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Kalix MacRinnalch - die ungewöhnlichste Fantasy-Heldin Englands! Teenager-Werwölfin Kalix MacRinnalch hat so einige Probleme: ihre Verwandten und die Gilde der Werwolfjäger wollen sie tot sehen und das verstärkt ihre gewaltige Depression ziemlich. Diese mit Drogen zu bekämpfen, vereinfacht die Sache allerdings auch nicht gerade. Zum Glück hat Kalix ihre menschlichen Freunde Daniel und Moonglow, die ihr in London Unterschlupf bieten. Doch die beiden naiven Studenten sind keine wirkliche Unterstützung, wenn es um fiese, modesüchtige Feuergeister und bösartige Gangster-Wölfe geht. Nur der hellseherisch begabte Werwolf Decembrius könnte Kalix helfen, doch er hat seine eigenen Gründe dafür…
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Seitenzahl: 883
Martin Millar
KALIX. Fluch der Werwölfe
Roman
Aus dem Englischen von Eva Kemper
Fischer e-books
Nicht alle Werwölfe waren unglücklich. Die meisten Werwölfe aus dem Clan der MacRinnalchs verbrachten ihre Zeit zufrieden auf Burg MacRinnalch, sicher und abgeschieden in den schottischen Highlands. Seit Hunderten von Jahren lebten sie dort, größtenteils ungestört von der Außenwelt.
Aber es gab auch unglückliche Werwölfe. Kalix zum Beispiel. Ihr Vater hatte als Oberhaupt den Clan regiert, aber nach seinem gewaltsamen Tod musste sie aus der Burg fliehen. Sie ging Richtung Süden, nach London, und verbrachte dort mehrere Jahre als einsame, junge Werwölfin. Kalix sehnte sich nach ihrem Geliebten Gawain und fragte sich, ob sie ihn jemals wiedersehen würde.
Als Kalix den netten Studenten Daniel und Moonglow begegnete, ging es bergauf, aber sie hatte immer noch Probleme. Ihr eigener Clan verfolgte sie, und auch die Werwolfjäger waren hinter ihr her. All das führte zu einer schrecklichen Konfrontation. Kalix überlebte, viele andere Werwölfe nicht.
Auch danach konnte sie nicht nach Hause zurückkehren, und so blieb sie in London. Kalix MacRinnalch war immer noch keine glückliche Werwölfin, aber sie hoffte, ihr Leben würde eine Zeitlang friedlicher verlaufen.
»Ich glaube, ich muss gleich weinen«, sagte Moonglow.
»Warum?«
»Weil Kalix in die Schule geht.«
Daniel wirkte verdutzt.
»Wieso musst du denn deswegen weinen?«
»Der erste Schultag kann sehr traumatisch sein. Was ist, wenn sie schreckliche Lehrer bekommt? Oder wenn jemand sie schikaniert?«
»Kalix ist eine Werwölfin mit Superkräften und einem Hang zu Gewalt. Wenn jemand sie ärgert, reißt sie ihm den Kopf ab.«
»Das wäre aber gar nicht gut, oder?« Die Aussicht erschreckte Moonglow. Sie goss aus ihrer zierlichen, schwarzen Porzellankanne Tee in ihre schwarze Lieblingstasse.
»Vielleicht hätten wir sie doch nicht ermutigen sollen, das College zu besuchen. Wir hätten sie nicht dazu drängen dürfen. Sie ist zu jung, um allein klarzukommen.«
»Kalix ist siebzehn! Nur zwei Jahre jünger als wir. Und wie gesagt, sie ist eine Werwölfin mit unglaublichen Kräften. Selbst in menschlicher Gestalt kann sie Leute durch die Gegend schleudern. Ich glaube, wir müssen uns wirklich keine Sorgen machen. Außerdem ist Vex ja bei ihr.«
»Auch nicht gerade beruhigend.«
»Ich finde, doch. Eine Werwölfin und ein Feuergeist im Teenageralter, die am College in Förderkursen Lesen und Schreiben lernen – was kann da schon passieren?«
»Alles Mögliche, wenn jemand herausfindet, dass sie keine Menschen sind. Kalix ist sehr empfindlich, wenn es darum geht, wie schlecht sie liest. Was ist, wenn sie wütend wird und alles auseinandernimmt? Oder wenn Vex in Flammen aufgeht?«
»Kalix kann sich bei Tageslicht nicht in eine Werwölfin verwandeln.« Daniel blieb unbekümmert. »Und ich glaube, Vex weiß nicht mal, wie man in Flammen aufgeht. Wenn sie aufgeregt ist, schimmert sie höchstens leicht orange, aber mehr auch nicht.«
Sie wurden durch Kalix und Agrivex unterbrochen, die lautstark die Treppe herunter und in das Wohnzimmer polterten, jede mit einer Büchertasche unter dem Arm. Vex war extrem aufgeregt. Seit ihre Tante, Königin Malveria, Herrscherin der Hiyasta-Feuergeister, ihr erlaubt hatte, auf den Dachboden des kleinen Hauses in Südlondon zu ziehen, damit sie ein College der Menschen besuchen und etwas – irgendwas – lernen konnte, war sie vor lauter Vorfreude außer sich. Vex hatte sich in Malverias königlichem Palast zunehmend gelangweilt. Die Aussicht, ihre Zeit in der menschlichen Dimension, in London, mit ständigem Zugang zu Klamotten, Konzerten, Clubs und Spaß zu verbringen, hatte sie in einen fiebrigen Rausch versetzt.
Von Kalix MacRinnalch konnte man das nicht behaupten. Ganz verloren stand sie mit ihrer Büchertasche da und sah sehr jung, ziemlich klein und nervös aus. Zwar achtete der Werwolfclan der MacRinnalchs in Schottland auf die Bildung seiner Kinder, aber durch ihre besonderen Lebensumstände hatte Kalix so gut wie keine Schulbildung genossen. Sie konnte kaum lesen oder rechnen und war sich dessen schmerzlich bewusst. Obwohl Kalix als erbitterte Kämpferin berüchtigt war, graute ihr vor der Aussicht, ihre Unwissenheit in einem Klassenzimmer voller Fremder zu zeigen.
Moonglow hatte auf ihre gütige Art versucht, Kalix Mut zu machen. So etwas konnte sie, trotz ihrer eher düsteren schwarzen Kluft und des dicken, dunklen Make-ups. Sie hatte Kalix gesagt, es sei gar nicht so ungewöhnlich, dass jemand mit siebzehn Jahren noch nicht lesen oder schreiben konnte. Das würde vielen Leuten so gehen.
»Das ist genau das Richtige für dich. Es werden viele andere Leute da sein, die nicht zur Schule gegangen sind. Du weißt schon, mit Familienproblemen. Oder vielleicht, weil sie krank waren.«
»Oder im Gefängnis«, fügte Daniel fröhlich hinzu.
Moonglow sah ihn böse an.
»Es ist keine Schande, seine Bildung nachzuholen. Das College wird dir Spaß machen.«
Kalix war davon nicht überzeugt. Sie hätte nie zugestimmt, hätte ihre Mutter ihr kein Geld geboten. Verasa MacRinnalch, die Herrin der Werwölfe, machte sich genug aus ihrer jüngsten Tochter, um sie zu unterstützen, obwohl sie sich, genau wie die übrige Familie, von ihr entfremdet hatte. Kalix konnte nicht nach Burg MacRinnalch in Schottland zurückkehren. Über Kalix’ große Schwester Thrix hatte Verasa ihrer Tochter finanzielle Unterstützung angeboten, falls sie in London blieb und das College besuchte. Das war besser, als wenn sie wieder herumgestrichen wäre, auf der Straße gelebt und in Lagerhäusern geschlafen hätte.
Kalix saß mit gesenktem Kopf am Tisch, die Haare reichten ihr bis zur Hüfte. Sie war immer noch das dünnste Mädchen, das Moonglow je gesehen hatte. Bei ihrer ersten Begegnung war Kalix schmerzlich dürr, dreckig und abgerissen gewesen. Jetzt, einige Monate später, war sie sauber, besser genährt und einigermaßen gesund. Obwohl sie immer noch nicht richtig auf sich achtete, trat ihre innere Werwolfstärke allmählich wieder zutage.
Kalix seufzte. Hätte sie das Angebot ihrer Mutter doch nur ablehnen können. Leider brauchte sie Geld. Moonglow und Daniel hatten sich während der letzten Monate um sie gekümmert, ihr reichlich rohes Fleisch für ihre Zeit als Werwölfin besorgt und ihr so viel Secondhand-Kleidung gekauft, wie sie sich leisten konnten, aber sie wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Die beiden jungen Studenten waren nicht reich, und Kalix konnte ihnen nicht ewig auf der Tasche liegen. London war ein teures Pflaster, und die beiden mussten Rechnungen bezahlen.
Dann war da noch das Laudanum. Kalix brauchte immer noch Geld für ihre Sucht, so beschämend sie auch war. Die finanzielle Unterstützung, die ihre Mutter ihr angeboten hatte, konnte wirklich viele ihrer Probleme lösen. Wenn sie doch nur nicht zum College gehen und allen zeigen müsste, wie dumm sie war.
Vex hüpfte zum Tisch hinüber.
»Ist das nicht großartig? Ich hätte nie gedacht, dass Tante Malvie es erlaubt, aber jetzt bin ich hier, und ich will ganz viel lernen! Ich habe neue Buntstifte!« Sie sah auf ihre Füße. »Neue Stiefel wären auch nicht schlecht gewesen. Sie hätte doch wirklich Geld für ein neues Paar rausrücken können. Es ist echt eine Schande, mich in alten Stiefeln ins College zu schicken.«
Ein heftiger orangefarbener Blitz durchzuckte das kleine Wohnzimmer. Königin Malveria war eingetroffen.
