Kaiserglanz - Otto von Gottberg - E-Book

Kaiserglanz E-Book

Otto von Gottberg

0,0

Beschreibung

Im Weißen Saal des Königsschlosses zu Berlin hat Kaiser Wilhelm I. nach dem Sieg über Frankreich im Jahre 1871 die Fürsten Deutschlands und die Großen des Landes zum Hofball geladen. Unter den vielen Anwesenden ist auch der junge Offiziersanwärter Hans von Heistenberg. Doch neben seiner Liebe für den Kaiser und die Begeisterung und Hingabe für Militärdienst und Vaterland hat Hans noch eine zweite Leidenschaft: seine Geliebte Dora, die im Wiesnerschen Handschuhladen arbeitet. Der Roman begleitet von Heistenbergs Offizierskarriere und die Geschichte der Liebe von Dorchen und Hans, in deren Verlauf zunehmend deutlich wird, das sich beides kaum vereinbaren lässt. Hans von Heistenberg steht vor einer schwierigen Entscheidung: preußisches Soldatenleben oder gemeinsames Glück mit seinem Dorchen? Pflicht oder Liebe? Anschaulich und aus zeitgenössisch kaisertreuer Sicht entfaltet der Roman ein eng an der damaligen Realität angesiedeltes, plastischen Panorama der Jahre bis hin zu Karl Eduard Nobilings beinahe tödlichem Attentat auf den Kaiser 1878 und lässt so die Welt des frühen deutschen Kaiserreichs unter Kaiser Wilhelm I. und Otto von Bismarck wieder lebendig werden. Nicht nur eine Fundgrube für Preußenfans und Mentalitäts- und Geschichtsinteressierte, sondern auch ein echter Genuss für Leser packender historischer Liebes- und Soldatenromane! – "Kaiserglanz" wurde auch unter dem Titel "Vierelang" veröffentlicht.-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 326

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Otto von Gottberg

Kaiserglanz

Roman aus den Tagen des alten Herrn

1.–10. Tausend

Saga

Kaiserglanz

© 1920 Otto von Gottberg

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711529966

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1.

War das ein Leuchten, Schimmern, Funkeln im Weissen Saal des Königsschlosses zu Berlin! Die Augen schmerzten fast vom Schauen bunter Farben und Blenden vieler tausend Kerzen flammen. Doch die vom langen Stehen steifen Glieder konnte Hans von Heistenberg endlich rühren. Aus der Rückentasche des scharlachroten Pagenrockes zog er sein Tuch und tupfte die heisse Stirn. Die Majestäten waren eben zum Tee gegangen. Unter ihren Augen hatte er seit zwei Stunden im Spalier der Pagen um ein Viereck tanzender Paare gestanden. Jetzt durfte er sich umsehen.

Unter flimmernden Kerzen in Kristallkronen und Wandkandelabern strahlte der alte Prunksaal im Glanz der neuen Reichskrone. Kaiser Wilhelm hatte nach dem Siegeszug durch Frankreich die Fürsten Deutschlands und die Grossen seiner Erbstaaten zum Hofball gerufen. Schon zum Ordensfest am 18. Januar waren die kommandierenden Generale und Oberpräsidenten, dann Hochadel und Krautjunkertum zur Cour nach der Hauptstadt gekommen.

Die Hitze unter den Kronleuchtern drückte wie eine schwere, warme Decke auf den Kopf. Das Drängen von Tausenden nahm die Luft zum Atmen. Drüben riss ein Lakai das Fenster auf. Ein eisiger Hauch der Winternacht schien die Menge zu scheiden. Eine Männerschar in Galauniform aller Garderegimenter tröpfelte durch die Flügeltür in der Ostwand auf den dichteren, bunteren Schwarm von Damen und Herren, die durch die Westtür den Majestäten zum Büfett folgten. Schritt für Schritt schlürften oder trippelten sie Schulter an Schulter und Brust an Rücken über das glatte Parkett. Ehrfurcht zügelte die Hast und dämpfte die Stimmen. Nur wie das leise Schwirren um Bienenkörbe summte die Unterhaltung. Kurze Aufschreie komischen Erschreckens weckten kaum Murmeln unterdrückten Lachens. Die schimmernden Schultern unter einem Frauenkopf mit blinkendem Geschmeide oder wippendem Federschmuck zuckten dann wie in Schmerzen, weil die Schleppe unter dem Tritt von Männerstiefeln gerissen war.

Drei alte Herren in Schnallenschuhen und Seidenstrümpfen unter goldschwerem Diplomatenfrack flüchteten auf dürren Waden und zittrigen Knien in die Fensterecke. Ihre abgespreizten Ellbogen schützten die Straussenfedern auf den Dreispitzen unter den Armen. Weisshaarige Generale mit glitzernden Sternen und Grosskreuzen auf der Brust schoben sich geduldig zwischen Leutnants vorwärts. Alle Militärs hielten in der Linken den Helm mit Busch von Federn oder Rosshaaren. Die goldblinkenden, bunten Galaröcke schienen auf einer lichten Wolke zu schweben, weil alle Herren weisse Beinkleider und alle Damen helle Farben trugen. Männerprunk und Kriegerschmuck verdunkelten Frauenzier. Neben dem goldbestickten Generalsrock, der verschnürten Attila, dem scharlachroten oder weissen Koller, der bunten Ulanka, dem blauen Waffenrock mit Litzen von Silber oder Gold glänzten Seide, Damast oder Sammet nur stumpf und blind. Das Frauenhaar lag oft in schlichtem, glattem Knoten auf den Köpfen. Alle Männer aber waren wohlfrisiert und die jungen meist von Stirn zu Nacken gescheitelt. Zwei Tollen standen über den Ohren.

Doch war auch Frauenanmut zu bewundern. Heistenberg fragte seinen Nachbarn im Spalier nach Namen. Als Sohn des Berliner Generals konnte Ollich „die schönen Dankelmanns“ nennen. Drei liebreizende Schwestern gingen Arm in Arm. Ihre schmalen Gesichter unter dunklen Haaren glühten vom Tanzen. Die schlanken Figuren in Rosa bogen sich beim Tuscheln wie Weidengerten. Zwei fröhliche Blondinen hiessen Prillwitz. Weiss wie Schneeglöckchen und zart wie Frühling lachten sie mit jungen Offizieren der Gardes du Corps in scharlachroter Supraweste mit grossem silbernem Gardestern auf der Brustmitte.

