Kalte Flut - Eeva Louko - E-Book

Kalte Flut E-Book

Eeva Louko

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Helsinkis schönste Insel zeigt ihr dunkelstes Gesicht: Der erste Fall für Reporterin Ronja Vaara

An einem grauen Oktobertag wird am Strand der Insel Lauttasaari, im Stadtgebiet von Helsinki, ein lebloser Mann am Strand gefunden. Wenig später erhält Journalistin Ronja Vaara in London einen Anruf: Ihr Vater ist der Tote am Strand, und er wurde allem Anschein nach ermordet. Sofort fliegt sie in ihre Heimat, doch die Ermittlungen der Polizei bleiben zunächst ergebnislos, und Ronjas eigene Nachforschungen werfen nur weitere Fragen auf: Warum erhielt ihr Vater über dreißig Jahre lang jedes Jahr eine Postkarte mit einem Bild von genau dem Strand, an dem man ihn gefunden hat? Was wissen die anderen Bewohner der Insel, die auch "die Insel der Glückseligen" genannt wird? Und warum wird Ronja das Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wird?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 492

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Zum Buch

An einem grauen Oktobertag wird am Strand der Insel Lauttasaari, im Stadtgebiet von Helsinki, eine Männerleiche am Strand gefunden. Wenig später erhält die Journalistin Ronja Vaara in London einen Anruf: Ihr Vater ist der Tote am Strand, und er wurde allem Anschein nach ermordet. Sofort fliegt sie in ihre Heimat, doch die Ermittlungen der Polizei bleiben zunächst ergebnislos, und Ronjas eigene Nachforschungen werfen nur weitere Fragen auf: Warum erhielt ihr Vater über dreißig Jahre lang jedes Jahr eine Postkarte mit einem Bild von genau dem Strand, an dem man ihn gefunden hat? Was wissen die anderen Bewohner der Insel über das Verbrechen? Und warum wird Ronja das Gefühl nicht los, dass sie beobachtet wird?

Zur Autorin

Eeva Louko wurde 1982 geboren und lebt in Espoo. Sie ist Reporterin und liest am liebsten Krimis. In ihrer Freizeit ist sie gern am Meer, und beim Schreiben lässt sie sich oft von ungelösten Kriminalfällen inspirieren. Ihr Debüt Kalte Flut, der erste Fall für Ronja Vaara, schaffte es in ihrer Heimat Finnland auf Anhieb auf die Bestsellerliste.

EEVALOUKO

KALTE FLUT

KRIMINALROMAN

Aus dem Finnischen von Anu Katariina Lindemann

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Onnellisten saari erschien erstmals 2022 bei Otava, Helsinki.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 07/2024

Copyright © 2022 by Eeva Louko

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sibylle Klöcker

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung von

Shutterstock.com (Janus Orlov, Jakkrit Orrasri) und AdobeStock (Lars Johansson)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-29934-7V002

www.heyne.de

Für meinen Vater

Helsinki, den 20.9.1975

Meine Geliebte,

ich weiß nicht, ob dich dieser Brief jemals erreichen wird. Trotzdem muss ich es zumindest versuchen. Weil ich dich schrecklich vermisse. Und zwar so sehr, dass es mir das Herz zerreißt. Ich kann an nichts anderes mehr denken als an deine Berührung. An deinen Blick. An deine Hand in meiner Hand.

Ich verstehe nicht, wie wir in diese Situation geraten konnten. Vor uns lag das ganze Glück dieser Welt, eine gemeinsame Zukunft war zum Greifen nah. Sie hatte bereits begonnen. Ich verstehe einfach nicht, wie sich alles in einem Moment verändern konnte. In einem einzigen Augenblick.

Jetzt ist um mich herum nichts als Staub und Asche. Ich versuche immer noch zu begreifen, wie das alles passiert ist. Was wirklich passiert ist.

Es ist nun schon so lange her, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Seit ich dich das letzte Mal berührte. Monate haben sich wie Jahre angefühlt. Wie eine Ewigkeit.

Ich weiß nicht, wo sie dich gerade festhalten oder wie deine Tage verlaufen. Man erzählt mir nichts. Und ich kann auch nicht mal jemanden fragen. Ich hoffe, du verstehst das und hasst mich nicht, weil ich dich nicht besucht habe. Ich schöpfe Kraft aus dem Gedanken, dass es dir gut geht. Man kümmert sich doch gut um dich, oder?

Jede Nacht ohne dich ist eine unerträgliche Qual. Dafür gibt es keine Worte. Meine Tage sind leer ohne dich. Vermisst du mich?

Meine Geliebte, mein Schatz. Ich warte auf dich, ich küsse dich.

Dein Raumfahrer

Logbuch

Eben habe ich meine früheren Einträge gelesen. Im Laufe der Jahre haben sich eine Menge angesammelt. Viele Hunderte Seiten.

Voll mit depressivem Gejammer. Jahrelanges depressives Gejammer.

Jetzt habe ich alles hinter mir gelassen und beschlossen, von vorne anzufangen.

Meine früheren Einträge waren voller Wut. Wut auf dich. Jetzt weiß ich, dass ich mich geirrt habe. Ganz umsonst habe ich dir die Schuld gegeben. Die Wut, die aus mir herausquoll, ist dein Geschenk an mich. Ein Geschenk, bei dem ich vorher nicht wusste, wie man es benutzt.

Jetzt verstehe ich es besser.

Dies ist der erste Eintrag meines Neuanfangs.

Hier beginnt meine Reise.

Ich habe nach Informationen gesucht. Ich habe versucht, aus kleinen, zerbrochenen, nicht zusammenpassenden Stückchen ein ganzes Bild zusammenzusetzen. Ich habe noch viel zu erledigen. Aber jetzt kenne ich zumindest die richtige Richtung.

Ich weiß, dass das, was du getan hast, nur zu meinem Besten war. Das weiß ich jetzt. Du schenktest mir ein neues Leben. Ein Ziel.

Ich werde es zu Ende bringen.

KAPITEL 1

Am schlammigen Ufer lag eine Leiche – wie eine Puppe.

In dem matschigen Sand und in einzelnen Ästen, die an den Strand gespült worden waren, war sie hängen geblieben. Rhythmisch schaukelte der schlaffe Körper in den kalten Wellen. Die rechte Hand lag auf trockenem Sand, die Handfläche zeigte gen Himmel, die Haut faltig, weiß, wachsartig.

Anton Koivu stand am Strand. Selbst nach zehn Jahren verspürte er immer noch ein Gefühl der Machtlosigkeit und der Demut dem Tod gegenüber. In seiner Unvorhersehbarkeit blieb der Tod grotesk und grausam.

»Schau dir das mal an!«, rief Oona Laine und brachte Anton dadurch wieder in die Realität zurück.

In einer Oktobernacht erhellte der von den Polizisten an den Strand gebrachte Scheinwerfer den Badestrand Kasinoranta auf unnatürliche Weise. Vorsichtig näherte sich Anton dem Ufer, der Leiche und der danebenstehenden Frau, die Winterkleidung trug. Oona hatte ihre blonden Haare komplett unter einer Wollmütze versteckt.