»Jämmerliche Nichte, die einzige Schande ist, dass du scheußliches Kind bald ahnungslose Lehrer heimsuchen wirst und sie wahrscheinlich an dem Versuch verzweifeln, Wissen in deinen Kopf zu zwingen. Diese Aufgabe wird zweifellos noch durch diesen absurden Wust erschwert, den du als Frisur bezeichnest.«
Agrivex grinste. Wie alle Hiyasta besaß sie dunkle Haut, die ihre extrem blondierten Haare noch auffälliger wirken ließ. Sie standen in großen, wasserstoffblonden Stacheln ab, die mit einer ganzen Reihe von Haarprodukten festzementiert waren. In Königin Malverias elegantem Palast fiel der junge Feuergeist damit auf wie ein bunter Hund, und als die Feuerkönigin bei ihrem letzten großen Festessen mit ansehen musste, wie Vex mit ihren grellen Haarstacheln hereingeschlendert kam, hatte sie endlich beschlossen, es sei vielleicht keine schlechte Idee, ihre Nichte für einige Zeit fortzuschicken. Ihre treuen Untertanen verdienten eine Atempause von Vex’ modischen Schandtaten, die langsam auch ein schlechtes Licht auf die Königin warfen. Malveria war für ihre Eleganz berühmt. Sie wurde von Thrix MacRinnalch eingekleidet, und Thrix war als Modeberaterin unübertroffen.
Die Königin funkelte Agrivex voller Missfallen an.
»Woraus zum Teufel besteht dieses T-Shirt?«
»Aus Plastik«, antwortete Agrivex.
»Woher hast du ein solches Kleidungsstück bekommen?«
»Ich hab’s aus einer Abfalltüte gemacht.«
»Ich muss mich über dich wundern«, sagte die Königin spöttisch. »Selbst unser junger Daniel hier, der für seine verlotterte Kleidung bekannt ist, würde so etwas nicht tragen.«
»Danke«, grummelte Daniel und ließ sich das Haar ins Gesicht fallen. Es war ihm ein wenig peinlich, dass ihn die elegante Malveria als verlottert bezeichnet hatte.
»Nun, Agrivex«, fuhr die Königin fort, »hör mir genau zu. Es kostet mich sehr viel Kraft, dich in dieser Welt leben zu lassen, selbst für wenige Tage. Deshalb vertraue ich darauf, dass du dich mehr als bisher anstrengen wirst, dich anständig zu benehmen. Die brillantesten Gelehrten der Hiyasta sind über deiner einzigartigen Dummheit verzweifelt. Lass es an diesem menschlichen College nicht auch so weit kommen. Wenn du mich enttäuschst, werfe ich dich höchstpersönlich in den Großen Vulkan, wie du es schon seit vielen Jahren verdient hättest.«
Königin Malveria richtete den Blick auf Daniel und Moonglow.
»Ich danke euch noch einmal dafür, junge Menschen, dass ihr Agrivex bei euch aufnehmt. Sie kann pro Woche nur drei Tage lang bei euch wohnen –«
»Vielleicht auch vier«, unterbrach Agrivex eifrig.
»Möglicherweise auch vier, obwohl ich so viel Macht nicht gern einsetzen würde – ich betrachte es als großen Gefallen, dass sie hier wohnen darf.«
Die Königin schwieg kurz, dann sah sie wieder Vex und Kalix an. »Nun«, verkündete die Königin gebieterisch. »Sind die Schülerinnen bereit, etwas zu lernen?«
»Ich bin total bereit!«, kreischte Agrivex und fing an herumzuspringen.
Alle Blicke richteten sich auf Kalix, aber die junge Werwölfin antwortete nicht. Sie starrte zu Boden und wünschte sich, sie wäre irgendwo anders, nur nicht auf dem Weg zum College.
Prinzessin Kabachetka war nicht glücklich. Zwar war ihr Rang als beliebteste Prinzessin der Hainusta gesichert, ihre Haare hatten einen goldblonden Ton, der für alle anderen Feuergeister unerreichbar blieb, und sie besaß herrliche Kleider, doch sie hatte in letzter Zeit einige Enttäuschungen hinnehmen müssen. Bei der Feier zum fünfhundertsten Geburtstag der Hexe Livia war die Prinzessin von Königin Malveria, der Herrscherin über die Hiyasta, ausgestochen worden. Aus dem erbitterten Wettstreit um die Vorherrschaft in Modefragen war Königin Malveria als Siegerin hervorgegangen.
»Und alles bloß«, dachte die Prinzessin verbittert, »weil diese scheußliche Werwölfin Thrix MacRinnalch ihre Kleider entwirft. Ohne sie wäre Königin Malveria als die stillose Hochstaplerin bloßgestellt, die sie ist.«
Thrix MacRinnalch entfachte nicht als einzige Werwölfin Prinzessin Kabachetkas Zorn. Vielleicht war es unklug, aber seit einiger Zeit interessierte sich die Prinzessin für die Belange des MacRinnalch-Werwolfclans. Sie hatte sich tief in die Fehde um ihre Anführerschaft verstrickt, den großen Werwolf Sarapen unterstützt und eine gewisse Leidenschaft für ihn entwickelt. Aber Sarapen war von einer Gruppe Werwölfe besiegt worden, die sich gegen ihn gestellt hatten, allen voran Kalix MacRinnalch, ihre Cousine Dominil und wieder einmal Thrix, die Werwolfzauberin. Natürlich hätte dieser zusammengewürfelte Haufen Sarapen und die Prinzessin nicht besiegen können, hätte er nicht von Königin Malveria Hilfe erhalten. Seitdem brannte die Prinzessin vor Wut auf Malveria und ihre schäbigen Werwolffreunde.
Kaiserin Asaratanti, die Herrscherin dieses Reiches, war überrascht, als ihre älteste Tochter sie am frühen Abend besuchte. Um diese Zeit kleidete sich Prinzessin Kabachetka normalerweise in ihren Gemächern für ihre abendlichen Verpflichtungen an. Soweit die Kaiserin sich erinnern konnte, hatte sie diese Routine noch nie unterbrochen. Asaratanti musterte ihre Tochter misstrauisch. Falls sie wieder Geld leihen wollte, würde die Kaiserin einen guten Grund dafür verlangen, denn die Prinzessin litt unter einer unheilvollen Neigung zur Verschwendung.
»Sei gegrüßt, Tochter.«
Der Thronsaal der Kaiserin war strahlend und herrlich, wie es sich für die Herrscherin der Hainusta-Feuergeister geziemte, und die dunkelroten Juwelen im Thron der Kaiserin spiegelten das helle, flackernde Licht der Wandfackeln wider. Die Fackeln der Hainusta brannten besonders strahlend, und sie gingen nie aus.
»Kaiserliche Mutter«, sagte die Prinzessin. »Ich erbitte deinen Rat.«
Die Kaiserin wartete. Wenn sich ihre Tochter kein Geld leihen wollte, konnte sie nur in irgendeiner Modekrise stecken. Vielleicht suchte sie einen neuen Designer.
»Es geht um die Werwölfe«, sagte Kabachetka zur Überraschung ihrer Mutter.
»Um die Werwölfe? Welche Werwölfe?«
»Die MacRinnalchs.«
Die Kaiserin war erstaunt. Heutzutage unterhielten die Hainusta nur wenig Kontakt zur Erde und beinahe gar keinen zu den MacRinnalchs oder anderen Werwölfen.
»Ich muss sie bestrafen«, fuhr die Prinzessin fort.
»Und wofür?«
»Für ihren unrechtmäßigen Angriff auf Sarapen und dafür, dass sie Markus MacRinnalch zum Oberhaupt ihres Clans gemacht haben.«
Kaiserin Asaratanti konnte ihr nicht folgen. Die MacRinnalchs lebten in Schottland, einem kleinen Land auf dem Planeten Erde, eine ganze Dimension von den Feuergeistern entfernt. Warum Prinzessin Kabachetka sich auch nur im Geringsten um sie kümmerte, begriff die Kaiserin nicht. »Warum sollte ich mich mit einer kleinen Unterart der menschlichen Rasse befassen? Ich muss mich um die Staatsgeschäfte sorgen und kann meine Zeit nicht mit seltsamen Grüppchen ungehobelter Wesen in anderen Dimensionen verschwenden.«
»Diese Werwölfe haben mit ihren Taten unsere Dimension beeinflusst. Sie sollten bestraft werden.«
»Als einzigen Einfluss, liebste Tochter, habe ich bemerkt, dass Königin Malveria jetzt besser gekleidet ist als du. Das ist bedauerlich, weil es ein schlechtes Bild auf unser Volk wirft, aber doch kaum Grund genug, die Grenzen zwischen den Dimensionen einzureißen.«
»Ich habe gelitten!«, schrie die Prinzessin gequält. »Und ich will Rache! Ich bitte dich, Mutter Kaiserin, hilf mir, mich zu rächen.«
Königin Malveria teleportierte sich vor die Wohnung von Thrix MacRinnalch, einer schottischen Werwölfin und Zauberin, die zurzeit in London lebte. Sie sammelte sich, bevor sie anklopfte.
»Meine liebste Thrix!«
»Malveria. Ist etwas passiert?«
»Nein, nichts, Zauberin. Warum fragst du?«
»Weil aus deinen Fingerspitzen Flammen schlagen.« Thrix führte Malveria in die Wohnung, bevor noch jemand im Flur auftauchte. Die Feuerkönigin konnte sich dem Reich der Menschen anpassen, aber manchmal übermannten sie ihre Gefühle. Einmal hatte Malveria vor lauter Aufregung ein neues Paar Schuhe versengt. Allerdings konnte Thrix ihr das nicht allzu sehr verdenken. Bei einem neuen Paar Schuhe wurde sie genauso aufgeregt wie die Feuerkönigin.
Malveria ließ die Flammen sofort verlöschen.
»Es tut mir leid. Ich habe gerade Agrivex besucht. Ich versuche ja, ruhig zu bleiben, aber sie ist eine wahre Prüfung. Stell dir vor, sie hat tatsächlich ein T-Shirt aus Plastik getragen.«
Thrix zuckte zusammen. Das klang wirklich schlimm.
»Und dann hat sie mich Tante Malvie genannt, was ich überhaupt nicht ausstehen kann. Es ist ungemein respektlos. Und ich komme mir dabei alt vor. Hast du etwas Wein da?«
Mit einem Fingerschnipsen holte die Zauberin eine Flasche und zwei Gläser aus der Vitrine.
