Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Welt steht vor einem globalen Konflikt – und der letzte Schritt scheint kurz bevorzustehen. Ein Überläufer aus dem von Zeitreisenden kontrollierten Baekye bringt Kunde eines drohenden Angriffes, der endgültig alle großen Imperien in den Mahlstrom eines Weltkrieges zu zerren droht. Während man sich fieberhaft mit neuen Waffentechnologien befasst, scheint die Idee eines Friedens in weite Ferne zu rücken. Doch auch das monolithisch erscheinende Baekye zeigt erste Risse: eine Widerstandsbewegung beginnt, sich im Zentrum der Macht einzunisten. Globale Ereignisse laufen aus verschiedenen Richtungen zusammen: ein römischer Zenturio in Persien ist plötzlich mehr als nur ein Beobachter, ein römischer Botschafter in China erleidet ein schweres Schicksal, zwei Reisende jagen durch Raum und Zeit und ein Mann des Widerstands wird mehr manipuliert, als er sich anfangs bewusst ist. Sie alle sind Figuren auf einem Spielfeld, dessen Regeln zumindest am Anfang niemand zu begreifen in der Lage ist. Nur eines scheint unaufhaltsam zu sein: es wird Flammen über Persien geben.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 407
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
Personenverzeichnis
Weitere Atlantis-Titel
Pāygān-sālār Jawed war noch am Leben, er atmete schwer und betete wahrscheinlich bereits zu seinen Göttern. Zenturio Marcus Sempronius Metellus hatte nicht die Absicht, seinen Kameraden sofort aufzugeben und alles höheren Mächten zu überlassen – nicht, solange er hier war. Er drückte mit beiden Händen auf die Wunde. Die Blutung ließ nach, als er die Schlagader im Becken fand und abpresste. Die Blutung stoppte dann fast vollständig und er starrte Jawed in die Augen, die verschleiert wirkten. Der Schock, so hatte man ihm bei der obligatorischen Sanitätsausbildung auf der imperialen Akademie beigebracht, und er hatte oft genug miterlebt, was das bedeutete. Jawed war jemand, dessen Leben er schätzte. Der Offizier hatte mit ihm in den letzten drei Monaten die persische Ostgrenze bewacht, jederzeit in Erwartung eines Angriffes. Er war kein Freund. Metellus hatte eher wenig Freunde. Jawed kam aber einem am nächsten.
Es gab diese Scharmützel. Es gab Verletzte. Noch wurde nicht richtig gekämpft. Es war ein Abtasten vor dem großen Angriff, wann auch immer der kommen mochte. Und Pāygān-sālār Jawed war nun zu einem Opfer dieses Abtastens geworden. Metellus kontrollierte seine Wut, konzentrierte sich. Die Befehle waren eindeutig: nicht provozieren lassen, sich nur verteidigen, alles melden, sich vor einer Übermacht zurückziehen. Das war vernünftig. Die Instinkte des Zenturios aber sagten etwas anderes.
»Herr, die Angreifer haben sich zurückgezogen!« Ein persischer Soldat meldete direkt einem römischen Offizier. Vor Jahren ein unmöglicher, ein undenkbarer Vorgang, doch Metellus, der keine Mühen gescheut hatte, die zum Glück recht logische Sprache der neuen Verbündeten Roms zu lernen, hatte sich angepasst.
»Wo ist der Arzt?«, fragte er.
»Draußen. Er versorgt …«
»Blutet dort jemand zu Tode?«
»Ich frage nach.«
Das kleine Grenzfort bot kaum 40 Mann Platz und es war ein willkommenes Ziel gewesen für eine starke Baekye-Patrouille, bewaffnet mit Gewehren. Ein Angriff aus der Ferne, der relativen Sicherheit einer guten Deckung, wohl wissend, dass weder Perser noch Römer die Erlaubnis hatten, auf die andere Seite vorzudringen, um eine passende Antwort zu geben.
Wut, da war sie wieder. Verdammt! Seit Imperator Haraldus tot war, ging alles den Bach runter. Es gab diese Momente, in denen rang Metellus um seine Selbstdisziplin. Er war Soldat. Dort war der Feind. Und sie saßen hier und ließen es zu, dass die engsten Verbündeten aus der Ferne niedergeschossen wurden, und durften nichts tun.
»Sie drücken auf die Arterie?«
Der Medicus kam an, erschöpft, voller Blutspritzer. Er schaute auf Jawed, dessen Augen ihren Fokus verloren hatten. Cornelius war ein alter Mann, stand am Ende seiner Dienstzeit und hatte sich, des Wahnsinns fette Beute, freiwillig zur gemeinsamen Grenzwache mit den Persern gemeldet. Wollte es noch einmal wissen, sich beweisen, etwas tun, bis er nicht mehr konnte oder man ihn nicht mehr haben wollte.
Das hatte er nun davon.
»Ja.«
»Bleiben Sie so. Auf den Tisch mit ihm. Wo ist mein Assistent?«
Männer kamen herein, schleppten Verwundete, manche mit Bandagen. Keinen hatte es so schwer erwischt wie den persischen Kommandanten, der zur falschen Zeit an der falschen Stelle des kleinen Wachturms gestanden hatte. Schicksal. Hinterhalt. Heimtücke.
Feigheit, dachte Metellus. Die des Feindes und die der eigenen Anführer.
Cornelius machte sich an die Arbeit. Die Medizin hatte fantastische Fortschritte gemacht. Früher wäre so eine Verwundung tödlich gewesen, früher waren die Felddoktoren lediglich bessere Metzger gewesen. Jetzt aber gab es die Neumann-Akademien im ganzen Imperium und eine, neu eröffnet, in Persepolis. Jetzt gab es Leute wie Cornelius, die Leute wie Jawed zusammenflickten, damit sie wieder auf Wachtürme klettern und aus der Ferne abgeknallt werden konnten wie ein Rehbock.
Die Wut. Metellus knirschte mit den Zähnen. Diese Regung lag in seinem Blut, in dem seines Vaters, seines Großvaters: gewalttätige Männer, die es nie geschafft hatten, sich zu beherrschen. Er war zur Armee gegangen, aus Angst davor, so zu werden wie sie. Doch die Anlage war da, der Fluch seiner Familie, und er drückte in seinem Zorn auf die Arterie, bis Cornelius’ Assistenz diese Pflicht übernahm und er für die Operation nicht mehr gebraucht wurde.
Nicht mehr gebraucht.
Er suchte nach heißem Wasser, wusch sich das Blut des Persers ab. Hörte Meldungen. Jaweds Stellvertreter war kein Idiot, er tat, was zu tun war, intelligent, ruhig, ein Mann, auf den man bauen konnte. Alle ließen Metellus das Blut abwaschen, keiner sprach ihn an. Der Römer merkte nicht, dass der eigentliche Grund seine von wildem Hass verzerrte Fratze war, ein Gesichtsausdruck, der allen, selbst den Hartgesottenen, Angst einflößte.
Dann trat er aus dem kleinen Gebäude ins Freie. Die Lage hatte sich beruhigt, aber alle Soldaten verharrten noch in Deckung. Der dritte Römer in diesem Grenzabschnitt, Hans Lucretius, kam auf ihn zu. Der Mann war seit zehn Jahren bei den Legionen, trug den Rang eines immunes und war vor allem deswegen für den Dienst ausgewählt worden, weil er aufgrund seiner Verwandtschaftsverhältnisse leidlich Persisch sprach. Dass sein Vater ihm aus Ergebenheit gegenüber dem Erbe der Zeitenwanderer einen Vornamen gegeben hatte, der mit Persien eher wenig zu tun hatte, war nur auf den ersten Blick überraschend. Das Römische Reich war und blieb ein Völkergemisch und die enge Kooperation mit Persien, das selbst viele Völkerschaften unter seiner Herrschaft vereinte, intensivierte diese Tendenz nur noch. Von der endlosen Schlange an Flüchtlingen, die aus dem nunmehr unter der Kontrolle Baekyes stehenden Indien nach Westen strömte, einmal ganz zu schweigen. Tatsächlich hatten die Grenzsoldaten mehr damit zu tun, die ankommenden Kriegsflüchtlinge in jene Regionen zu verweisen, wo sie Aufnahme fanden, anstatt die Grenze im engeren Sinne zu schützen.