Es war schwierig, an den Strand zu kommen, weil er voll mit einzelnen Ästen, Müll und schmutzigem Schilf war, das an den Strand gespült worden war. Der Herbst war schon weit vorangeschritten, aber noch fehlte das Weiß des Schnees, und es herrschte anhaltende trostlose Dunkelheit. In Lauttasaari – einem jener Stadtteile von Helsinki, die zugleich eine Insel waren – hatten in den letzten Wochen Herbststürme gewütet und die Natur durcheinandergebracht, sie hatten den Wasserstand überall in gefährliche Höhen getrieben, und es sah nicht danach aus, als ob bald wieder Ruhe einkehren würde.

Vorsichtig wurde die Leiche aus dem Wasser und auf den Sand gehoben. In dem künstlichen Licht sah das Wasser ölig und schwarz aus. Die Leute von der Spurensicherung hatten den Bereich bereits mit einem auffälligen gelben Band abgesperrt.

»Komm mal gucken, die Jungs holen den Toten gerade aus dem Wasser!«, rief Oona.

»Scheint kein Typ gewesen zu sein, der beim abendlichen Joggen aus Versehen im Meer gelandet ist. Zumindest nicht der Kleidung nach zu urteilen.«

Die dünne Stoffjacke und die Khakihose klebten an der Haut des Toten. Die Konturen des leblosen Körpers zeichneten sich scharf ab. Die Schuhe waren im Wasser verschwunden, falls es überhaupt welche gegeben hatte. Auch von Socken keine Spur, der Mann war barfuß. In den letzten Wochen hatten die Temperaturen bei knapp fünf Grad gelegen.

»Was hat ihn wohl dazu gebracht, in Sommerklamotten rauszugehen?«

Die Leiche wurde umgedreht. Der Anblick ließ die Polizisten zusammenzucken.

Instinktiv machte Oona ein paar Schritte zurück.

»Huh. Na, das ist ja was!«

Unter Blutergüssen und Schwellungen waren die Augen kaum zu identifizieren. Bei der entstellten blauschwarzen Haut erkannte man lediglich den Mund, der leicht geöffnet war. Am Hals leuchtete eine böse aussehende rote und breite Schürfwunde wie ein Ausrufezeichen. Kleine Hämatome zogen sich über das ganze Gesicht und um die Augen.

Anton und Oona warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Das hier war also der Grund, warum sie sofort herbeigerufen worden waren, obwohl es bereits nach zweiundzwanzig Uhr war. Der Tote hatte eindeutige Würgemale am Hals.

»Der Strand ist an dieser Stelle flach und steinig. Der Seegang und die Wellen sind ziemlich rau gewesen …« Oonas Stimme verklang in der Luft.

Die Vorstellung von schlammverschmierten scharfen Steinchen, die unter der Wasseroberfläche einen aufgeweichten Körper abrieben, kam Anton in den Sinn. Er musste schlucken, dann nickte er.

»Nach der Obduktion wissen wir mehr.«

»Eine Teenagerin hat die Leiche gefunden, das war bestimmt ein ziemlich großer Schock für einen Menschen, der noch so jung ist. Sie ist gerade da drüben bei den Jungs. Ich werde sie gleich noch ausführlicher befragen«, sagte Oona.

Anton nickte.

Fachmännisch arbeiteten die Leute von der Spurensicherung um den Leichnam herum. Sie sammelten jegliche Krümelchen, die ihnen Informationen liefern konnten. Anton schaffte es trotzdem nicht, sich so zu konzentrieren, wie er es eigentlich hätte tun sollen.

Ein einsamer Mann am Strand landet im Meer. Das hier schien kein Unfall gewesen zu sein. Die Abdrücke am Hals sprachen ihre eigene lautlose Sprache – die Sprache der Gewalt. Hatte der Mann gewusst, was ihn erwartete? Anton konnte sich den Hauch des Entsetzens auf den Gesichtern der Toten gut vorstellen. Das Entsetzen darüber, dass gerade das eigene Leben entgleitet und man nichts dagegen tun kann. Dieser Gedanke kam Anton jedes Mal in den Sinn, wenn er mit einer Leiche konfrontiert wurde, und es quälte ihn. Woran denkt ein Mensch, wenn er weiß, dass er gleich stirbt? Glücklich sind diejenigen, die einfach einschlafen und nicht wieder aufwachen. Im eigenen Zuhause, im eigenen Bett.

»Auf der unbefestigten Straße nach Vattuniemi wurden in der Nähe des Schilfgürtels einige Spuren entdeckt. Die Spurensicherung hat den Bereich bereits weiträumig abgesperrt und ist gerade dabei, das Areal zu durchkämmen.« Oona zeigte auf einen sich schlängelnden, dunklen Sandweg in der Nähe des Strandes.

Hatte sie etwa Antons umherschweifenden Blick bemerkt und versuchte ihn jetzt auf dezente Weise wachzurütteln? Anton räusperte sich und drehte sich instinktiv, um einen Blick hinter sich zu werfen. Er machte ein paar entschlossene Schritte und blieb dann stehen, um genauer hinzusehen.

Dunkelheit.

Die Lichter der Stadt spiegelten sich auf dem feuchten, dunklen Strand, ein gelblicher Schimmer aus der Ferne. Schweigend standen die kahlen Bäume auf beiden Seiten des Weges Spalier. Die rauen Umrisse verschmolzen mit der Dunkelheit. Bei einem Windstoß erwachten sie zum Leben und streckten ihre Äste gen Himmel wie zum Gebet, ächzend und nackt schwankten sie im Wind.

Anton erschauderte. Der Tod war immer hässlich. Müdigkeit überkam ihn.

»Hier ist noch was!«, rief Oona vom Ufer her und gab ihm mit einem Winken zu verstehen, dass er zurück an den Strand kommen sollte.

Antons Gedanken wurden unterbrochen. Seine Füße fühlten sich schwer wie Blei an, als er zum feuchten Ufer zurückging. Die Wasserlinie glänzte ölig, das schwarze Meer und der dunkle Himmel verschmolzen miteinander. Es war unmöglich, weit zu sehen. Nur der sich schwach abzeichnende Lichtstrahl auf der linken Seite zeigte an, dass sich hinter den dunklen Wolkenmassen irgendwo gelbes Mondlicht versteckte.

»Schau mal, die Jungs haben bei der Untersuchung des Toten das hier in seiner Tasche entdeckt. Warum hatte er wohl so etwas dabei, aber kein Portemonnaie oder einen Schlüssel – von seinen Klamotten wollen wir gar nicht erst reden«, sagte Oona. In ihrer Hand, die in einem Plastikhandschuh steckte, hielt sie eine durchsichtige Plastiktüte, die sie runterbaumeln ließ. In der Tüte lag irgendetwas.

»Was …« Anton brachte keinen vernünftigen Satz zustande. Aus seiner Tasche zog er ein Paar grüne Plastikhandschuhe und schnappte sich dann die Tüte, die Oona ihm hinhielt.

»Das ist wirklich ungewöhnlich. Das ist ja komplett erhalten geblieben, das Wasser hat überhaupt nichts kaputt gemacht.«

Anton blinzelte im Dunkeln. Oona leuchtete mit der Taschenlampe, um ihm behilflich zu sein. Das Ufer, das auf der Postkarte abgebildet war, erstrahlte im Lichtkegel. Für eine Hundertstelsekunde konnte man das salzige Meer förmlich riechen, die Möwen kreischen hören. Sommer.