»Wenigstens hast du jetzt eine Zeitlang Ruhe vor ihr.«
Malveria nickte zustimmend. »Ihre drei Tage pro Woche an diesem menschlichen College werden mir wunderbare Erholung verschaffen. Ich wünschte nur, es könnte länger sein. Aber es benötigt viel Zauberkraft, damit ein Feuergeist in dieser Welt bleiben kann, vor allem einer mit so wenig natürlicher Macht wie meine schreckliche Nichte. Das dumme Mädchen würde ohne die Schutzzauber, mit denen ich es umgebe, verkümmern und sterben.«
Genussvoll nippte die Königin an ihrem Wein.
»Zweifelsfrei wird sie nicht lernen, sondern ihre Zeit damit verbringen, um junge Männer, Musiker und fragwürdige Marktstände herumzuscharwenzeln. Es wird sicher eine Katastrophe geben.«
»War die ganze Sache nicht deine Idee?«, fragte Thrix.
»Ja, aber ich musste sie irgendwie aus dem Palast bekommen. Die Angelegenheit mit dem Igel hatte mich zur Verzweiflung getrieben.«
»Mit welchem Igel?«
»Agrivex hat ein T-Shirt mit dem Bild eines Igels darauf getragen, was ich ihr natürlich verboten hatte.«
»Warum?«
»Weil Igel unreine und gefährliche Wesen sind, im Land der Hiyasta gelten sie als dreckig und tabu. Ist es hier nicht genauso? Nein? Sehr seltsam. Ich hätte gedacht, dass Igel überall gehasst werden. Agrivex wollte mit ihrem T-Shirt ganz eindeutig rebellieren. Es ist mir ein Rätsel, was in dem Kopf dieses Mädchens vorgeht.«
»Vielleicht hat sie sich heimlich gewünscht, dass du sie aufs College in London schickst.«
»Sehr gut möglich. Agrivex ist zwar nicht intelligent, aber doch ein Stück weit gerissen und listig.«
Thrix war die Aufgabe zugefallen, für Kalix und Vex ein passendes College zu finden. Bei der Abneigung, die Thrix für ihre jüngere Schwester empfand, hatte sie diese Verantwortung nicht gerne übernommen, aber nachdem ihre Mutter, die Herrin der Werwölfe, sie darum gebeten hatte, hatte sie sich dazu verpflichtet gefühlt. Thrix hatte die Aufgabe an ihre Assistentin Ann weitergereicht, die einige in Frage kommende Einrichtungen herausgesucht hatte. Gegen eine entsprechende Gebühr konnten langsame Schüler an vielen Instituten Förderunterricht erhalten. Es ging nur darum, dass Kalix und Agrivex an einer angesehenen Schule landeten. Das kleine College, das sie aussuchten, gehörte zu der Universität, an der Daniel und Moonglow studierten, und das war schon einmal beruhigend. Thrix hielt nicht viel von Daniel und Moonglow, aber sie musste zugeben, dass die beiden auf Kalix einen guten Einfluss ausübten.
Malveria nahm eine Ausgabe der französischen Vogue zur Hand. Sie verstand zwar kein Französisch, fand aber die Schuhe auf dem Cover extrem anziehend. »Ein hübscher Fliederton. Aber ich bin für die nächste Saison schon reichlich mit fliederfarbenen Schuhen ausgestattet, nicht wahr?«
»Ja, bist du«, antwortete Thrix, die schon seit einiger Zeit dafür sorgte, dass Malveria der Mode immer voraus war.
Malveria wirkte zufrieden, obwohl sie nicht einmal das Wissen, dass sie üppig mit modischen Schuhen ausgestattet war, ganz von dem Gedanken an Agrivex ablenken konnte. »Es ist schon seltsam. Früher haben die Hiyasta die Menschheit gepeinigt. Als die Menschen noch in Höhlen lebten, haben wir mit ihnen Krieg geführt, weil sie Feuer benutzten. Jetzt gebe ich mein Gold dafür aus, meine Nichte auf ein menschliches College zu schicken.«
Stirnrunzelnd schüttelte die Feuerkönigin den Kopf.
»Meine Ratgeber konnten das kaum begreifen. Allerdings fanden sie auch, dass verzweifelte Maßnahmen gerechtfertigt waren, um Agrivex loszuwerden. Mit ihrer Igelkleidung hatte sie schon viele Feuergeister vor den Kopf gestoßen. Genauso wie mit ihren Fäustlingen.«
»Fäustlingen?«
Malveria schauderte. »Sie ist sicher die einzige Hiyasta, die je welche getragen hat. So hoffnungslos sie als Feuergeist auch sein mag, man sollte doch meinen, dass sie wenigstens ihre Hände warm halten kann. Glaubst du, Daniel und Moonglow werden mit ihr fertig?«
Thrix zuckte mit den Schultern. »Du kennst sie wahrscheinlich genauso gut wie ich. Seit Markus Fürst ist, habe ich sie kaum noch gesehen.«
»Hast du nicht ein Auge auf Kalix, wie deine Mutter es gewünscht hat?«
»Nein, habe ich nicht«, antwortete Thrix bestimmt.
»Bist du immer noch böse darüber, dass ihr Geliebter Gawain mit deinen Gefühlen gespielt und dich dann grausam abserviert hat?«
Thrix kniff die Lippen zusammen und schluckte eine wütende Antwort herunter. »Um Gawain geht es nicht. Du weißt doch, wie sehr ich es hasse, wenn mich der Clan in seine Angelegenheiten hineinzieht.«
»Man könnte fast meinen, du bedauerst es, eine Werwölfin zu sein«, sagte Malveria schelmisch.
»Ich bin gerne eine Werwölfin. Mich nerven nur die ganzen anderen Werwölfe.«
»Ich würde gerne noch bleiben, Zauberin, damit wir auf deinem wunderbaren Kabelfernsehen die japanische Modesendung sehen können, aber ich muss jetzt Whist spielen.«
»Seit wann spielst du denn Whist?«, fragte Thrix überrascht.
»Seit Herzogin Gargamond regelmäßige Whistabende auf ihrem Schloss eingeführt hat, ist das Spiel bei meinen Hofdamen beliebt. Ich spiele nicht besonders gern Karten, aber das ist eine wunderbare Gelegenheit, mit diesem fabelhaften blassblauen Kleid anzugeben, das du mir letzte Woche geliefert hast.«
Die Königin entmaterialisierte sich und ließ nur einen Hauch von Jasmin zurück. Thrix war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war, Agrivex in das gleiche Haus wie ihre kleine Schwester Kalix ziehen zu lassen. Eine Hausgemeinschaft aus zwei jungen Studenten, einer jungen Werwölfin und einem jungen Feuergeist klang nach Ärger. Aber solange Thrix dadurch nicht in irgendeine Familienkrise verwickelt wurde, kümmerte sie das wenig. Die Freundschaft zwischen Thrix und Kalix war nie besonders eng gewesen, und sie hatte an dem Tag geendet, an dem Kalix herausgefunden hatte, dass ihre ältere Schwester mit Gawain, ihrer großen Liebe, geschlafen hatte. Seitdem gingen sich die beiden Frauen geflissentlich aus dem Weg, und Thrix hätte nichts dagegen gehabt, ihre Schwester nie wiederzusehen.
Decembrius MacRinnalch blieb nach der großen Schlacht in London. Er verspürte nicht den leisesten Wunsch, auf die Burg in Schottland zurückzukehren. Decembrius war Sarapen als treuer Anhänger gefolgt, und nach dessen Tod wusste der junge, rothaarige Werwolf nicht, was er mit sich anfangen sollte.
Er hätte nach Hause zurückkehren können, wenn er es gewollt hätte. Markus, der neue Fürst, hatte allen vergeben, die gegen ihn gekämpft hatten. Die Werwolfbarone MacGregor, MacAllister und MacPhee hatten mit dem Clan der MacRinnalchs Frieden geschlossen. Einigen war es damit sicher ernster als anderen, aber nach Sarapens Tod gab es keinen Grund zum Kämpfen mehr. Es gefiel vielleicht nicht jedem, dass Markus zum Fürsten geworden war, aber es war nun einmal geschehen.
Decembrius saß, wie häufig nachmittags, in einem kleinen italienischen Café in Camden. Er trank Kaffee, las eine Zeitung und fühlte sich unzufrieden. Eigentlich sollte er nach Schottland zurückkehren. Durch die Todesfälle während der jüngsten Fehde war er in den Großen Rat der MacRinnalchs aufgestiegen. Seine Mutter Lucia hatte mit dieser Ehre im ganzen Clan angegeben, aber Decembrius konnte ihren Enthusiasmus nicht teilen. Er hatte Sarapen bewundert, und er war sicher gewesen, dass der große, mächtige Werwolf, der älteste Sohn des verstorbenen Fürsten, aus dem Kampf um die Nachfolge als Sieger hervorgehen würde. Sarapens Tod hatte Decembrius erschüttert und ihm seine Illusionen geraubt. Für die Angelegenheiten des Clans konnte er kein großes Interesse aufbringen.
Er starrte über seine Zeitung hinweg auf eine Stelle direkt über dem Druck von da Vincis Letztem Abendmahl an der Wand des Cafés. Er ließ den Blick über die Wand schweifen, dann versuchte er, sich auf nichts zu konzentrieren. Kurze Zeit später schüttelte er stirnrunzelnd den Kopf. Von klein auf war Decembrius hellsichtig, er konnte kurze Blicke in die Zukunft werfen und Dinge erkennen, die anderen verborgen blieben. Zwar hatte er seine Kraft nie gut kontrollieren können, aber im letzten Jahr hatte er einige Fortschritte gemacht. Seit der Schlacht, in der Sarapen gefallen war, waren seine Vorahnungen verschwunden. Decembrius konnte nicht erkennen, was ihm die Zukunft bringen würde.
