Kalt wie die Nacht - Bernhard Stäber - E-Book
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Bernhard Stäber

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Beschreibung

Nach dem Tod seiner Frau braucht der ehemalige Polizeikommissar Rolf »Wolf« Larsen einen Neuanfang. Von der Großstadt Oslo zieht er nach Bø, einem kleinen Ort in der abgeschiedenen norwegischen Provinz Telemark, wo er sich als Privatdetektiv selbstständig macht.
Sein erster Fall beginnt scheinbar harmlos: Wolf soll herausfinden, ob der Ehemann von Sofia Jacobsen sie betrügt. Doch während seiner ersten Observierung wird sein Zielobjekt getötet, und Wolf entgeht nur knapp demselben Schicksal.
Bei seinen Ermittlungen trifft er auf die Journalistin Sanna, die ihm entscheidende Hinweise gibt und hinter deren ruhiger Fassade mehr steckt, als sie preisgeben will. Die beiden verstricken sich immer mehr in einen Fall, in dem nichts so ist, wie es scheint ...

Der atmosphärische und spannende Auftakt der neuen Norwegen-Krimi-Reihe von Bernhard Stäber um das ungleiche Ermittlerduo Wolf und Sanna.

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Seitenzahl: 474

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Prolog

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Hinter dem Vorhang

Über den Autor

Weitere Titel des Autors

Impressum

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Über dieses Buch

Nach dem Tod seiner Frau braucht der ehemalige Polizeikommissar Rolf »Wolf« Larsen einen Neuanfang. Von der Großstadt Oslo zieht er nach Bø, einem kleinen Ort in der abgeschiedenen norwegischen Provinz Telemark, wo er sich als Privatdetektiv selbstständig macht.

Sein erster Fall beginnt scheinbar harmlos: Wolf soll herausfinden, ob der Ehemann von Sofia Jacobsen sie betrügt. Doch während seiner ersten Observierung wird sein Zielobjekt getötet, und Wolf entgeht nur knapp demselben Schicksal.

Bei seinen Ermittlungen trifft er auf die Journalistin Sanna, die ihm entscheidende Hinweise gibt und hinter deren ruhiger Fassade mehr steckt, als sie preisgeben will. Die beiden verstricken sich immer mehr in einen Fall, in dem nichts so ist, wie es scheint ...

Der atmosphärische und spannende Auftakt der neuen Norwegen-Krimi-Reihe von Bernhard Stäber um das ungleiche Ermittlerduo Wolf und Sanna.

Prolog

Oslo, 15. Januar 2009

Jan Tore Kjerstad fror. Nachdem die Temperaturen in den letzten Tagen bis über 5 Grad plus geklettert waren, hatten sie gestern wieder stark abgenommen. Der Typ im Radio hatte etwas von minus 7 Grad gesagt. Jan Tore hatte zwar nur mit halbem Ohr hingehört, als er in seinem Tabakladen um die Ecke ein Päckchen Eventyr-Mischung zum Drehen gekauft hatte, doch er war sich sicher, dass es stimmte.

Der Winter in Oslo war der letzte Scheißdreck. Er musste es wissen, schließlich lebte er hier, seitdem er von Bergen an der Westküste zum Studium hierhergezogen war. Sein dritter Januar bereits. Und Überraschung – alles war anders gekommen, als er es sich erhofft hatte.

Er trat aus dem Laden, legte den Kopf in den Nacken und starrte in den schieferfarbenen Himmel, der so erdrückend dicht über der Reihe von Altbauten auf der anderen Straßenseite hing, als ob er sie unter seiner Last ersticken wollte. Die Sonne war bereits hinter den Dächern verschwunden, und die Schneehaufen am Rand der Gehsteige sahen aus wie Gips. Die Rushhour würde bald anfangen, aber bisher war nur wenig Verkehr unterwegs.

Noch im Laden hatte Jan Tore sich eine Zigarette gedreht. Jetzt steckte er sie in den Mundwinkel, zündete sie sich an und sah sich um. Ein kalter Wind wehte durch die leere Seitenstraße südlich des Olaf-Ryes-Platzes, an dem er mit Sondre verabredet war. Er hatte noch etwas Zeit, und der Platz war nicht weit weg. Wenn er zu früh auftauchte, wirkte es vielleicht needy, andererseits: Was, wenn Sondre nicht lange wartete, sondern wieder abzog, weil er ihn nicht gleich antraf?

Bei dem Gedanken spürte er augenblicklich das Ziehen tief in seinen Eingeweiden. Er wusste, dass es eigentlich kein Gefühl war, das sich genau dort meldete. Es umfasste seinen ganzen Körper. Aber in seiner Vorstellung war es ein Nagen in seinem Inneren, als wohnten ein paar Ratten in ihm, die mit schöner Regelmäßigkeit Hunger verspürten und ihre Zähne in seine Därme schlugen. Vorstellungskraft hatte er schon immer für zwei besessen, hatte das seine Mutter nicht immer gesagt?

Jan Tore Kjerstad setzte sich in Bewegung. Je schneller er Sondre traf, desto schneller würde er daheim in einem Bad aus Wärme versinken, sobald die Nadel in seinen Arm eintauchte.

Sein Blick glitt an den Läden zu seiner Linken vorbei, jeder von ihnen ein Teil seiner Nachbarschaft im Stadtteil Grünerløkka: eine Textilreinigung, die ihr Geschäft erst vor ein paar Wochen eröffnet hatte, ein Optiker, der kleine kurdische Juwelier. Das letzte Schaufenster betrachtete Jan Tore ein wenig länger. Hübscher Bling, viele selbst gemachte Stücke, die fast mehr nach Kunst als nach klassischem Schmuck aussahen – oder was für ihn als klassischen Schmuck durchging. Eines davon, das ihm besonders ins Auge fiel, war ein winziger Baum mit goldenem Stamm, goldenen Blättern und Blüten aus tiefroten Steinen, die etwa die Größe von Granatapfelkernen besaßen. Für solche Unikate kamen sie bestimmt auch aus den stinkreichen Bezirken vorbei, die Frogner-Frauen, die schon wirklich alles hatten, also warum nicht einen Edelsteinbonsai.

Er verzog das Gesicht zu einer bitteren Miene bei dem Gedanken, was die an Cash und Kreditkarten mit sich herumtrugen, während er in die Querstraße einbog, die zum Park führte. Seine eigenen Parkataschen waren leer, egal, wie gründlich er sie durchsuchte. Erst vorhin, als er aus dem Haus gegangen war, hatten seine Finger noch einen halben Energieriegel ertastet, den er völlig vergessen hatte. Hart und zäh, aber immerhin süß, und vor allem unerwartet. Finanziell fuhr er völlig auf Reserve, aber bei seinen Eltern angekrochen zu kommen, war keine Option.

Jan Tore musste daran denken, wie verärgert sie reagiert hatten, als er ihnen nach über zwei Jahren eröffnet hatte, dass er nicht Jura studierte, wie er all die Zeit über behauptet hatte. Dass er stattdessen nach einem Semester an die Osloer Kunsthochschule gewechselt war. Fotografie, ein wenig Malerei und schließlich Performance Art – diese Kunstform lag ihm besonders. Aber lange hatte er ihnen das nicht erklären können. Es erschien ihm wie bösartige Ironie des Schicksals: Erst jetzt, da er auf dem besten Weg war, sein Studium zu schmeißen, hatte er seinen Eltern reinen Wein eingeschenkt. Hatte es nicht mehr eingesehen, ihnen etwas vorzulügen. Nicht, dass ihm dieser Schritt irgendeine Form von Anerkennung eingebracht hatte. Stattdessen versagten sie ihm seitdem die finanzielle Unterstützung. Wenn er tatsächlich eine Karriere als Künstler anstrebte, hatte sein Vater ihm mitgeteilt und das Wort »Künstler« ausgesprochen, als wäre es ungefähr gleichbedeutend mit »Straßenmusiker«, dann könne er das Geld dafür gern selbst aufbringen.

Nein, so weit am Boden war er noch nicht, dass er nach dem Wortwechsel, der dieser Ankündigung gefolgt war, wieder bei seinem alten Herrn angekrochen käme. Seit Ende letzten Jahres war die Lage verflucht ernst, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er zurück nach Bergen ging. Er hatte gut drei Wochen Zeit, Geld für die nächste Miete aufzutreiben. Dafür brauchte er einfach nur einen neuen Job, nachdem er den als Kellner in den Sand gesetzt hatte, eigentlich eine gute Einnahmequelle, die ihm zuletzt die Existenz gesichert hatte.

Dabei war sich Jan Tore durchaus bewusst, dass er den Barjob aus dem gleichen Grund nicht hatte halten können, wegen dem er jetzt mit Sondre verabredet war. Er hoffte nur, dass der ihm etwas vorstrecken würde. Momentan war er zwar pleite, aber immerhin war er in den letzten Monaten ein guter Kunde gewesen, hatte jedes Mal bar bezahlt, ohne herumzufeilschen. Das musste doch auch etwas zählen, oder?