Anton drehte die Plastiktüte um.

»Ab alio expectes, alteri quod feceris.«

»Was heißt das?« Um sie herum rauschte das Meer in der Dunkelheit. Der schwarze Himmel hing in ihrem Nacken, bald würde es anfangen zu regnen.

»Lass uns zurück aufs Revier gehen, die Spurensicherung wird das untersuchen. Wir brauchen die Todesursache so schnell wie möglich«, sagte Anton und eilte dann zum Polizeiwagen.

KAPITEL 2

Um sechs Uhr morgens klingelte der Wecker. Draußen war es noch stockdunkel.

Ronja krabbelte an die Bettkante und gähnte. In ihrem Hinterkopf machte sich herbe Enttäuschung bemerkbar. Das Gefühl hatte sie bereits vergangene Nacht beschlichen, in ihrem Magen spürte sie ein unbestimmtes Kribbeln, und durch ihren Körper lief ein Schauer – als wäre sie kurz davor, eine Grippe zu bekommen.

Sie seufzte. Woher sollte sie bloß die Energie für die jährliche Finnlandreise nehmen?

Max hatte Mitleid mit ihr gehabt und einen Kurztrip nach Stockholm vorgeschlagen, bevor Ronja anschließend nach Finnland weiterreisen würde. Die beiden planten, in Stockholm so viel Spaß wie möglich zu haben. Danach würde Ronja ihre Reise fortsetzen, und für Max ginge es wieder zurück nach London. Max kannte seine Mitbewohnerin ziemlich gut: So ein Städtetrip war genau das, was Ronja vor ihrer Rückkehr in das windige und kalte Lauttasaari gebrauchen konnte. Und vor der Begegnung – oder vielmehr: Zwangssozialisierung – mit ihrem Vater und den anderen.

Ronja schnappte sich die auf dem Boden herumliegenden Wollsocken und zog sie sich an, weil der Fußboden in ihrer WG eiskalt war. Durch die Wand hörte man das leise Piepen von Max’ Wecker, wahrscheinlich war die Schlummerfunktion bereits angegangen. Ronja tapste in das kleine Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Wie konnte es denn nur schon wieder so weit sein? Der Besuch in Finnland – es war jedes Jahr das Gleiche.

Der Badezimmerspiegel war zerkratzt, und das Licht der darüber summenden Glühbirne ließ Ronjas Gesicht blass aussehen. Nach einer Nacht mit unruhigen Träumen standen ihr die Haare wirr vom Kopf ab, und die dunklen Schatten unter ihren Augen ließen sie krank aussehen. Die Lampe knackte. Die Londoner Wohnung war wirklich eine Bruchbude. Ronja musste unbedingt eine neue Arbeitsstelle finden und Geld sparen, auch wenn Londons Preise für eine Einzelperson horrend waren. Man musste einiges ertragen: Wände mit abblätternder Farbe, einen Wasserhahn, aus dem nur kaltes Wasser kam, und eine Kochnische, in der man sich kaum umdrehen konnte. Aber vielleicht würde sich ja Max darauf einlassen, mit ihr zusammen eine neue Wohnung zu suchen, schließlich kamen die beiden gut miteinander klar, sie gaben einander Raum.

Die Zeit verging wie im Flug, und schließlich rannten Ronja und Max hinaus in den dunklen Morgen mit ihren Reisetaschen, die hinter ihnen herrumpelten. Keiner von beiden war schon in der Lage zu sprechen. Ronja fühlte sich schlecht. Sie konnte doch nichts dafür, dass die Finnlandreisen bei ihr nicht mehr als ein bekümmertes Schulterzucken hervorriefen. In Finnland fühlte sie sich immer wie eine Außenseiterin, wie eine Fremde. Es ärgerte sie, dass sich nichts wirklich geändert hatte; andererseits war das Leben zu Hause während ihrer Abwesenheit trotzdem weitergegangen. Sie wohnte bereits seit fünfzehn Jahren im Ausland – das war eine verdammt lange Zeit.

Als sie im Taxi saßen, schaute Ronja aus dem Fenster auf die Lichter der erwachenden Stadt. Die Finnlandreise jetzt zu absolvieren, war im Grunde eine gute Idee, weil sie sowieso gerade arbeitslos war. Oder in between jobs, wie sie es lieber ausdrückte. Früher war sie fest davon überzeugt gewesen, dass sie irgendwann die Welt erobern würde, aber das Leben und ihre eigene Mittelmäßigkeit waren ihr dabei in die Quere gekommen. Eine zusammengeschusterte Abschlussarbeit, eine Handvoll unbestimmter Praktika und danach nur befristete Jobs. Sie war eine sich in Zeitverträgen abmühende Onlinejournalistin. Die Vision von einem Einsatz als Auslandsreporterin in einem aktuellen Krisengebiet – bewaffnet mit Notizblock und Stift – war inzwischen bescheideneren Träumen gewichen: geregelte Arbeitszeiten, eine unbefristete Arbeitsstelle. Und natürlich gern eine Beschäftigung in einem Bereich, der sie interessierte. Zumindest irgendetwas anderes als das hirnlose und monotone Kürzen von Onlinetexten am Newsdesk und das tagtägliche Drücken der Entertaste. Glücklicherweise war gerade der letzte befristete Job vorbei, den sie auch nicht vermissen würde. Sie hatte ihren Arbeitsplatz verlassen, ohne sich vorher von den Kollegen zu verabschieden.

In Heathrow pulsierte das Leben, als das Taxi vor den Eingangstüren hielt. Ronja und Max gingen in die Check-in-Halle. Überall ertönten laute Durchsagen, geduldig trieben diese die Leute, die sich verspätet oder verlaufen hatten, in die richtigen Flugzeuge. Glückliche Menschen, beunruhigte Menschen, müde und erwartungsvolle Menschen – alle zusammen in einem sauerstoffarmen Raum.

Langsam gingen Ronja und Max zum Check-in-Automaten, um einzuchecken. Vor ihnen stand eine Gruppe von Frauen, die sich aufgeregt miteinander unterhielten und erfolglos an dem Gerät herumfummelten. Bereitwillig blieb Ronja ein paar Meter von der gackernden Gruppe entfernt stehen, um zu warten. Die Frauen gestikulierten, zappelten herum und lachten laut. Offensichtlich waren sie gedanklich bereits bei ihrem lange geplanten und heiß ersehnten Mädelsausflug. Vielleicht waren sie auf dem Weg in irgendeine schöne Stadt, wo der Wein billig war und die Kellner gerne flirteten. Ronja beobachtete die Frauen und seufzte. In Wirklichkeit war Stockholm nichts weiter als eine nette Ablenkung, eine Art Täuschungsmanöver. Eigentlich konnte sie es kaum erwarten, wieder nach London zurückzukehren, auch wenn sich ihr die Stadt bestimmt noch nicht von ihrer besten Seite gezeigt hatte – das Arbeitsleben war beschissen, und ihre Wohnsituation war auch nicht besonders toll. Aber immerhin hatte Jacob sie inzwischen auch ganz offiziell um ein Date gebeten. Sie trafen sich schon seit ein paar Wochen, hauptsächlich nachts in Jacobs schicker Dienstwohnung, weil er nicht über Nacht in Ronjas ungemütliche WG kommen wollte. Bis jetzt hatte er auch keine große Sache aus ihren Dates gemacht oder ihre Treffen überhaupt als Dates bezeichnet. Natürlich hatte er viel um die Ohren, weil er erst vor Kurzem eine Stelle in einer renommierten Anwaltskanzlei angenommen hatte. Jacob war bestimmt nicht der Mann fürs Leben, allerdings war sich Ronja auch nicht sicher, ob sie überhaupt in ihn verliebt war. Aber eigentlich interessierte sie das auch nicht wirklich. Sie wollte nur ein bisschen Spaß haben, ihre Langeweile und ihre unklaren Lebensverhältnisse vergessen. Oder vielleicht wollte sie sich auch nur selbst beweisen, dass man auch mit über dreißig noch interessant sein konnte und der Zug für sie noch nicht abgefahren war.