Die großen, fatalen Fehler des Römischen Reiches zu Beginn der Völkerwanderung, das Versagen im Umgang mit den Goten, hatte dazu geführt, dass man diesmal gelernt hatte. Die Menschen aus dem indischen Subkontinent, Überlebende zerschlagener und einst mächtiger Großreiche, waren nur dann eine Gefahr, wenn man sie als solche behandelte. Tatsächlich meldeten sich viele, vor allem ehemalige Soldaten, nach kurzer Zeit freiwillig in den Militärdienst. Sie wurden gerne genommen. Erfahrungen mit einem Feind, der bisher nur aus der Ferne angriff, waren wertvoll.
»Hast du den Angriff gemeldet?«, fragte Metellus und sein Untergebener nickte.
»Ich habe sofort telegrafiert. Persepolis dürfte schon Bescheid wissen und Rom spätestens in einer Stunde.« Die größte technologische Anstrengung der letzten drei Jahre – neben der Bahnstrecke, die aus dem Imperium direkt nach Persepolis führte – war das Aufstellen der Telegrafenmasten gewesen. Die Grenzstationen damit zu verbinden, hatte einen immensen Aufwand bedeutet, aber wenn die Kommandeure der Großen Allianz, wie das Bündnis aus Rom, Aksum, Teotihuacán und Persien nunmehr genannt wurde, eines gelernt hatten, dann dies: In einem den Globus umspannenden Krieg waren Informationen alles und ohne Informationen war alles nichts. Die richtige Nachricht zur richtigen Zeit war wertvoller als zehn Legionen und die größten Kanonen und konnte über das Schicksal ganzer Nationen entscheiden. Also waren dies die Projekte gewesen, die man als Erstes angegangen war: Infrastruktur und Kommunikation.
Metellus befürwortete das. Er war ein vernünftiger, ein gebildeter Mann. Er war aber auch der Ansicht, dass es nach all den wunderbaren Informationen langsam Zeit für die Legionen und die Kanonen wurde. Er war mit dieser Ansicht gewiss nicht alleine, doch die vom Zorn genährte Ungeduld loderte in diesem Zenturio mit besonderer Intensität. Es war gut, dass er kein General war. Er hoffte, niemand kam je auf die Idee, ihn noch weiter zu befördern.
»Sag mir Bescheid, wenn es eine Antwort gibt.«
»Was für eine Antwort erwartet Ihr, großer Zenturio?«
Es gab einen guten Grund dafür, warum Hans Lucretius trotz seiner unbestreitbaren Talente niemals über den aktuellen Dienstgrad hinaus befördert worden war. Seine Vorgesetzten schwankten stets darin, ihn zu loben und seine Leistungen anzuerkennen und ihn für Wochen in eine Zelle zu sperren oder ordentlich verprügeln zu lassen. Letzteres war nach Abschaffung der Prügelstrafe nur noch möglich, wenn niemand zu genau hinsah, aber der Legionär hatte es sich mit seinem losen Mundwerk und seiner ironischen Art schon bei vielen verscherzt. Bei Metellus hatte er gute Karten, da dieser seine Händel selbst ausfocht und seine Beliebtheit höheren Ortes nicht zuletzt aufgrund seiner beständigen Eingaben, endlich diesen Krieg zum Feind zu tragen, begrenzt war.
»Ich erwarte gar nichts«, knurrte der Zenturio also nur. »Das übliche Gewinsel. Und ein Versprechen auf baldige Ablösung. Ich will keine verdammte Ablösung. Ich will die Dampfwagen bemannen, die Kanonen laden und die feigen Arschlöcher da drüben ausräuchern, bis sie ihre eigenen Kugeln fressen.«
Das war nur halb metaphorisch gemeint. Weiterhin war es schwierig, Kriegsgefangene zu nehmen, denn die Soldaten aus Baekye hatten die unangenehme Angewohnheit, sich lieber selbst zu töten, als dies geschehen zu lassen. Jene, die man festsetzte, erwiesen sich als schweigsam, störrisch und jederzeit bereit, ihre Häscher anzugreifen. Man musste ihren Mut und ihre Entschlossenheit bewundern und irgendwo in Metellus gab es eine solche Regung auch. Er war gar nicht darauf erpicht, sie alle festzunehmen. Er wollte vor allem eines: sie für das bestrafen, was sie taten. Nein, wenn er ehrlich war, lag der Grund für seine Absichten etwas tiefer. Er wollte seine Wut ausleben, er wollte dem Feind Gewalt antun, und das bis zur Selbstaufgabe.
Metellus wusste, dass dieser Drang ihm einst zum Verhängnis werden würde.
Er stand oft genug nahe am Abgrund und erkannte, wie dieser ihn anstarrte, mit der Verlockung, die sein Ende sein konnte. Er trat oft genug einen Schritt zurück, ließ die Selbstdisziplin obsiegen. Aber er wusste, dass die Verlockung niemals nachließ und er ihr mit Freuden nachgeben würde, wenn seine Befehle dies rechtfertigten.
Deswegen wollte er diese Befehle unbedingt. Deswegen war er so frustriert, weil sie nicht kamen.
»Herr, da tut sich was!«
Metellus fuhr aus seinen Gedanken hoch. Gewaltfantasien oder nicht, wenn die Pflicht rief, war er ganz da, schob die Emotionen beiseite, die ihn eben noch gebeutelt hatten. Jawed war außer Gefecht gesetzt, und obgleich er einen Stellvertreter hatte, war Metellus der Offizier mit der höchsten Seniorität, und die Kooperation zwischen Rom und Persien war in den letzten drei Jahren so eng geworden, dass die Kompetenzen sich mehr und mehr verschränkten. Das sofort begonnene Offiziersaustauschprogramm hatte schneller Früchte getragen als von seinen Kritikern erwartet.
Und so machte der persische Soldat erneut ihm Meldung. Er trug die eiserne Brustplatte eines Unsterblichen, der Elitetruppe des persischen Königs, die hier wie anderswo mit der Grenzsicherung beauftragt worden war. Eine bewusste Entscheidung, den Besten die schwere Aufgabe zu überantworten, im Falle des erwarteten Angriffes die Last der unmittelbaren Verteidigung aufzubürden.
»Was gibt es?«
»Bewegung aus Richtung des Feindes.«
Metellus war so schnell an der Balustrade, dass er gar nicht bewusst wahrnahm, wie er die hölzerne Leiter emporglitt und Deckung nahm. Jemand reichte ihm ein Fernrohr – mittlerweile auch aus persischer Produktion, da die hiesigen Glasbläser sich als äußerst talentiert erwiesen hatten – und er schaute in die angegebene Richtung.
»Da rennt einer«, murmelte er. »Ein Mann.«
»Er trägt die Uniform des Feindes«, hörte er den Soldaten neben sich sagen, ebenfalls mit einem Fernrohr bewaffnet.
»Das stimmt. Es gibt keine Überläufer unter den Männern aus Baekye.«
»Zumindest keinen, der lange genug gelebt hätte«, ergänzte der Soldat. Er senkte das Fernrohr. »Die Chinesen sagen, dass es durchaus Deserteure gäbe. Nur waren die schon tot, als man sie fand.«
»Wie weit hat er noch?«
»Einen Kilometer. Falls er vorher nicht erschossen wird.«
»Er hat einen guten Zeitpunkt gewählt, das muss man ihm lassen.«
Metellus runzelte die Stirn. Die mobilen Scharfschützen des Feindes hatten die Angewohnheit, sofort nach einem erfolgreichen Angriff die Position zu wechseln, um keinerlei Angriffsfläche für eventuelle Gegenreaktionen zu bekommen – wohl in der Unkenntnis über die Befehlslage, die den Grenztruppen so die Hände band. Das hieß, dass der Überläufer … wenn er denn einer war … exakt den richtigen Moment abgewartet hatte.