Er hatte den Olaf-Ryes-Platz erreicht. Die alten Bäume, die ihn von allen Seiten umgaben, reckten ihre kahlen Äste in den Himmel. Der größte Teil der Rasenfläche war dick mit Schnee bedeckt. Ein paar Spaziergänger führten auf den freigeräumten Hauptwegen ihre Hunde aus. Jan Tore folgte einem der Wege zu einem Rondell mit mehreren langen Parkbänken. Sie alle waren unbesetzt. Niemand hatte bei dieser Kälte Lust, länger als ein paar Momente am selben Platz zu verweilen. Hier hatte er sich schon zuvor mehrmals mit Sondre getroffen.

Mit wachsender Nervosität schaute Jan Tore sich um und versuchte, die hochgewachsene, fast kahl geschorene Gestalt seines Dealers auszumachen. Er warf die aufgerauchte Zigarette in den Schnee und rieb seine Hände aneinander, die trotz der Kälte zu schwitzen begonnen hatten. Scheiße, er war doch nicht zu spät, oder? Schnell sah er auf die Uhr seines Handys. Okay, er war ein paar Minuten zu spät, aber das war doch noch immer im Rahmen. Wo zum Teufel blieb er bloß?

Erneut zog er sein Handy hervor und ließ es vor Schreck in den Schnee fallen, als ihm jemand von hinten die Hand auf die Schulter legte. Er fuhr herum.

Sondre sah mit amüsiertem Grinsen auf ihn herab. Sein langes Gesicht war bleich, nur auf den hohen Wangenknochen schimmerte die Haut schwach rötlich. »Wow, bist ja ganz schön schreckhaft.«

»Ach Quatsch«, murmelte Jan Tore. Er bückte sich schnell, um das Handy wieder aufzuheben. Außerdem wollte er nicht, dass Sondre ihm seine Erleichterung ansehen konnte. »Ist bloß so verdammt kalt, und mir frieren bald die Pfoten ab. Hab meine Handschuhe zu Hause vergessen.«

»Schwerer Fehler«, stimmte Sondre zu.

Sein Lächeln hatte nicht abgenommen, und Jan Tore hatte das Gefühl, dass sein Kumpel genau wusste, wie nervös er war. Er deutete auf eine der Bänke ganz in der Nähe. »Machen wir's uns gemütlich.«

Er wischte eine Spur frischen Schnees von der hölzernen Sitzfläche und ließ sich so entspannt darauf nieder, als sei sie das Sofa in seinem Wohnzimmer. Jan Tore tat es ihm nach einem Moment des Zögerns gleich. Sie sahen einander nicht an, sondern saßen nebeneinander, ihre Augen auf den Platz vor ihnen und die wenigen Spaziergänger gerichtet.

»Und? Wie läuft es?«, fragte Sondre nach einem kurzen Moment Schweigen.

Jan Tore zuckte die Achseln. »Ganz okay. Bin froh, wenn der Dreckswinter vorbei ist, aber bis dahin ist's noch 'ne Weile hin.«

»Ich sag nur: Alicante«, sagte Sondre neben ihm. »Mein Stiefvater hat da 'ne Zweitwohnung. Die komplette Siedlung ist voll von Norwegern und Dänen. Im Hochsommer hältst du's da kaum aus, aber ist richtig angenehm im Winter.«

Jan Tore war sich bewusst, dass Sondre nur Small Talk betrieb, ein paar harmlose einleitende Sätze, bevor sie zum Geschäftlichen übergingen. Trotzdem war sein Interesse geweckt. »Wie warm ist es da gerade?«

»Irgendwas zwischen 13 und 15 Grad. Nichts Besonderes eigentlich, aber wenn man aus dem Kühlschrank von Europa hinfliegt und aus dem Flugzeug steigt, ist es wie 'ne warme Dusche.«

»Klingt klasse«, stimmte Jan Tore ihm aufrichtig zu. »Aber Alicante gibt mein Budget gerade nicht her.«

»Man kann sich's im Winter ja auch anders gemütlich machen«, sagte Sondre. Jetzt blickte er den jungen Mann neben sich direkt an. »Wieder so viel wie letztes Mal?«

Jan Tore nickte. »Mmhm. Eine Sache nur ...« Er lehnte sich vor und räusperte sich. Sein Blick glitt an Sondres eisblauen Augen vorbei und zu einem Mann, der in einiger Entfernung an einem der riesigen Parkbäume stand und seinem Schäferhund dabei zusah, wie er einen Haufen in den Schnee setzte. »Also ... ich bin grade etwas knapp mit Cash. Kann ich dich vielleicht nächstes Mal bezahlen?«

»Kein Cash?«, sagte Sondre. Es klang wie eine Frage. Jan Tore, der knapp an ihm vorbeiblickte, war sich bewusst, dass der ihn immer noch unverwandt ansah.

»Dann haben wir ein Problem«, fuhr Sondre fort. »Ich strecke nichts vor. Grundsätzlich nicht.«

Bei seinen letzten Worten spürte Jan Tore das Nagen in seinem Inneren zum ersten Mal besonders deutlich. Er bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen, neutraler Blick, ruhiges Gesicht. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte sich von Sondre verabschiedet. Ihn zu bitten, eine Ausnahme zu machen, war ebenso wenig eine Option wie seine Eltern um Geld anzubetteln. Aber er blieb sitzen. Immerhin war Sondre ebenfalls nicht aufgestanden. Vielleicht war da ja doch noch etwas drin.

»Du könntest mir natürlich einen Gefallen tun«, sagte Sondre schließlich.

Jan Tores Herz schlug schneller. »Ja, na klar doch! Was denn?«

»Bist du immer noch an der Kunsthochschule eingeschrieben?«

»Ja klar«, sagte Jan Tore sofort, und das stimmte auch. Auf dem Papier war er noch immer ein Student. In der Realität jedoch hatte er sich schon länger bei den Vorlesungen rargemacht.

»Dann kannst du mir ja helfen, mein Geschäft ein wenig dorthin auszuweiten«, sagte Sondre.

Jan Tore starrte ihn an. »Du willst, dass ich für dich Käufer anwerbe?«

Für einen Sekundenbruchteil schnellte Sondres Blick an ihm vorbei durch den Park, ehe er sich wieder auf ihn fixierte. »Erzähl mir nicht, dass es unter deinen Kommilitonen nicht jede Menge potenzielle Käufer gibt.«

»Natürlich gibt's die«, beeilte Jan Tore sich zu erwidern. »Mir würden aus dem Stand ein paar einfallen.«

»Na siehst du!« Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Sondres glatt rasiertem Gesicht. »Dann ist doch alles wunderbar. Du verschaffst mir ein paar neue Kunden. Wenn sie dabei

bleiben und regelmäßig bei mir einkaufen, kannst du dich darum kümmern, sie zu versorgen, und übergibst mir das Geld. Ich bezahl dich für deine Arbeit – oder willst du in Ware ausbezahlt werden?«

»Ich ... ich weiß nicht ...«, stammelte Jan Tore, von dem urplötzlichen Jobangebot überfordert. »Ja, ich glaub, ich will gern beides, wenn das geht.«

Sondre lächelte noch immer. »Ah, einer, der den ganzen Kuchen haben will. Klar geht das. Ich mag Leute, die wissen, was sie wollen.« Er streckte den rechten Arm aus, um ihm Jan Tore um die Schulter zu legen. Jan Tore fühlte die schwere Hand durch Parka und Pullover, und ihm wurde erneut bewusst, wie stark der hochgewachsene Mann war, der neben ihm saß. Sondre war kein breitschultriger Typ, keiner von denen, die mehrmals in der Woche in die Muckibude rannten. Trotzdem war Jan Tore jäh davon überzeugt, dass Sondre ihm so problemlos wie einer jungen Katze den Hals brechen konnte, wenn er es darauf anlegte.

»Das bedeutet dann aber auch, dass ich mich auf dich verlassen können muss«, sagte Sondre. Der Blick aus seinen klaren, hellen Augen war durchdringend. Auf einmal fror Jan Tore noch mehr als zuvor. »Du kannst dich auf mich verlassen«, sagte er mit gepresster Stimme.

Langsam nickte Sondre, dann drückte er mit seiner Rechten fest Jan Tores Schulter, ehe er sie in seine Manteltasche steckte. Als er sie wieder herauszog, hielt sie etwas. Er legte seine Hand zwischen sich und Sondre auf den Sitz der Parkbank. Als er sie wieder wegzog, lag dort ein durchsichtiges Plastiktütchen, dessen Inhalt aus grauem Pulver bestand.

