Interview: »Die Zelle war so, wie man es sich für einen Regimegegner in Nordkorea ausmalt. Sie müssen sich einfach allen Dreck, alle Scheiße im Klo und ganz viele Kakerlaken auf einmal vorstellen.«

Nach einer unter Richtern verbreiteten Faustformel sind schätzungsweise 50 Prozent aller Vergewaltigungen nach Beziehungsstreitigkeiten vorgetäuscht. Grund für eine solche Falschbeschuldigung ist in manchen Fällen eine nicht verschmerzte Trennung, in anderen eine Auseinandersetzung um Geld oder Sorgerecht. Die Vergewaltigungsanzeige wird dann aus Rache erstattet oder als perfides Mittel, um die eigene Rechtsposition zu verbessern. Das weiß jeder erfahrene Strafrechtler.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Selbstverständlich dürfen behauptete Vergewaltigungen im Zusammenhang mit einer Trennung nicht von vornherein als vorgetäuscht abgetan werden. Genauso wenig aber darf der Angezeigte als Vergewaltiger vorverurteilt werden. Bei einer solchen Quote von Falschbeschuldigungen kann die Devise nur lauten, den Sachverhalt besonders genau zu prüfen.

Für den 36-jährigen Staatsanwalt Lars-Torben Oltrogge war die Causa Kachelmann sein bis dahin größter Fall. Ein großes Vergewaltigungsverfahren gegen einen Prominenten ist wie dafür geschaffen, sich zu profilieren – so einen medienträchtigen Fall bekommt man nicht alle Tage. Oltrogge glaubte von Anfang an vorbehaltlos Claudia D. Den Motiven zur Falschbeschuldigung, die sie als Betrogene gehabt haben könnte, schenkte er keinerlei Beachtung. Selbst als er sie beim Lügen ertappte, sah er keine Veranlassung, ihre Aussagen und damit ihre Anzeige kritisch zu hinterfragen. Dabei hatte Claudia D. in zwei entscheidenden Punkten die Unwahrheit gesagt: Eine Kopie der Flugtickets hatte sie schon ein halbes Jahr vor dem angeblichen Tattag bekommen. Und statt von einem anonymen Absender stammte der kompromittierende Brief von ihr selbst. Der Staatsanwalt bagatellisierte diese bewussten Falschaussagen mit seiner Einschätzung, sie würden nicht das Kerngeschehen betreffen.

Ich habe solche Vergewaltigungsfälle auch schon verhandelt. Es sind die schwierigsten überhaupt, da hier Aussage gegen Aussage steht. Ist der Angeklagte ein Vergewaltiger oder das vermeintliche Opfer in Wahrheit eine rachsüchtige Lügnerin? Vor diesem Hintergrund versucht man als Jurist besonders hartnäckig, stichhaltige Beweismittel zu finden, die eine der Aussagen stützen können. Doch die gab es im Fall Kachelmann nicht. Am angeblichen Tatort waren keine Spuren der behaupteten Vergewaltigung gefunden worden. An dem Küchenmesser, das der Moderator Claudia D. an den Hals gehalten haben soll, konnte das Landeskriminalamt weder Fingerabdrücke noch Genspuren von Kachelmann nachweisen. Eine gefundene Blutspur am Messer war so klein, dass sich nicht feststellen ließ, ob sie von einem Menschen oder einem Tier stammte. Möglich also, dass sie schlicht Rückstände von einem Stück Fleisch waren, das fürs Essen geschnitten und zubereitet worden war. Die Hämatome an den Oberschenkeln konnten Folge einer Vergewaltigung sein, aber ebenso gut auch selbst zugefügt.

Während auf der einen Seite keine Beweise für eine Vergewaltigung gefunden wurden, gab es auf der anderen Seite zumindest Hinweise darauf, dass der Anzeige eine Falschaussage zugrunde lag. Auf dem sichergestellten Laptop von Claudia D. wurden Fotos mit blauen Flecken gefunden. Diese legten durchaus den Verdacht nahe, dass sie vor der angeblichen Vergewaltigung mit Selbstverletzungen experimentiert hatte – und zwar, dem Datum der Fotos nach, bereits ein Jahr vor der Anzeige. Entsprechend sah der Rechtsmediziner in den Ritzungen, die der Angeklagte ihr mit dem Messer zugeführt haben sollte – je einen Schnitt an Bauch, Arm und Bein –, später mehrere Anhaltspunkte für Manipulationen.

Am 19. Mai 2010 erhob die Staatsanwaltschaft Mannheim Anklage gegen Jörg Kachelmann wegen Vergewaltigung in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Kachelmann habe in der Nacht auf den 9. Februar 2010 die Geschädigte Claudia D. nach vorangegangenem Beziehungsstreit in ihrer Küche an den Haaren gepackt. Er habe sie mit einem Messer bedroht, ins Schlafzimmer geschoben und dort gegen ihren Willen ungeschützten Vaginalverkehr bis zum Samenerguss durchgeführt.

Die Anklage stützte sich im Wesentlichen auf die Aussage von Claudia D. Staatsanwalt Oltrogge wusste, dass er wenig mehr als die Belastungszeugin selbst aufzubieten hatte und es deshalb entscheidend auf ihre Glaubwürdigkeit ankommen würde. Deshalb gab er am 15. April 2010 ein Gutachten zur Glaubwürdigkeit seiner Zeugin in Auftrag. Doch wartete er das Ergebnis nicht ab, sondern erhob schon vor Eingang des Gutachtens Anklage.