Seine Mutter Lucia, Verasas Schwester, konnte es kaum erwarten, ihn im Ratssaal zu sehen. Doch bei dem Gedanken, mit Thrix und Dominil an einem Tisch zu sitzen, graute Decembrius. Beide hatten gegen Sarapen gekämpft. Thrix hatte Kalix beschützt, und Dominil hatte Andris getötet, Sarapens Leibwächter und ein weiterer Werwolf, den Decembrius sehr respektiert hatte.
Seine Wut ebbte ab, bis er sich deprimiert fühlte. Decembrius hatte schon immer zu Depressionen geneigt, und er machte sich Sorgen, er könnte auf eine ernsthaft depressive Phase zusteuern. Solange er mit der Arbeit für Sarapen beschäftigt gewesen war, hatte er das nicht registriert. Nach Sarapens Tod war das Gefühl zurückgekehrt, und der Verlust seiner Kräfte machte es noch schlimmer. Noch ein Grund, nicht nach Schottland zurückzukehren. Der Werwolfclan der MacRinnalchs brachte in der Regel wenig Mitleid für depressive Werwölfe auf.
Um sich von seinen trüben Gedanken abzulenken, sah Decembrius sich im Café um und starrte unverwandt zwei junge Frauen an, die sich gerade an einen der kleinen Tische gesetzt hatten. Decembrius war jung und gutaussehend, wenn auch etwas hager. Wie alle Werwölfe aus dem MacRinnalch-Clan strahlte er Vitalität aus. Hier in London litt Decembrius keinen Mangel an weiblicher Gesellschaft. Diese Affären hielt er lieber vor den neugierigen Blicken auf Burg MacRinnalch, besonders vor denen seiner Mutter, geheim. Wie viele traditionelle Werwölfe in Schottland hielt Lucia nicht viel von den Liebschaften der jüngeren Generation.
Decembrius fuhr sich mit den Fingern durch das dunkelrote Haar und strich es zurück; er hatte es während der letzten Monate wachsen lassen. Außerdem trug er auf der linken Seite einen weiteren goldenen Ohrring. Seit er Beauty und Delicious getroffen hatte, die berüchtigten Cousinen, von denen die Familie nicht sprach, gab Decembrius sich Mühe, trendiger zu werden. Durch die Zwillinge mit ihrem abgedrehten Äußeren und Lebensstil war er sich älter vorgekommen, als er es mit seinen sechsundzwanzig Jahren war.
Sicher, die Zwillinge hatten auch gegen Sarapen gekämpft, aber nicht besonders wirkungsvoll. Für Werwölfinnen waren Beauty und Delicious nicht gerade grimmige Kämpferinnen. Nicht so wie Kalix. Dieser Werwölfin würde man in einer Schlacht nicht gegenüberstehen wollen. Nicht einmal Sarapen hatte sie besiegen können. Allerdings war Kalix auch verrückt. Wahrscheinlich spürte sie nicht einmal Schmerzen, wie normale Werwölfe. Sie hatte ihren Vater, den Fürsten, so schwer verletzt, dass er gestorben war, war deswegen verbannt worden und hatte so die Kette von Ereignissen ausgelöst, die zu dieser brutalen Fehde geführt hatten. Seine Frau Verasa hatte danach ihren zweiten Sohn Markus als Fürsten nominiert statt ihres Erstgeborenen Sarapen. Das hatte zum Krieg geführt und zu vielen Toten. Kalix hatte alles ausgelöst, und sie hatte es auch beendet. Sie hatte den tödlichen Stich geführt und Sarapen umgebracht. Das würden ihr viele Clanmitglieder nie vergeben.
Draußen fuhr ein Krankenwagen vorbei, mit laut heulender Sirene drängte er sich durch den dichten Verkehr. Das hektische London war das genaue Gegenteil der friedvollen schottischen Highlands, in denen Decembrius aufgewachsen war. Mittlerweile zog er den Lärm der Stadt vor. Als er in seine leere Kaffeetasse starrte, wurde ihm klar, dass er in letzter Zeit oft an seine Cousine Kalix dachte. Er sah sie noch vor sich, wie sie voll unstillbarer Wut kämpfte. Decembrius musste fast lächeln. Im Kampf war Kalix wahnsinnig. Und sonst auch, hätten einige Familienmitglieder behauptet.
Dazu war sie schön, so dürr und abgerissen, wie sie war. Decembrius fragte sich, was sie seit Sarapens Tod getan hatte. Aber Kalix’ Aufenthaltsort wurde geheim gehalten. Strenggenommen betrachtete der Clan sie immer noch als Flüchtige, und die Herrin der Werwölfe würde nicht riskieren, dass ihre jüngste Tochter zurück auf Burg MacRinnalch geschleift wurde, wo sie sich ihrer Strafe stellen müsste. Thrix und Dominil wussten wahrscheinlich, wo Kalix wohnte, aber jemandem wie ihm, der vor kurzem noch ihr Feind gewesen war, würden sie eine solche Information nicht geben. Kalix blieb durch Geheimhaltung und Zauberei verborgen, und niemand konnte sie finden.
Decembrius schürzte die Lippen. Ob sie sich noch mit Gawain traf? Kalix hatte sich schon sehr jung mit ihm eingelassen, und der Clan hatte auf die Affäre entsetzt reagiert. Gawain war verbannt worden, aber schließlich hatten sie doch wieder zueinandergefunden. Ob ihre erneuerte Beziehung den Schock über die MacRinnalch-Fehde überstanden hatte, wusste Decembrius nicht. Hoffentlich nicht, dachte er. Decembrius hatte Gawain nie besonders gut leiden können.
Stirnrunzelnd bestellte Decembrius noch einen Kaffee, dann sah er auf die Wanduhr. Er musste noch etwas Zeit totschlagen, bevor er sich mit den Douglas-MacPhees traf. Auf die Begegnung freute er sich nicht gerade. Duncan, Rhona und Fergus bildeten ein brutales, kriminelles Werwolftrio, das weder den Clan noch irgendwen sonst achtete. Besser gesagt hatten sie ein brutales Trio gebildet, bis Kalix den mächtigen Werwolf Fergus getötet hatte. Die Erinnerung daran ließ Decembrius fast lächeln. Fergus hatte auch für Sarapen gekämpft, aber Decembrius konnte nicht einmal vorgeben, seinen Tod zu bedauern. Kalix hatte ihn vernichtet, sie hatte ihn in der rasenden Wut ihres Kampfrausches zerfetzt. Dass Fergus größer und stärker war, hatte ihm nichts genutzt.
»Duncan und Rhona sehen das sicher nicht so locker«, dachte Decembrius und überlegte, ob sie vielleicht nach Kalix suchten, um sich zu rächen. Der Gedanke beunruhigte ihn, und er beschloss herauszufinden, ob die beiden irgendetwas über Kalix’ Aufenthaltsort wussten.
Moonglow blieb die ganze Zeit über wegen Kalix’ erstem Tag am College nervös. So sehr Daniel ihr auch gut zuredete, er konnte ihre Sorge nicht lindern.
»Sollen wir sie nach dem Unterricht abholen?« Kalix’ College lag in der Nähe von Moonglows und Daniels Universitätsgebäude, gleich auf der Südseite des Flusses. Daniel war dagegen. »Wenn wir sie am Tor abholen, glaubt sie, wir würden sie wie ein Kind behandeln. Dann ärgert sie sich nur. Hör auf, dir Sorgen zu machen, alles wird gut.«
Moonglow war sich da nicht so sicher. Auf dem Heimweg mit Daniel war sie so abgelenkt, dass sie ihm nicht zuhörte. Sein ewiger Feldzug, Moonglow zu einer Verabredung zu überreden, erwies sich als noch weniger erfolgreich als sonst. Er wollte ihr erklären, wie er sich durch das neunte Level von Grimcat, seinem derzeitigen Lieblingsspiel, gekämpft hatte, aber sie schien kaum hinzuhören, obwohl Daniel davon überzeugt war, dass die Geschichte ihn gut dastehen ließ. Level neun war nämlich besonders schwierig.
Zu Hause lief Moonglow rasch die Treppe zu ihrer kleinen Wohnung über dem leerstehenden Ladenlokal hinauf.
»Ich koche für sie Tee. Das ist doch eine schöne Begrüßung. Vielleicht sollte ich auch eine Duftkerze anzünden. Irgendwas Beruhigendes.«
Ein paar Minuten später flog unten die Tür mit einem Knall auf, dann trampelten zwei Paar Stiefel die Treppe herauf. Kalix öffnete die Wohnzimmertür und stapfte herein. Als Moonglow sie fröhlich begrüßte, stapfte die sichtlich unglückliche Werwölfin einfach weiter.
»Blödes College«, grummelte sie, dann verschwand sie oben in ihrem Zimmer. Hinter ihr kann Agrivex hereingehüpft.
»Ich habe ein goldenes Sternchen bekommen!«, verkündete sie, sprang wild herum und schwenkte dabei eine Kladde, die sie, wie Moonglow bemerkte, schon mit bunten Neonstiften bemalt hatte.
»Ich habe einen Goldstern für mein Gedicht bekommen!«
Daniel und Moonglow waren erstaunt. Sie wussten, dass Vex ein College für Menschen besuchte, die nicht gut lesen konnten, aber es war für Erwachsene, nicht für Kinder. Die beiden hätten nicht gedacht, dass man dort Goldsterne verteilen würde.
»Seht mal!«, rief Vex glücklich. Moonglow sah es sich an. Auf der ersten Seite stand ein sehr kurzes Gedicht, und darunter hatte Vex »Golldstärn« geschrieben.
»Äh … hast du das von der Lehrerin?«
»Ja! Sie hat der ganzen Klasse gesagt, wie toll mein Gedicht ist! Also war es natürlich einen Goldstern wert. Willst du es lesen?«
Lächelnd über den Eifer des jungen Feuergeistes ließ Moonglow sich die Kladde geben.
Ich hätte gerne einen Igel.
Ich würde mit ihm auf den großen Vulkan steigen,
der nahe beim Palast steht.
Ich lebe in einem goldenen Palast.