Max ging los, um sich für sie beide in den endlosen Labyrinthen des Flughafens auf die Suche nach Kaffee zu machen. Ronja blieb zurück und wartete unter den großen Leuchttafeln auf ihn. Aber einfach nur untätig rumzustehen, fühlte sich nicht gut an, weshalb sie ihr Telefon aus der Tasche kramte. Im selben Moment fing es an zu klingeln, und sie schreckte zusammen. Auf dem Display blinkte eine Ziffernfolge mit finnischer Vorwahl, aber ansonsten war ihr die Nummer völlig fremd.

»Hallo?«

»Spreche ich mit Ronja Vaara?«, hörte sie eine ausdruckslos klingende männliche Stimme fragen. Ronja hielt inne. Es hörte sich offiziell an.

»Natürlich, das bin ich.«

Es gab doch nicht etwa ein Problem mit ihrem Flugticket?

»Hier spricht Kriminalhauptkommissar Koivu, Polizei Helsinki. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Vater Harri Vaara unter bislang ungeklärten Umständen tot aufgefunden wurde. Die Ermittlungen zur Todesursache sind noch nicht abgeschlossen. Mein Beileid.«

Papa … tot?

Die Stimme des Mannes verhallte in Ronjas Ohren. Plötzlich waren die Farben im Flughafen verzerrt und das Neonlicht schmerzte in ihren Augen. Die widerhallenden Geräusche des Flughafens vermischten sich in ihren Ohren zu einer zähflüssigen Kakofonie. Die knallpinke Farbe des Reisekoffers, der am gegenüberliegenden Check-in-Schalter lehnte, brannte in ihren Augen. Eine große, hartschalige und abgenutzte, ganz offensichtlich billige Kopie einer Markentasche. Daran baumelte ein zerfleddertes Namensschild, das aufgrund der Luftzüge, die durch die herumwimmelnden Menschen erzeugt wurden, erschöpft nach links und nach rechts schwang.

»Entschuldigung, ich verstehe nicht«, stammelte sie ins Telefon. Ein Vorbeigehender stieß mit seinem Koffer gegen Ronjas Unterschenkel, aber sie spürte es noch nicht mal.

»Also … was ist mit meinem Vater passiert?«

Stille.

»Wie ich bereits sagte, wurde Ihr Vater bedauerlicherweise am Sonntag tot am Kasinoranta aufgefunden.« Die Männerstimme klang ungeduldig. »Entschuldigen Sie, dass wir Sie nicht früher angerufen haben. Es war schwierig, Ihre Kontaktdaten herauszubekommen.«

Papa … tot.

Alles, was Ronja in diesem Moment spürte, war eine grenzenlose, alles umfassende Leere. Jegliches Blut schien aus ihrem Körper zu verschwinden und hinterließ nichts als eine hohle Hülle.

»Sind Sie noch dran? Mit den Ermittlungen wegen der Todesursache wurde bereits begonnen. Wir werden eine Durchsuchung der Wohnung Ihres Vaters in der Straße Särkiniementie vornehmen müssen, die im Zusammenhang mit den Entdeckungen steht, die wir am Sterbeort gemacht haben. Ich hoffe, das ist für Sie in Ordnung. Wir werden noch heute die Wohnung aufsuchen. Außerdem möchten wir Sie darum bitten, dass Sie so schnell wie möglich aufs Revier kommen, damit wir uns noch genauer über die Umstände unterhalten können, die zum Tod Ihres Vaters geführt haben. Hallo?«

Ronja starrte geradeaus, ohne etwas zu sehen. Irgendwie begriff sie schon, dass der Mann immer noch redete und ihr Anweisungen gab. Seine Stimme war irgendwo in der Ferne zu hören.

»Aber … Ich wollte doch nach Stockholm«, sagte Ronja und merkte im selben Augenblick, wie absurd das klang. Wie absurd sich plötzlich dieser ganze Trip anfühlte.

Sie ließ die Hand sinken. Unbewusst drückte sie mit dem Daumen auf die Taste mit dem roten Hörerzeichen, auch wenn das sehr unhöflich war.

Sie war bereits auf dem Weg.

KAPITEL 3

Eilig goss sich Milla Kaffee aus dem Kessel in einen großen Becher und öffnete mit der anderen Hand den Kühlschrank. Wegen des eingetrockneten Joghurts war der Türgriff ganz klebrig. Und anscheinend war die Milch leer. Typisch.

Verdammt noch mal!

Letzte Nacht hatte sie wieder diesen Albtraum gehabt. Den, der sie bereits ihre halbe Kindheit über terrorisiert hatte. Sie hatte ihn schon vergessen, aber jetzt war er zurückgekehrt und hatte sie die ganze Nacht verfolgt: Sie war am Strand gewesen, bis zu den Fußknöcheln stand sie im Wasser. Sie sah das schwarze Wasser, das sie runterzog – das Wasser schlang sich um ihre Füße und zog sie dann mit aller Gewalt auf den Grund, ins Dunkle. Milla spürte die Kälte des Wassers und das sich abzeichnende Unheil. Unter ihrem Brustbein drückte der unvermeidliche, nahende Tod. Dann griff eine nasse, eiskalte Hand nach ihrer Kehle und drückte zu. Drückte mit dünnen, knöchernen Fingern dermaßen fest zu, dass Milla keine Luft mehr bekam … Und dann war sie völlig verschwitzt im dunklen Zimmer aufgewacht.

Neben ihr hatte der schnarchende Topi gelegen. Irgendwie hatte sich das Zimmer plötzlich falsch und seltsam angefühlt. Schließlich war es ihr gelungen, sich wieder zu beruhigen, und sie war zurück in einen Dämmerzustand gesunken. Aber dann begann der Albtraum wieder von vorne. Die Kälte ließ sich irgendwo in ihrer Magengegend nieder und schien nicht mal beim Klingeln des Weckers zu verschwinden. Anschließend schaffte es nicht mal ein großer Morgenkaffee, sie länger als einen kurzen Moment zu wärmen.