Schnell legte Jan Tore seine eigene Hand darüber. »Danke, Mann!«, entkam es ihm erleichtert, ehe er das Tütchen einsteckte. »Das vergess ich dir nicht!«

Sondre stand auf und blickte auf ihn herab. »Das will ich doch hoffen. Du hast etwas von mir bekommen, und jetzt will ich etwas von dir. Du schuldest mir vier Kunden. Nächstes Mal, wenn wir uns treffen, bringst du jemand mit, okay?«

»Okay!«, sagte Jan Tore. »Geht klar, auf jeden Fall!«

»Fein«, strahlte Sondre. Wieder war da diese Diskrepanz zwischen seiner gut gelaunten Miene und der tiefen Kälte seiner Augen. Er rieb sich die behandschuhten Hände. »Ich muss weiter, no rest for the wicked.« Er warf dem Mann mit dem Schäferhund, der eben an ihrer Bank vorbeiging, einen aufmerksamen Blick zu, bis dieser sie passiert hatte, ohne zu ihnen herübergesehen zu haben. Dann sagte er mit jovialer Stimme: »Und du, schau, dass du schleunigst ins Warme kommst, du siehst ja völlig verfroren aus. Wir sehen uns!« Ein paar weitere Schritte Richtung Ostausgang des Platzes, und seine Gestalt war nur noch ein dunkler Fleck zwischen zwei der breiten Parkbäume, ein weiterer Spaziergänger in der beginnenden Dämmerung.

Jan Tore drehte sich um und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Ja, mit Sondre legte man sich besser nicht an, aber wozu hätte er das auch machen sollen? Der Typ hatte ihm eine finanzielle Rettungsleine zugeworfen, und da hätte Jan Tore in seiner Situation schon ziemlich bescheuert sein müssen, um sie nicht zu ergreifen. Er konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein.

Er hatte die Sofienberggate überquert und war so in seine Gedanken vertieft, dass er kaum bemerkte, wie er erneut die kleine Seitenstraße mit den Geschäften betrat. Rechter Hand vor dem kurdischen Juwelier hatte ein schwarzer Transporter mit laufendem Motor halb auf dem Gehsteig geparkt. Seine Rückseite starrte so vor Schneematsch, dass die ursprüngliche Farbe kaum zu erkennen war.

Jan Tore näherte sich dem Wagen, den Blick auf den Asphalt vor seinen Füßen gesenkt. Sein Magen knurrte, und er fragte sich, ob er zu Hause noch eine Tiefkühlpizza im Gefrierfach hatte. Da hörte er rechts von sich aus dem Geschäft ein splitterndes Krachen, dumpf, aber dennoch so deutlich, dass er hoch und durch das Ladenfenster des Juweliers blickte. Und wie angewurzelt stehen blieb.

Der Kopf eines Vorschlaghammers fuhr schwer auf das Glas eines flachen Schaukastens nieder, der in den Verkaufstresen eingelassen war. Der Mann, der den Hammer hielt, zog ihn zurück und holte zu einem weiteren Schlag aus. Er trug eine dick gepolsterte silbergraue Winterjacke und hatte eine schwarze Skimaske über den Kopf gezogen. Der Juwelier, ein älterer Mann mit dunklem, dicht gelocktem Haar, eilte um den Tresen herum und streckte wie abwehrend die Arme aus. In seiner Miene kämpften Angst und Empörung miteinander.

Ohne den Schwung seines zurückgezogenen Hammers zu bremsen, fuhr Skimaske herum und schlug zu. Der Hammerkopf krachte gegen den Unterkiefer des Juweliers und schleuderte ihn mit voller Wucht nach hinten. Er prallte mit dem Kopf gegen die Wand und sackte an ihr herab. Blut rann ihm übers Kinn und tropfte auf seine hellblaue Weste. Sein halb offener Mund war eine einzige Wunde.

Jan Tore sah alles durchs Schaufenster mit an, als liefe hinter der Ladenscheibe ein Tarantino-Film. Er war sich bewusst, dass er in der Kälte auf dem Gehsteig stand, im Freien und eigentlich sicher, doch die Erkenntnis traf ihn schlagartig: Ein Blick von dem Typ in der Skimaske nach draußen reichte, um die Ladentür aufzureißen und ihn ebenfalls anzugreifen.

Dennoch konnte Jan Tore nicht weglaufen. Das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen, gleichzeitig fühlte er sich wie gelähmt.

Skimaske sah jedoch nicht auf die Straße hinaus. Er hatte den Vorschlaghammer auf den Tresen fallen lassen. Nun ergriff er eine dunkelgrüne Umhängetasche, die neben ihm auf dem Boden gelegen hatte. In einer fließenden Bewegung ging er neben dem Juwelier auf die Knie und tastete mit behandschuhten Fingern die Westentasche des Mannes ab, der den Mund zu einem schmerzverzerrten Stöhnen aufgerissen hatte. Er zog etwas hervor, das Jan Tore nicht sehen konnte, und richtete sich wieder auf. Mit schnellen Schritten eilte er um den Tresen herum und durch einen Durchgang ins Hinterzimmer des Verkaufsraums.

Jetzt bemerkte Jan Tore, wie der flackernde Blick des Juweliers am Boden nach oben und durch die Schaufensterscheibe nach draußen glitt. Sah der verletzte Mann ihn an? Blitzte da ein Erkennen in seinen Augen auf, das jähe Wissen darum, dass jemand in nur ein paar Metern Entfernung von ihm vor dem Laden stand, oder bildete er sich das nur ein?

Der Adamsapfel des Mannes ruckte träge, seine blutüberströmten Lippen bewegten sich schwach. Jan Tore war sich mit einem Mal sicher, dass der Verletzte ihn sah, dass er unhörbar für ihn um Hilfe flehte. In Gedanken öffnete Jan Tore die Tür zu dem Geschäft und -

Und was dann?

In seinem Kopfkino raste der riesige Vorschlaghammer in der Faust des Typen mit der Skimaske direkt auf sein Gesicht zu.

Er blieb stehen, wo er war.

Die Augenlider des Mannes am Boden flatterten und schlossen sich, und der Kopf sank ihm aufs Kinn.

Der Durchgang zum Verkaufsraum verdunkelte sich, als Skimaske hindurcheilte, ohne den Verletzten zu beachten. Er umrundete den Tresen und fegte beinahe wie im Vorbeilaufen mit hastigen Bewegungen den Inhalt der beiden Schaukästen mit seiner behandschuhten Hand in die Umhängetasche. Dann packte er mit der anderen den Vorschlaghammer. Er wandte sich der Ladentür zu und erstarrte mitten in seiner Bewegung.

Jan Tore konnte die Augen des Mannes in der Skimaske nicht ausmachen, aber seine Körpersprache war eindeutig: Er hatte ihn bemerkt. Immer noch wollten ihm seine Gliedmaßen nicht gehorchen. Er hatte keine Ahnung, ob er die einzige Person auf der Straße war, ob jemand anderes in der Nähe war, der ihm helfen konnte. Es war ihm einfach unmöglich, sein Gesicht von dem Mann mit dem Vorschlaghammer abzuwenden.

Skimaske riss die Tür auf und stürmte ins Freie, direkt auf Jan Tore zu. Er schwang den Vorschlaghammer mit der Rechten in einem horizontalen Bogen, als wollte er Jan Tore aus dem Weg fegen. Dabei geriet er auf dem glatten Asphalt ins Straucheln. Seine Beine rutschten nach vorne weg, und er fiel direkt vor Jan Tore schwer rückwärts in den Schneematsch. Die Umhängetasche fiel ihm aus der Hand und segelte auf die Straße. Er stieß ein dumpfes Ächzen aus, das der Stoff über seinem Mund nahezu verschluckte.

Der Anblick von Skimaske auf dem Boden stieß Jan Tore wie mit einer unsichtbaren Hand in den Rücken. Endlich gelang es ihm, loszurennen, Abstand zu gewinnen, Sicherheit. Seine Beine trugen ihn an dem Mann vorbei, der sich bereits wieder aufsetzte. Dabei fiel Jan Tores Blick auf die Umhängetasche am Straßenrand. Etwas war aus ihr herausgerutscht, eine schmale braune Ledermappe. Ohne zu zögern, bückte Jan Tore sich, packte die Mappe und rannte weiter die Straße hinunter, schneller und immer schneller. Jetzt erst bemerkte er, dass er nicht mehr alleine war. Zwei junge Männer kamen ihm von der anderen Straßenseite aus entgegengelaufen, sahen aber nicht zu ihm, sondern hatten nur Augen für Skimaske. Laute Rufe ertönten.

Jan Tore hielt nicht an, sondern blickte über die Schulter zurück. Skimaske war wieder auf die Beine gekommen und rannte ihm zwei, drei Schritte hinterher, den Vorschlaghammer in der Hand. Dann fielen ihm offenbar die beiden Schaulustigen auf, die sich dem Geschäft näherten. Er ließ den Hammer fallen und wirbelte herum, ergriff die Umhängetasche an ihrem Riemen und sprang mit weiten Sätzen auf den schwarzen Transporter zu. Dessen Beifahrertür wurde aufgestoßen, und noch während Skimaske einstieg, fuhr der Wagen auch schon mit aufheulendem Motor an.