„Meine Herren!“ Lang und schlank wie eine Tanne rief Graf Lehndorff auf der eben von den Majestäten und Prinzen geräumten Thronestrade vor der Galerie an der langen Innenwand des Saales. Der ostpreussische Grande und Kaiserliche Generaladjutant hob die Hand hoch über das noch jugendlich rosige Gesicht mit silberweissem Kaiserbart, um einen neuen Pfad zu weisen. Sporen und Säbel klirrten. Fast allzu dreistes Lachen kicherte über das Surren des Bienenschwarms. Die Phalanx vor der Westtür nahm im Sturmschritt die Estrade und an den Thronsesseln vorbei ihren Weg zum Büfett in den Nachbarraum.

Heistenberg musste sich straffen, denn dicht vor ihm stutzte Generalfeldmarschall von Zieritz. Der gebeugte Greis mit dem blauen Sammetstab in der Linken und dem gelben Band des Adlerordens über der Brust zog mit schon zittriger Hand seine weisshaarige Gattin in lila Sammet näher und winkte auch zwei jungen Damen. „Mein Page vom Ordenskapitel“, stellte er vor und nannte Frau, Schwiegertochter und Tochter bei Namen. Als Hans sich vom Kuss auf die Hand der alten Dame aufrichtete, sah er in die schwarzen Augen der jungen Frau Berenice von Zieritz, die ihn mit einem Lächeln des Staunens musterte. Noch mehr denn unter dem Blick stieg sein Blut zum Kopf, als er beim Küssen ihrer Finger einen leichten Druck gegen die Lippen spürte. Schnell sah er wieder auf und wusste sich auch in seiner Verlegenheit vor einer selten schönen Frau. Die zarte Haut ihres feinen Kopfes unter tiefschwarzem Haar war fremdartig dunkel, aber lichtweisse Schultern und Arme schimmerten aus der erdbeerfarbenen Seide ihres Kleides.

Die blonde Marie in Weiss nahm seine Hand mit dem guten, festen Druck eines Kameraden. Ein lieber Freund schien aus ihren hübschen blauen Augen zu lachen.

Der Feldmarschall griff wieder in den Arm seiner Frau, die im Weitergehen über die Schulter rief: „Essen Sie doch morgen um fünf Uhr bei uns!“

Die jungen Damen vor ihm aber liessen die langen Courschleppen von den linken Armen zu Boden fallen, und Marie sagte, als freue sie sich: „Wir wohnen Kurfürstenstrasse, im letzten der Krusemarckschen Häuser!“

Ehe Hans antworten konnte, dröhnte eine tiefe Bassstimme: „Zieritz.“ Auch die beiden Alten standen wie die jungen Damen still.

Durch Heistenbergs Glieder rann ein Schrecken oder Schauern, denn der straffe alte Recke, der des Marschalls Hände nahm, war Preussens Waffenschmied und Kriegsminister Roon! Gross, kraftvoll und gebieterisch trotzte er auf gespreizten Füssen dem Gedränge wie ein Fels in sturmgepeitschter See. Breite Schultern trugen den starken Hals, den sehnigen Nacken und langen Kopf. Der Scheitel im vollen Grauhaar gab die kühne, hohe Wölbung einer gefurchten Stirne frei. Die eingebogene, lange Nase fiel gegen eine Wurzel mit breiten Flügeln. Die kantigen Kiefern schoben das viereckige Kinn wie einen Sturmbock aus dem finsteren Gesicht. Die trotzigen Lippen unter eisgrauem Schnurrbart mit langen, scharfen Spitzen konnte vielleicht ein sarkastisches Lächeln, doch gewiss nicht die Heiterkeit der Kurzweil kräuseln. Die strähnigen Wimpern unter den buschigen Brauen verschleierten graue Augen, die mit der klaren Ruhe unbeugbaren Willens blickten. Die Miene war herrisch und streng, aber auch düster, als ärgere oder sorge er sich oft. Die Haltung sagte, er sei gewohnt zu befehlen, aber nicht sich zu bücken oder zu beugen. In der Armee hiess er Preussens Hagen von Tronje, denn mit des grossen Nibelungen zäher Treue und grimmigem Zorn sollte er den König lieben und seine Feinde hassen. Kein Siegfried war so götterschön und sonnenlicht, dass er ihn nicht für Gunther erschlagen hätte! —

Die jungen Damen nahmen seine Hand in scheuem Zagen. Er strich der blonden Marie über den Scheitel. „Die Majestäten gesehen?“

Die blauen Augen lachten glücklich. „Ach, Onkel Roon, der Kaiser hat mir zugenickt!“

Da kräuselte doch ein weiches Lächeln die trotzigen Lippen. In den grauen Augen schimmerte Herzensgüte, und die strenge Miene erhellte sich. Nach hartem, kaltem Winter schien die Sonne des ersten warmen Frühlingstags zu lachen, als er nickte: „Ja, Kind, mein König sieht und beglückt uns alle!“

Er konnte lieben, aber schenkte das Herz nur dem König. Sein Bass dröhnte ins Ohr der alten Marschallin, als Hans wieder den verwirrenden Blick der dunkelhaarigen Frau von Zieritz fühlte. Dicht vor ihn trat sie und sah an ihm hinauf und hinab. Der schlanke, schmalhüftige Page im scharlachroten Rock mit Silbertressen schien zum Anknabbern hübsch. Lange Rockschösse fielen über seidene Kniehöschen und schön geschwungene Waden in prallen, weissen Strümpfen. Ein kleiner Degen mit Portepee stand von der linken Hüfte, auf die er den Dreispitz mit Straussenfedern drückte. Die Hand zitterte unter den Spitzen des Ärmels. Sogar das Jabot vor der Brust bebte zum Klopfen des Herzens. Dunkelrot flammte die glatte Haut des runden Knabengesichts mit hellen blauen Augen und zwei Grübchen, zwischen denen der schmale, vollippige Mund ein blutrotes Viereck auf hoher Kante schien. Berenice lachte. „Tanzen Sie, hübscher Page?“

„Verboten, gnädige Frau!“ Er schämte sich, als sie da mit einem kleinen Zeigefinger in weissem Glacéleder dicht vor seinen Augen drohte. „Also ein andermal, aber ... nicht vergessen!“

Marie trat näher. Die blauen Augen blinkten, als wolle sie schnell sprechen, aber ein langer, blonder Leutnant mit eisernem Kreuz und Kriegsmedaille auf roter Garde-Ulanka bat die Damen um Tänze. Seine Epauletten hingen gegen eine hohle Brust. Er hielt sich lässig, aber auch weltmännisch. Frau Berenice wies auf den Pagen, und ihre schwarzen Augen glühten. „Ist er nicht entzückend?“

Heistenberg wünschte sich unter die Erde, als sie mit streichelnder Hand gar um sein Kinn griff. Die weichen Finger drückten fest, während sie ihren Atem durch die kleinen Zähne zu schlürfen schien und lachte. „Angioletto!“ In den fremden Lauten war süsses Streicheln.