Sie wusste, warum der gleiche alte Schmerz wieder zurückgekehrt war: Ronjas Vater war gestorben. Gestern Abend hatte Topis Mutter Helena zu einer ungewöhnlich späten Uhrzeit bei ihnen angerufen. Wie immer hatte Topi den Anruf seiner Mutter sofort entgegengenommen, aber anstatt gut gelaunt zu plaudern, war er ganz blass geworden. Harri Vaara war tot am Ufer gefunden worden. Es hieß, dass die Tochter der Mikkolas, die im Teenageralter war, die Leiche gefunden hatte. Lauttasaaris Harri, der seinerzeit die Hälfte der Inselbewohner unterrichtet hatte.

Milla seufzte tief. Sie hatte Mitleid mit dem jungen Mädchen, das die Leiche gefunden hatte. Ob die Arme dadurch wohl irgendwelche Traumata zurückbehalten würde? Hastig trank Milla aus ihrer Tasse. Der schwarze Kaffee schmeckte noch bitterer als sonst.

Ronjas Vater.

Milla hatte sich nur kurz gewundert, wieso Topis Mutter so schnell von der Sache erfahren hatte. Eigentlich war das nämlich gar nicht so verwunderlich: In Lauttasaari sprachen sich Neuigkeiten blitzschnell herum, besonders bei der älteren Generation. Zudem war Ronjas Vater auf Lauttasaari ziemlich bekannt gewesen.

Als ihr Mann ihr die Neuigkeiten erzählte, hatte sie dreimal versucht, Ronja zu erreichen, und schließlich eine Sprachnachricht hinterlassen. Allerdings hatte sich Ronja noch nicht zurückgemeldet, was aber auch nicht ungewöhnlich für sie war. Vielleicht war sie noch nicht imstande, mit jemandem zu reden. Ronja konnte nicht besonders gut über ihre Gefühle sprechen, womöglich brauchte sie einfach noch etwas Zeit. Oder sie war bereits auf dem Weg nach Finnland.

Milla kratzte sich an ihrer linken Hand, durch die kalte Luft war ihre Haut ganz trocken und gereizt. Sie konnte sich nicht noch länger über diese Sache den Kopf zerbrechen, sonst würde sie noch verrückt werden. Also entschied sie sich, ein anderes Mal über die Leiche und den Tod nachzudenken. Eventuell würden ja auch die Albträume aufhören, wenn sie es sich einfach nur ganz fest vornahm. Oder vielleicht könnte sie das Grübeln zumindest auf ein anderes Mal verschieben, wenn der Zeitpunkt günstiger war. Milla hatte nämlich die phänomenale Gabe, schlechte und negative Gedanken in eine imaginäre Schublade zu stecken und sie nur hervorzuholen, wenn sie diese brauchte. Sie grübelte nicht lange über Unnötiges, sondern konzentrierte sich stattdessen lieber auf die positiven Dinge, auch wenn sie dadurch manchmal riskierte, etwas naiv und dumm zu wirken.

Allmählich weckte der Kaffee ihre von der Nacht trägen Glieder. Milla ließ ihren Blick durch die Küche schweifen. Auf dem Tisch standen Breischüsseln, deren Inhalt zu einer Paste getrocknet war, daneben lagen halb aufgegessene Brote vom gestrigen Abendessen und bunt zusammengewürfelte Legosteine. Das Geschirr von gestern war immer noch im Spülbecken zum Einweichen, und die Arbeitsflächen waren voller Brotkrümel und undefinierbarer Flecken. Auf dem Fußboden lagen noch mehr Spielsachen herum. Die Küchenschränke waren schrecklich altmodisch, aber im Moment fehlten ihnen die finanziellen Mittel, um in der Wohnung Renovierungsarbeiten durchzuführen, denn Milla war schon wer weiß wie viele Jahre zu Hause und auf das Elterngeld angewiesen. Nicht, dass sie mit drei kleinen Kindern Lust auf Renovierungsarbeiten gehabt hätte. Mittlerweile hatte sie gelernt, die cremefarbenen, mit romantischen Schnörkeln verzierten Schränke und den dazu völlig unpassenden Fliesenboden sogar ein bisschen zu mögen.

Hinter den Fenstern, die dringend mal wieder geputzt werden mussten, lag eine trübe Dämmerung, und leise tropfte der Regen. Die Uhr zeigte erst halb sieben Uhr morgens an, aber draußen herrschte bereits Rushhour: Die Leute, die auf dem Weg zur Arbeit waren, warteten an den Bushaltestellen unter ihren Regenschirmen, und vor den Ampeln bildeten sich Autoschlangen. Das Leben ging weiter wie an jedem anderen Tag. Als Mutter von drei kleinen Kindern hatte Milla das Gefühl, als würde sich das Karussell des Alltags von Jahr zu Jahr immer schneller drehen, mit unruhigen Nächten und von Chaos geprägten Tagen.

Eine vertraute Gereiztheit stieg in ihr hoch, Milla war müde. Müde und kaputt. Völlig am Ende. Zwischendurch hätte sie die sanftmütigen, es nur gut meinenden Tanten mit den guten Ratschlägen und die nervigen Kassiererinnen am liebsten angeschrien. Oder Leute, die einfach nur vorbeigingen. Oder ihre Schwiegermutter.

Milla liebte ihre Kinder, das stand außer Frage. Sie selbst hatte Kinder gewollt, mit geringem Altersunterschied zwischen den Geschwistern. Sie hatte sich vorgestellt, dass die Kleinen dann Spielkameraden in der eigenen Familie hätten, und auch die Babyzeiten wären auf einen Schlag erledigt. Oder zumindest nach fünf Jahren Dauerkoma. Bei dem Gedanken musste Milla kurz lachen. Wie naiv war sie eigentlich gewesen? Sie gab ihr Bestes, hatte aber oft einfach nur schlechte Laune, zumal Topi und sie immer öfter aneinandergerieten. In ihrem näheren Bekannten- und Freundeskreis gab es noch nicht besonders viele Mütter, die sich gegenseitig hätten unterstützen können, und bei ihrem Mann hatte sie oft das Gefühl, dass er die ganze Zeit arbeitete. Und wenn er zu Hause war, klebte er nur am Computerbildschirm. Er konnte stundenlang im fahlen Schein des blauen Lichts hocken, komplett versunken in das neueste Onlinespiel. Oder er spielte an seinem Handy herum. Milla verabscheute diese Welt voller Bildschirme, zu der sie keinen Zugang hatte.

So sollte es nicht laufen. Es kam ihr vor, als würde sie in einem wilden Strom treiben und sich bis zur Erschöpfung abstrampeln, um den Kopf über Wasser zu behalten.

So wie in dem Albtraum von letzter Nacht.

Der Kaffee war viel zu schnell leer, und Milla wollte sich gerade neuen einschenken, als aus dem Schlafzimmer ein wohlbekannter Radau ertönte. Milo war aufgewacht.

»Ich komme ja schon, mein kleiner Schatz. Ich komme«, seufzte Milla, stellte die Tasse ab und ging dann leise vor sich hin murmelnd zum Schlafzimmer.

Ein kleines Bündel mit strubbeligen Haaren saß gut gelaunt inmitten von Decken und Kuscheltieren und strahlte seine Mutter an. Milla stand in der Tür und staunte wieder einmal, wie dieser Anblick jedes Mal ihr Herz zum Schmelzen brachte und wie absolut perfekt ihr kleiner Junge sein konnte. Nach dem Gefühl der Erleichterung, wenn ihr Kleinkind eingeschlafen war, ergriff sie jedes Mal Bedauern, dass sie ihren Jüngsten jetzt erst mal viele Stunden nicht sehen würde. Ärger und dumpfe Müdigkeit wichen der Wiedersehensfreude.