»Die Lehrerin hat gesagt, das wäre sehr phantasievoll«, erzählte Vex, immer noch ganz aufgeregt. »Ist das nicht klasse? Ich habe am ersten Tag am College einen Goldstern bekommen!«
»Phantasievoll ist es«, stimmte Moonglow aufrichtig zu. Fast jedes Wort war falsch geschrieben, aber Englisch war schließlich auch nicht Agrivex’ Muttersprache. Dafür hatte sie die Buchstaben verziert, soweit es nur ging. Nachdem sie über jedes »i« ein Herzchen gemalt hatte, hatte sie sich gedacht, das könnte man doch auch weiterführen. Jetzt war jeder Buchstabe bunt dekoriert. Die Seite wirkte gleichzeitig fröhlich und verwirrend.
»Willst du auch mein Gedicht lesen?«
»Ich habe es schon – ähm, ja, sicher«, antwortete Daniel, als er ihre erwartungsvolle Miene sah.
»Wie hat sich Kalix geschlagen?«, fragte Moonglow.
Vex’ Lächeln verschwand. »Ich glaube, ihr hat es nicht so gut gefallen.«
»Ich sehe mal lieber nach«, meinte Moonglow und verließ das Wohnzimmer, während Agrivex ihr Gedicht rezitierte.
Kalix lag oben in ihrem winzigen Zimmer auf ihrem Bett, leicht benommen vom Laudanum. In letzter Zeit hatte sie weniger von dem Opiat zu sich genommen, aber sie benutzte es immer noch regelmäßig. Laudanum war heutzutage kaum noch zu finden, weil die Menschen zu anderen Drogen übergegangen waren, aber einige Werwölfe bevorzugten es noch. Jede Woche machte sich Kalix auf den langen Weg zu Krämer MacDoig im Osten Londons, um ihre Vorräte aufzufrischen. Der Krämer hatte sie schon sehr früh mit dem Opiumderivat bekannt gemacht, und jetzt war die junge Werwölfin davon abhängig. Sein hoher Preis stellte Kalix ständig vor Probleme.
Der jungen Werwölfin hatte ihr erster Tag am College gar nicht gefallen. Überall waren Menschen gewesen, die sie nicht kannte. Unter Fremden hatte Kalix sich noch nie wohl gefühlt. Während Vex fröhlich mit jedem geplaudert hatte, der in ihre Reichweite kam, hatte Kalix sich beharrlich geweigert, sich auf ein Gespräch einzulassen, und den ganzen Tag lang feindselig geschwiegen. Vex brannte darauf, sich in das Collegeleben zu stürzen, aber Kalix hatte daran kein Interesse. Zwar fand sie es frustrierend und peinlich, praktisch eine Analphabetin zu sein, trotzdem hatte sie keine Lust, in einem Klassenzimmer zu sitzen und allen ihre Unwissenheit zu zeigen.
Als die Lehrerin angekündigt hatte, jeder solle ein Gedicht schreiben, hatte die junge Werwölfin entsetzt reagiert. Kalix gab sich zwar Mühe, ihr eigenes Leben festzuhalten, und schrieb jeden Tag in ihr Tagebuch, aber sie hatte noch nie ein Gedicht verfasst. Sie hatte keine Ahnung, wie man so etwas machte oder auch nur, wo sie anfangen sollte. Die Anweisung der Lehrerin, die Schüler sollten einfach ihre Vorstellungskraft nutzen, hatte sie völlig unzureichend gefunden. Während die anderen Schüler, von denen einige aus dem Ausland kamen und kaum die Sprache beherrschten, sich mit der Aufgabe abgemüht hatten, hatte Kalix mit gesenktem Kopf still dagesessen und verloren auf ihr Übungsheft gestarrt. Sie hatte gar nichts geschrieben und fand diese Erfahrung extrem peinlich, fast schon traumatisch. Das College war noch schlimmer, als sie erwartet hatte. Vex hatte die ganze Sache natürlich großartig gefunden. Auf dem Heimweg hatte sie in der U-Bahn pausenlos über ihr Gedicht geredet, das, soweit Kalix das sagen konnte, das Dümmste war, das jemals jemand geschrieben hatte. In diesem Moment hatte Kalix nur noch nach Hause gehen und sich mit Laudanum abfüllen wollen, und genau das hatte sie jetzt erreicht. Einen Moment lang war ihr schlecht, dann wurde sie angenehm müde. Sie deckte sich mit ihrem Quilt zu und wünschte, sie müsste nie wieder aufs College gehen.
Von dem Laudanum apathisch geworden, glitt Kalix in einen scheußlichen Traum ab. Missgestaltete Bäume ragten über ihr auf, während sie durch einen dunklen Wald schlich, und obwohl sie zu wissen glaubte, wohin sie ging, versperrte ihr plötzlich ein Gebüsch den Weg, ein Gebüsch, das vor grausigen Dornen starrte.
»Ich habe mich verirrt«, flüsterte sie.
»Verirrt? Du warst früher schon in den Wäldern der toten Werwölfe.«
Erschrocken schrie Kalix auf, sie versuchte zu sehen, wer das gesagt hatte, aber die Gestalt blieb hinter einem mächtigen Baum verborgen, einer Esche, die näher kam und die Zweige wie lange Finger nach ihr streckte. Kalix hieb mit den Klauen nach dem Baum, dabei wachte sie mit einem Schlag auf. Sie war schweißgebadet. Sie war vollständig angezogen eingeschlafen, deshalb war es ihr unter dem Quilt zu warm geworden. Kalix schlug die Decke zurück, setzte sich auf und schüttelte den Kopf, um wieder klar zu werden. Schon zum zweiten Mal in dieser Woche hatte sie von den Wäldern der toten Werwölfe geträumt.
»Ich war schon einmal da«, dachte die junge Werwölfin. »Ich bin noch nicht bereit zurückzugehen.«
Als sie aufstand, war sie im ersten Moment verwirrt, weil sie dachte, sie hätte wie im Traum ihre Werwolfgestalt angenommen. Aber sie war jetzt ein Mensch, sie war siebzehneinhalb Jahre alt, besuchte ein College und lebte in London. Genau wie tausend andere Mädchen, allerdings entstammte sie der Herrscherfamilie der MacRinnalchs, des größten Werwolfclans des Landes. Den ersten Teil ihres Lebens hatte sie auf Burg MacRinnalch in den schottischen Highlands verbracht. Während der letzten zwei Jahre war sie die meiste Zeit über auf der Flucht gewesen, sie hatte sich vor ihrer Familie versteckt, vor Werwolfjägern, hatte in Gassen und verlassenen Lagerhäusern gelebt. Jetzt, da sie nicht mehr fliehen musste, sollte ihr Leben doch besser sein. Kalix war nicht sicher, dass es das auch war.
Ihre neue Bleibe war bequemer, als auf der Straße zu schlafen, aber sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, ihr Leben mit anderen zu teilen. Es störte sie, dass sie ihr Verhalten anpassen musste. Als sie auf der Straße gelebt hatte, hatte sie gebettelt oder Geld gestohlen. Das konnte sie jetzt nicht mehr tun. Moonglow würde es nicht gefallen, wenn sie bettelte oder stahl, besonders nicht für Laudanum. Kalix runzelte die Stirn und wurde wütend. Wieso sollte es sie kümmern, was Moonglow dachte? Sie war Kalix MacRinnalch. Vor gerade einmal drei Monaten hatte sie ihren Bruder Sarapen im Kampf getötet, und er war der grimmigste Werwolf des ganzen Landes gewesen. Kalix MacRinnalch sollte sich keine Sorgen darüber machen müssen, was Moonglow dachte. Aber so einfach war es nicht. Moonglow war freundlich gewesen. Sie hatte Kalix eine Bleibe geboten, als sie nirgendwo anders hingehen konnte. Sie hatte ihr die Wunden ausgewaschen und sie mit Essen versorgt. Moonglow hatte ihr das Leben gerettet. Kalix runzelte die Stirn noch tiefer. Es war ein seltsames Gefühl, einem anderen verpflichtet zu sein. Und das gefiel ihr gar nicht.
Wie so oft überlegte Kalix, ob sie weggehen sollte. Sie konnte nirgendwo anders hingehen. Außer Daniel und Moonglow besaß sie keine Freunde, und zu ihrer Familie auf Burg MacRinnalch konnte sie nicht zurückkehren. Wenn sie das tat, könnte man sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft ziehen. Die Familie machte sie immer noch für den Tod ihres Vaters verantwortlich.
Durch ihre Erfahrungen am College hatte sich ihre Laune nicht gebessert. Kalix seufzte, dann nippte sie an ihrem Laudanum. Das Opiat dämpfte die Angstattacken, zu denen sie neigte, aber es verschlimmerte ihre Depressionen.
Hoch über ihr ging der Mond als schmale Sichel auf. Kalix spürte es. Sie überlegte, zum Trost ihre Werwolfgestalt anzunehmen. Wie alle reinblütigen MacRinnalchs brauchte Kalix keinen Vollmond, um sich zu verwandeln. Das konnte sie in jeder Mondphase, in jeder Nacht. In den drei Nächten um den Vollmond herum geschah die Verwandlung automatisch, in den anderen Nächten konnten die MacRinnalchs wählen. Auf ihren abgelegenen schottischen Ländereien verwandelten sich die Werwölfe sehr häufig. Sie gingen mit ihrem wahren Wesen sehr diskret um, aber sie schämten sich nicht dafür. Kalix genauso wenig. Sie war stolz darauf, eine Werwölfin zu sein. Allerdings musste sie sich hier in London mehr vorsehen, um es geheim zu halten. Daniel und Moonglow hatten sie akzeptiert, wie sie war, aber das bedeutete nicht, dass andere das auch tun würden. Außerdem musste sie an die Jäger denken.
Kalix schüttelte den Kopf, sie hatte ihren Albtraum immer noch nicht ganz verwunden. Über sich spürte sie den Mond. Es wäre tröstlich gewesen, sich zu verwandeln, aber sie zögerte noch. Als Werwölfin spürte sie Angst und Depressionen weniger stark, aber die Verwandlung hatte auch Nebeneffekte, die ihr nicht gefielen. Sie stopfte sich dann mit beinahe allem voll. Während ihrer Zeit auf der Straße hatte sie Hunde getötet und gegessen und die Abfälle von Supermärkten heruntergeschlungen. Jetzt wurde sie von Daniel und Moonglow gut versorgt. Der Kühlschrank war voller Fleisch, um ihren kräftigen Werwolfappetit zu stillen. Die Prasserei tat ihrer Gesundheit gut, aber am nächsten Tag, wenn Kalix wieder ein Mensch war, erinnerte sie sich daran, wie viel sie gegessen hatte und wie sehr sie das Essen verabscheute, und dann fühlte sie sich wieder schlecht. Manchmal übergab sie sich heftig.