Jan Tore zog sich die Kapuze seines Parkas tief ins Gesicht und lief noch schneller in die entgegengesetzte Richtung davon. Adrenalin pumpte durch seine Muskeln, er rannte und rannte, ohne genau zu registrieren, wohin er lief, seine eiskalte Hand fest um das ebenfalls kalte Leder der Mappe gepresst.

Erst als er aus den Augenwinkeln zu seiner Rechten den verschneiten Grünerhagenpark wahrnahm, verlangsamte er seine Schritte. Seine linke Seite stach, und die Lunge schmerzte beim Luftholen. Er brauchte unbedingt eine Zigarette. An der Grünerbrücke eilte er zu dem Fußweg hinunter, der am Akersfluss entlangführte. Hinter einer Reihe kahler Bäume zog träge das rauchgraue Wasser des Osloer Stadtflusses entlang. Hier unten in Ufernähe war die Dämmerung bereits so weit fortgeschritten, dass sie die Gesichter der Passanten zu dunklen Flecken verschwimmen ließ, die erst im Näherkommen Konturen erhielten.

Jan Tore ließ sich auf eine Bank fallen und legte die Ledermappe neben sich ab. Mit zitternden Händen drehte er sich eine Zigarette, zündete sie an und inhalierte wie ein Ertrinkender, der nach rettender Luft schnappte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihm der Pullover unter dem Parka nass vor Schweiß am Rücken klebte.

Scheiße, Scheiße, Scheiße!

Das hätte richtig böse ausgehen können. Warum hatte er wie ein hirnloser Zombie mitangesehen, wie der kleine Juwelier praktisch zu Brei geprügelt wurde?

Er schloss die Augen und öffnete sie sofort wieder, als die Ereignisse der letzten Minuten im Dunkel vor seinen Lidern flirrten. Der Vorschlaghammer im Schwung, das blutüberströmte, eingeschlagene Gesicht des Juweliers, der Typ mit der Skimaske, der in den Transporter sprang.

Fuck, der Transporter! Eine erneute Flutwelle an Adrenalin überrollte Jan Tore, als ihm klar wurde, dass nicht nur eine Person an dem Überfall beteiligt gewesen war, sondern zwei. Und er hatte genau zwischen ihnen gestanden. Der Fahrer des Transporters hätte jederzeit aussteigen, auf ihn zulaufen und ihn fertigmachen können!

Warum hatte er das nicht getan? Wieso war er bis zum Schluss im Wagen sitzen geblieben?

Bestimmt, weil er es nicht hatte riskieren können. Nummer zwei war der Fahrer des Fluchtwagens. Er hatte dafür sorgen müssen, aufs Gaspedal zu treten, sobald sein Skimaskenkumpel mit der Beute aus dem Geschäft gelaufen kam.

Während die Welle an Aufregung in ihm langsam abflaute, überlegte Jan Tore, was für ein verfluchtes Glück er am Ende gehabt hatte. Wenn er nicht vor Schreck wie eingefroren gewesen wäre, wenn er irgendwie auf das aufmerksam gemacht hätte, was in dem Laden vor sich ging, wäre der Fahrer vielleicht doch ausgestiegen, um ihn daran zu hindern, Hilfe zu rufen. Das war kein spontaner Überfall gewesen. Die Art und Weise, wie Skimaske den verletzten Juwelier durchsuchte hatte, schnell und zielsicher, als hätte er genau gewusst, wo er suchen musste ... das war alles geplant gewesen.

Jan Tore stieß Rauch durch Mund und Nase aus und legte seine Hand auf die Ledermappe, die neben ihm auf der Bank lag, so wie er noch vor knapp zwanzig Minuten auf einer anderen Bank seine Hand auf das Plastiktütchen mit dem Heroin gelegt hatte.

Wie man es drehte und wendete, er hatte sich an dem Raubüberfall beteiligt.

Ach was, beteiligt, begehrte eine Stimme in ihm auf. Er hatte etwas auf dem Boden liegen sehen und es aufgehoben, das war schon alles. Für all den Stress und die Gefahr war das ein angemessener Finderlohn. Er war pleite und musste an sich selbst denken.

Erneut tauchte das blutige Gesicht des Mannes vor seinem inneren Auge auf. Des Mannes, der ihn angesehen und dem er nicht geholfen hatte. Dem er nicht hatte helfen können, korrigierte Jan Tore sich schnell und warf den Rest der Zigarette in den Schnee. Er griff nach der Ledermappe und legte sie sich in den Schoß. Er seufzte leise, dann öffnete er sie.

Scharf zog er kalte Luft durch den Mund ein.

Sein erster Gedanke beim Anblick der Kollektion geschliffener blutroter Edelsteine auf schwarzem Samt war Jackpot. Ein verdammter Volltreffer!

Mühsam unterdrückte er ein Keuchen und sah sich schnell um, ob er alleine war. Doch niemand teilte den Uferstreifen gerade mit ihm, nur weiter vorne gingen zwei Frauen nebeneinander, doch sie entfernten sich immer weiter.

Er strich mit den Fingerspitzen über die geschliffenen Steine. Ob das echte Rubine waren, von denen er bloß wusste, dass sie beinahe so teuer wie Diamanten waren, oder vielleicht nur etwas wie Granat? Aber selbst Granat musste doch etwas wert sein, oder?

Die komplette Tragweite dessen, was er getan hatte, fächerte sich vor Jan Tore auf: Blutspritzer auf dem zerstörten Kinn des Juweliers, tiefrot wie die geschliffenen Steine, die vor ihm im Schoß lagen. Skimaske hatte sein Gesicht gesehen. Wenn es jemand aus dem Viertel war, dann war es gut möglich, dass er ihn erkannt hatte. Der Typ würde herumfragen, würde versuchen, herauszufinden, wer ihn um den größten Teil seiner Beute gebracht hatte.

Und was, wenn er nicht der Einzige war, der ihn gesehen hatte? Okay, die Straße war leer gewesen, bis auf die beiden, die auf das Juweliergeschäft zugerannt waren, aber die hatten ihn gar nicht beachtet, sondern nur Skimaske im Blick gehabt. Und er selbst hatte sein Gesicht abgewendet und die Kapuze über den Kopf gezogen. Aber hatte das wirklich gereicht?

Außerdem war es gut möglich, dass in irgendeinem der Häuser um das Juwelengeschäft herum jemand ausgerechnet in dem Moment aus dem Fenster geschaut hatte, als Skimaske hammerschwingend auf die Straße gestürmt war. Jemand, der mitbekommen hatte, wie ein junger Mann etwas vom Boden aufgehoben hatte und davongerannt war. Ein junger Mann mit strähnigen blonden Haaren, der nicht zur direkten Nachbarschaft gehörte, aber zu Grünerløkka. Und wenn Oslo ein verdammtes Dorf war, dann war es Grünerløkka gleich doppelt. In was für eine Scheiße hatte er sich da bloß reingeritten! Bestimmt war es besser, wenn er sein Gesicht eine Weile nicht mehr in dieser Gegend sehen ließ.

Er senkte wieder seinen Blick auf die Edelsteine. Selbst in der fortschreitenden Dämmerung, die dem Tag zunehmend die Farben stahl, strahlten sie noch immer wie von einem eigenen Feuer erfüllt. Natürlich waren sie echt, keine Frage. Und egal wie unvorsichtig und bescheuert es gewesen sein mochte, was er getan hatte: Sie waren ein Ausweg aus all dem Dreck, der ihn umgab. Entschlossen klappte er die Ledermappe wieder zu und verstaute sie im Inneren seines Parkas, ohne sie loszulassen.

Er musste jetzt schlau sein. Die Steine sicher verstecken und abwarten, dass sich der Staub legte und der Raubüberfall in Grünerløkka nichts weiter mehr als eine Zeitungsnachricht von vorvorgestern war, mit der man Feuer im Ofen anzündete. Bis es so weit war, würde er sich irgendwie über Wasser halten müssen. Das konnte er schaffen. Er musste sich zusammenreißen und die Kurve kriegen, was seinen Drogenkonsum betraf. Schluss machen mit der Spritze, wieder zurück zum Rauchen und auch das langsam ausschleichen. Notfalls mit der Hilfe von Methadon. Der Batzen Geld unter seinem Parka bedeutete finanzielle Unabhängigkeit. Bedeutete, Kunst schaffen zu können, ohne sich gedanklich darüber zu zerfleischen, wie man die nächste Miete stemmen konnte, oder jemanden wie Sondre um Gefallen anbetteln zu müssen.

Er musste nur Geduld haben, vorsichtig sein und sich Zeit damit lassen, herauszufinden, wie er die Steine zu Geld machen konnte.