»Ma-maaa!«, juchzte Milo, so laut er konnte, und streckte seine kleinen pummeligen Händchen nach ihr aus. Der Hunger und die Sehnsucht nach der Mutter waren bereits groß.

KAPITEL 4

Anton zog sich gerade ein T-Shirt im Used-Look über den Kopf und strich sich vor dem Spiegel die Haare zurecht. Er wusste, dass er gut aussah. Gleich würde sich herausstellen wie gut.

Alles war vorbereitet und so, wie es sein sollte. Das Schlafzimmer in hellen Farben strahlte eine diskrete Eleganz aus. Die schweren Vorhänge fielen auf stilvolle Weise, die Wände hatten genau den richtigen beigegrauen Farbton, und auf dem Schreibtisch an der Rückwand standen ein paar bewusst dort aufgestellte eingerahmte Bilder. Die Jugendstilwohnung war hell und schön, und Anton wusste, dass sie bei den Frauen immer großen Eindruck hinterließ.

Er fühlte sich energiegeladen, und dieses Mal hatte er das Gefühl, dass dieses Match besonders gut gelungen war. Tinder erfüllte nicht den Zweck, etwas Ernstes zu finden, und die Frau schien das genauso zu sehen. Der Datingdienst war darauf ausgerichtet, sich schnell mit jemandem zu treffen und emotionsarmen Sex zu haben. Das Wischen war einfach, es funktionierte wie bei einem Onlinekauf: ein Mausklick nach links – nein danke, ein Mausklick nach rechts – in die nächste Runde. Bei dem Dienst fand man natürlich auch viele Schlampen und Freaks, aber wenn man es schaffte, seine Einstellung ein bisschen anzupassen und dabei trotzdem seine eigenen Ansprüche hochzuhalten, dann war es durchaus möglich, ein gutes Schnäppchen zu machen.

Heute sollte aber wirklich keine Schlampe kommen. Die Frau schien auch keine von denen zu sein, die anhänglich wurden. Nichts war abstoßender als Frauen, die sich verknallten und dann einfach dablieben, womöglich zusammen frühstücken wollten. Die anfingen, Nachrichten zu schreiben. Solchen Frauen verpasste er immer sofort einen Dämpfer. Jemanden zu ghosten hatte zwar auch seine Konsequenzen, aber glücklicherweise fand sich immer wieder neue Gesellschaft. Und Anton kannte seinen Marktwert: Erfahrung, Aussehen, Wohnung.

Das schrille Geräusch des Summers unterbrach Antons Gedanken. Schnell strich er sich noch eine Haarsträhne zurecht. Lass die Frau ein bisschen warten – das sorgt für Stimmung.

Noch einen Moment.

Das Summen hallte durch das leise Treppenhaus des hundert Jahre alten Gebäudes. Offensichtlich gehörte die Lady nicht zu denjenigen, die gerne warteten. Also ging Anton zur Wohnungstür aus Eiche und riss sie auf, wodurch die dahinterstehende Frau, die Stöckelschuhe trug, ins Wanken geriet.

»Hallo, du bist ja pünktlich«, sagte Anton und musterte sie dann ungeniert von Kopf bis Fuß. Mit einer Handbewegung bat er sie herein.

Die Frau taumelte in den Wohnungsflur, und Anton betrachtete sie. Das eng anliegende Kleidungsstück brachte ihren schönen, durchtrainierten Körper gut zur Geltung. Gedankenverloren zupfte sie den kurzen Rock etwas nach unten, aber der Saum bewegte sich nicht. Sie trug hohe Stilettos, ihre blonden langen Haare fielen ihren Rücken hinab. Sie war schön und entsprach vollkommen Antons Geschmack. Und sie sah so aus, als ob es einfach mit ihr werden würde. Das war nicht schlecht.

Es war ein Wunder, dass sie noch Single war. Oder woher wollte er das eigentlich wissen – auf Tinder trieben sich alle möglichen Leute herum, und er konnte auch diejenigen nicht verurteilen, die vergeben waren. Wenn eine unglückliche Dame ein bisschen Abenteuer in ihrem Leben haben wollte, dann konnte sie das gerne von ihm kriegen.

»Schön, dass du gekommen bist«, sagte Anton und schenkte ihr ein breites Lächeln, von dem er wusste, wie entwaffnend es wirkte.

Sie lächelte zurück. »Hallo.«

Anton ging zu ihr, kam ihr ganz nah. Es bedurfte keiner Worte, denn beide wussten, was als Nächstes passieren würde.

Eine Stunde später war alles vorbei. Unruhig fuhr Anton aus dem zerwühlten Bettzeug hoch.

»Ich geh mal eben duschen, es ist ja schon ziemlich spät, und ich hab heute Abend leider noch was zu tun.« Anton, der bereits in der Badezimmertür stand, schenkte ihr ein einnehmendes Lächeln und tippte vielsagend auf eine imaginäre Armbanduhr.

Und er log noch nicht mal, denn er musste später wirklich noch mal aufs Revier, um die beschlagnahmten Sachen aus der Wohnung des am Ufer gefundenen Toten zu untersuchen.

Die Frau in seinem Bett zuckte leicht zusammen, aber falls sie enttäuscht sein sollte, ließ sie es sich nicht anmerken. Stattdessen richtete sie sich auf und betrachtete die Klamotten, die in einem Haufen auf dem Boden lagen. Sie lächelte ein bisschen. Unartig. Ohne Zweifel gehörte sie genau dorthin – in Antons Bett. Ihre Haare waren etwas zerzaust, aber Anton erlaubte es sich nicht, noch länger darüber nachzudenken. Die erste Tinder-Regel lautete schließlich, dass es sich nicht lohnte, etwas Ernstes in ein Date hineinzuinterpretieren – so etwas endete nie gut. Und außerdem war er auch gar nicht auf der Suche nach einer Freundin, seine Arbeit nahm schließlich seine ganze Zeit in Anspruch. Und das war auch gut so.

Anton schaltete die Dusche ein und lauschte dem Rauschen des Wassers. Das beruhigte ihn. Alle Geräusche verschwanden, und er vergaß sogar fast die Frau in seinem Schlafzimmer. Nach dem Sex musste er immer erst mal alleine sein, er brauchte Zeit für sich, um seine Gedanken zu sammeln. Diese Frau war schön und leidenschaftlich gewesen, keine Frage. Trotzdem wollte er nicht mehr von ihr. Das war einfach nicht sein Stil. Deshalb hatte es sich bislang als beste Lösung erwiesen, sich unter die Dusche zurückzuziehen und der Frau irgendwas Undeutliches zuzurufen. Normalerweise kapierten die Frauen den Wink mit dem Zaunpfahl schnell und waren verschwunden, wenn er aus der Dusche kam. Aber manchmal gab es natürlich auch solche, die, wenn er die Tür öffnete, immer noch da waren und vorschlugen, in die Stadt zu gehen oder noch eine zweite Runde einzulegen. Meistens war das dann für beide ziemlich peinlich.