Marie krauste die Stirn. Der lange Ulan schien zwischen Lachen und Gähnen zu schwanken, ehe er mit einem Achselzucken Hans in die Augen sah. „Frau von Zieritz Ausländerin.“ Dann drehte er sich zu ihr und warnte: „Gnä’ Frau, Page bald Offizier!“

„Aber doch ein Angioletto“, lachte sie mit unbekümmertem Kopfnicken gegen Heistenberg und hob ihre Schleppe, um mit Marie den Eltern nachzugehen. Der lange Ulan blieb stehen. „Hagnitz!“ Da war Hans unterrichtet. Der Freiherr aus reichsständischem Hause hatte früher Rennen geritten, aber plötzlich zwischen Morgen und Abend seinen Stall aufgelöst. Wahrscheinlich langweilte er sich auf dem grünen Rasen wie hier im Weissen Saal. Gähnend sah er Frau von Zieritz nach. „Aus Italien! Alles wärmer als bei uns ... Musik, Theater, Revolution und Temperament!“ Seine Linke glättete den hellblonden, ausgezwirnten Schnurrbart, der wagerecht bis zu zwei schmalen, dünnen Haarstreifen vor den Ohren hing. Die Rechte schob er tief in die Beinkleidtasche und schlenderte mit hohler Brust und rundem Rücken lässig davon. Der Kopf hing über den Kragen. Die Knie waren krumm. Die Fussspitzen traten geradeaus. — —

Ollich liess sich von der Unterhaltung erzählen. Der Saal war bald leer. Das Warten ermüdete. Schon brannten die Fusssohlen in den engen Schnallenschuhen, als endlich drei Schläge auf das Parkett zum Aufpassen mahnten. Die Hofpagen im Spalier standen straff. Eine Doppelreihe ihrer Kameraden mit den silbernen Querschnüren von Leibpagen auf dem Scharlachrot trat durch die Westtür in den Saal. Zu vier Gliedern schritten in flinkem Gleichschritt Damen und Herren im mittelalterlichen Pomp der Hofchargen hinterdrein. Vier schillernde Schlangen mit funkelnden Schuppen von Gold, Silber, leuchtender Seide und buntem Sammet schienen schnell über das blanke Parkett zu gleiten.

Als letzter tänzelte allein Graf Perponcher mit dem Stab des Oberhofmarschalls. In theatralisch feierlicher Würde hielt er sich steif wie den Stock. Der noch schöne Mann von hoher Gestalt schien in den seidenen Unterkleidern von fast weiblicher Zierlichkeit. Die Fussspitzen in Schnallenschuhen traten weit auswärts, und der Kopf lag im Nacken. Hoffärtiger Stolz blähte die Nasenflügel. Vom pechschwarzen Schnurrbart ragten scharfe Spitzen auf. Der fast kahle Kopf trug schon Greisenschnee, und eine goldene Lockennadel hielt die über die blanke Haut gezogenen dünnen Haarsträhnen über dem linken Ohr zusammen. Künstlich wie die Farbe des Schnurrbarts schien die der schlaffen Wangen. Für Stunden hatte er gewiss beim Schniegeln, Putzen und Schminken gesessen. Schon das Anlegen des brillantglitzernden Mosaiks von Frühstücksorden auf der Brust nahm wohl viel Zeit. Hans dachte, dass Perponcher in den Kasinos der Seiltänzer oder Saltimbanque hiess, aber sein Lächeln starb in einem Schauern der Ehrfurcht vor der schlichten Hoheit Kaiser Wilhelms, der jetzt mit der Kronprinzessin am Arm über die Schwelle trat und mit den geschäftig kurzen Schritten älterer Offiziere im Dienst zur Estrade ging. Auch seine Miene, sagte er, fühle sich im Dienst.

Durch Schillern und Gleissen höfischen Prunks trug die ritterschöne Gestalt den einfachen blauen Rock seines Fussvolks mit schmalen bleichen Silberlitzen am Kragen. Kein Pomp, kein Stolz sprach aus der Haltung, aber doch die Würde des Herrschers und Gebieters. Der Adel warmer Herzensgüte des Gesichts paarte sich dem Zauber einer Demut, die fast Anmut schien. Ein Patriarch und wahrer König sah huldvoll, aber auch in ernstem Prüfen über die tiefgeneigten Scheitel im weiten Saal. Ehrfurcht heischten, aber Achtung zollten auch die guten Augen von einem selten klaren, lichten Himmelsblau. Sie sollten den Azursternen Friedrichs ähneln, obwohl der schnelle Funke des Genies wohl nie aus ihnen blitzte. Sie strahlten auch nicht voll und rund wie des Ahnen Sonnen, sondern bargen sich hinter den schweren Hängelidern eines Nachdenksamen, der vor dem Wagen gewiss lange wägte. Weit voneinander aber standen sie und konnten nichts aus engem Winkel sehen. Raum heischte zwischen ihnen eine schon oben nicht schmale und unten gar starke, eingebogene Nase. Der silberweisse Schnurrbart gab die dünnen Lippen nur in der Mitte frei. Vom rechten Mundwinkel ragte die Spitze aufwärts, als spiele die Hand dort gern. Noch farbenfrische Wangen trugen zu seiten des glattrasierten starken Kinns eines Beharrlichen den glitzernd weissen Backenbart, der sorgsam gebürstet, aber wohl lange nicht verschnitten war. Dem Barbier, Schneider und Kammerdiener schien der Kaiser weniger Zeit als sein Oberhofmarschall zu opfern. Das spärliche Seitenhaar war über den schmalen, aber langen Ohrmuscheln zu den schlichten „Sechsen“ des Soldaten in Reih und Glied gebürstet. Blank und kahl wie der ehrwürdige Scheitel schimmerte die steile Wölbung der Stirn mit zwei tiefen Querfalten. Sonst trug das Antlitz wenig Runzeln. Nur die schrägen Linien von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln zogen tiefe Risse. Noch rosig schimmerte die Haut unter dem Schmelz gesunder Lebensfrische, den blaue Äderchen auf Nasenbein und Wangen vertieften. Mit erstaunlicher Beweglichkeit neigte der rüstige alte Herr den schlanken, hohen Oberleib nach rechts und links. Sein Lächeln wollte erfreuen und begnadete mit der wahrhaft königlichen Würde. Vor den Stufen zum Thronsessel auf der Estrade gab er mit tiefem Verbeugen den Arm seiner Schwiegertochter frei.