Zwei Wochen nach Anklageerhebung lag das Gutachten der Bremer Psychologin Luise Greul vor. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Schilderung der Vergewaltigung »nicht die Mindestanforderungen an logischer Konsistenz, Detaillierung und Konstanz« erfülle. Das mutmaßliche Opfer könne die Tat selbst bei eingehender Befragung nur vage und oberflächlich wiedergeben, so Greuel. Zudem würden Sachverhalte dargestellt, die »handlungstechnisch unwahrscheinlich bis unmöglich« seien.

Angesichts einer unglaubwürdigen Zeugin bei gleichzeitigem Fehlen jeglicher Beweise Anklage zu erheben, ist riskant bis leichtfertig. Am 29. Juli 2010 hob das Oberlandesgericht Karlsruhe den Haftbefehl gegen Kachelmann auf. Es bestehe kein dringender Tatverdacht mehr. Bei der Anzeigeerstatterin (wie es in der Juristensprache heißt) könnten Bestrafungs- und Falschbelastungsmotive nicht ausgeschlossen werden. Das Oberlandesgericht hielt es also für möglich, dass Claudia D. die behauptete Tat nur vorgetäuscht hatte. Die Brieflüge erschüttere auch den Wahrheitsgehalt ihres Vergewaltigungsvorwurfs. Aufgefallen war dem Gericht insbesondere, dass die Schilderungen der Zeugin zur Tat und dem Streit davor »wenig detailreich« waren, während sie von den Ereignissen vor dem Erscheinen Kachelmanns in ihrer Wohnung in aller Ausführlichkeit erzählt hatte. Kachelmann hatte bis zur Aufhebung des Haftbefehls vier Monate in Untersuchungshaft gesessen.

Das Landgericht Mannheim verhandelte vom 6. September 2010 bis zum 31. Mai 2011 an insgesamt 44 Verhandlungstagen. Kachelmann konnte es sich, im Gegensatz zu vielen anderen (fälschlich) Beschuldigten, leisten, drei Anwälte und fünf eigene Sachverständige zu seiner Verteidigung aufzubieten.

»Warum lügt sie so schlecht? Das treibt mich um, seit ich die Akten gelesen habe«, sagte Richter Joachim Bock über die Zeugenaussage von Claudia D. Gleichwohl wurde weiterverhandelt. Neun Monate lang versuchte das Gericht akribisch, Beweise für eine Schuld des Angeklagten zu finden. Eine derart langwierige Beweisaufnahme wäre nicht erforderlich gewesen – der Fall war nicht kompliziert. Insbesondere die Vernehmung von zehn Ex-Freundinnen des Wettermoderators (»Lausemädchen-Parade«) tat nichts zur Sache, denn keine war in der fraglichen Nacht dabei gewesen. Und nur über diese galt es zu urteilen. Auch konnte keine der Zeuginnen von körperlicher Gewalt Kachelmanns als Bestandteil des Liebesspiels berichten. Es gab keinen Grund, das Sexualleben des Angeklagten in dieser Weise öffentlich auszuforschen. Das Gericht mag die Parallelbeziehungen zu den »Lausemädchen« für moralisch verwerflich halten, eine strafrechtliche Relevanz hatten sie nicht.

Die Staatsanwaltschaft hielt Jörg Kachelmann auch nach der Beweisaufnahme weiterhin für schuldig. Von der Ergebnislosigkeit der neunmonatigen Hauptverhandlung unbeeindruckt, beantragte sie eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten. Die Verteidigung plädierte auf Freispruch. Am 31. Mai 2011 wurde Kachelmann freigesprochen. Es war ein Freispruch zweiter Klasse nach dem Grundsatz in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Das Landgericht war nicht von der Unschuld des Angeklagten überzeugt. Aber auch nicht von dessen Schuld. Non liquet (»Es ist nicht klar«) würde ein Zivilrechtler das nennen. Ein mittelloser Angeklagter, der sich keine guten Anwälte und keine Privatgutachter hätte leisten können, wäre womöglich nicht freigesprochen worden.

Am Ende haben alle verloren. Jörg Kachelmanns Ruf und seine Karriere als Fernsehmoderator war mehr als angekratzt. Er konnte seit seiner Verhaftung nicht mehr als ARD-Wettermoderator arbeiten, verlor Werbeverträge und musste seine Produktionsgesellschaft verkaufen. In dem ähnlich gelagerten Fall des früher beliebten Moderators Andreas Türck führte das gegen ihn geführte Strafverfahren trotz Freispruchs im Jahr 2005 zunächst zum Ende seiner Moderatorentätigkeit im Fernsehen, bevor er – über sieben Jahre später – im Dezember 2012 wieder für Pro Sieben ins Fernsehen zurückkehren konnte.

Dank des Freispruchs zweiter Klasse musste Kachelmann lange mit dem Stigma leben, ein potenzieller Vergewaltiger zu sein. Claudia D. schließlich muss damit leben, als rachsüchtige Lügnerin zu gelten. Und aus Rache jemanden der Vergewaltigung zu bezichtigen und mittels fingierter Briefe sowie selbst beigebrachter Verletzungen Beweise zu fälschen, setzt schon eine hohe kriminelle Energie voraus.