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Seit 24 Jahren arbeitet Studienrat Sandmann als Lehrer für Deutsch und Geschichte am Gottfried-Keller-Gymnasium. Sein Leben ist in geregelten Bahnen verlaufen und steuert auf den Ruhestand zu, als er sich in einem außergewöhnlich kalten Winter obsessiv in eine seiner Schülerinnen verliebt. Sandmann kämpft dagegen an und gibt sich gleichzeitig hin. Das neue, späte Gefühl quält ihn, es bereichert ihn - und es zwingt ihn schließlich, während einer Klassenfahrt im Bergidyll eine folgenschwere Entscheidung zu treffen.
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Seitenzahl: 51
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Jan Costin Wagner
Krimi * Nautilus
KALIBER .64
Edition Nautilus
Verlag Lutz Schulenburg
Schützenstraße 49 a
D-22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
Die Krimireihe
»Kaliber .64« wird
herausgegeben von
Volker Albers
© Edition Nautilus 2009
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
Foto Seite 2:
© Dennis Yenmez
Originalveröffentlichung
Erstausgabe August 2009
Druck und Bindung:
Fuldaer Verlagsanstalt
1. Auflage
Print ISBN 978-3-89401-603-6
E-Book EPUB ISBN 978-3-86438-118-8
E-Book PDF ISBN 978-3-86438-119-5
Sandmann träumt von sich selbst. Er hängt an der Kletterstange. Es geht weder nach oben noch nach unten. Er sollte sich nach oben bewegen, so wie der Mitschüler an der zweiten Stange neben ihm, aber ihm fehlt die Kraft. Er hängt, und es ist eine Frage der Zeit, wann er abrutschen wird.
Verena weckt ihn.
»Hast du den Wecker nicht gehört?«, fragt sie.
»Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Nein.«
»Der hat doch gebimmelt wie verrückt.«
»Entschuldige.«
»Sonst machst du doch immer gleich aus.«
»Ja, aber heute habe ich eben nichts gehört.«
»Das kann ich fast nicht glauben«, sagt sie.
»Ja«, sagt er.
Im Bad steht die heiße Luft. Verena hat schon geduscht. Das erschwert das Rasieren. Weil sich ein feuchter Film auf seiner Haut bildet, an dem das Messer abgleitet. Irgendwann ist es geschafft. Rote Striemen an den Wangen. Er betrachtet sich für eine Weile im Spiegel und denkt an das Ende des Traums. Er rutscht ab, und der Sportlehrer schickt ihn zurück an die Stange. Er rutscht wieder ab. Der Lehrer notiert eine Fünf. Die Mitschüler lachen. Sein Name ist für den Rest der Schulzeit Klammeraffe. Es gibt schlimmere Namen.
Er frühstückt.
Schweigt, gemeinsam mit Verena.
Draußen schneit es.
Er kratzt das Eis von den Scheiben, steigt ein, fährt los. Verenas Silhouette hinter dem Küchenfenster.
Er gleitet über die glatte Fahrbahn und parkt auf dem Lehrerparkplatz des Gottfried-Keller-Gymnasiums. Er spürt zum ersten Mal an diesem Tag die Kraft, die Freude. Vorfreude. Für einen Moment, dann ist es nur noch ein Gedanke. Neben ihm kommt das Cabriolet von Jansen zum Stillstand. Jansen schunkelt im Takt lauter Musik und winkt ihm zu. Er nickt. Ein Blick auf die Uhr. Noch zehn Minuten, dann Deutsch in der 10c. Kafka. Schlag ans Hoftor. Die Erleichterung, die sich einstellt, wenn man keinen Ausweg mehr sieht. Seit einiger Zeit sieht er Kafka in ganz neuem Licht.
Auf dem Hof lärmen die ankommenden Schüler. Einer weicht zurück, als er sich der Eingangstür nähert. Er versucht ein Lächeln. Im Lehrerzimmer sitzen die junge Musiklehrerin, Jana Mosbach, und Lateinlehrer Bast. In ein Gespräch vertieft. Jana Mosbach gestikuliert, Bast lacht. Sein fülliger Bauch schwabbelt hin und her.
In seinem Rücken schmettert Jansen einen Morgengruß: »Morgenstund hat Gold im Mund. Wie ich diesen Spruch hasse!«
Bast lacht, Jana Mosbach lacht.
Durch den langen, schwach beleuchteten Gang zum Klassenzimmer laufen. Es ist warm. Er bleibt einige Meter vor der angelehnten Tür stehen. Stellt seinen Koffer auf den Boden und legt sorgfältig den Mantel über den Arm.
Vorfreude. Der Gedanke daran.