Eine Bürgerin im Sonntagsputz schien die Stufen hinanzusteigen. Zwei Leibpagen trugen an Bügeln die mannslange Schleppe ihres reichen Kleides von einem dünnen, fliederfarbenen Sammet. Der eine stolperte, und auch die Kronprinzessin strauchelte wohl, denn ihre Finger griffen hastig in das Tuch vor den Knien. Ärger zuckte in den vollen Polstern entblösster Schultern. Unmut rötete das starkknochige, breite Gesicht. Ein Hängen der frühwelken Wangen und der Mundwinkel mehrte die Hoffart ihrer Miene. Mit fliegenden kurzen Fingern an übervollen Armen sicherte sie ein Diadem blinkender Diamanten vor dem Haarknoten, der als Kugel über ihrem Scheitel lag.

Der Kaiser sah vom Thronsessel seiner Gemahlin am Arm des Kronprinzen entgegen. Blond und blauäugig wie Balder kam der männlich schöne Riese. Mit dem Koller der Pasewalker Kürassiere schien die Reckengestalt die Pracht der Barbarossatage und der wallende Blondbart ein Rauschen alter Rittersagen zu tragen. Herrischer und stolzer als sein Vater ging und blickte der Sohn, aber schmunzelte über die tiefgeneigten Köpfe, als belustige ihn ein Mummenschanz. Seine Augen trafen Perponcher. Der Höfling lachte mit, und des Kronprinzen Miene erstarrte. Untertanen mussten bewundern, wo Fürsten lächeln durften. —

Sorgsam half er der zierlichen Mutter die Stufen hinan und straffte oben noch seine Figur. Er wollte Fürst, hoch, gross und weithin sichtbar sein. Mit einem mütterlichen Streicheln löste die Kaiserin ihren Arm und dankte auch ihren Pagen mit gütigem Kopfnicken, als sie die Schleppe von schwerem Silberbrokat schnell neben den Thronsessel trugen. In das stolze und kluge, sehr, sehr kluge und immer noch anmutige Gesicht einer zarten Greisin sah Hans. Augen und Wimpern schimmerten dunkel. Die sonst wohl bleichen, schmalen Wangen trugen heute Rot, und weisser Puder lag auf hochgetürmtem Kopfhaar. Von der schillernden Brillantkrone fielen lange Seitenlocken über den feinen Hals gegen die blendend hellen, schrägen Schultern. Mit Puder, Schminke und altfränkischer Frisur bot die feine, zarte Greisin den staunenden Landpomeranzen mit ihren glatten Scheiteln über frischer Wangen gesundem Apfelrot ein Bild vom Zauber längst vergangener Tage und der angeborenen Anmut wahrhaft grosser Damen.

Der Kaiser stellte im Niederlassen wie ein ordnungliebender Offizier den Helm unter den Sitz. Der Kronprinz schob ihm mit scherzendem Diensteifer den Thronsessel zu, und sein Lächeln lud zum Erwidern ein. Der alte Herr gab vor, er sähe nichts. Sein Gesicht blieb ernst. Er war König und im Dienst.

Prinz Friedrich Karl hatte die Grossherzogin von Baden zum Sitz neben der Kronprinzessin geführt und stapfte wuchtigen Trittes zur Hinterwand. Auch in silberverschnürter roter Attila mit Pelzverbrämung schien er nicht festlich gekleidet. Die losen Kniehosen sackten über den hohen Stiefeln. Über des Leibes starker Fülle schlug das Rocktuch Falten. Aus dem bärbeissig strengen Gesicht unter fast blauroter Haut und blondem Rundbart sahen stahlblaue Augen über Frauen und Männer hinweg. Er war preussischer Prinz und General, vom Ruhm und vom Sieg in drei Kriegen geküsst. Was bot das Leben, da er die Krone nie tragen sollte?

Als Schönheit des Königlichen Hauses stieg seine Gemahlin in mattrosa Atlas die Stufen hinan. Preussens Prinzen und Prinzessinnen, Deutschlands Fürsten und Fürstinnen sassen zu seiten des Kaiserpaares nieder. Die Trompeter der Gardes du Corps bliesen aus silbernen Instrumenten eine helle Fanfare, und die Geiger schmeichelten die Melodie der „Blauen Donau“ aus den Violinen. Zwei Vortänzer der Hausregimenter zu Fuss und zu Pferd traten mit jungen Damen durch das Pagenspalier. Bald wirbelten im Viereck hundert Paare in beängstigender Nähe hinterdrein. Oft drohte ein Anprall, den der Tänzer Geschick doch mied. Mit den Zuschauern hinter dem Spalier lächelte der Kaiser dem Frohsinn der Jugend. Er wies der Kaiserin Paare oder nannte wohl Namen. Sein Nicken oder Winken grüsste auch in das Viereck, bis sein Zeigefinger den Fürsten von Putbus auf die Estrade rief. Der bärtige Vorpommer im roten Landstandsfrack plauderte lange vor den Majestäten. Hinter ihm ging auch der Kaiser die Stufen hinab, und Lehndorff bahnte einen Weg zur Gräfin Schleinitz. Hans sah den alten Herrn dort fast wie einen Jüngling scherzen. In hellem Auflachen warf er den Kopf zurück. Die rechte Hand wirbelte den Schnurrbart, während er im schnellen Sprechen und artigen Lauschen sich leichtfüssig drehte, um den Augen der Gräfin zu folgen. Sie sprach wohl von der weiblichen Jugend und winkte jungen Mädchen. Zwei der Dankelmanns knixten vor dem Kaiser. Aus dem Viereck sahen Tänzerinnen mit neidvollen Wünschen auf die beiden glücklichen Schwestern und mit dem Lächeln Bezauberter auf den greisen Herrn, der noch so ritterlich schmeicheln, so tief in Frauenaugen blicken, so fröhlich über Scherzworte lachen konnte.

Der schönen Gräfin Harrach küsste er die Hand und hielt dann die Finger eines zaghaften Blondinchens in väterlicher Freude an dem Glühen auf jungen Wangen. Kein wärmerer Bewunderer von Frauenanmut lebte an seinem Hof!