Jan Tore lehnte sich auf der Bank zurück. Mit der einbrechenden Dunkelheit nahm die Kälte weiter zu, dennoch fror er nicht. Auch das Nagen in seinem Inneren, das ihm ankündigte, dass sein Körper nach Heroin verlangte, blieb momentan aus.

Endlich hatte er auch einmal Glück gehabt. Er würde etwas aus dem machen, das ihm da in den Schoß gefallen war. Die Zukunft strahlte in dem Glanz der blutroten Steine.

1

Vierzehn Jahre später

Für Rolf »Wolf« Larsen zogen sich die letzten Kilometer der Straße nach Bø wie der Kaugummi in seinem Mund. Er fuhr das linke Seitenfenster des Mercedes herunter. Kalte, aber trockene Luft traf sein Gesicht, das er kurz der offenen Fläche zuwandte, um den inzwischen geschmacklosen Klumpen auszuspucken. Jenseits der Büsche am Straßenrand hing ein schiefergrauer Herbsthimmel über den Höhenzügen der Telemark. Es sah ganz so aus, als ob es heute noch kräftig regnen würde.

Der Fahrtwind war ihm unangenehm, und er fuhr das Fenster wieder hoch. Seine Rechte tastete nach der Nick-Cave-CD auf dem Beifahrersitz. Er schob sie in den CD-Player des Autoradios, der den ersten Song jedoch nicht abspielen wollte. Wahrscheinlich war die Beschichtung der uralten Scheibe schon zu zerkratzt.

Wolf fluchte leise, griff nach dem Blister im Ablagefach zwischen den Sitzen, während seine andere Hand das Lenkrad umfasst hielt, und drückte einen neuen Kaugummi heraus. Eigentlich fand er, dass die Dinger stinklangweilig schmeckten, aber während längerer Autofahrten musste er auf etwas herumkauen, damit ihn keine Müdigkeit überkam und er den Mercedes im Sekundenschlaf gegen eine Leitplanke fuhr. Wie so häufig in der letzten Zeit hatte er nur ein paar Stunden Schlaf gefunden.

Er war gegen elf Uhr morgens von Oslo aus losgefahren, nachdem er Solveigs Wohnungstür abgeschlossen und den Schlüssel in den Briefkasten geworfen hatte. Heute Abend würde sie aus der Werbeagentur zurückkommen und zum ersten Mal seit gut drei Monaten ihr Appartement wieder alleine für sich haben. Es war Zeit geworden. Nicht, dass sie sich auf die Nerven gegangen wären, dazu kannten sie sich viel zu gut, seit der weiterführenden Schule, als sie eine ganze Zeit lang miteinander gegangen waren. Aber er hatte sich nicht damit wohlgefühlt, sich bei ihr länger als unbedingt nötig breitzumachen.

Den Blick auf die abgeernteten Felder der Telemark gerichtet, trieben Wolfs Gedanken zu einem verregneten Märztag zurück, nur ein paar Monate nach Annes Tod im Januar. 2023, sein persönliches Annus horribilis. An diesem Tag hatte er den Schlüssel für ihre gemeinsame Wohnung im Bezirk Majorstuen abgegeben. Einige persönliche Dinge seiner Frau, von denen er sich einfach nicht hatte trennen können, lagerten noch immer in einer ungenutzten Kellerparzelle des Mietshauses, in dem sie beinahe acht Jahre gemeinsam gewohnt hatten.

Er erinnerte sich an einen Bananenkarton mit Fotoalben, die meisten aus Annes Kindheit und Teenagerzeit, an einen anderen mit von ihr vollgeschriebenen Chinakladden, an eine Schatulle aus hellem Holz, mit goldenen Intarsien belegt, die einen schwachen Duft nach Zedern verströmte. Noch konnte er es sich nicht vorstellen, den Inhalt der Chinakladden zu lesen, Annes Stimme in seinem Kopf zu hören, ihre persönlichsten Gedanken.

Erst einmal war er bei Solveig untergekommen, deren Mitbewohner Kim für ein halbes Jahr nach Neuseeland gereist war. Tatsächlich war sie es gewesen, die vorgeschlagen hatte, dass er vorübergehend dessen Zimmer beziehen konnte.

»Ich kann ja verstehen, dass du einen Schlussstrich ziehen willst«, hatte sie gesagt, »aber dazu musst du nichts übereilen. Ich hab Kim eine Nachricht geschrieben, und er hat kein Problem damit, wenn du erst mal bei uns bleibst. Lass dir Zeit damit, eine neue Wohnung zu finden.«

Und Wolf hatte sich Zeit gelassen. Nicht, dass er eine Wahl gehabt hätte. Seit er zum Witwer geworden war, hatte er mehr und mehr das Gefühl, als ob sein Leben ein Kinofilm sei, den ein unsichtbarer Filmvorführer zu Zeitlupe verlangsamt hatte. Jeder einzelne Tag seiner Arbeit bei der Osloer Kriminalpolizei dehnte sich in schier unerträgliche Länge. Nachts wälzte er sich in dem Doppelbett, das er mit seiner Frau geteilt hatte und das ihm inzwischen übergroß vorkam, hin und her, während die einzelnen Minuten sich quälend langsam zu einer weiteren Stunde addierten. Und wenn er morgens aufwachte, ragte ein weiterer quälend langsam verstreichender Tag im Jahr null nach Annes Tod vor ihm auf wie ein zu erklimmender Berg.

Während sein steinalter schwarzer Mercedes sich den ersten Häusern von Bø näherte, dachte Wolf über den Anteil nach, den Solveig daran gehabt hatte, dass er in dieser Zeit nicht durchgedreht war. Sie hatte ihm mit ihrem Angebot, bei ihr unterzukommen, mehr geholfen, als er es sich selbst eingestehen wollte. Er wurde nicht mehr ständig durch alles, was er um sich herum wahrnahm, daran erinnert, dass die wichtigste Person in seinem Leben für immer fort war. Und Solveig versuchte ausnahmsweise mal nicht, ihm gute Ratschläge zu geben, sondern hielt sich im Hintergrund. Er war ihr dankbar für ihre Geduld, wie ihm erst jetzt wirklich klar wurde, als er auf dem Weg nach Bø daran zurückdachte. Er nahm sich vor, ihr das endlich einmal zu sagen.

Solveig war in dieser Zeit sein einziger engerer Kontakt geblieben, von den Menschen, mit denen er durch seine Arbeit zu tun hatte, abgesehen. Er ließ den Umgang mit seinen Verwandten einschlafen und machte sich auch bei seinen Freunden rar. Er hatte während Annes Beerdigung in ihre bekümmerten, mitfühlenden Gesichter geblickt und entschieden, dass er sich diesen Mienen nicht erneut aussetzen wollte.

Dann hatte der Anruf von Rechtsanwalt Gjellestad seine Zeit im Limbus beendet.

Er war an einem Montagmorgen Anfang Mai auf dem Weg ins Polizeipräsidium gewesen und hatte gerade sein altes schwarzes Schlachtschiff von Mercedes aufgeschlossen, als sein Handy in der Jacke zu vibrieren angefangen hatte.

»Spreche ich mit Hauptkommissar Rolf Larsen?«, fragte eine tiefe Männerstimme am anderen Ende der Leitung

»Ja, der bin ich«, erwiderte Wolf. »Um was geht es?«

Der Mann sog die Luft ein, als wollte er zu einer längeren Rede ansetzen. »Mein Name ist Jon Einar Gjellestad. Ich bin der Testamentsvollstrecker Ihrer verstorbenen Frau, Anne Marie Larsen, geborene Sandberg.«

»Testaments- Moment mal, meine Frau hatte kein Testament ...«, stammelte Wolf. Er legte die Stirn in Falten. »Das wüsste ich doch. Das hätte sie mir erzählt.«

»Ihre Frau hat bei mir ein Testament hinterlegt«, erklang die tiefe Stimme von Jon Einar Gjellestad aus dem Lautsprecher.

»Warum erfahre ich dann erst vier Monate nach ihrem Tod davon?«, wollte Wolf wissen.

»Das war eine der Bedingungen, die Ihre Frau an die Verlesung des Testaments geknüpft hatte«, sagte der Rechtsanwalt. »Sie wollte, dass zwischen ihrem Begräbnis und der Offenlegung ihres Letzten Willens etwas Zeit verstreichen sollte.«

»Einäscherung«, sagte Wolf tonlos. »Meine Frau wurde nicht bestattet. Ihre Asche wurde im Meer verstreut.«

»Verzeihen Sie bitte: zwischen der Einäscherung und der Testamentseröffnung. Das geschieht manchmal, wenn die Erblasser sichergehen wollen, dass die Erben eine möglichst pragmatische Entscheidung über das Vermögen treffen, das auf sie übergeht.«

»Vermögen?« Wolf verstand nur noch Bahnhof. Anne und er waren etwas über zehn Jahre verheiratet gewesen. Er wusste über ihre Finanzen Bescheid, und ein Vermögen hatten sie nun wirklich nicht umfasst.