Er kannte sich aus.
Er baute darauf, dass der Tod einiger Perser ausreichend war, um sein eigenes Überleben zu sichern.
Das war wieder so eine Vorgehensweise, die Metellus wütend machte. Er kämpfte den Zorn nieder, er führte in dieser Situation zu nichts. Wenn es sich tatsächlich um die einmalige Chance handelte, einen Deserteur aufzunehmen, dann musste er sie nutzen, und machte er einen Fehler, würden seine Vorgesetzten dafür herzlich wenig Verständnis aufbringen.
»Schickt ihm eine Patrouille entgegen. Mit dem gepanzerten Dampfwagen.«
»Aber.«
»Los jetzt! Nehme ich auf meine Kappe. Sag einfach, der verrückte Römer habe es befohlen. Außerdem ist es ein römischer Dampfwagen. Ich habe quasi unmittelbare Befehlsgewalt.«
Das war natürlich ausgesprochener Blödsinn. Aber es half dem Perser, dem Befehl Folge zu leisten. Der große Dampfwagen stand ständig unter Dampf und es brauchte nicht lange, um das schnaufende Monstrum zu bemannen und auf den Weg zu schicken.
Das Tor des kleinen Kastells öffnete sich.
Wenn Jawed erwachte und wieder bei Sinnen war, würde er, mit etwas Glück, persönlich begutachten dürfen, wofür er geblutet hatte und beinahe gestorben war.
Metellus ballte die Hände zu Fäusten.
Hoffentlich war es die Sache wert!
»Die Zeichen sind unverkennbar.«
Huan Xuan, ehemaliger kaiserlicher Gesandter nach Mittelamerika und im Regelfall ein affektiertes Arschloch, hielt sich bei diesen Worten ein parfümiertes Tüchlein vor die Nase, als könne er den Gestank dräuenden Unheils dadurch von seiner feinfühligen Nase fernhalten. Es half gewiss, die möglicherweise unangenehmen Körperausdünstungen von Latinus zu überdecken, der nach einer viertägigen Reise zu Pferd und in einer Kutsche an den kaiserlichen Hof zurückgekehrt war, um seine eigenen Erkenntnisse mit dem zu teilen, was man mit etwas gutem Willen als imperialen Krisenstab bezeichnen konnte. Seit dem Tode von Erzkanzler Yu im letzten Jahr war der Vorsitz dieses Gremiums an den neuen Erzkanzler gefallen, besagten Huan Xuan, dessen Verdienste bei den Maya, seine hervorragenden familiären Beziehungen sowie machtpolitische Rücksichtlosigkeit dazu geführt hatten, vom Kaiser auf diese erlauchte Position berufen worden zu sein.
Außerdem roch er immer gut. Wer wusste schon, wie wichtig das hier tatsächlich war?
Latinus war sich nicht sicher, ob das eine gute Entscheidung gewesen war. Xuan war ein kluger Mann. Er hatte unbestreitbar seine Qualitäten. Er war aber als Mensch nur schwer zu ertragen und seine Arroganz hatte sich eher verschlimmert, soweit Latinus das zu bewerten imstande war.
Es änderte nichts daran, dass er mit ihm zusammenarbeiten musste. Seine eigene Stellung als Botschafter Roms erlaubte ihm allerdings, so manches zu sagen, was sich die Unterlinge bei Hof nicht trauten. Er machte von dieser Möglichkeit aber nur sehr selten Gebrauch. Es half nicht, es sich mit wichtigen Leuten zu verscherzen.
Huan Xuan hielt sich für sehr wichtig.
Bedauerlicherweise entsprach diese Selbstsicht durchaus der Realität.
»Die Zeichen sind unverkennbar«, bekräftigte der Erzkanzler. Er stand neben der großen Weltkarte, die in einem Rahmen aufgespannt im Raum stand und auf deren ledriger Oberfläche mit kleinen Nadeln allerlei Stoffstücke und -fäden befestigt worden waren: Garnisonen, Truppenteile, Bewegungspfeile, Grenzlinien, gleichermaßen bestätigte wie angenommene, die strategische Gesamtlage. Auch weit im Westen gab es diese Markierungen. Die Funkverbindung wurde durch mehrere Relaisschiffe aufrechterhalten und ein Frachtdienst war eingerichtet worden, der zwischen den vier Reichen der Allianz verkehrte. Man war einigermaßen über das informiert, was auf der anderen Seite der Welt so passierte. Auch dort waren die Zeichen unverkennbar. Latinus kam nicht umhin, dieser Bewertung zuzustimmen.
Es verursachte eine dauerhafte, leichte Übelkeit bei ihm.
»Die nächste Offensive steht bevor«, bestätigte General Xi, der in etwa das gleiche Alter wie der Erzkanzler hatte und ein professioneller Soldat durch und durch war. Für Latinus etwas spröde, war der neu ernannte Oberbefehlshaber der kombinierten chinesisch-nigerianischen Streitkräfte dennoch weitaus besser zu ertragen als Xuan, vor allem deswegen, weil er nicht grundsätzlich jeden anderen Menschen in seiner Gegenwart für eher minderwertig hielt. Tatsächlich gab es für Xi weitaus einfachere Kategorien: nämlich Freund oder Feind. In beiderlei Hinsicht diskriminierte er nicht. Ob nun die Maya oder die Römer, die Perser oder die Aksumiten an seiner Seite kämpften – das ausschlaggebende Kriterium war »an seiner Seite«. Und wer sich erniedrigte und für Baekye stritt, ob gezwungen oder freiwillig, war es eben nicht. Latinus hatte seine Probleme mit dieser Sichtweise, aber auch hier bemühte er sich um Zurückhaltung. Mit Xi konnte er gut. Es half, den Erzkanzler besser zu ertragen, wenn der Haudegen anwesend war.
»Die Zeichen sind eindeutig«, ließ nun auch Latinus keinen Zweifel an der Einschätzung. Er zeigte auf die Karte. »Die letzten beiden Überwachungsflüge an der persischen Ostgrenze haben Truppenbewegungen hier und hier gezeigt. Nun sind diese Flüge auch schon drei Wochen her. An der Grenze selbst ist noch nichts erkennbar gewesen, vielleicht werden noch letzte Vorbereitungen abgewartet. Aber die Hinweise sind nicht zu übersehen.«
»Es würde auch die relative Ruhe an der chinesischen Front erklären«, sagte Xi nachdenklich. »Die Kämpfe haben sich in eine Art Stellungskrieg verwandelt. Einige meiner Offiziere sagen, dies wäre eine schöne Gelegenheit, selbst in die Offensive zu gehen.«
»Die Idee ist an sich nicht schlecht«, meinte Xuan. »Aber haben wir die Mittel dazu?«
»Nach den beiden letzten verlorenen Schlachten und der anschließenden … Frontbegradigung eher nicht.« Xi sagte es mit großer Fassung, obgleich diese Einschätzung an seinem Selbstwertgefühl nagen musste. Baekye hatte China in der Tat empfindliche Verluste beigebracht. Die chinesischen Streitkräfte mussten sich neu formieren, neue Rekruten ausbilden, neues Material heranschaffen und herstellen. Das erforderte einiges an Zeit und es erforderte mehr als nur Überredungskunst. Die Bevölkerung war der Lasten des langen Krieges müde und diese Müdigkeit machte sich überall bemerkbar. Der Kaiser konnte das eine Weile ignorieren, aber nicht ewig. Selbst eine so absolute Monarchie wie diese war irgendwann an ihren Grenzen angelangt, wenn die eigenen Untertanen nicht mehr mitmachten. Aktuell war die Angst vor der Invasion stark genug, um motivierend zu wirken. Latinus wagte allerdings keine Prognose, wie lange das noch ausreichend sein würde.
Die Stimmung im Volk war schlecht und der Unmut richtete sich in alle Richtungen.