Da sah er einen hageren Graubart im Landstandsfrack und furchte die Stirn, zu der Röte von Unmut oder Ärger stieg. Als er den Zeigefinger zum Winken hob, murmelten Schadenfrohe hinter Heistenbergs Rücken: „Aha! Er nimmt Vincke-Olbendorf vor!“

Der Führer der Fronde neigte sich im Nähertreten tief. Doch der Ehrfurcht seiner Miene paarte sich Trotz, als der Kaiser nach freundlichem Verabschieden von den Damen ihm mit geschäftig kurzen Schritten um das Pagenviereck voranging. Dicht hinter Hans blieb er stehen und begann zu schelten. Vincke war nicht um Antwort verlegen: „Majestät, ich nahm mir das Recht, nach meiner Überzeugung zu stimmen!“

Da vergass auch der Kaiser zu flüstern. „Das bestreite ich Ihnen nicht, aber beanspruche meinerseits das Recht, Ihnen des Königs Meinung zu sagen!“ Vincke hörte sie, während an Hans vorbei ein Kammerherr durch das Spalier schlitterte und einem Gardedragoner auf die Schulter tippte. Der Leutnant verabschiedete sich von seiner Tänzerin, um dem Befehl einer Prinzessin zu folgen. Zwei Pagen trugen ihre Schleppe in das Viereck nach. Der Dragoner nahm die Bügel in die linke Hand, die dann auch noch der Fürstin Finger hielt. Ein Vortänzer zischte leise „st“, und eine Gasse in die Wirbelnden lag offen.

Der Kaiser ging von Vincke zu den Herren, die im Halbkreis vor seiner Gemahlin auf der Estrade standen. Unten wechselten Walzer und Galopp, denn andere Rundtänze litt preussischer Hofbrauch nicht. Plötzlich sah Heistenberg die dunkelhaarige Frau Berenice von Zieritz am Arm eines Husaren aus dem Viereck treten. Zum schnellen Atmen flatterte ihr Busen, und die schwarzen Augen trafen die seinen. Sie nickte und feuchtete beim Lächeln mit der Zungenspitze die Lippen wie ein Feinschmecker vor dem Kosten. Der lange und dringliche Blick war wieder wie Streicheln zu fühlen. Als er in Verlegenheit den Kopf drehte, sah er auch die silberblonde Marie, die ihrer Schwägerin wohl zürnte, denn eine Längsfalte krauste die Stirn über schmaler Nase.

Vor Mitternacht brach die Kaiserin auf, und bald schied auch der Kaiser. Den Helm mit Federbusch in der Linken, neigte er sich von der Estrade nach links, rechts und gegen die Mitte des Saales. Draussen warfen Lakaien die schwarze Uniformpelerine mit Pelzfutter um seine Schultern. Dann trat er aus dem Schlossportal auf den stillen Platz. Das Denkmal Friedrich des Grossen glitzerte weiss wie ein Reiter von Zucker oder Marmor unter frostklarem Sternenhimmel. Eine Schneedecke blinkte auf Fahrdamm und Bürgersteig. Die Strassenlaternen schimmerten durch gelben Dunst. Um eine Wagenburg zur Linken lärmten Kutscher. Sonst schwieg seine Hauptstadt. Er stieg ein, und der Wagen rollte an. Sein Blick glitt durch die Scheibe zur Linken. Lichter Kaiserglanz strahlte aus den Fenstern des hohen, grauen Schlosses, das die dreiste Hand eines kühnen Ahnen in Sumpf und Sand der Wildnis am Spreeufer geschleudert hatte.

Der Wagen hielt auf der Rampe des Palais. Lakaien öffneten den Schlag und hoben die Hände. Doch der Kaiser wies ihre Hilfe ab. Noch einmal schaute er die Linden entlang und zog die nach der Hitze im Festsaal wohlige Winterluft tief in die Lungen. Die Grenadiere des Doppelpostens präsentierten das Gewehr. Im Umdrehen hob der alte Herr schon einen Finger zur Helmschiene, als der Flügeladjutant vom Dienst ihn stutzen und mit den geschäftigen Schritten zu dem Grenadier am linken Türflügel hasten sah. Die blaurot starre Hand vor dem Gewehrriemen zitterte, als habe der Mann ein schlechtes Gewissen.

„Warum tragen Sie keine Fausthandschuhe?“

„Im Wachtlokal vergessen, Majestät!“ Auch die Stimme bebte.

Der Kaiser neigte das Ohr, als höre er nicht recht, und fragte, ob der Wachhabende nicht den Anzug der Posten revidiert habe. Weinerlich klang die Antwort: „Hat er getan, Majestät, aber hinterher sucht’ ich’s Taschentuch un’ hab’ de Handschuh liegenlassen!“

Der Kaiser griff um das Gewehr und neigte die Mündung, bis der Lauf genau senkrecht in des Grenadiers Händen lag. „Ihr Herr Kompagniechef würde Sie streng bestrafen! Wie heissen Sie?“

„Nolte, Majestät!“

„Zivilberuf?“

„Kutscher!“

„Wo?“

„In Pyritz, Hotel Stern.“

Der Kaiser drohte mit dem Finger. „Ein Kutscher vergisst doch bei Frostwetter die Handschuhe nicht!“ Er nickte und ging zum Portal, aber rief über die Schulter: „Gute Nacht, Kinder.“ In der warmen Halle griff ein Leibjäger nach dem Radmantel und der alte Kammerdiener Scholz nach Helm und Degen. Auf den Stufen der Freitreppe drehte der Kaiser sich zum Flügeladjutanten. „Major von Winterfeld! Dem Grenadier Handschuhe von der Hauptwache holen lassen! Nicht meinetwegen Finger erfrieren!“

Winterfeld ging und wartete dann im Eckzimmer, bis der alte Herr aus der Bibliothek trat. Über dem weissen Galabeinkleid trug er jetzt einen alten schwarzen Interimsrock mit Generalsachselstücken. Die Vorderschösse hingen, mit dem roten Futter nach aussen, ungeknöpft über einer weissen Pikeeweste. Der steife Kragen stand über der schwarzen Halsbinde offen. Eine bequemere Haustracht gönnte Kaiser Wilhelm sich nicht. Auch beim Lesen von Akten oder Schreiben von Briefen an Untertanen fühlte er sich als König im Dienst. Des Königs von Preussen Dienstkleid aber war die Uniform. Winterfeld hatte im Schloss Babelsberg erlebt, dass der alte Herr hastig das Zivil seiner Sommermusse ablegte, ehe ein überraschend gekommener Minister vor ihn trat.

Jetzt bat ein freundliches, aber stummes Winken seiner Hand, bequem zu stehen. Er mied im Verkehr mit seinen Begleitern gern Worte und verschmähte Hilfe oder Bedienung. Als gekrönter Offizier tat er seinen Dienst wie die alten Militärs der Zeit. In allen Räten sah er Adjutanten eines Befehlshabers, der ihre Vorträge hörte, aber erst genehmigte oder entschied, wenn er mit eigenen Augen die Akten studiert hatte. Mit eigener Hand schrieb er auch Briefe und arbeitete lange Denkschriften aus. Seine Finger setzten sogar Adresse und Siegel auf Umschläge.