»Darüber unterhalten wir uns am besten persönlich«, sagte Gjellestad. »Wann passt es Ihnen?«

Jangling Jack

Goes Yackety Yack

dröhnte unvermittelt Nick Caves eindringliche Stimme in voller Lautstärke aus den Boxen und riss Wolf abrupt aus seinen Erinnerungen. Die schrille Karnevalsmusik der Bad Seeds setzte ein und ließ die Boxen vibrieren. Die verdammte CD war endlich angesprungen, aber nicht am Anfang, sondern mittendrin.

Wolf packte den Lautstärkeregler und drehte ihn hastig herunter, während der Mercedes am Ortsschild von Bø in Telemark vorbeifuhr. Die Songs von »Let Love In« begleiteten ihn bei der ersten Fahrt durch seine neue Nachbarschaft, Lieder, vertraut und brüchig wie die alte verkratzte CD, von der sie stammten.

2

Er kannte Bø in Telemark noch aus seiner Kindheit, von Sommerferien mit seinen Eltern, die eine Hauptstraße, die den Ort durchzog, das Kino und die Unigebäude, Bø Sommerland, ein weitläufiges Badeparadies etwas außerhalb dieser Kleinstadt, umgeben von Wald. Überhaupt die Natur. Die hatte Wolf noch viel stärker in Erinnerung als Bø selbst, die weiten Felder in den Talgegenden, Schafweiden und die dunkelrot gestrichenen Bauernhäuser, umgeben von den allgegenwärtigen Wäldern, Höhenzügen und Bergen. Dazwischen schlängelten sich immer wieder lang gezogene Seen und Flüsse, tiefblau unter sommerlichem Himmel, im Winter entweder sturmwolkenfarben oder überzogen mit einer hellgrauen Eisschicht.

Nun würde er mehr Natur abbekommen, als er es in über dreißig Jahren gewohnt gewesen war. Er war ein Stadtmensch durch und durch, keiner von denen, die in ihren Büros bereits Freitagvormittag ungeduldig mit den Füßen scharrten und es kaum abwarten konnten, bis es endlich übers Wochenende ans Meer oder zu einer Hütte in den Bergen ging. Freie Wochenenden hatte er schon wegen seiner Arbeit bei der Kriminalpolizei oft genug vergessen können. Und er mochte einfach die Möglichkeit, aus dem Haus zu gehen und sich einen Döner vom Take-away gleich um die Ecke holen zu können. Auch die nächste Bar für ein abendliches Bier in Gesellschaft war in Oslo nie weit weg.

Jetzt dagegen würde er noch nicht einmal in einer Kleinstadt wohnen, sondern sogar weiter außerhalb, ein, zwei Kilometer von Bø entfernt. Ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, seinen Job zu kündigen und sich auf dem Land selbstständig zu machen?

Wolf fummelte nach einem Moods-Zigarillo aus der Schachtel neben sich auf dem Beifahrersitz, zündete ihn sich an und fuhr das Fenster herunter.

Man bekam nicht oft im Leben Gelegenheiten, noch einmal völlig von vorn anzufangen. Er würde herausfinden, ob es funktionierte.

Er erkannte das weiße hölzerne Gebäude mit der Veranda und dem Balkon darüber, das Rechtsanwalt Gjellestad ihm auf einem Foto gezeigt hatte, schon von Weitem. Dass es kein Bauernhof, sondern nur ein normales Wohnhaus war, wurde vor allem dadurch deutlich, dass es im Gegensatz zu den rot und weiß gestrichenen Höfen in der Nachbarschaft fast für sich alleine stand, ohne einen Stall oder eine Scheune. Das einzige Nebengebäude war eine Doppelgarage mit Wellblechdach. Ein Schotterweg bog rechts von der Landstraße ab und führte in beinahe gerader Richtung zu dem Haus. Gleich dahinter erstreckte sich dichter Wald über steil zu einem breiten Berghang anwachsendes Gelände. Zwischen Fichten und Kiefern wiesen die allgegenwärtigen Birken so spät im Oktober goldgelb gefärbte Blätter auf.

Wolf parkte den Mercedes auf dem Wendeplatz vor der Vorderfront des Hauses mit seiner ausladenden Veranda und stieg aus. Das also war sein neues Zuhause. Nur etwas über zwei Stunden mit dem Auto von seiner alten Homebase Oslo entfernt. Und doch wirkte es mit der ländlichen Umgebung und den dichten Wäldern, in denen man außer gelegentlichen Waldarbeitern, Jägern und – in der Touristensaison – Wanderern kaum Menschen begegnete, viel weiter weg.

Der Zigarillo war ausgegangen. Wolf ließ ihn auf den Kies fallen und trat teils aus Gewohnheit, teils zur Sicherheit darauf. Mit der Klimaveränderung hatten auch die Dürreperioden zugenommen, und Waldbrände kamen immer häufiger vor, nicht nur im Sommer, sondern von den ersten trockenen Frühlingstagen bis weit in den Herbst. Er hatte nicht vor, die alte Bude vor ihm abzufackeln, bevor er überhaupt eingezogen war.

Erst jetzt, von Nahem, fiel ihm auf, wie renovierungsbedürftig das Haus aussah. Der Kamin ragte so windschief zwischen den mit zahllosen Flechten bedeckten Dachschindeln hervor, als könnte er ihm bei der nächsten heftigen Bö vor die Füße krachen. An einigen Stellen um die Fenster herum und unterhalb des Dachs war die weiße Farbe der hölzernen Wände in ein schmutziges Grau übergegangen und blätterte ab. Einige der Fensterrahmen waren gesplittert und konnten im Winter die kalte Luft bestimmt nur mit Mühe aussperren. Der Rasen links des Gebäudes war gemäht, aber zu seiner Rechten wucherten Brennnesseln im hohen Gras zwischen den Himbeerbüschen.

Wolf betrat die Veranda und fischte den Hausschlüssel, den Nora ihm geschickt hatte, aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Er steckte ihn ins Schloss der Haustür, um sie aufzusperren, doch der Schlüssel ließ sich einfach nicht drehen, egal, wie sehr er sich bemühte. In der Hoffnung, dass die Tür vielleicht gar nicht abgesperrt war, drückte er die Klinke, doch vergebens. Mit einem genervten Brummen zog er den Schlüssel wieder aus dem Schloss.

Okay, es war eindeutig nicht der Richtige.

Wolf hatte jedoch keine Lust, wieder nach Oslo zurückzufahren. Er verließ die Veranda und ging auf der Suche nach einer Hintertür um das Gebäude herum. Und tatsächlich: Auf der Rückseite führten drei Treppenstufen zu einer schmalen Tür. Wolf rüttelte und zog an ihr, doch sie war ebenso wie die Haustür verschlossen.

Er fluchte. Verdammte Scheiße, das ging ja gut los!

Ob es eine andere Möglichkeit gab, das Haus zu betreten? Er umrundete das Gebäude. Auf der Rückseite waren die wenigen Fenster alle verschlossen. Als er an der Vorderfront zum Dach hochblickte, fiel ihm auf, dass die Balkontür im ersten Stock ein klein wenig offen stand. Vielleicht bestand hier eine Möglichkeit, nach drinnen zu kommen.

An der rechten Seitenwand des Gebäudes hatte er eine Leiter gesehen. Er ging zurück, hob sie aus ihrer Verankerung und trug sie zum Rand der Veranda. Dann bestieg er sie, ohne hinabzusehen. Von Höhen bekam er immer ein mulmiges Gefühl im Magen. Wolf machte sich gerade bereit, das rechte Bein über das Geländer zu schwingen und den Balkon zu betreten, als hinter ihm eine barsche Stimme ertönte.

»Hey, Sie! Was machen Sie da?«

Er war so überrascht von dem lauten Ausruf, dass er zusammenzuckte. Die Leiter begann zu wackeln. Sofort schoss ihm Adrenalin wie Eiswasser durch den Körper. Er begann zu zittern, die Leiter wackelte noch stärker und rutschte ihm zur Seite weg. Gerade noch rechtzeitig krallte er sich am Balkongeländer fest. Schmerz biss scharf in seinen rechten Daumenballen.

Wolf hörte kaum, wie die Leiter mit einem blechernen Scheppern auf dem Kies aufschlug.

3

»Kommen Sie da runter!«, erklang die raue Stimme einer Frau mit hartem Telemark-Akzent erneut. Beinahe hätte Wolf aufgelacht. Was stellte die sich vor? Dass er Lust hatte, noch eine Weile länger am Geländer herumzuhängen wie eine zum Lüften rausgebrachte Bettdecke?