Moonglow klopfte an ihre Tür.
»Verschwinde«, sagte Kalix.
»Willst du nichts von deinem ersten Tag am College erzählen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Das College ist blöd.«
Am liebsten hätte Kalix hinzugefügt: »Und Gedichte auch«, aber sie ließ es, weil sie kein Gespräch anfangen wollte.
»Hier ist ein Brief für dich.«
Kalix blinzelte. In ihrer leichten Benommenheit fragte sie sich, ob sie richtig gehört hatte. Ein Brief? Ihr schrieb nie jemand Briefe. Kaum jemand wusste, wo sie wohnte. Ihr Aufenthaltsort wurde durch Zaubersprüche von Thrix, der Werwolfzauberin, gut verborgen.
»Von wem ist er?«
»Weiß ich nicht«, antwortete Moonglow durch die geschlossene Tür. »Soll ich ihn reinbringen?«
»Nein«, antwortete Kalix, aber es war schon zu spät. Moonglow kam trotzdem herein und gab Kalix lächelnd den Brief. Kalix warf ihr einen finsteren Blick zu. Sie nahm den Brief, dann stopfte sie ihn unter ihre Decke, als wollte sie Moonglow sagen, dass sie auf keinen Fall über ihn reden wollte, egal, von wem er stammte.
Der Geruch von Laudanum hing schwer in der Luft. Kalix blieb stumm, als wollte sie Moonglow herausfordern, ihr einen Vortrag zu halten. Aber Moonglow sagte nichts dazu, sondern fragte fröhlich, wie der erste Tag am College gelaufen war. Kalix konnte sich ziemlich gut daran erinnern, dass sie Moonglow gerade erst gesagt hatte, es wäre schrecklich gewesen, und weigerte sich, darüber zu reden.
Als Moonglow merkte, dass Kalix sich auf keine nette Unterhaltung einlassen wollte, zog sie sich langsam zurück. Sie war zufrieden, dass Kalix sich wenigstens nicht schnitt – wozu sie auch neigte –, nicht in eine Angstattacke verfiel oder an einer Überdosis Laudanum starb.
Als Moonglow die Tür erreichte, platzte es aus Kalix ungewollt heraus: »War Vex’ Gedicht nicht unglaublich dumm? Was hat die Lehrerin nur daran gefunden?«
Moonglow zögerte. »Na ja, es war schon phantasievoll.«
»Nein, war’s nicht! Es war mies. Ich hasse ihr Gedicht.«
»Hast du auch eines geschrieben?«, fragte Moonglow freundlich.
»Nein. Und ich hasse das College«, antwortete Kalix und zog sich die Decke über den Kopf.
Kaiserin Asaratanti, ein Feuergeist mit majestätischem Auftreten und seit ihrem Besuch bei einem Schönheitschirurgen in Los Angeles vor kurzem auch mit einer sehr guten Figur, verstand immer noch nicht, warum ihre Tochter unbedingt eine Gruppe Werwölfe bestrafen wollte, die in der menschlichen Dimension lebte. Sicher, seit diese Manie für Haute Couture die Hofstaaten von Kaiserin Asaratanti und ihrer Nachbarin Königin Malveria ergriffen hatte, bestand stärkerer Kontakt zu der Welt der Menschen. Die hochgestellten Damen bei Hofe hatten sich beeilt, die dortigen Modedesigner in Anspruch zu nehmen. Sie hatten wirklich ein Händchen für Kleidung. Aber Werwölfe?
»Werwölfe sind ordinäre Kreaturen, Prinzessin. Unserer Aufmerksamkeit nicht wert. Warum solltest du dich mit ihnen abgeben?«
»Sie haben Königin Malveria geholfen!«, rief die Prinzessin. »Ohne den Beistand der MacRinnalchs hätte ich sie in den Schatten gestellt. Gefällt es dir etwa, dass deine Tochter jetzt Spott und Hohn von Malverias Hofdamen erdulden muss?«
Die Kaiserin dachte nach. Heutzutage herrschte zwischen den Hainusta und den Hiyasta zwar Frieden, aber gut verstanden hatten sie sich nie. Und Malveria war ohne Frage sehr von sich überzeugt. Asaratanti konnte es ihrer Tochter nicht verdenken, dass sie Malveria nicht mochte.
Der Thron der Kaiserin wurde in respektvollem Abstand von ihren Ministern und Höflingen umringt. Sie achteten sorgfältig darauf, keine Flammen auszustoßen, denn das wurde bei Hofe als ziemlich gewöhnlich missbilligt.
»Und was, liebste Tochter, soll ich tun?«
»Den Feinden der Werwölfe helfen.«
»Das hast du schon getan, indem du sie mit Zauberei versorgt hast. Ohne mich um Erlaubnis zu fragen.«
Verlegen trat die Prinzessin von einem Fuß auf den anderen. Es stimmte, sie hatte den Feinden von Thrix und Malveria mächtige Zaubersprüche beschafft, ohne darüber mit ihrer Mutter zu sprechen, und die hatte sie umgehend darauf angesprochen. Die Zauberkraft der Kaiserin war wichtig für die Verteidigung ihres Reiches, und es gehörte sich nicht, dass ihre verantwortungslose Tochter ihre Geheimnisse nach Lust und Laune an jedermann weiterreichte.
»Und du hast dabei versagt«, fuhr die Kaiserin fort. »Was die Sache noch bedauerlicher macht. Ich habe nicht vor, noch mehr meiner geheimen Zaubersprüche auf die Erde gelangen zu lassen, wo sie vielleicht untersucht und kopiert werden.«
»Dann könnten wir der Avenaris-Gilde jemanden zur Seite stellen«, schlug die Prinzessin vor.
»Der Avenaris-Gilde? Den Werwolfjägern? Deinem Bericht über diese traurige Angelegenheit zufolge waren sie vollkommen besiegt.«
»Deshalb sollten wir ihnen jetzt helfen. Mit unserer Unterstützung würden sie der Werwolfzauberin bald ein Ende bereiten. Ist die Zauberin erst einmal geschlagen, kann sie Königin Malveria keine Kleider mehr liefern. Und ohne ein neues Outfit jeden Tag ist die Frau ein Nichts.«
Die Kaiserin überdachte die Worte ihrer Tochter. Malveria einen Schlag zu versetzen käme ihr gelegen. Besonders jetzt, da sich der Grenzstreit über die Westliche Wüste immer noch hinzog.
»Was ich jetzt brauche, ist ein Hainusta, der auf die Erde gehen kann. Ein starker Krieger, der die Werwölfe besiegt«, sagte die Prinzessin.
»Feuergeister können auf der Erde nicht lange überleben. Du weißt doch, dass unsere Besuche in dieser Dimension begrenzt sind. Und übrigens, dieses blaue Kleid steht dir nicht.«
»Mein Designer ist unfähig!«, explodierte die Prinzessin. »Ein Grund mehr, Thrix MacRinnalch zu vernichten!«
Die Prinzessin wurde von einem Wutanfall über ihr mangelhaftes Outfit gepackt, aber dann beruhigte sie sich mit einem Blick auf ihre Füße. Sie trug ein neues Paar hochhackiger Sandalen, frisch aus Italien eingetroffen, in einem wunderschönen Grauton und mit zarten Riemchen, einfach tadellos. Ihr Kleid war vielleicht unzulänglich, aber dafür trug sie phantastische Schuhe. »Was die Frage betrifft, wie wir einen Krieger auf die Erde schicken können, hatte ich gehofft, dir würde etwas einfallen.«
»Ich werde darüber nachdenken«, antwortete die Kaiserin.
»Könntest du schnell darüber nachdenken?«
Die Kaiserin gähnte. »Ich bin zweitausend Jahre alt, liebste Tochter. Ich mache kaum noch etwas schnell. Aber ich werde überlegen.«
Als Prinzessin Kabachetka den mit Juwelen verzierten Thronsaal durch den mächtigen brennenden Torbogen verließ, war sie einigermaßen zufrieden. Wenn sie sich die Unterstützung ihrer Mutter sichern konnte, würde sie die verhasste Werwolfzauberin bestimmt besiegen können.
Dabei dachte die Prinzessin gar nicht in erster Linie an Thrix MacRinnalch, während sie in ihre Gemächer zurückkehrte. Sie brannte viel stärker darauf, eine andere Werwölfin zu vernichten: Kalix MacRinnalch. Prinzessin Kabachetka hasste die junge Werwölfin, weil sie Sarapen ein Messer tief in das Herz gerammt hatte. Die Prinzessin hatte sich in Sarapen verliebt, und jetzt wollte sie für seinen Untergang Rache üben. Sie hatte geschworen, dass Kalix MacRinnalch sterben würde.
Dominil MacRinnalch inspizierte voller Abscheu das Wohnzimmer. Wie üblich herrschte im Haus der Zwillinge ein enormes Durcheinander. Dominil fand diese Unordnung scheußlich. Schon mehrfach hatte sie professionelle Helfer anheuern müssen, weil das Chaos kritische Ausmaße erreicht hatte. Ein Trupp von Reinigungskräften hatte das Haus einigermaßen in Ordnung gebracht. Leider waren Beauty und Delicious unfähig, sie aufrechtzuerhalten. Der ganze Boden war übersät mit Gitarren, Kleidung, CDs, DVDs, Zeitschriften, Tellern, Tassen, Gläsern, Essensverpackungen und mehreren leeren Flaschen MacRinnalch-Whisky.