Die Milchglastür beschlug, das warme Wasser entspannte die Muskeln und ließ den Kopf wieder klar werden. Diese Frau schien anders zu sein als die meisten, die man sonst auf Tinder fand. Sie hatte etwas Unabhängiges und Wildes an sich. Die beiden hatten keine Zeit mit sinnlosem Small Talk verschwendet. Genauso wie er es wollte. Sie hatten sich nicht erzählt, was sie beruflich machten. Aber wenn er jetzt mal darüber nachdachte, machte die Frau den Eindruck, als ob sie verantwortungsbewusst wäre. Anton hatte bei ihr einen Funken von Ernsthaftigkeit erkannt, weil er selbst genauso war. Das faszinierte und erregte ihn.

Er drückte Duschgel in seine Handfläche und verteilte den Schaum auf seinem Körper. Dann schnappte er sich das Shampoo und massierte es sich in die Haare. Er hatte eine klare Routine, mit deren Hilfe sich das Leben ganz passabel meistern ließ. Er hatte einen herausfordernden Job mit Zukunft und einen neuen Fall. Darauf sollte er sich jetzt konzentrieren. Er musste sich darauf fokussieren, den Mordfall des am Strand gefundenen Toten aufzuklären.

Dann stieg irgendwo aus den Tiefen seines entspannten Körpers ein Gedanke in ihm auf: Sollte er vielleicht ausnahmsweise doch mal seine Regeln vergessen und sich noch ein zweites Mal mit dieser Frau treffen?

Er ließ das Wasser über seinen Kopf laufen.

Er würde später darüber nachdenken und dann eine Entscheidung treffen. Aber er musste vorsichtig sein. Verbindlichkeiten, bei denen man sein Herz in die Hände eines anderen Menschen legte, endeten niemals gut.

Inmitten des Rauschens hörte er die Wohnungstür ins Schloss fallen.

Allem Anschein nach hatte die Frau die Wohnung verlassen.

KAPITEL 5

Ronja öffnete die schwere Tür des braun verputzten Hochhauses. Mit einer schweren Reisetasche in der einen Hand und einem vollgestopften Rucksack auf dem Rücken stieß sie die Tür auf und schlüpfte ins Haus. Knarrend fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Der Lärm hallte im Treppenhaus wider. Endlich war sie am Ziel angelangt.

Zum x-ten Mal ließ sie die vergangenen Ereignisse Revue passieren. Wie sie am Flughafen auf einer Bank saß und sich sammelte. Der neben ihr hockende Max, der sich fragte, was eben eigentlich passiert war. Die vielen Stunden, um die Tickets nach Stockholm für einen Direktflug nach Helsinki-Vantaa umzutauschen. Max’ Wutanfall, als die Frau am Schalter anfangs nicht kooperieren wollte. Der Anruf der Polizei, dass sie die Wohnung nun durchsucht hätten und man diese wieder betreten könne, wenn man wollte.

Am Nachmittag war die Maschine schließlich in Finnland gelandet, es dämmerte schon. Als die Reifen den Boden berührten, war der anfängliche Schock bereits der düsteren, zaghaften Erkenntnis gewichen, dass das Leben von nun an ein anderes sein würde. Auch wenn ihr Vater während ihres ganzen Erwachsenenlebens praktisch nicht präsent gewesen war und sie einander nicht wirklich gekannt hatten, so war er doch trotz allem ihr Vater.

Ronja war völlig erschöpft. Einen Moment lang starrte sie einfach nur vor sich hin, strich sich eine dunkle Haarlocke, die ihr ins Gesicht gefallen war, hinters Ohr, drückte dann auf den Fahrstuhlknopf und wartete. Das fahle Treppenhaus war vierzig Jahre zuvor ein Höhepunkt architektonischer Gestaltung gewesen, jetzt war es nur noch eine traurige Erinnerung an eine verlorene Kindheit – ein heruntergekommener, dämmriger Raum in Dunkelbraun und Pissgelb. Er bräuchte dringend eine gründliche Rundumsanierung oder zumindest einen neuen Wandanstrich. Ronja lächelte in sich hinein. Nichts hatte sich geändert, aber trotzdem war diesmal alles anders. Sie spürte einen schweren Druck im Brustkorb. Trauer. Woher kam dieses Gefühl so plötzlich? Und würde es jemals wieder weggehen?

Ronja betrat den Aufzug, mit zitternden Händen drückte sie auf die Taste für den zweiten Stock. Es deprimierte sie, in dieser Situation in die Wohnung ihres Vaters gehen zu müssen, aber es gab keinen anderen Ort, wo sie sonst hätte hingehen können. Sie wusste, dass die Polizisten dort gewesen waren, um Ermittlungen anzustellen. Was das auch immer bedeuten mochte. Der Gedanke an fremde Menschen, die in den Sachen ihres Vaters herumwühlten, fühlte sich unangenehm an, regelrecht abstoßend. Aber die Polizisten wussten wohl, was sie taten.

Der Fahrstuhl ruckelte und kam dann zum Stehen. Ronja stieß die Tür auf, dann schleppte sie ihre Taschen zur letzten schwarz gestrichenen Wohnungstür auf dem Gang und stellte ihre Sachen davor ab. Mit dem Blick maß sie die Tür, die ihr riesig vorkam. Sie sah aus wie eine Pforte, hinter der es kein Zurück mehr gab. Ronja spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten.

Sie warf einen Blick über die Schulter in den grauen Korridor. Ausdruckslos starrten die Türen der Nachbarn zu ihr zurück. Im ganzen Gebäude war es mucksmäuschenstill, aber trotzdem fühlte es sich so an, als ob irgendjemand oder irgendetwas anwesend wäre. In den Wänden, im Geländer. In den dunklen Nischen des Treppenhauses.

Der Boden im Gang vibrierte.

Aber das alles kam doch nur durch den ganzen Stress. Ihre Nerven waren angespannt. Das Wichtigste wäre jetzt, sich erst mal zu beruhigen, also konzentrierte Ronja ihren Blick auf die weißen Buchstaben auf der Briefeinwurfklappe: Vaara. Die Buchstaben waren ungleichmäßig und auf die Schnelle aneinandergereiht worden, die Kunststoffoberfläche war bereits rissig.

Wenn das hier jetzt ein ganz normaler Besuch wäre, dann würde sie auf die Klingel rechts neben der Tür drücken. Nun aber wählte sie stattdessen aus dem Schlüsselbund in ihrer Hand den Abloy-Schlüssel, an dem ein roter Plastikanhänger hing, steckte ihn ins Schloss und öffnete die Tür. Auf dem Boden lag die neueste Ausgabe der Helsingin Sanomat sowie ein paar Werbeflyer einer nahe gelegenen Pizzeria. Neben der Tür lag ein ordentlich aufgestapelter Posthaufen. Offensichtlich waren die Polizisten hilfsbereit gewesen und hatten die Post aus dem Flur geräumt.

Ronja ließ ihre Reisetasche und ihren Rucksack zu Boden fallen und schlug die Wohnungstür hinter sich zu. In ihrer Brust hämmerte ihr Herz wie verrückt.

Vom Flur kam man in ein dämmriges und schmales Wohnzimmer, graues Licht sickerte durch die geschlossenen Jalousien in den Raum. Die Polizisten hatten sie bestimmt geschlossen – oder war es Papa gewesen? In der Wohnung dröhnte eine drückende Stille.