»Das muss die Führung unserer Feinde wissen«, sagte Xuan. »Dort sieht man ein geeignetes Zeitfenster, um einen vermeintlich schwächeren Feind anzugreifen.« Er sah Latinus an. »Ich sagte vermeintlich«, fügte er beinahe als Entschuldigung hinzu.
»Es kann sein, dass diese Einschätzung nicht ganz falsch ist«, gab der Botschafter ungerührt zurück. Dass der Erzkanzler überhaupt bereit war, auf das von ihm verwendete Vokabular hinzuweisen, deutete darauf hin, dass er heute besonders sanftmütig war, eine Phase, die sehr selten zu beobachten war und meist auch schnell verging. »Unsere Armeen sind zwar frisch und motiviert, die Wirtschaft nicht geprägt durch einen langen Krieg und sowohl der persische König wie auch der Imperator mit ausreichend Rückhalt in der Bevölkerung gesegnet, aber technologisch hängen wir hinter Baekye hinterher, weitaus mehr als China. Von unseren tapferen aksumitischen Verbündeten einmal ganz zu schweigen. Die können Soldaten stellen, ausrüsten aber müssen wir diese.«
»Wir helfen, dies auszugleichen.«
»Und diese Hilfe wird von uns mit großer Dankbarkeit entgegengenommen«, betonte Latinus und verneigte sich knapp vor dem Erzkanzler. »Aber die Zeit war kurz und die Aufgaben mannigfaltig. Ich befürchte, dass meine Aussage weiterhin zutreffend ist. Wir sind vorbereitet. Wir sind nicht bereit, aber vorbereitet. Besser kann ich es leider nicht zusammenfassen. Viel wichtiger ist, wie es unseren persischen Freunden ergeht. Wir müssen ihnen unsere neuesten Lageberichte gleich übermitteln.«
»Wir schicken regelmäßig Botschaften, die meisten über die See-Funkbrücke auf Kurzwelle«, sagte der General. »Sie sollten von unseren Befürchtungen informiert sein. Ihr Römer solltet sie auch auf dem Laufenden halten.«
Latinus nickte. Leider war sein Kollege, der römische Botschafter zu Persepolis, nicht für seine übergroße Effektivität bekannt, eine Einschätzung, die er in dieser Runde lieber für sich behielt.
Er sah die anderen abwartend an. Schweigen antwortete ihm und Latinus wusste, dass sie all dies in verschiedenen Variationen bereits durchgesprochen hatten, wenngleich in einer anderen Situation: Damals war der mögliche Angriff im Westen nur eine ferne Idee gewesen, die konkreter geworden war, als die indischen Teilreiche, trotz tapferer Gegenwehr, eines nach dem anderen gefallen waren. Ein großer, ein gigantischer Brocken, den Baekye daher auch gar nicht schluckte. Mit kleinen Vasallenstaaten gespickt, die man sofort geschickt gegeneinander ausgespielt hatte, und einem militärisch direkt kontrollierten Korridor durch Indien hindurch bis zur persischen Ostgrenze hatte Baekye langsam und beharrlich die Voraussetzungen für eine Fortsetzung des Krieges geschaffen.
Warum? Wozu? Die Frage blieb im Grunde unbeantwortet. Die Erklärung mochte in der fanatischen Staatsideologie liegen, die die Zeitreisenden aus der Zukunft importiert und auf ihre eigenen Leute in der Vergangenheit, dieser Gegenwart, oktroyiert hatten. Oder sie lag irgendwo anders. Baekye blieb, trotz aller Bemühungen, ein Enigma und daher auch immer gut für Überraschungen.
»Wir benötigen mehr Informationen«, fasste er dann das Problem in wenige Worte zusammen. Er blickte Xi an, der damit wohl gerechnet hatte. »Wir müssen die Aufklärungsflüge auch von hier aus beginnen. Wie weit sind wir?«
»Die chinesische Luftflotte ist einsatzbereit«, meldete Xi mit Stolz in der Stimme. Dies war ein Feld gewesen, in dem die Römer den Chinesen geholfen hatten, wodurch die Einseitigkeit des andauernden Technologietransfers zumindest ein wenig ausgeglichen worden war.
»Das ist eine gute Nachricht«, bestätigte Latinus. »Dann sollten wir sehen, wie wir zu umfassenden Aufklärungsergebnissen kommen, damit wir eine bessere Entscheidungsgrundlage haben.«
Es gab da einen Elefanten im Raum, den sie alle nicht erwähnten. Aufklärungsflüge hin oder her, das größte Problem war, dass es weder den Chinesen noch sonst jemandem bisher gelungen war, einen Agentenring oder auch nur einen Kreis von Informanten in Baekye zu etablieren, der es ihnen erlauben würde, handfeste Informationen aus dem Inneren des mysteriösen Reiches zu erlangen. Es schien, als gäbe es dort keine Verräter, oder den Experten war es noch nicht gelungen, sie zu finden oder mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Sie hatten viel versucht. Doch bisher ohne Erfolg. Latinus erwähnte es nicht, weil niemand mehr gerne darüber sprach. Denn es war frustrierend, auch nur daran zu denken, was richtig erfolgreiche Geheimdienstarbeit für ihre gemeinsamen Kriegsanstrengungen bedeuten würde, gelänge sie ihnen endlich.
Xuan räusperte sich. Er beendete damit die Diskussion über ein Thema, die sie alle nur in Gedanken geführt hatten, wohl wissend, dass es eines Anlasses bedurfte, zum nächsten überzugehen. Latinus war sich darüber im Klaren, dass das Unausgesprochene zurückkehren musste, allein schon deswegen, weil es immer mal wieder jemanden gab, der etwas dazu sagte. Naiv. Unbekümmert. Vielleicht ein wenig dumm. Solche Leute gab es.
»Wir müssen noch einmal über die Rolle von Teotihuacán reden«, sagte der Erzkanzler nun. »Ich höre eher unangenehme Neuigkeiten von unserem Freund Metzli.«
»Er ist unser Freund«, bestätigte Latinus. »Ist er doch?«
»Er ist vor allem sein eigener Freund«, sagte Xi bitter. »Aber er möchte jetzt auch Luftschiffe.« Der General sah in die Runde. »Was sollen wir ihm sagen?«
»Ist es eine offizielle Anfrage?«, fragte Latinus.
»Noch nicht. Eher ein Vorfühlen. Unsere Botschaft in Mutal hat bereits mehrfach entsprechende Dossiers gefunkt. Ach ja …« Xi verzog das Gesicht. »Kurzwellensender will er auch. Eigene. Mindestens ein Dutzend, für alle wichtigen Städte.«
Latinus unterdrückte ein Seufzen, mehr oder weniger offensichtlich. Metzli wollte so einiges. Es waren keine absurden Forderungen, nichts, was sich nicht logisch aus ihrer Situation ergab. Aber dennoch. Dennoch …
»Ist er bündnistreu? Gibt es Hinweise darauf, dass er mit dem Feind konferiert?«, fragte er dann. Er bekam natürlich seine eigenen Dossiers, aber es schadete nicht, deren Wahrheitsgehalt mit dem abzugleichen, was die Chinesen dachten.
»Es gibt keine offensichtlichen Hinweise«, sagte der Erzkanzler. »Aber er ist gewitzt – nein, verschlagen – und sehr selbstbewusst. Ich habe die größten Befürchtungen. Was werden Sie Ihrem Imperator empfehlen, Latinus?«
»Meine Ansichten sind zweitrangig. Ich werde allein die offizielle Haltung des chinesischen Hofes weitergeben.«
Xuan sah Xi an. »Was ist unsere offizielle Haltung, General?«
Sie fingen an, das Für und Wider abzuwägen. Es wurde eine lange Besprechung und sie kamen zu keinem Ergebnis.