Dominil wusste, dass sie sich darüber nicht ärgern sollte. Schließlich wohnte sie nicht hier. Ihre eigene gemütliche Wohnung in London hatte ihr die Herrin der Werwölfe zur Verfügung gestellt, die scheinbar froh darüber war, dass Dominil Butix und Delix wieder half. Beauty und Delicious, wie die beiden sich lieber nannten, kamen bekanntermaßen nicht allein klar.
Die Werwolfzwillinge waren zwar nicht in der Lage, ihr Haus in Camden auch nur ansatzweise in Ordnung zu halten, dafür besaßen sie andere Talente. Vor einigen Monaten hatte Dominil ihnen geholfen, ihre Band wieder zusammenzubringen. Ihr erster Gig war überraschend gut gelaufen. Mehr als alles andere wünschten sich die Schwestern Erfolg, und sie würden ihn sogar erreichen, wenn sie sich bloß konzentrierten.
»Aber natürlich können sie das nicht«, dachte Dominil, hob eine CD vom Boden auf und stellte sie in ein Regal. Sie fragte sich, ob es eine gute Entscheidung gewesen war, den Zwillingen wieder zu helfen. Sie hatte die Aufgabe als Gefallen für Verasa, die Herrin der Werwölfe, übernommen und sie zu aller Zufriedenheit erledigt. Die Schwestern waren Dominil so dankbar gewesen, dass sie sogar auf Burg MacRinnalch zurückgekehrt waren und Markus zum Fürsten gewählt hatten. Darum war es Verasa und Dominil von Anfang an gegangen. Markus brauchte die Stimmen der Zwillinge, um gewählt zu werden. Nachdem das erreicht war, benötigte die Familie nichts mehr von ihnen. Trotzdem war Dominil wieder mit der erklärten Aufgabe in London, ihnen zu helfen. Yum Yum Sugary Snacks, die Band der Schwestern, brauchte mehr Proben, mehr Gigs und mehr Publicity. Für all das konnte Dominil sorgen. Noch vor ein paar Monaten hatte sie keine Ahnung vom Musikgeschäft besessen, aber sie war fähig und entschlossen und erreichte normalerweise, was sie sich vorgenommen hatte.
»Es wäre halb so schlimm, wenn die Zwillinge nicht so viel trinken würden«, dachte Dominil. »Und wenn sie nicht ständig eine Schar betrunkener Bewunderer und Schleimer um sich hätten.«
Dominil betrachtete ihr Spiegelbild in der Glasscheibe einer Vitrine. Ihr schneeweißes Haar war lang und gepflegt. Obwohl sie nicht besonders eitel war, pflegte Dominil ihr Haar sorgsam. Sie besaß als einzige lebende MacRinnalch ein weißes Fell, wenn sie ihre Werwolfgestalt annahm. Wenn sie sich ganz in eine Wölfin verwandelte, was viele MacRinnalchs konnten, sah sie aus wie eine große Polarwölfin. Es hieß, ihr eisig weißes Fell würde ihren Charakter widerspiegeln, und Dominil unternahm nichts, um diesen Eindruck zu ändern.
Dominil spürte Kalix näher kommen, schon bevor es klingelte. Sie besaß einen extrem feinen Geruchssinn, mit dem sie selbst in der Stadt, wo die widerstreitenden Gerüche überwältigend werden konnten, mögliche Gefahren entdeckte. Solche verstärkten Sinneswahrnehmungen waren nicht der einzige Unterschied zwischen den MacRinnalchs und den Menschen. Wenn der Mond schien, waren sie als Werwölfe übernatürlich stark, aber selbst bei Tageslicht und in menschlicher Gestalt besaßen die MacRinnalchs außergewöhnliche Kräfte.
Kalix traf genau zur vereinbarten Zeit ein, was Dominil gefiel. Generell neigten die Leute dazu, bei Verabredungen mit ihr pünktlich zu erscheinen. Die junge Werwölfin sah besser aus als bei ihrem ersten Treffen mit Dominil in London. Sie war immer noch extrem dünn und ziemlich blass, aber ihr außergewöhnlich langes Haar war jetzt gepflegt statt struppig und voller Nester. In ihren Augen lag nicht mehr dieser verstörte Blick wie früher auf der Flucht. Sie trug einen langen, dunklen Mantel, wie die MacRinnalchs ihn zu bevorzugen schienen. Kalix war jetzt beinahe achtzehn, aber seit sie gesünder war, sah sie jünger aus.
Kalix stand zögernd auf der Schwelle und blickte zu Dominil auf, die auch für eine MacRinnalch groß war. Obwohl Kalix Dominil mochte, fühlte sie sich in ihrer Gegenwart etwas unwohl. Außerdem konnte Kalix bei niemandem voller Selbstvertrauen ins Haus marschieren. Sie hatte schon zu viel Ablehnung und Feindseligkeit erfahren, um darauf zu vertrauen, irgendwo willkommen zu sein. Beide sahen sich mit ausdrucksloser Miene an. Kalix war zu schüchtern, um zu lächeln, und Dominil lächelte überhaupt selten. Auch, als sie in das Wohnzimmer der Zwillinge gingen, blieb es unbehaglich.
»Wie du siehst, besitzen die Zwillinge immer noch einen Hang zur Unordnung«, sagte Dominil.
Kalix nickte. Sie wusste, dass Dominil die Unordnung schrecklich fand. Zweifellos hatte die weißhaarige Werwölfin auch deshalb beschlossen, in Verasas Wohnung statt bei den Zwillingen zu leben. Kalix wusste nicht, wo Dominils Wohnung lag. Vielleicht wusste das bis auf Verasa niemand. In persönlichen Angelegenheiten war Dominil nicht sehr mitteilsam.
»Hast du noch mehr Auftritte organisiert?«, versuchte Kalix es mit Smalltalk, bevor sie zum eigentlichen Grund ihres Besuchs kam.
»Noch nicht. Ich könnte es tun, aber ich will zuerst etwas Ordnung in ihr chaotisches Leben bringen. Ich habe ihre Website online gestellt, damit man sich ihre Musik anhören kann. Und ich habe das Interesse eines Agenten geweckt, wodurch wir leichter an Auftritte kommen werden.«
Wie üblich fand Kalix Dominils großen Einsatz beeindruckend. Als Dominil nach London gekommen war, hatte sie zu ihrem Missfallen feststellen müssen, dass die Schwestern noch heruntergekommener und desorganisierter waren, als ihr Ruf hatte vermuten lassen. Trotzdem war es Dominil schnell gelungen, ihre Karriere anzuschieben. Sie hatte es sogar innerhalb weniger Wochen geschafft, die Band der Zwillinge wieder zu vereinen und auf eine Bühne zu bringen, was keiner ihrer vielen Bekannten in Camden für möglich gehalten hätte. Der Auftritt war ein Erfolg geworden. Leider war ihm eine grausame Schlacht gefolgt, in der viele Werwölfe gestorben waren, aber immerhin hatten die Zwillinge gut gespielt.
Dominil holte eine Flasche Whisky aus einer Vitrine. Der MacRinnalch Malt, destilliert auf den schottischen Ländereien des Clans, war sehr exklusiv, nur Clanmitglieder erhielten ihn. Die MacRinnalchs boten ihn Gästen traditionell als Zeichen ihrer Gastfreundschaft an. Kalix nahm dankbar ein Glas entgegen. Sie hatte schon jung angefangen, den MacRinnalch-Whisky zu trinken. Zu jung, selbst nach den Maßstäben der MacRinnalch-Werwölfe, die sich von denen ihrer menschlichen Nachbarn durchaus unterschieden.
»Setz dich«, sagte Dominil.
Kalix setzte sich.
»Worüber wolltest du mit mir reden?«
Kalix blickte voller Unbehagen auf ihre Füße. Ihr fiel auf, dass sich ihre Stiefel in einem jämmerlichen Zustand befanden. Wahrscheinlich würde sie neue Stiefel kaufen können, wenn sie weiter das Geld ihrer Mutter annahm. Allerdings würde ihre Mutter ihr nichts mehr schicken, wenn sie vom College abging.
Schon nach wenigen Sekunden sprach Dominil weiter.
»Komm bitte schnell zum Thema. Ich habe zu tun.«
Kalix errötete. Widerwillig zog sie einen Umschlag aus der Tasche ihres langen Mantels.
»Ich habe einen Brief bekommen«, sagte sie. »Von Gawain.«
Dann verstummte sie.
»Und?«, fragte Dominil.
Kalix lief vor Scham knallrot an. Sie starrte zu Boden.
»Ich nehme an, du kannst ihn nicht lesen, richtig?«, fragte Dominil. Sie stand auf und nahm Kalix den Brief aus der Hand. Kalix starrte weiter auf ihre Füße, sie schämte sich zutiefst, weil sie so schlecht lesen konnte. Zwar hatte sie in den letzten Monaten Fortschritte gemacht, aber an den engen, von Hand geschriebenen Zeilen in Gawains Brief war sie gescheitert. Kalix wollte ihre Mitbewohner bei diesem Problem nicht um Hilfe bitten. Es war zu persönlich. Am liebsten hätte sie den Brief niemandem gezeigt, aber nachdem sie tagelang mit sich gerungen hatte, sah sie ein, dass ihr keine andere Wahl blieb. Entweder würde sie jemanden bitten, ihr den Brief vorzulesen, oder sie würde nie erfahren, was in ihm stand. Wenigstens konnte sie Dominil vertrauen. Sie würde niemandem den Inhalt des Briefes weitererzählen.
»Soll ich dir den Brief vorlesen oder ihn einfach zusammenfassen?«
»Sag mir nur, was drinsteht«, murmelte Kalix, weil sie glaubte, sie könnte nicht ertragen, jedes Wort von Dominil zu hören. Rasch überflog Dominil den Brief.