Er schaute nach unten, machte sich in Gedanken für den Aufprall bereit und ließ los. Ein dumpfer, schmerzhafter Stoß fuhr ihm durch seine Beine bis hinauf in den Torso, und er kippte um.

Als er sich aufrappelte, erblickte er die Frau, die ihn angeherrscht hatte, direkt vor sich. In den Händen hielt sie ein Jagdgewehr.

»Das hier ist Privatbesitz«, herrschte die Stimme der Fremden ihn an.

»Das ... das ist okay, ich bin der neue Miteigentümer«, entkam es Wolf hastig. Seine Augen fixierten das dunkle Holz des Gewehrlaufs und dessen Mündung, die schräg nach unten auf seinen Bauch zeigte. Es war nicht das erste Mal, dass jemand eine Schusswaffe auf ihn richtete. Oslo war in den letzten zehn Jahren ein härteres Pflaster geworden, Schusswechsel kamen immer häufiger vor. Seine Gedanken rasten. Ob das Gewehr geladen und entsichert war? Die Frau vor ihm durfte ihn nicht als Bedrohung wahrnehmen.

»Richten Sie bitte die Waffe woanders hin«, sagte er und bemühte sich, seine Stimme ruhig, aber bestimmt klingen zu lassen. Seine Polizistenstimme, mit der schon in der Vergangenheit erfolgreich kritische Situationen entschärft hatte. Oft, aber bei Weitem nicht immer. »Wenn Sie aus Versehen abdrücken, pulverisieren Sie mir aus dieser Entfernung die Eingeweide.«

Erst jetzt nahm er das Aussehen der Frau wahr. Ein leuchtend orangerot gefärbter, kurzer Haarschopf umrahmte ein pausbäckiges Gesicht von teigiger Farbe. Sie musste ungefähr in seinem Alter sein, aber stämmiger und wesentlich kleiner als er. Wahrscheinlich reichte sie ihm gerade mal bis zur Schulter. Sie trug einen verschlissenen Parka, dessen olivgrüne Farbe so verblichen war, dass sie einen schimmlig wirkenden Grauton angenommen hatte. Ihre breiten Beine steckten in lilafarbenen Leggings und dunkelbraunen Gummistiefeln.

»Ich weiß nix von 'nem neuen Eigentümer«, brummte die Frau, trat dann aber einen Schritt von ihm zurück und richtete das Gewehr zu Boden. Wolf entging nicht, dass sie es dabei auch weiterhin mit beiden Händen umfasst hielt, sodass sie die Waffe im Zweifelsfall nur hochreißen und abdrücken musste.

»Mein Name ist Rolf Larsen«, sagte er. »Von der Polizei in Oslo«, fügte er sicherheitshalber hinzu, auch wenn das inzwischen nicht mehr stimmte. Hauptsache, sie nahm ihm ab, dass sie nichts von ihm zu befürchten hatte. »Ich kann mich ausweisen. Ich hole meinen Führerschein aus der Tasche, okay?«

Ihm entging nicht, wie sich ihre Miene bei dem Wort Polizei verfinsterte. Sie nickte, die Lippen fest aufeinandergepresst. »Okay«, sagte sie. Es hörte sich an wie ein Kommando.

Er tastete mit einer fahrigen Hand nach seinem Portemonnaie in der linken Gesäßtasche seiner Jeans. Langsam zog er es hervor, klappte es auf und hielt ihr den kreditkartengroßen Führerschein entgegen, auf dem sein Name neben einem Foto stand, das bestimmt zehn Jahre alt war.

Die Frau kniff die Lider ein wenig zusammen, wie um schärfer sehen zu können, ohne näher an ihn heranzutreten. »Jepp, sieht aus, als ob Ihr Name stimmt«, sagte sie dann langsam. »Wenn Sie der neue Eigentümer sind, warum steigen Sie dann über den Balkon ein?«

»Der Schlüssel, den ich von meiner Schwägerin bekommen habe, passt nicht.«

Jetzt entspannte sie sich etwas. Mit einer Bewegung ihres Daumens am Handschieber sicherte sie das Gewehr. »Sie sind mit Nora Sandberg verwandt?«

Er nickte geistesabwesend, noch immer konsterniert, dass die fremde Frau ihn tatsächlich mit ihrer Jagdwaffe bedroht hatte.

»Ja, ich bin der Mann ihrer verstorbenen Schwester.«

Ein Schatten zog über das breite, pausbäckige Gesicht der Fremden. Echtes Bedauern sprach aus ihrer Miene, so unverstellt wie das eines Kindes. »Ich hab gehört, was passiert ist. Es tut mir sehr leid«, sagte sie rundheraus.

Wolf, der wie schon so oft in der ersten Zeit nach dem Tod seiner Frau nicht wusste, wie er mit Beileidsbezeugungen umgehen sollte, nickte zustimmend und brummte etwas Unverständliches. Eine Pause entstand, die schließlich endete, als die Frau weitersprach.

»Ich ...«, sie hielt inne und zuckte die Achseln, »ich hab Anne kaum gekannt. Nora kümmert sich ums Haus. Und auch nur, wenn sie mal in der Gegend ist. Sie wohnt ja in Oslo. Meistens telefonieren wir nur.«

Wolf erinnerte sich an etwas, das Nora ihm erzählt hatte. »Sind Sie diejenige, die hier hin und wieder nach dem Rechten sieht?«, fragte er sie. »Trine, nicht wahr?«

»Stimmt, das bin ich«, sagte sie. »Trine Veum. Wenn etwas kaputtgegangen ist, dann repariere ich es. Und ich kümmere mich um den Garten. Ich wohne da.« Sie schwang ihr Gewehr herum und deutete damit in Richtung Waldrand schräg rechts hinter dem Haus.

Wolf reckte den Hals, um zu sehen, was sie meinte. Er sah nichts weiter als den schwach ansteigenden und mit Preiselbeeren und niedrigem Gebüsch bewachsenen Hang sowie die ersten Baumreihen dahinter, in gut dreißig Meter Entfernung. Erst als er etwas genauer hinblickte, bemerkte er schräg rechts hinter mehreren schlanken und hoch aufragenden Kiefernstämmen die Fassade einer Hütte. Mit ihrer dunkelgrünen Farbe war sie ihm zunächst gar nicht aufgefallen.

»Ganz schön abgelegen.«

Sie zuckte die Achseln. »Mir reicht es.«

Wolf bemerkte, dass seine Aufregung abnahm und verhaltenem Ärger wich. Nicht Ärger auf die Frau vor ihm, sondern auf Nora, die ihm einen entweder falschen oder nicht funktionierenden Schlüssel hatte zukommen lassen. Ob sie das absichtlich gemacht hatte? Sie hatte nicht gerade begeistert über die Aussicht gewirkt, sich das Haus zukünftig mit ihm teilen zu müssen, wenn sie sich auch nicht oft hier aufhielt.

»Okay, Trine«, sagte er und ging mit seinem nächsten Satz gleich zum allgemein gebräuchlichen Du über. »Wenn du dich um unser Haus kümmerst, dann hast du doch sicher einen Schlüssel. Kannst du ihn mir geben?« Er deutete auf seinen Mercedes. »Ich habe nicht viel Umzugskram. Das meiste passt in meinen Wagen, und den Rest hole ich nach und nach aus Oslo.«

Trine legte die Stirn in Falten und kratzte sich mit der einen Hand ausgiebig am Kopf, während die andere das Gewehr festhielt. »Ist gut«, brummte sie schließlich. »Ich hole ihn. Komm mit.«

Ohne auf eine Erwiderung von ihm zu warten oder sich zu vergewissern, dass er ihr hinterherkam, drehte sie sich um und setzte sich in Bewegung.

4

Ein ausgetretener Pfad führte am Rand der Wiese hinter dem Haus zum Waldrand hinauf. Trine ging voran, und Wolf folgte seiner neuen Nachbarin in Richtung Hütte.

»Warum warst du eigentlich mit einem Gewehr unterwegs?«, richtete er seine Frage an ihren Rücken.

»Jagdzeit«, gab sie ihm knapp zur Antwort.

»Was jagt man hier denn?«

»Vögel. Raufußhühner.« Sie drehte sich im Gehen zu ihm um. »Jagst du?«

»Keine Tiere.«

Trine warf ihm einen scharfen Blick zu, die Stirn gefurcht. »Wir haben hier kaum Kriminelle. Und keine Polizei. Bø hat nicht mal eine Polizeistation. Das nächste Lensmannskontor mit Polizisten ist in Gvarv, auf halbem Weg nach Skien.«

»Ich arbeite nicht mehr bei der Polizei. Weder in Oslo noch sonst wo.«

Es war ungewohnt für ihn, gegenüber Fremden etwas von sich preiszugeben. Für seinen Geschmack hatte er ohnehin schon genug gesagt. Aber Trine hakte nicht weiter nach.

»Ah«, erwiderte sie nur.