Yun-Suk Choi nahm einen tiefen Schluck, spürte, wie die brennende Flüssigkeit seine Kehle hinabrann, spürte die sich wohlig ausbreitende Wärme in seinem Magen und die dahinterstehende Lüge. Der starke Branntwein versprach so einiges: Entspannung, etwas Wohlbefinden, eine Erleichterung der drückenden Sorgen und Fragen, ein Vergessen der drängenden Pflichten, ein Trüben der schwierigen Erinnerungen und das Gefühl, dass Ungewissheit doch gar nicht so schlimm war, denn im Grunde war sowieso alles egal.
Und wenn man trank, wurde es am egalsten.
Der Gedanke daran, dass er sich mit dem Trinken also nur selbst betrog, motivierte ihn dazu, sofort einen zweiten Schluck zu nehmen. Der Reisschnaps war ordentlich gebrannt, ein Produkt seiner Heimat, das er gerne zu sich nahm, manchmal vielleicht zu gerne. Der Betrug, den ihm der Alkohol versprach, war immerhin ehrlich: Choi wusste, welche Konsequenzen der Schnapskonsum hatte und wie weit er damit gehen konnte. Es gab da keinerlei doppelte Böden oder Verstecke. Es war, wie es war.
Ein dritter Schluck. So langsam kam zu der Wärme ein wenig von dem hinzu, was er von diesem Getränk erwartete: die sanfte Andeutung von Leichtigkeit in seinem Kopf. Er war noch nicht betrunken, nicht einmal etwas beschwipst, und würde man ihn jetzt mit einer Aufgabe betrauen, so würde er sie einigermaßen bewältigen können. Aber er war am Rande der Trunkenheit, ging den schmalen Grat entlang, der das klare Denken und Handeln von der sanften, anheimelnden Trägheit verschwommener Seligkeit trennte. Er hielt inne, betrachtete die Flasche. Es war eine neue, frisch angebrochen, und es war sein dienstfreier Abend. Sie zu leeren und dann ins Bett zu fallen, war seine Freiheit, eine der wenigen, die er genoss. Sich ihr zu ergeben, enthob ihn von der Notwendigkeit, anderen Ideen nachzuhängen oder sich allzu sehr mit seiner Frustration zu beschäftigen.
Er hielt inne, als er die Flasche wieder ansetzen wollte.
Er schaute aus dem Fenster. Hier im Norden Baekyes war es mittlerweile empfindlich kalt geworden, der Winter hatte sich ausgebreitet, der Frost hielt den Boden, die Bäume und anderen Pflanzen, die Tiere umklammert. Schnee fiel in regelmäßigen Abständen, manchmal als Sturm, und des Nachts kämpfte das Feuer in den Kohleöfen mit großer Hartnäckigkeit gegen die eisige Umarmung an. Der Außenposten hatte siebzehn Soldaten, deren Kommandant Choi war, ein Posten, den er seit sechs Monaten innehatte.
Das war kein Zufall. Er war für diese Position von zu hohem Rang und überqualifiziert. Er war vielfach versetzt worden, nachdem er das Lager verlassen hatte. Ein Jahr kämpfte er an der Front in Indien, eine Zeit, an die er sich nicht gerne zurückerinnerte. Ein Jahr ging er auf die Akademie für weitere Kurse, diese bestand er mit Auszeichnung. Er verstand nicht, wohin seine Karriere ging. Ging sie überhaupt noch in eine bestimmte Richtung oder drehte er sich nur im Kreis? Wollte er eigentlich, dass sie nach vorne und nach oben strebte? Seit seiner Zeit im Umerziehungslager verstand er so manches nicht mehr. Wachten jene, die sich, tief im Inneren des Systems versteckt, gegen den Großen und Geliebten Marschall verbündet hatten, über seine Schritte? Halfen sie ihm oder schadeten sie, prüften sie ihn oder hatten sie keine Verwendung? Choi war die letzten beiden Jahre mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gegangen und sein Widerstandswille gegen das System, für das er zu kämpfen einen Eid geschworen hatte, war eher noch gewachsen. Doch es gab für ihn keine Möglichkeit, diesen Willen in Aktion umzusetzen, ohne sich selbst sofort zu gefährden und dabei gleichzeitig absolut nichts zu bewirken.
Sinnlose Jahre. Eine verlorene Zeit. Er fühlte sich hin und her getrieben. Er versah seinen Dienst ohne Richtung, ohne Elan, erfüllte seine Pflicht, eckte nirgends an, akzeptierte klaglos seine Befehle. Seine Akte war seit jenem Vorfall einwandfrei, sein Verhalten makellos. Dass er manchmal nachts aufwachte und einen tiefen Schmerz in seinem Herzen fand, als er an jene Frau dachte, deren Leidenschaft ihn damals gefangen hatte, akzeptierte er. Bedauern, ein wenig Sehnsucht, jetzt alles langsam bedeckt durch Schnee und Eis. In den Bergen war es immer kalt und sein Dienst hier war sinnlos. Die siebzehn Soldaten, die ihm unterstellt waren, ein Unteroffizier, sechzehn Mannschaftsgrade, waren allesamt strafversetzt, die letzten beiden erst vor einem Monat eingetroffen. Sie hatten ein Verhalten an den Tag gelegt, das keine richtige Bestrafung erforderlich machte, mit Laufbahnen, die immer nur ganz knapp an der Grenze zur Straffälligkeit, zur disziplinarischen Maßnahme verliefen, aber eben so, dass sie als unzuverlässig galten. Hier, in der Wildnis, umgeben von wenigen Bergbauern, unwegsamem Gelände, ohne jede Aussicht auf Feindkontakt, schadeten sie niemandem, erledigten ihren sinnlosen Dienst, waren aus dem Weg. Vielleicht hofften die Vorgesetzten im Stillen, sie würden hier etwas anstellen, damit man sie richtig bestrafen konnte.
Doch hier gab es nichts, mit dem man etwas anstellen konnte.
Hier gab es rein gar nichts.
Sie saßen im einfachen Gebäude mit seinem Schlafsaal, dem windigen Aussichtsturm, der Vorratskammer, dem Gemeinschaftsraum mit der einfachen Küche. Einmal im Monat kam ein Karren mit Vorräten, hin und wieder brachten die Bauern aus der Gegend etwas, mehr als Bestechung, um bloß in Ruhe gelassen zu werden – ein Gefallen, den man ihnen gerne tat, wenn es dafür frische Milch und Käse gab, Winterkimchi dazu, lange im Erdboden vergraben und gut durchgegoren, ein Fest für die Sinne und eine willkommene kulinarische Freude in dieser Gegend der eiskalten Untätigkeit.
Jemand betrat den Raum, gähnte laut, um sich bemerkbar zu machen. Chois Blick wanderte vom Fenster zum Neuankömmling.
»Schnaps? Wir haben doch gerade erst gefrühstückt.«
Kamgung war der einzige Unteroffizier der Truppe, ein Veteran von fast 50 Jahren, der nicht nur einiges gesehen, sondern auch von vielem die Schnauze gestrichen voll hatte. Das war gewiss ein Grund dafür, dass er hierher versetzt worden war. Er erzählte nicht viel über seine Karriere, aber irgendwann hatte Choi herausgekitzelt – und der Schnaps hatte dabei geholfen –, dass der ältere Mann nicht immer die Menschen, die seine Vorgesetzten gerne tot gesehen hätten, auch getötet hatte, vor allem dann nicht, wenn diese keine Waffe auf ihn gerichtet hatten.
Offiziell war er damit im Recht. Inoffiziell aber war der Befehl eines Vorgesetzten Gesetz, egal aus welchen niedrigen Beweggründen er geäußert wurde. Und dann gab es eben Konsequenzen.
»Es ist Nachmittag«, sagte Choi.
»Sag ich doch. Frühstück.« Kamgung grinste und begann, in den Regalen der kleinen Küche zu rumoren. »Ist noch Reiskuchen da? Ich habe irren Kohldampf auf Reiskuchen!«
»Im Schrank. Die letzten sechs. Wann kommt der Nachschub?«
Man verlor das Gefühl für Zeit hier draußen, für die Tageszeit ebenso wie für das Datum. Auch Kamgung musste erst einmal angestrengt nachdenken, um die Frage zu beantworten.