»Gawain beteuert seine Liebe zu dir. Er entschuldigt sich vielmals dafür, dass er eine Beziehung mit deiner Schwester Thrix eingegangen ist. Er entschuldigt sich auch dafür, nach der Schlacht bei dem Konzert so schnell verschwunden zu sein, aber er sagt, er konnte dir nicht unter die Augen treten, nachdem du von der Affäre erfahren hattest. Er schlägt vor, ihr könntet noch einmal versuchen, eine Beziehung zu unterhalten.« Dominil zögerte. »Seine Worte klingen allerdings deutlich romantischer als meine Zusammenfassung.«
»Wirklich?« Kalix blickte hoffnungsvoll auf. »Sie sind romantisch?«
»Meiner Meinung nach ja. Aber vielleicht kann ich das nicht sehr gut beurteilen. Ohne Frage kommen sie von Herzen.«
»Lies mir den ganzen Brief vor«, sagte Kalix, die diese peinliche Erfahrung jetzt schon besser verkraftete.
»Liebste Zauberin«, sagte Königin Malveria, »du musst mir gar nicht mehr sagen, wie fabelhaft ich aussehe. Du hast mir mit diesem Kleid etwas so Wunderbares entworfen, dass jedes Kompliment überflüssig wäre. Man braucht keine Bestätigung mehr, wenn man ein so prächtiges Gewand trägt.« Die Königin betrachtete sich in Thrix’ großem Wandspiegel. »Es sieht wirklich fabelhaft aus, nicht wahr?«
»Ja«, stimmte Thrix zu.
»Entschuldige meinen Anflug von Ungeduld nach der dritten Anprobe.«
»Nicht der Rede wert«, sagte Thrix.
»Und mein Haar ist perfekt frisiert?«
»Ja, ist es.«
»Danke. Du siehst ebenfalls fabelhaft aus, Zauberin, du gereichst allen Werwölfinnen zur Ehre, und allen Blondinen und blonden Werwölfinnen.«
An diesem Abend wollten Thrix und Malveria die Oper in Covent Garden besuchen. Thrix war keine große Opernfreundin, aber ein Besuch dort bot eine hervorragende Gelegenheit, elegante Abendkleider auszuführen. Die Oper war ein teurer und eleganter Ort, und niemand würde dort teurer oder eleganter gekleidet erscheinen als die Werwolfzauberin und die Feuerkönigin.
»Sag es mir noch einmal – was ist das für eine musikalische Darbietung?«
Thrix musste fast lachen. Sie hatte Malveria schon mehrmals erklärt, was eine Oper war, aber die Feuerkönigin konnte es nicht recht begreifen. In Malverias Reich gab es Musik und Gesang, aber kein Theater. Eine dramatische Aufführung mit gesprochener Sprache konnte sich die Königin gerade noch vorstellen, aber dass eine Geschichte durch Gesang erzählt werden sollte, erschien ihr sehr seltsam.
»Normal ist das sicherlich nicht, oder? Die Menschen singen doch üblicherweise nicht.«
»Das ist eine künstlerische Konvention« erklärte Thrix, was die Königin nur noch stärker verwirrte. In Wirklichkeit wusste auch Thrix nicht, welche Konventionen in der Oper galten. Sie hatte erst wenige Besuche dort hinter sich, und jedes Mal war es ihr eher um Mode als um Kunst gegangen. Sie freute sich darauf, ihr phantastisches Outfit zu präsentieren, aber die Aussicht auf die Aufführung stimmte sie nicht sonderlich begeistert.
»Das ist sehr rätselhaft«, sagte die Feuerkönigin zum zwanzigsten Mal. »Aber wenn du sagst, es ist dort elegant, werde ich gerne hingehen. Warum gehen wir noch mal hin?«
»Ich soll für meine Mutter einen Sänger bezirzen. Felicori, den Tenor. Er ist der Star der Inszenierung. Sie will ihn bitten, bei irgendeiner Wohltätigkeitsveranstaltung aufzutreten, die sie ausrichtet, und ich soll als Vorhut seinen Widerstand schwächen.«
»Aha.« Malveria nickte. »Du sollst ihn als goldhaarige Schönheit verführen.«
Die Zauberin wirkte erschrocken.
»Hoffentlich nicht. Ich soll ihm nur vor Augen führen, wie interessant die MacRinnalchs sind. Natürlich ohne zu verraten, dass wir Werwölfe sind. Das würde ihn wahrscheinlich abschrecken.«
Thrix trank ihren Wein aus und machte eine Geste, die das Glas in die Küche schweben ließ.
»Es wäre für Mutter ein gelungener Streich, wenn sie es schaffen würde. Felicori ist ein gewaltiger Star.«
»Gewaltig ist er wirklich!«, rief Malveria und lachte kehlig. Als Thrix ihr ein Foto von Felicori gezeigt hatte, hatte die Königin über seine Leibesfülle gestaunt und sich gefragt, wie jemand einen so massigen Mann bewundern konnte. Bei Gewichtsfragen besaß Malveria sehr strenge Ansichten, die kein bisschen durch menschliche Maßstäbe wie Großzügigkeit oder Taktgefühl aufgeweicht wurden. In der Gegenwart stark übergewichtiger Menschen neigte Malveria dazu, vor Unbehagen zu schaudern und hin und her zu rutschen. Thrix hatte ihr noch nicht erzählt, dass vielleicht auch einige der Frauen in der Oper nicht gerade nymphengleich aussehen würden, und sie freute sich schon auf Malverias erste Reaktion.
Malveria überprüfte ihren Lippenstift. »Wir besuchen also die Oper, betören die Massen mit unseren phantastischen Kleidern, und danach verzauberst du diesen Felicori, damit er dir nach Schottland folgt und bei der wichtigen Veranstaltung deiner Mutter singt. Ich habe mir das ganze Programm gemerkt und werde mein Bestes tun, um zu helfen.« Malveria zögerte mit besorgter Miene. »Dieser Lippenstift. Jetzt ist er perfekt, aber in ein paar Stunden wird er verblasst sein. Warum kann man keinen Lippenstift herstellen, der sich nicht abreibt? Dieses schreckliche Phänomen hat mir schon so manchen Abend ruiniert.«
»Es ist schon eine Bürde«, stimmte Thrix zu. »Aber wir müssen weitermachen, so gut wir können.«
Malveria schmückte sich mit ihrer Stola und begleitete Thrix nach unten zu dem wartenden Taxi. Zum Opernhaus in Covent Garden war es nicht weit, aber es herrschte dichter Verkehr, und sie kamen nur langsam voran.
»Ich bin immer noch skeptisch, was diesen dicken Mann betrifft, der uns mit seinen Liedern von seinen Problemen erzählen will, aber die Ablenkung ist mir willkommen«, sagte Malveria. »Das Leben bei Hofe ist in letzter Zeit aufreibend. Der Erste Minister Xakthan lässt wieder Anspielungen über meine Nachfolge fallen. So ungern ich darüber reden möchte, es ist wirklich ein Problem. Würde ich ohne eine Nachfolgerin sterben, würde das Land in Chaos versinken. Das bedeutet für alle schlechte Aussichten. So schlechte, dass es sogar Andeutungen gab, es könnte an der Zeit sein, dass ich Agrivex offiziell adoptiere.«
Die Zauberin zog die Augenbrauen hoch.
»Du ziehst doch wohl nicht ernsthaft Vex als nächste Königin in Betracht, oder?«
Malveria schauderte.
»Allerdings nicht. Nachdem ich mein Reich aufgebaut habe, möchte ich nicht erleben müssen, wie es durch die Torheit meiner beinahe adoptierten Nichte zerstört wird. Aber wenn ich Agrivex adoptieren würde, wäre sie zumindest eine Strohfrau, während mein Erster Minister Xakthan im Hintergrund Unterstützung organisieren könnte. Mit Agrivex als Strohfrau und Xakthan an der Macht könnte dem Land großer Unfriede erspart bleiben. Es würde die Minister, die langsam nervös werden, ruhigstellen, bis mir ein besserer Plan einfällt.«
»Hast du schon mal überlegt, einen Nachfolger zu zeugen?«, fragte Thrix.
Malveria seufzte. »Ebenfalls sehr schwierig. Ich kenne keinen geeigneten Feuergeist, mit dem ich gern Kinder aufziehen würde.«
Voller Sorge erinnerte sich die Königin an ihr letztes Treffen mit ihren Beratern. »Meine Berater sind ungemein lästig. Im Grunde ist Distikka die Einzige, der ich vertraue.«
»Distikka?« Die Zauberin kannte den Hof der Königin, aber diesen Namen hatte sie noch nie gehört.
»Ein neues Ratsmitglied und die einzige Frau im Rat. In der Geschichte der Hiyasta wimmelt es vor Königinnen und Prinzessinnen, aber in der Regel werden Frauen bei uns keine Politikerinnen. Distikka allerdings hat sich in letzter Zeit hervorragend gemacht. Sie bringt gute Argumente ein, auch wenn sie leider dazu neigt, sich schlecht zu kleiden.«
Auf den schmalen Straßen in der Nähe des Opernhauses kam das Taxi nur noch im Schneckentempo voran, weil sich die Fußgänger einen Weg durch den Verkehr bahnten. Viele trugen Abendgarderobe, sie hatten in der Nähe geparkt und gingen die letzten Schritte zur Oper zu Fuß.
»Und du, Thrix? Hast du irgendwelche romantischen Tändeleien in Aussicht?«
»Sicher nicht«, antwortete Thrix entschieden.
»Aber du darfst nicht aufgeben. Deine letzten Affären haben zwar alle als Katastrophen geendet, aber das muss bei der nächsten nicht auch so sein.«
Es schmeichelte Thrix nicht gerade, dass Malveria ihre Affären als Katastrophen beschrieb, aber sie widersprach nicht. Es stimmte ja. »Ich glaube, ich komme eine Zeitlang auch ohne männliche Gesellschaft aus.«
Als die Königin gerade zu einem Vortrag darüber ansetzen wollte, wie wichtig ein passender Liebhaber doch sei, stockte sie und musterte ihre Freundin genauer.
Thrix rückte unbehaglich zur Seite. »Kannst du bitte aufhören, mich so anzustarren?«
»Entschuldige, liebste Zauberin. Ich dachte nur, ich hätte in deiner Aura eine leichte Sehnsucht nach Gawain gesehen.«
»Auf keinen Fall!«, rief Thrix.
»Das wäre gar nicht so abwegig. Schließlich hattet ihr eine leidenschaftliche Affäre, und er ist ein gutaussehender Wolf.«