Nach dem langen Tag schienen seine Glieder doch schwer oder müde, als er ohne Heben der Füsse über den Teppich schlürfte. Der ehrwürdige Kopf hing mit dem Kinn gegen das blaue Kreuz des Mérite vor seiner Halsbinde. Doch dann rieb er mit dem heiteren Schmunzeln eines hausliebenden Alten vor dem Kaminfeuer die Hände und sah in lächelndem Behagen auf seine vier Wände. Als sei der Abend noch jung, beugte er sich gemächlich über das Thermometer. Ein Prüfen der Temperatur war immer nötig, denn die Mauer nach dem Opernplatz trug zwei und die längs der Linden ein Fenster. Oft schaukelten die weissen Vorhänge in Zugluft. Mit einem Kopfnicken der Befriedigung richtete er sich auf und trat vor das Stehpult zwischen den Fenstern nach dem Opernplatz. Im Lichtkreis der hohen Lampe mit runder Glasglocke suchte er mit Fingern wie Augen ohne zu finden und ging schnell zum Schreibtisch beim Fenster nach den Linden. Unter der anderen Lampe mit grünem Schirm lag dort ein Päckchen Briefe und obenauf ein Telegramm, das er aufriss und zum Lesen in das Licht hielt. Seine Hand tastete nach einem Bleistift. Noch im Stehen schrieb er eine Notiz auf das Blatt und schien zu sinnen. Die Augen suchten Winterfeld, während die Lippen murmelten, aber nicht sprachen. Er war ein Schweiger, der Leid und Freude nur den Allernächsten offenbarte. Was ihn bewegte, gab er niemals den Begleitern und stets nur den durch ihr Amt Berufenen kund.

Nach dem Falten der Depesche griff er zu den Briefen und einem Papiermesser. Im Stehen schnitt er mit dem kleinen Stahldegen sorgsam am Kniff entlang. Das Papier durfte nicht reissen, weil er empfangene Kuverts oft mit der Antwort abschickte, nachdem die Aufschrift „An Seine Majestät“ in „Von Seiner Majestät“ geändert war.

Beim Lesen des letzten Briefes schüttelte er den Kopf. Doch eilige Antwort heischte kein Schreiben, denn er hob die Augen. „Ich danke, Major von Winterfeld!“

Nach der Verbeugung schloss der Flügeladjutant sacht und behutsam die Tür. Ein Knarren des Holzes oder Schnappen des Schlosses hätte ihm weh getan. Allabendlich schied er mit einem Gefühl fast schmerzender Rührung von dem ehrwürdigen Herrn, der auch nach dem längsten und schwersten Tag noch am Schreibtisch niedersass. Allerdings war die Zähigkeit seiner Natur erstaunlich. Der hohe Siebziger schlummerte sieben oder acht volle Stunden, auch wenn er lange nach Mitternacht zur Ruhe ging, und konnte eine Arbeitspause von zehn Minuten zum Schlafen nützen.

Der Kaiser liess sich im Stuhl vor dem Schreibtisch am Eckfenster nieder. Die Gedanken waren noch beim Dienst des Abends ... exzellent, wirklich scharmant war der Hofball ... Gesprochen hatte er mit Putbus ... Molk ... Gräfin Harrach ... Werner, dem er wieder sitzen sollte ... Nein, den Hermelinmantel liess er sich nicht aufreden! ... Auch von Augusta nicht ... Der König von Preussen ging nicht als Baalspriester verkleidet ... Mit wem noch? ... Ah ... Gräfin Schleinitz hatte eine Anerkennung für ihren Schützling Wagner gefordert ... Da war eine Notiz zu machen.

Das zum Schreibblock geschrägte Marmortäfelchen lag zwischen Bronzen, Briefbeschwerern und Standbildern, den Andenken eines langen Lebens. Die untere Hälfte fand er beschrieben. Auf der oberen klebte seit fünfundzwanzig Jahren ein vergilbtes Zeitungsblättchen, das der naive Militärschriftsteller Schneider ihm Anno achtundvierzig nach London nachgeschickt hatte. Durch das dünne Papier schlug längst der braune Leim in die Verse: „Prinz von Preussen ritterlich und bieder ...“ Er setzte den Namen Wagner auf den Marmor und nahm die Briefe zur Hand. Wie immer schrieb er beim Lesen gleich mit der Bleifeder auf der Bogen freien Rand. Das Schreiben Moltkes hielt er unter die Augen. Der Feldmarschall hatte beim letzten Immediatvortrag eine Änderung für das Examen von Anwärtern auf die Kriegsakademie vorgeschlagen und blieb der Ansicht, dass eine mündliche Prüfung mehr Einblick in das Wissen eines Kandidaten als eine schriftliche gestatte, denn die Denkschrift sagte: „Einen Aufsatz kann der Prüfling aus Büchern zusammentragen!“—Richtig, nickte der Kaiser und schrieb daneben: „Das will ich ja gerade! Meine Offiziere sollen Bücher studieren. Bei mündlicher Prüfung profitiert oft weniger die Kenntnis als eine intelligenz, die sich nicht verblüffen lässt, beim nächsten Vortrag darauf zurückkommen! W.“

Als er den letzten Brief aus dem grossen Umschlag des Auswärtigen Amts nahm, sah er auf die Stutzuhr. Mitternacht war schon vorüber. Doch las er noch den von Bismarck bereits angekündigten Bericht. Der Gesandte in Madrid sollte beweisen, dass des Grafen Arnim Wirken als Botschafter in Paris die Reichspolitik sogar in Spanien schädige.

Arnim schien wirklich eigenmächtig, aber darum doch kein „leichtfertiger Intrigant“. Nicht nur des Kanzlers leidenschaftlicher Ausdruck weckte ein bitteres Lächeln. Arnims Versuche, in Frankreich das Königtum zu retablieren und dem Deutschen Reich zu verbünden, begegneten einem Herzenswunsch der Kaiserin. Ihrem Schützling zürnte Bismarck mehr als dem unbotmässigen Diplomaten. Der Kanzler bestritt der Königin das Recht, ihrem Mann von Politik zu sprechen. Versuchte nicht jede kluge Frau ihren Gatten in seinem Beruf zu beraten, und durfte der König nicht wie aller Untertanen Meinung auch die seiner Frau hören? Er nahm einen Briefbogen aus dem Körbchen von Silberdraht und schrieb:

„Mein lieber Fürst!