»Drei Tage.«
»Drei Tage nur Kimchi«, schlussfolgerte Choi, ohne Bedauern oder Schmerz in der Stimme. Es gab Schlimmeres. Sie würden auf die Jagd nach Schneehasen gehen und sich einen Braten machen, das verschaffte Kraft und Abwechslung. Für Ersteres hatten sie zwar keine Verwendung, Letzteres aber war immer hochwillkommen.
»Das Kimchi ist super«, meinte Kamgung. Er war in der Tat absolut in der Lage, sich nur von der Leib-und-Magen-Speise zu ernähren, ohne dabei die geringste Klage zu erheben. Choi aber verlangte es nach Abwechslung und er wusste, dass eine solche generell gut für die Moral war. Seine Männer waren schlecht gelaunt, weil es hier tödlich langweilig war, und obgleich sich die Aggressionen noch in Grenzen hielten, war jeden Tag morgens, mittags und abends das gleiche Essen nichts, was dem zuträglich war. Choi war verantwortlich. Er hatte nichts zu tun, er war abgestellt worden, zumindest fühlte er sich so, und seine eigene Frustration wuchs jeden Tag.
Aber er war verantwortlich.
Also war es an der Zeit, den Schnaps beiseitezustellen. Mit betont exakten Bewegungen verschloss er die Flasche und schob sie von sich, ein symbolischer Akt, der bei Kamgung zu einem beifälligen Nicken führte.
»Ich gehe zu den Bauern. Vielleicht haben die ein paar Reiskuchen, oder Jeonggwa.« Chois Gesicht bekam für einen Moment einen träumerischen Eindruck. Er hatte in den Jahren beim Militär gelernt, sich zu bescheiden und nicht allzu viel Luxus zu erwarten, auch nicht als Offizier, erst recht nicht, seit er offenbar unter strenger und tendenziell eher kritischer Beobachtung stand. Aber Jeonggwa, das war ein kleiner, flüchtiger Genuss, nach dem er sich hin und wieder sehnte. Es waren in Honig gekochte Früchte oder Nüsse, die dadurch lange haltbar waren und manchmal auch gut in den Winter gerettet werden konnten. Wenn er irgendwas anzubieten hatte, was eine Bauersfrau dazu überreden konnte, sich von einem kleinen Vorrat zu trennen – der träumerische Ausdruck wollte sein Gesicht gar nicht mehr verlassen.
»Zu den Kims? Haben hübsche Töchter!« Kamgung schnalzte mit der Zunge. Obgleich er gerne solche Sprüche machte, war er tatsächlich sehr harmlos, sobald er den hübschen Töchtern auch einmal begegnete. Da verhielten sich alle hier stationierten Männer überraschend tadellos. Choi hatte da schon andere Dinge gehört und erlebt, und die meisten davon waren wenig ehrenvoll gewesen.
Indien, erinnerte er sich. Das waren keine schönen Gedanken.
»Ich interessiere mich für Jeonggwa«, sagte der Offizier betont zurechtweisend.
»Ich bin hier der Älteste. Da sollte sinnlose Fresserei meine Präferenz sein.«
»Dir reicht ein Berg Kimchi und eine Tasse Tee.«
Der ältere Mann seufzte. »Es ist wahr. Ich sollte vehement widersprechen, aber es ist wahr. Wenn du Reiskuchen mitbringst, bin ich dankbar, oh tapferer Anführer. Wenn du dieses Honigzeugs beschaffst, dann lasse ich die Finger davon. In meinem Alter setzt das zu schnell an.« Er tappte sich auf den Bauch, der in der Tat aus etwas mehr als nur Muskeln bestand. Und der Dienst hier beförderte das nur. Es wurde so kalt und windig, dass es an vielen Tagen kaum möglich war, sinnvoll auf Streife zu gehen. Stürmten die Schneemassen auf einen ein, konnte man die Hand vor den Augen kaum erkennen. Und in letzter Zeit war es häufig zu Schneestürmen gekommen.
Jetzt aber schien es langsam aufzuklaren. Choi warf einen prüfenden Blick ins Freie, erkannte, wie sich die Konturen der rauen Landschaft deutlicher abzeichneten, der Himmel sich zu zeigen begann. Mit etwas Glück war jetzt für einige Stunden Ruhe und damit genug Zeit, sich auf Handelsmission zu begeben.
»Was haben wir an Geld?«
Kamgung verwaltete die gemeinsame Kasse. Die Bauern konnten im Winter mit den Won nichts anfangen, aber sobald der Frühling kam, wurde auch wieder gehandelt. Dann machte sich ein voller Beutel ganz gut und so war das Ansinnen der Soldaten, ehrlichen Handel zu betreiben, durchaus gerne gesehen. Die Preise waren entsprechend. Aber Choi rühmte sich, kein schlechter Händler zu sein und beim Feilschen zu guten Ergebnissen zu kommen. Daher überreichte ihm Kamgung den kleinen Beutel mit den Münzen, ohne weiter zu zögern. Er wusste das Geld in guten Händen.
Es dauerte keine fünf Minuten und Choi stand im Freien, angetan mit einer dicken, gefütterten Winterjacke, einer passenden Mütze, festen Stiefeln und Handschuhen. Die Winterausrüstung der Armee war von hoher Qualität und schützte vorbildlich, dennoch trieben der beißende Wind und die durchdringende Kälte dem Mann Tränen in die Augen. Er atmete vorsichtig ein, um seine Lunge langsam an die klirrende Luft zu gewöhnen, dann sah er den Weg hinab in Richtung seines Ziels: Das Gehöft des nächstgelegenen Bauern war zu Fuß in etwa zwanzig Minuten zu erreichen und jetzt, da es aufklarte, war es sogar in der Ferne gut zu erkennen. Mit einem leeren Rucksack auf dem Rücken marschierte es sich leicht und so setzte sich der Offizier in Bewegung. Die Kälte vertrieb auch die vom Schnaps ausgelöste Leichtigkeit aus seinem Kopf.
Das war eher bedauerlich.
Es war die Stille, die es hier draußen so eigentümlich machte. Der ständige Schnee dämpfte alle Geräusche und mit seinem oft sehr dichten Gestöber auch die Wahrnehmung durch die Augen. Es war, als wäre alles in Watte gepackt, und wenn es dann auch noch trübe war, schien es, als würde einem alles entgleiten, da es nichts mehr gab, auf das man seine Aufmerksamkeit heften konnte. Jetzt, ohne Schnee und beim Blitzen der Sonne auf der weißen Pracht, verflog dieser Eindruck, und das Knirschen des Weiß unter seinen Sohlen untermalte seinen Marsch nachdrücklich. Er musste aufpassen, dass er nicht ausrutschte, denn oft genug lag unter den Flocken eine Eisdecke, gerade dort, wo der Weg so uneben war, dass sich Wasser ansammelte, wenn der Schneefall einmal durch Regen ersetzt wurde.
Doch Choi ging hier nicht das erste Mal. Er kannte die Tücken. Die Augen fest auf sein Ziel geheftet, erreichte er das Gelände des Gehöfts in der kalkulierten Zeit. Die Haut auf seinem Gesicht war kalt und fühlte sich taub an, der Rest seines Körpers aber war warm. Die Kleidung isolierte hervorragend und er war mit vollem Bauch gestartet, es gab genug Energie zum Verbrennen. Mit einer Faust hämmerte er gegen die Eingangstür des flachen Gebäudes und Augenblicke später öffnete sie sich. Ein Mann mittleren Alters mit zerknittertem, wettergegerbtem Gesicht und einem sofortigen Erkennen in den Augen. Er schob die Tür ganz auf.