»Guten Morgen«, sagt er.
Die Schüler verstummen. Dann das Echo. »Guten Morgen.« Vielstimmig. Einheitlich. Das eine oder andere Kichern dringt durch. Ihm ist schwindlig. Er sucht ihren Blick. Wendet sich ab. Räuspert sich. Kafka. Der Schlag ans Hoftor. Claudias Stimme füllt den Raum.
Hat er ihren Namen genannt? Sie aufgefordert zu lesen?
Die Schüler starren hinab auf ihre Texte. Claudia liest. Kristallklar und hell. Er betrachtet ihren Kopf, der sich im sanften Rhythmus ihrer Worte bewegt. Die Haare zum Zopf gebunden.
Am Ende sieht ein unbekannter Mann dem unbekannten Tod entgegen, aus unbekannten Gründen.
Einige lachen.
Sandmann hört die verklingende Stimme.
Schweigen.
»Diese Scheiße«, murmelt einer.
Sandmann erwacht. Er nimmt das Klassenbuch, schmettert es auf den Tisch.
Der Schüler, Christian, zuckt zusammen.
»Was hast du gesagt?«, fragt Sandmann.
»Ich … tschuldigung, aber ich kann mit Kafka nichts anfangen«, sagt Christian.
Verena, denkt er. Verena spielt Doppelkopf. Um vier. Stille.
Er sucht Claudias Augen. Findet sie. Sie blickt ernst.
Verunsichert. Er weicht aus, wendet sich ab.
»Steh auf«, sagt er und deutet auf Christian.
»Äh«, sagt Christian.
»Los, aufstehen«, sagt Sandmann.
Christian erhebt sich schwerfällig und steht gebückt.
»Schlag ans Hoftor«, sagt er.
»Wie bitte?«
»Schlag dagegen«, sagt Sandmann.
»Wenn Sie mir sagen, wo dieses Hoftor …«
»Vor deiner Nase«, sagt Sandmann.
»Aber …«
»Da ist das Hoftor, schlag dagegen.«
Christian klopft. In die Luft.
Sein Tischnachbar kichert.
»Danke«, sagt Sandmann.
Christian starrt ihn an.
Sandmann erwidert seinen Blick. Ein erfüllender Moment.
»Setz dich«, sagt er und wendet sich der Tafel zu. Er beginnt zu schreiben. Irgendetwas. Weiß auf Grün. Ein wenig Kreide an seinen Fingern. Ich-Erzähler. Auktorialer Erzähler. Personaler Erzähler. Die Stimmen der Schüler wabern durch den Raum. Er sucht Claudias Blick. Weicht aus. Schreibt Worte nieder, und ab und zu erklingt ihre Stimme.
Hanna Doppelkopf. Mit Frau Solms, Frau Mertens und Frau Alpiger. Um vier.
Die Pausenglocke. Stühle rücken. Ranzen packen. Er lehnt sich zurück und betrachtet den Schnee hinter den Fenstern.
»Herr Sandmann?«
Er schnellt hoch, gurgelt etwas Unverständliches.
»Sie haben vergessen zu sagen, welche Erzählung wir für die Arbeit vorbereiten sollen. Sie hatten doch versprochen, einen Tipp zu geben«, sagt Claudia.
»Ja … richtig.« Er steht auf. »Alle herhören«, sagt er. »Für morgen. Die Arbeit. Bitte noch mal Die Verwandlung lesen.«
Einige stöhnen.
Er setzt sich, sieht ihr nach.
Sitzt eine Weile in einem leeren Raum.
Dann wischt er die Worte von der Tafel und geht.
Nach Hause. Vorzeitig. Zum ersten Mal seit Langem. Die Sekretärin starrt ihn an, als er sich abmeldet. Grippe. Fieber. Schwindelgefühl.
»Gute Besserung«, sagt sie.
Er fährt nach Hause, und es fühlt sich falsch an. Die falsche Tageszeit. Die Wintersonne steht im falschen Winkel. Durch die Bäume rechts und links fegt falscher Wind, der falschen Schnee auf die Fahrbahn weht. Nach einer Weile beginnt er, die Fehlerhaftigkeit der Augenblicke zu genießen, den diffusen Schmerz, der darin liegt.
Er parkt den Wagen vor dem Haus und geht über den Hof zur Tür.
Er steckt den Schlüssel ins Schloss, besinnt sich anders. Er möchte Verena nicht erschrecken. Nicht plötzlich vor ihr stehen. Er klingelt. Verena öffnet. Ihr Blick ähnelt dem der Sekretärin in der Schule. Sie sieht ihn eine Weile an, ohne etwas zu sagen.