Ich kann mich auch nach Lektüre des Berichts aus Madrid nicht entschliessen, den Botschafter Graf Arnim abzurufen. Ersuchen Sie ihn aber in meinem Namen, künftig die Direktiven seiner vorgesetzten Behörde auf das penibelste zu befolgen.

Der Hofball war ein voller succès. Trotzdem könnte ich Sie um Ihre wahrscheinlich willkommene Erkältung fast beneiden! Mit teilnahmsvollen Wünschen für baldige Wiederherstellung

Ihr dankbarer KönigWilhelm.“

Dann zog er Schlüssel aus der Tasche und legte die Papiere in das Schreibtischfach, aus dem er sein Tagebuch nahm. Als er die Feder ansetzte, trat der Kammerdiener Scholz ein. „Majestät, Exzellenz von Lauer wartet noch!“ Die Stimme des Alten war dünn und leise.

Der Kaiser schien wirklich zu erschrecken und stand auf. „Wie ist das möglich? Da muss ich mich sofort entschuldigen!“

Scholz öffnete die Tür, vor der Lauer gewartet hatte. Der Kaiser trat ihm entgegen. „Mein lieber Herr Doktor, Verzeihung, dass ich nicht mehr an Sie dachte. Gehen Sie bitte sofort! Ich fühle mich wohl!“

Der Generalarzt neigte sich über die ihm gebotene Hand, aber griff schnell nach dem Puls hinauf. Der alte Herr lächelte nachsichtig und kam den täglichen Fragen zuvor: „Appetit hervorragend! Ich denke exzellent zu schlafen!“

„Hoffentlich bald, Majestät!“

Der Kaiser machte seine Hand frei. „Wenn Sie noch eine Konversation beginnen, kommen wir beide um die Ruhe. Gute Nacht, lieber Lauer!“

Draussen fasste der Leibarzt den alten Kammerdiener beim Vorstoss des schwarzen Livreerocks. „Scholz, Sie müssen Majestät zu Bett schicken!“

Verlegenes Staunen rötete das welke Gesicht ohne Bart. „Da käm’ ich schön an, Exzellenz!“

Lauer sah ihm ernst in die Augen. „Wenn’s nur hilft, Alterchen!“ Sein Blick fügte hinzu: Was gäben und täten wir nicht für ihn? Da nickte Scholz. „Ich riskier’s!“ Doch sein tiefes Atmen klang wie Stöhnen. Nach einer Viertelstunde wagte er sich in das Eckzimmer. Der Kaiser schrieb in seinem schwarzen Buch wie seit vierzig Jahren Abend für Abend. Die Lampe warf mildes Licht auf sein gütiges Antlitz, das heute froh lächelte. Oft aber schien er bekümmert oder bewegt. Dann lagen Furchen von Schwermut oder Sorge auf der Stirn. Auch Wasser blinkte wohl gar in seinen Augen. Er wiegte den Kopf oder nickte, als rede er mit sich in Freude oder Leid, als streite oder ringe er und gehe mit seinem Gewissen zu Rate.

Scholz schürte das Feuer und räusperte sich, als der Kaiser nicht aufsah. Der Herr drehte den Kopf. „Ich habe doch nicht geklingelt!“

„Mir war so, Majestät!“

Der Kaiser setzte die Feder ab. „Also lassen auch die Ohren nach! Kein Wunder! Ist nun auch ein halbes Jahrhundert her!“

Scholz reckte den Kopf. „Sechsundvierzig Jahre dien’ ich Eurer Majestät!“

Der Kaiser lächelte. „Aber die Kriegsjahre zählen doppelt, und wir haben viele hinter uns!“

Seine Frohlaune war nachdenklichem Ernst gewichen. Scholz hoffte, ihn wieder aufzuheitern: „Ist aber alles gut ausgekommen, Majestät! Wenn sie jetzt mittags unten vorm Fenster zusammenlaufen ...“

Des Kaisers Hand gebot Schweigen. Er nickte zwar, aber zuckte auch die Achseln. „Hat nur etwas lange gedauert, guter Scholz!“ Wehmut trübte das jetzt müde und alte Gesicht, das mit dem Kinn gegen die weisse Weste sank. Da fasste Scholz Mut. „Majestät müssen schlafen!“

Der Kaiser stutzte. Sein staunender Blick suchte das Fenster, das Stehpult, dann wieder Scholz, und von den Lippen brach ein wieder heiteres Lachen, als er mit dem Finger drohte. „Eine Verschwörung mit Exzellenz von Lauer?“

„Nein, Majestät. Ist nur Zeit!“

Der alte Herr nickte. „Du siehst allerdings müde aus! Wie wär’s mit dem Häuschen bei Potsdam?“

Der Kammerdiener stand straff. „Brauch’ noch keine Ruhe! Wenn Majestät erlauben, dien’ ich weiter bis ...“

Er schwieg, denn wer wollte prophezeien, ob Herr oder Diener als erster die Augen schloss? Der Kaiser hatte keine andere Antwort als die oft aus manchem Mund gehörte erwartet. „Dein Gesicht würde mir auch fehlen, Alter! Aber ich hoffe die Avantgarde zu nehmen, damit du nicht ganz um deine Ruhetage kommst! Auch wollen wir dir künftig den Dienst leichter machen.“ Zu geheimnisvollem Flüstern senkte er in der tiefen Nachtstille seine Stimme: „Du schläfst nachts doch noch neben meinem Schlafzimmer?“

Scholz bestätigte: „Im Lehnstuhl, wie Herr Leibarzt befohlen hat, Majestät!“

Der Kaiser runzelte die Stirn. „War mir nie angenehm! Aufhören. Bett schlafen. Nicht nachts herumsitzen!“

Scholz horchte auf. Der alte Herr schien ärgerlich, denn nur dann sprach er in den kurzen Sätzen seines Vaters und schlug auch den Zeigefinger nach rechts. Doch gleich flüsterte er wieder freundlich: „Der Herr Generalarzt erfährt natürlich nicht, dass auch wir uns verschwören können! Du wartest künftig, bis die Lakaien zu Bett gehen, und schleichst dann nach oben in deine Schlafstube!“

Scholz schüttelte den Kopf. „Darf ich nicht, Majestät! Muss jemand zur Hand sein, wenn nachts was passiert, und bei sechs Stunden Dienst und tagsüber frei, kann ich im Lehnstuhl schlafen!“

Der Kaiser beugte sich über sein Buch. „Scholz, wer befiehlt hier?“

Der Kammerdiener schwieg. Sein Herr hörte jeden Widerspruch mit Geduld, aber forderte Gehorsam, wenn er entschieden hatte. Auch teilten sie nicht das erste Geheimnis. In der Stille der Abende und gerade nach der Heimkehr von frohen Festen hielt der Kaiser wohl plötzlich beim Ablegen der Galauniform inne und sann still oder sprach gar von alten Zeiten. Starr wie im Träumen hatten seine blauen Augen geblickt, als er am Abend nach dem letzten feierlichen Siegeseinzug auf die glitzernden Kriegsorden am eben abgelegten Generalsrock sah und mit gespenstisch leiser Stimme fragte: „Denkst du noch an die Nacht in der Zitadelle von Spandau, vor der Reise nach England?“

Scholz hatte beruhigt: „Ist doch alles anders geworden, Majestät!“ Der Kaiser zuckte die Achseln und meinte, es habe nur zu lange gedauert. Dabei irrten seine Augen zum Fenster, als sähen sie noch die nach seinem Kopf johlende Menge des tollen Jahres.