»Ah, der Offizier. Ye-Eun! Hier will jemand sich aufwärmen!«
Die Frau des Hauses, klein, rundlich, mit ähnlich von der Natur gezeichnetem Gesicht und geschäftigen Händen, tauchte auf, als Choi hineingebeten wurde. Ihr Gatte zog sich mit einer höflichen Verbeugung zurück. Geschäftliches überließ er seiner Frau, die mit Geld offenbar besser umgehen und auch hartnäckiger handeln konnte. Es lag wohl an ihrem Lächeln. Man wollte nicht zu rücksichtslos handeln, nicht den Offizier herauskehren, die eigene Autorität zur Geltung bringen, wenn man dieses mütterliche Lächeln sah. Choi ging davon aus, dass Ye-Eun das absolut wusste und diese Gabe mit ihrer eigenen Rücksichtslosigkeit zur Wirkung brachte. Den Offizier weichzulächeln, schien ihm jedoch eine erträgliche Folter, und da die anstehenden Verhandlungen mit einem Platz am Steinofen, einer Tasse Tee und etwas Gebäck begleitet wurden, konnte er ihr beileibe nicht böse sein.
Was bedeutete, dass ihr ein lukrativer Nachmittag bevorstand.
»Wie ergeht es unseren tapferen Kriegern?«, fragte sie, als sie ihm Tee in eine irdene Tasse eingoss, die sie zweifelsohne auch selbst hergestellt hatte.
»Sie langweilen sich tapfer.«
»Lieber Langeweile als der Tod.«
Ye-Eun wusste, wovon sie sprach. Abgesehen von ihren beiden Töchtern hatte sie zwei weitere Kinder, einen Sohn und eine Tochter, beide in den Streitkräften Baekyes tätig. Sie sprach nicht gerne über sie, war vorsichtig in Gegenwart eines Offiziers, aber es bedurfte nicht vieler Worte, um zu verstehen, was sie vom Wehrdienst hielt, der jeden jungen Bürger des Landes an die Waffe rief, und das für mindestens vier Jahre. Choi berührte das Thema nicht. Er wusste nicht einmal, was er selbst davon hielt. Das Buch der Revolution, das er immer noch bei sich trug, stellte auch nur Fragen. War es notwendig, dass ein jeder zum Krieger wurde? War es notwendig, dass die Zukunft Baekyes der permanenten Gefahr des Todes ausgesetzt wurde? Musste man den jungen Menschen so viele Jahre ihres Lebens rauben und manchmal sogar gleich alle? Der Geliebte Marschall schien dieser Ansicht zu sein und im Regelfall widersprach man dieser besser nicht.
»Was kann ich denn heute für Sie tun?«
»Wir würden gerne ein paar Nahrungsmittel erwerben«, sagte Choi lächelnd. Sie tranken beide ihren Tee, wohl wissend, dass die Verhandlungen soeben begonnen hatten.
»Ich weiß nicht, was ich so dahabe … der Winter ist diesmal doch sehr streng.«
»Ist es nicht milder als sonst?«
Die Frau sah ihn tadelnd an. »Sehr streng, sage ich. Meine alten Knochen sagen die Wahrheit.«
»Natürlich«, beeilte sich Choi und trank noch etwas Tee. »Reiskuchen vielleicht? Einer meiner Männer brachte sein Bedürfnis nach Jeonggwa ins Spiel. Ich dulde so was natürlich normalerweise nicht.«
»Es macht schwach und verweichlicht!«, bestätigte Ye-Eun ernst. »Wir wollen das auf jeden Fall vermeiden.«
»Andererseits, ich muss die Moral beachten.«
»Moral ist gewiss wichtig.«
»Gibt es irgendwas, was Sie mir anbieten können?«
»Hm, hm.«
Die Bäuerin erhob sich, ging durch eine schmale Tür in einen anderen Raum, ein Ort, den Choi niemals betreten hatte. Er wusste, dass sich dort die Vorratskammer befinden musste. Er würde sie nicht zu Gesicht bekommen, schlug er damit doch Ye-Eun eine wichtige Grundlage ihrer Verhandlungstaktik aus den Händen: das Lamento über schwere Zeiten und strenge Winter.
Er wollte nicht ungerecht sein. Es waren schwere Zeiten. Und es war verdammt kalt da draußen.
Die Frau kam zurück, diesmal mit einer Kiste in den Händen, die sie mit einem betonten Ächzen auf den Tisch stellte. Heraus beförderte sie mit leidvoller Miene einige der Reiskuchen, auf die Choi seine Hoffnung gesetzt hatte, sowie, ebenfalls in eine Art Pergamentpapier eingeschlagen, jene Süßspeisen, auf die er sein besonderes Augenmerk richtete. Sie wirkte dabei sehr kummervoll. Natürlich würde sie diese Vorräte nur sehr widerwillig an Choi weitergeben, da sie damit das Überleben ihrer Familie aufs Spiel setzte, und allein ihre unverbrüchliche Treue zum Geliebten Marschall brachte sie überhaupt dazu, die dafür angebotenen Münzen in aller Demut entgegenzunehmen.
Das alles verstand sich von selbst. Dennoch, es musste immer mal wieder erwähnt werden, damit der Offizier es ja nicht vergaß.
Am Ende der Transaktion hatte Ye-Eun ihn um Münzen erleichtert, mehr, als er vorher auszugeben bereit gewesen war, und er sie um Vorräte, die ausreichen würden, den Männern bei maßvoller Verteilung bis zum Eintreffen des Karrens mit dem Nachschub etwas Abwechslung zu gewährleisten. Choi missbrauchte seine Privilegien als Offizier in schamloser Weise, als er einen kleinen Beutel mit Jeonggwa in seine Jackentasche steckte. Unter den 17 Männern, die er hier befehligte, waren Fressmaschinen, die ohne jede Rücksicht bereit waren, jede Delikatesse in Sekundenschnelle zu vertilgen, soweit sie der Allgemeinheit zur Verfügung stand – und das, ohne den Genuss dieser auch richtig zu würdigen. Es war sein Selbsterhaltungstrieb, der Choi zu dieser beinahe schon verzweifelten Tat trieb.
»Noch etwas Tee?«
»Gerne.«
Ye-Eun lächelte wie eine sehr zufriedene Katze, als sie dem Mann eingoss.
»Der Winter ist bald vorbei«, sagte sie.
»Er neigt sich dem Ende zu«, bestätigte Choi und blies auf das dampfende Getränk. Über das Wetter zu reden, war gerade für Bauern von essenzieller Bedeutung. Für ihn war kalt einfach nur kalt und Schnee einfach nur Schnee. Aber er musste ja auch keine Böden bestellen, Pflanzen pflegen und Vieh füttern, also war das zu entschuldigen.
»Dann ist es an der Zeit weiterzuziehen«, sagte Ye-Eun betont. »Die Zeit des Wartens ist vorbei und es ist jetzt alles gerichtet. Eine große Aufgabe steht Ihnen bevor, junger Mann.«
Choi sah sie verwirrt an. Der Tonfall der Bäuerin hatte eine seltsame, tief greifende Wandlung erfahren. Darin lag nun eine alles andere als beiläufige Bedeutung, deren Sinn sich ihm aber entzog. Wie kam sie dazu, solche Worte zu sprechen?
»Ich verstehe nicht.«
»Nein?« Die Frau lächelte wieder, diesmal nicht zufrieden, sondern eher amüsiert. »Hier!«
Sie griff in die Kiste und zog anstatt eines Reiskuchens ein Büchlein hervor. Choi musste es nicht entgegennehmen und aufschlagen, um zu wissen, worum es sich handelte, er erfasste es mit einer nahezu instinktiven Gewissheit. Dennoch nahm er es entgegen, las die ersten Sätze der ersten Seite, nur um sich auf keinen Fall zu täuschen. Ja, es stimmte. Es war das Werk jener unbekannten Autoren, die das Handbuch jener Revolutionäre verfasst hatten, auf dessen Besitz allein mit großer Sicherheit die Todesstrafe stand.