Während graue Regenwolken über ihnen allmählich den Tag verfinsterten, erreichten sie den Waldrand. Die Hütte auf der Lichtung sah alt aus. Die Schindeln des Schrägdachs waren an vielen Stellen mit dicken Klumpen aus verrotteten Blättern und Baumnadeln überzogen, und der dunkelgrüne Anstrich der Wände war verwittert.

Trine legte die Hand auf die Klinke und drehte sich zu ihm um. »Warte hier.«

Wolf blieb stehen und sah zu, wie sie die Tür öffnete. Im gleichen Moment ertönte von drinnen das Geräusch von über den Holzboden polternden Pfoten, und wildes Gekläffe wurde laut.

Trine stieß einen Fluch aus. »Ruhig, Bodil!«, stieß sie hervor, zwängte sich durch die halb geöffnete Tür und stieß sie hinter sich zu. Der Lärm setzte sich, nun etwas gedämpft, noch ein paar Momente lang fort, dann trat Stille ein.

Wolf sah sich um, während er wartete. Der Bulle in ihm konnte nicht anders, als sich zu fragen, was die Frau, die er eben kennengelernt hatte, dazu brachte, in einer Hütte im Wald zu leben. Immerhin hatte sie offenbar Strom. Ein Kabel führte zu einem verwitterten Strommast am Waldrand und von dort über zwei weitere Masten auf einer benachbarten Schafweide zum nächsten Bauernhof.

Aber dennoch: Was für eine Geschichte steckte hinter Trines Entschluss, auf eine Menge Komfort des 21. Jahrhunderts zu verzichten? Nachts aufstehen zu müssen, um ihr Geschäft in einem kalten Außenklo zu verrichten? Und wenn sie vorhin wirklich wie behauptet jagen war, als sie ihn beim Klettern erwischt hatte, warum war dann der Hund nicht bei ihr gewesen, dessen Radau er im Inneren der Hütte gehört hatte? Hündin, korrigierte er sich. Bodil.

Erste Regentropfen klatschten ihm auf Kopf und Schultern. Endlich ging die Tür wieder auf. Trine, die im Rahmen stehen blieb, sodass er kaum ins Innere sehen konnte, reichte ihm einen großen Schlüsselring aus Metall, an dem ein einzelner Schlüssel baumelte. »Hier ist er«, sagte sie.

»Danke«, erwiderte Wolf. »Ich geb ihn dir zurück, sobald ich meinen von Nora bekommen habe.«

Sie nickte knapp. »Eilt ja nicht. Bis dann.«

»Ja, bis dann«, sagte er.

Die Tür schloss sich wieder, und Wolf stand allein im einsetzenden Regen. Er steckte den Schlüssel ein und machte, dass er den Feldweg hinunter zurück zum Haus und ins Trockene kam. Mit eingezogenem Kopf eilte er um das Gebäude herum und über den Kies der Einfahrt. Hastig schritt er die beiden Treppenstufen zur Veranda hinauf. Gerade als er die Haustür aufschloss, begann das Handy in der Gesäßtasche seiner Jeans zu klingeln. Er trat über die Türschwelle und zog es heraus, während er gleichzeitig den ungewohnten Geruch seines neuen Zuhauses einatmete: altes Holz und verbrauchte Luft, aber auch ein schwacher Duft nach Putzmittel.

Die Nummer auf dem Display kannte er nicht. Dennoch nahm er den Anruf an.

»Hallo?«

»Hallo! Spreche ich mit Rolf Larsen?«

5

Die weibliche Stimme am anderen Ende der Verbindung klang volltönend, jedoch mit einem Hauch von Nervosität.

»Der bin ich«, erwiderte Wolf mit dem Mobiltelefon am Ohr, während er sich in dem halbdunklen Flur umsah. Das Regenwetter hatte den Tag so verfinstert, dass das Licht nur spärlich durch die schmale Milchglasscheibe in der Mitte der Haustür drang.

»Mein Name ist Sofia Jacobsen. Ich habe Ihre Nummer aus dem Internet«, sagte die Stimme an seinem Ohr. »Ich ... ich habe gehört, Sie sind ein selbstständiger Privatdetektiv? Hier in der Telemark?«

Wolf runzelte die Stirn. Er war noch nicht einmal richtig umgezogen und bereits Gesprächsthema? »Das stimmt. Ich bin etwas überrascht, wie schnell sich das herumgesprochen hat. Darf ich fragen, woher Sie das wissen?« An der Wand hinter sich fand er neben der Haustür einen Lichtschalter und drückte ihn. Eine Deckenleuchte flammte auf und tauchte den Flur in warmes Licht.

Die Frau lachte trocken, aber nicht unfreundlich auf. »Sie sind hier mitten in der Provinz. Nirgends wird man genauer unter die Lupe genommen, besonders, wenn man neu ist. Ein Arbeitskollege meines Mannes hat sich mit Nora Sandberg unterhalten. Der Moderatorin von diesem Outdoor-Programm, Auf Tour mit Nora.«

Wieder Nora, schoss es Wolf durch den Kopf. Inzwischen war er vom Flur links in ein Wohnzimmer abgebogen, das eine große Fensterfront zur Veranda hin aufwies. Am anderen Ende des Raums stand eine hellbraune Sofaecke. Er ließ sich in einem Lehnsessel mit hohen Armlehnen nieder, in dem er trotz seiner Größe beinahe zu versinken schien. »Nora Sandberg hat also einem Kollegen Ihres Mannes von mir erzählt.«

»Erzählt wäre zu viel gesagt. Wissen Sie, mein Mann leitet hier in Bø die öffentliche Stadtbibliothek. Sein Kollege nahm neulich ein paar Bücher von ihr entgegen, die sie ausgeliehen hatte. Sie kamen ins Gespräch, und da muss Nora Sie erwähnt haben. Dass Sie jetzt hier wohnen, im Haus ihrer Eltern.«

»Noch nicht wirklich«, erwiderte Wolf. »Ich bin erst heute hier angekommen.« Am liebsten hätte er Sofia Jacobsen geantwortet, im Haus meiner verstorbenen Frau, denn das war dieses Gebäude für ihn, nicht das von Anne und Nora Sandbergs Eltern. Aber er wollte das Gespräch mit dieser Fremden nicht auf Anne lenken.

»Oje, das tut mir jetzt leid.« Nun war die vage Nervosität, die er schon seit Beginn des Gesprächs in der Stimme seiner Anruferin geahnt hatte, deutlicher zu vernehmen. »Da sind Sie gerade erst umgezogen und ich komme Ihnen schon mit einer Anfrage wegen Ihres Jobs.«

»Das ist schon in Ordnung«, entgegnete Wolf, dessen Aufmerksamkeit nun voll geweckt war. Ein erster Auftrag, gleich zu Beginn seiner Karriere hier auf dem Land? Natürlich wollte er sich den nicht entgehen lassen. Mit etwas Glück würde er ihm noch weitere Türen öffnen. »Worum geht es denn?«, wollte er wissen.

»Ich brauche einen Privatdetektiv. Tatsächlich war ich schon dabei, mir online zwei Detekteien in Oslo anzusehen. Da habe ich von Ihnen gehört. Sie waren bei der Kriminalpolizei in Oslo, ja?«

»Stimmt«, bestätigte Wolf.

»Ich weiß, es ist sehr spontan«, sagte Sofia Jacobsen. »Aber können wir uns vielleicht morgen treffen?«

»Das ist kein Problem«, sagte er. »Da Ihr Mann die örtliche Stadtbibliothek leitet, nehme ich an, Sie wohnen in Bø?«

»Ja, das vermuten Sie ganz richtig. Aber ich möchte nicht, dass wir uns in einem Café treffen. Bø ist eine Kleinstadt, und mein Gesicht ist bekannt.«

»Dann bei Ihnen zu Hause?«

Sie atmete tief durch, ehe sie antwortete. »Das passt leider auch nicht. Mein Mann entscheidet spontan, ob er Homeoffice macht oder nicht. Es wäre mir lieber, wenn wir ungestört sind.«

Wolf beschlich sofort der Verdacht, dass Sofia Jacobsens Ehemann der Grund dafür war, dass sie die Dienste eines Privatdetektivs in Anspruch nehmen wollte. Er speicherte den Gedanken für später ab. »In dem Fall können wir uns hier bei mir treffen, wenn es Sie nicht stört, dass mein Büro noch nicht eingerichtet ist. Ich bin quasi noch von Umzugskartons umgeben.«

»Überhaupt nicht!«, sagte Sofia Jacobsen. Ihre Stimme war vor Erleichterung etwas lauter geworden. »Es wäre großartig, wenn ich morgen vorbeikommen könnte! Es ... es ist nicht so, dass ich bei meinem Anliegen in Zeitdruck bin. Aber ich schiebe das, wobei ich Ihre Hilfe brauche, schon so lange vor mir her, und ... ähm, jetzt will ich es endlich angehen.«