Selten freilich und nur unter vier Augen öffnete er sein Herz. Dann aber sprach Mann zum Mann, ohne das gnädige Spötteln anderer Herren. Seine guten Augen schienen im Diener den Menschen oder vielleicht gar Freund zu suchen.

Jetzt klappte er sein Buch zu. Als sorgsamer Hausvater räumte er den Schreibtisch auf und ging durch die Bibliothek, seinem Schlafzimmer zu. Scholz nahm die Lampe vom Stehpult und hielt sie beim Nachschreiten hinter des Kaisers Kopf, damit das Licht über die Schultern vor seine Füsse fiel. Also lag das schmale Stübchen beim Öffnen der Tür gleich hell. In der Nische zur Linken stand das eiserne Bett und eine Kerze auf dem Nachttisch, der einfach wie der eigene oben in der Dienerstube war. Der Kaiser trat vor den Waschtisch zwischen zwei breiten Kleiderschränken an der Wand gegenüber. Bald setzte er sich neben dem Bett in den vom Kronprinzen beim Erlernen des Handwerks getischlerten Armstuhl von rohem Holz. Scholz öffnete die Stege seiner Beinkleider und zog die Stiefel ab. Als er ein brennendes Streichholz an den Docht der Wachskerze hielt, sagte der Kaiser: „Gute Nacht, Alter!“

„Gute Ruhe, Majestät!“

Er nahm die Lampe und liess den Herrn allein, aber lauschte nebenan in der Bibliothek noch an der Tür. Kaum zehn Minuten später hörte er das Atmen tiefen Schlafens. Der Kaiser war bald achtzig, aber, wie der Leibarzt sagte, ein Liebling auch der Götter. —

2.

Am Mittag nach dem Ball gingen Heistenberg und Ollich vom alten grauen Kadettenhaus in Sonntagslaune durch die Friedrichstrasse den Linden zu. Der verschneite Fahrdamm glitzerte unter Sonnenlachen. Seine weisse Decke dämpfte das Rollen der Räder von zwei Wagenketten. Gegen die Fensterscheiben der Equipagen und Droschken erster Klasse neigten sich die Helme oder Zylinder von Herren, die mit und ohne Damen nach der Kirche, zu Besuchen in Hotels der Friedrichstadt fuhren. Hofgesellschaft und Landadel tauschten die Visiten der Galatage. Festfreude lachte wie der frostklare Himmel auch auf dem Bürgersteig. Die trödelnden Massen nahmen sich Zeit zum Schauen. Kaum fanden die Kadetten einen Weg durch das Drängen. Um drei Arm in Arm schlendernde Frauen traten sie gerade auf den Damm, als ein Major in Gesellschaftsanzug mit Epauletten und Helm prüfende Augen nach ihnen drehte. Beim Dank für ihren Gruss hob er den Zeigefinger nur zu Schulterhöhe. Wahrscheinlich stand er im dritten Korps. Prinz Friedrich Karl, der frühere kommandierende General der Brandenburger, konnte seit der Verwundung bei Waghäusel die Hand nicht mehr an Helm oder Mütze legen, und sein Gruss machte Schule. Noch im Weitergehen fühlte Hans den strengen Blick des Majors, der hinter ihm mit barscher Stimme „die Unteroffiziere!“ rief.

„Herr Oberstwachtmeister!“ Sie machten kehrt und schlugen die Absätze zusammen. Neugierige sammelten sich und spöttelten im Ahnen einer Rüge. Wilhelms Offiziere hielten auf Ordnung. Darum hatte die Armee den Danske, die Weissröcke und Rothosen geschlagen. Der Major scheute sich nicht die Stimme zu heben. Sein Finger drohte dem dunkelhaarigen Kadetten. „Komm’ ich nach Berlin, damit Sie mir die Urlaubslaune verderben? Die Halsbinde rutscht Ihnen ja über die Ohren. Drei Millimeter, aber nicht einen halben mehr oder weniger soll sie aus dem Kragen reichen. Unglaublich, dass ein Portepeeunteroffizier am hellen lichten Sonntagmittag halbnackt wie ein Wilder durch die Strassen tobt! Bringen Sie Ihren Anzug in Ordnung!“

Während die Gaffer laut lachten, nestelte Ollich mit heissrotem Gesicht am Kragen. Der Stabsoffizier trat hinter ihn. „Auch der Scheitel sieht zu weit unter dem Mützenrand vor. Soll Sie wohl zu Ihrem Herrn Oberst schicken!“

Heistenberg verbarg ein Schmunzeln. Der Major wusste im grauen Heim der Kadetten Bescheid. Ihr Kommandeur, „Oberst von Laue mit der eisernen Klaue“, litt die langen Scheitel nicht und tippte mit dem Zeigefinger oft auf die Hinterköpfe Eitler. Das schmerzte, weil er seit der Verwundung bei Königgrätz eine Eisenhand trug.

Die Kadetten standen wieder still, und der Major brummte: „Weitergehen!“ Die schmunzelnden Zuschauer gaben den Weg frei. „Bravo, Herr Major“, lachte ein Naseweis.

Ollich schüttelte sich, als fröstele ihn unter dem schwarzen Mantel. „Brr! Steht auch in Schrimm! Heisst Kottnitz und hat’s dritte Bataillon. Wenn Gott will und Albedyll, kriegt er dich nach Königs Geburtstag in die Finger!“

Die Frage, ob er den Major kenne, verneinte Ollich. Viele Offiziere, aber auch Kadetten der Zeit studierten die Rangliste, bis sie die Ehrenzeichen jedes Generals, Stabsoffiziers oder gar Hauptmanns nennen konnten. Die Regimentsnummer auf der Schulter und die Orden auf der Brust sagten ihnen, wer der Träger war.