Choi war kein dummer Mann. Und so begann er langsam zu verstehen. Die Worte der Bäuerin ergaben einen plötzlichen Sinn. Die Dinge fügten sich zusammen. Dennoch beschloss er, weiterhin zu schweigen. Vielleicht bekam er jetzt endlich klare Antworten auf seine Fragen. So bezähmte er seine plötzliche Erregung, nickte, legte das Buch hin, schob es in die Richtung der Frau, nahm die irdene Tasse, pustete, schluckte, alles in einem Ausdruck äußerlicher Gelassenheit, für den er sich sogleich gratulierte.
Er hatte dieses Verhalten zur Perfektion entwickelt. Eigentlich nur für den Fall, dass er auf besonders fanatische Loyalisten traf und deren Reden ertragen musste, ohne seinem Reflex zu folgen, ihnen den Hals umzudrehen. Aber gelernt war gelernt.
»Nun?«, fragte die Frau.
»Sie hätten vorher schon etwas sagen sollen.« Choi blieb ganz ruhig, obgleich das Unverständnis über seine lange, erzwungene Untätigkeit gewiss hindurchschimmerte. »Es ist sehr kalt hier.«
»Kalt und abgelegen und ignoriert«, sagte die Bäuerin. »Und die letzten Vorbereitungen sind zu erledigen gewesen und die Gruppe musste komplettiert werden. Es dauert alles seine Zeit, weil wir wirklich sehr, sehr vorsichtig sein müssen. Der Geheimdienst ist überall, beobachtet alles und jeden. Die Wachstation hier oben, mit einer Gruppe von etwas heruntergekommenen Versagern, ist einer der ganz wenigen schwarzen Flecken auf der Landkarte, ein Ort, den wir mühsam etabliert, beschützt und getarnt haben. Ihn zu nutzen, bedarf größter Sorgfalt. Allergrößter Sorgfalt. Und Sorgfalt bedarf der Zeit. Ich entschuldige mich nicht dafür, dass Sie sich haben langweilen müssen.«
»Ich will gar keine Entschuldigung. Ich wollte nur eine Erklärung.« Die Frau nickte. Choi fragte: »Also, was soll jetzt geschehen?«
»Wir haben Arrangements getroffen. Es wird eine Besprechung verschiedener Aufgaben geben. Es wird Zeit, zu handeln und das Schlimmste zu verhindern.« Sie sah ihn prüfend an. »Sind Sie bereit dafür?«
»Das ist eine seltsame Frage, wenn ich doch gar nicht weiß, worum es genau geht«, sagte Choi. Erneut musste er ein wenig Ungeduld niederkämpfen. Er verstand ja, dass man in der Position als Gegner des Systems manchmal nur sehr kryptische Worte benutzte, aber wenn dies eine Art sicherer Hafen des Widerstands war, dann sollte es doch auch der Ort sein, an dem man offen über die anstehenden Pläne sprach. Alles war riskant. Die bloße Tatsache, dass er mit dieser Frau sprach, genügte bereits für die Todesstrafe. Es konnte von da ab an wirklich kaum noch schlimmer kommen.
»Dann habe ich erst einmal eine gute Nachricht für Sie. Sie werden befördert.«
Choi wusste nicht, ob das wirklich eine so gute Nachricht war. Gewiss, er war sozusagen überfällig, selbst wenn man die Beschmutzung seiner Akte durch den Aufenthalt im Umerziehungslager mitberücksichtigte. Aber er hatte sich bereits damit abgefunden und alle großen Ambitionen ad acta gelegt. So gesehen kam diese Information zumindest überraschend.
»Befördert, gut. Und eine neue Dienstposition?«
»Das ist zutreffend. Eine neue Position in der Hauptstadt.«
Das traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Er wusste gar nichts darauf zu sagen, starrte die Frau einen Moment ratlos, ja überrumpelt an. Die Hauptstadt. Das war nicht irgendein Ort, irgendein Posten. Es war … die Hauptstadt!
Verdammt!
»Pjöngjang? Ich?«
»In der Tat.«
Das war keine richtig gute Nachricht. Als eine der ältesten Städte dieser Region hatte sich Pjöngjang, nach allem, was man hier durch die Zeitreisenden von der Zukunft erfahren hatte, als Hauptstadt durchgesetzt. Weil sie das auch in ihrer Zeit war und weil … nun, der Geliebte Marschall es eben so befohlen hatte.
Und es war damit kein Ort, den man einfach so besuchte. Da dort die geheiligte Person des Geliebten Marschalls residierte, wurde der Zugang sehr restriktiv gehandhabt. Nur Bürger mit einem Passierschein konnten die Metropole betreten. Den Passierschein bekam man auf unterschiedlichen Wegen, Voraussetzung war aber in jedem einzelnen Fall eine sehr intensive und zeitaufwendige Sicherheitsprüfung. Und jemand, der einmal in einem Lager gesessen hatte … nein, das war im Grunde ganz ausgeschlossen.
»Das kann ich nicht glauben.«
Die Bauersfrau nickte verständnisvoll.
»Jetzt verstehen Sie gewiss, warum wir so viel Zeit benötigt haben. Sie wurde dringend gebraucht, um die Hürden zu überwinden, die Sie sich gerade, nicht unberechtigt, ausmalen.«
»Was soll ich in der Hauptstadt tun?«
»Wir müssen etwas über den Großen Plan erfahren.«
Choi runzelte die Stirn. Er hörte das allererste Mal von diesem Begriff, konnte ihn nicht einordnen. Alles in Baekye war, soweit es vom Marschall kam, irgendwie »groß«, tatsächlich war dieses Adjektiv angesichts der sonst weitaus blumigeren Lobpreisungen und Beschreibungen eher als bescheiden und zurückhaltend zu bewerten.
»Ich habe davon noch nie gehört.«
»Wir auch erst vor Kurzem, und allein für die Preisgabe der bloßen Existenz dieses Vorhabens starben zwei Menschen.« Ye-Eun sagte es mit unbewegter Stimme. »Wir wissen nur, dass es eine Sache ist, die militärische Auswirkungen hat, machtpolitische Konsequenzen, etwas, das die oberste Ebene um den Marschall in große Aufregung, ja Begeisterung versetzt. Gewiss in große Erwartung. Wir müssen es wissen, damit wir einschätzen können, ob es zu verhindern ist. Es wird Zeit, dass wir handeln.«
»Und mich haben Sie dafür auserkoren?«
»Sie und die siebzehn, die wir hier versammelt haben.«
Choi starrte sie an.
»Wie bitte?«
Ye-Eun lächelte, es war nicht das warme Lächeln einer wohlmeinenden Bauersfrau. Es war das Lächeln eines Raubtiers, das sich darüber freute, dass seine Beute die eigene Situation zu erkennen begann. Choi fühlte sich angesichts dieser Mimik ein klein wenig unwohl. Schnell nahm er noch einen Schluck Tee. Der war jetzt kalt und bitter. Das machte ihm alles keine Freude mehr.
»Sie haben sich gewiss gefragt, warum man Sie hier so hat leiden lassen.«
»Die Frage drängte sich mir auf.«
»Sie werden alle an unterschiedlichen Stellen in der Hauptstadt einsickern. Es hat lange gedauert, für alle Passierscheine zu erhalten und damit eine ausreichende Tarnung. Wir durften nichts erfinden, wir mussten auf Gelegenheiten warten. Eigentlich hatten wir mit mehr gerechnet. Ursprünglich bestand die Gruppe aus 25 Leuten.«
»Was geschah mit den restlichen acht?«, wagte Choi die Frage.
»Sie haben es nicht geschafft.«
Choi sah die Frau an, deren Gesicht mit einem Mal eine Totenmaske war, ermahnte sich selbst, keine unnötigen Nachfragen zu stellen. Wenn bereits in der Vorbereitung dieser beachtlichen Aktion mehr als ein Fünftel der Widerständler entdeckt und getötet worden waren oder, was wahrscheinlicher war, sich selbst vor unausweichlicher Entdeckung aus dem Spiel gebracht hatten, dann sagte das alles, was er über das Risiko wissen musste.
»Angst? Rückzieher?«, fragte sie.
»Nein. Aber danke für die Möglichkeit.«