Das Ledersofa, dessen Farbe bereits verblichen war, stand an der Rückwand an dem Platz, wo es immer stand. Ronja stellte sich die Gestalt ihres Vaters vor, wie er in der linken Sofaecke hockte: konzentriert, mit einem Buch in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand. Vor dem Sofa stand ein Tisch aus Rauchglas, in der Staubschicht, die sich darauf angesammelt hatte, hätte man etwas zeichnen können. Auf dem Tisch war ein altmodischer Aschenbecher platziert – so einer, in dessen Tiefen der Zigarettenstummel verschwand, wenn man den schwarzen Knopf in der Mitte drückte und damit einen tornadoartigen Drehmechanismus auslöste. Als Kind hatte Ronja immer wieder auf diesen Knopf gedrückt – so stark sie konnte, um einen immer noch schnelleren Strudel hinzubekommen.

Das Lundia-Regal beherbergte ein paar welke Zimmerpflanzen. Lichtfäden betonten den langsam durch die Luft schwebenden Staub. Ronja fühlte sich wie eine Grabschänderin, es war ein merkwürdiges Gefühl.

Ihr Vater gehörte einfach an diesen Platz, in dieses Zimmer. Er gehörte in Ronjas Lauttasaari-Welt. Irgendein letzter dünner Faden zwischen Kindheit und Erwachsensein war jetzt zerrissen. Ronja merkte, dass sie sogar diese lästigen kurzen und steifen Textnachrichten und Anrufe vermisste, die von ihrem Vater zwischendurch immer mal wieder gekommen waren, wenn er versuchte, ein aufmerksamer Elternteil zu sein. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Der durchdringende Klingelton ihres Handys holte sie in die stickige schäbige Hochhauswohnung zurück.

»Hallo, Mama«, sagte Ronja in den Hörer und riss sich zusammen. Heftig wischte sie sich mit dem Jackenärmel über ihre Augenwinkel.

»Bonsoir, mein Liebling! Ich habe sofort angerufen, als ich deine Nachricht bekommen habe. Wie geht es dir?«

Aus ihrer Stimme waren die Aperitifs zu hören, die sie sich bereits genehmigt hatte, sowie die Wärme der Sonne und die für sie typische Unbekümmertheit. Die knackende Telefonleitung verlieh dem Gespräch noch zusätzlich etwas Exotisches. Ronja konnte sich gut vorstellen, dass ihre Mutter auch jetzt gerade auf der Sonnenliege lag – mit dem Handy in der einen und einem Drink in der anderen Hand, die Sonnenbrille nachlässig ins Haar geschoben. Im Hintergrund wogte Nizzas türkises Meer an den Strand.

»Ich bin gerade nach Hause gekommen, also nach Finnland. Bin jetzt in Papas Wohnung«, stammelte Ronja. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, ihre Klamotten auszuziehen.

Also wand sie sich aus ihrer Kleidung heraus, während sie den Hörer an ihr Ohr drückte und sich dabei in dem staubigen Flurspiegel betrachtete. Ihre bleiche Gesichtsfarbe betonte die tiefen Schatten unter ihren Augen, die dunklen Locken standen in alle Richtungen ab, und ihre Augen waren wegen der trockenen Luft im Flugzeug blutunterlaufen. Sie sah schlimm aus.

»Warum bist du bloß in diese furchtbare Wohnung gegangen? Hättest du dir stattdessen lieber mal ein Hotelzimmer genommen. Heutzutage sollte man doch auch in Helsinki eine anständige Unterkunft bekommen. Harris Wohnung ist so … düster. Und wo jetzt auch noch diese schreckliche Tragödie passiert ist und das alles … Oder du hättest zu deiner Tante gehen können. Wohnt sie nicht immer noch in Pohjoiskaari? Sie hätte dich bestimmt für ein paar Tage bei sich aufgenommen«, zirpte Mama ins Telefon.

»Aber ich war doch immer hier.« Ronjas Stimme wurde immer leiser. Sie spürte einen Kloß in ihrem Hals und wusste, dass sie, wenn sie das Gespräch fortsetzen würde, in unkontrollierbare Tränen ausbrechen würde. Aber vor ihrer Mutter würde sie ganz bestimmt nicht wegen ihres Vaters weinen, also blieb sie still.

In der Telefonleitung zwischen Lauttasaari und Frankreich knisterte und knackte es.

»Schätzchen, das war doch nur so, weil dein Vater und ich so lange keinen Kontakt hatten. Aber das weißt du natürlich. Das ist eine furchtbare Sache. Ganz furchtbar.«

Mamas Gerede füllte die Stille.

»Und dann die Beerdigung … Harri muss eine Beerdigung kriegen! Er wollte immer im Familiengrab bestattet werden. Ihm gefielen solche Traditionen. Für mich war das eine fürchterliche Vorstellung – alle Vaaras, die im Laufe von Jahrhunderten gestorben sind, liegen dort Seite an Seite … Ich selbst hätte niemals zugestimmt, dort begraben zu werden.«

»Mama, lass das! Papa hat kaum seinen letzten Atemzug getan. Du hast ihn ja schon in den Sarg gesteckt und ihn abgehakt«, unterbrach Ronja ihre Mutter scharf.

Sie war einfach unmöglich! Trotzdem hatte sich Ronjas Zuhause nicht mehr nach einem richtigen Zuhause angefühlt, nachdem ihre Mutter gegangen war. Sie hatte alles hinter sich gelassen. Papa hatte sich daraufhin noch mehr in seine eigene Welt zurückgezogen und sich in seiner Arbeit verloren. Er hatte noch häufiger als früher rumgemault und war noch weniger präsent gewesen als vorher. Ronja hatte versucht, irgendwie zurechtzukommen – so gut man das im Teenageralter eben konnte:

Sie hatte sich mit Freunden am Kasinoranta betrunken, sich die Augen mit einem Kajalstift noch schwärzer geschminkt als Milla, hatte sich auf die falschen Jungs eingelassen …

»Entschuldige, ma chérie. Aber dein Vater war so merkwürdig. Ich will damit nur sagen, dass es mich eigentlich gar nicht wundert. Auch nicht, wenn er aus freien Stücken ins Wasser gesprungen wäre. Harri lebte schon immer in seiner eigenen trostlosen Welt. Die war genauso trostlos wie seine Wohnung. Zumindest damals, als wir noch verheiratet waren«, plapperte Mama immer weiter.

»Das ist Jahrzehnte her, Mama. Vielleicht hatte Papa in den letzten Jahren gar nicht mehr solche Gedanken«, wies Ronja ihre Mutter zurecht. Mama war unglaublich narzisstisch und zur gleichen Zeit wahnsinnig neugierig. Nur ihr eigener Standpunkt zählte.

Aber wie war Papa eigentlich im Meer gelandet? Dieser flüchtige Gedanke kam Ronja für einen Moment in den Sinn, wurde dann aber vom Geplapper ihrer Mutter übertönt.

»Das ist wirklich eine schockierend lange Zeit. Hm … Aber Ronja, wie geht’s dir denn? Ich würde sonst ja auch gerne zu dir kommen, um dich zu unterstützen, aber Gilbert und ich haben schon Tickets nach Monaco gebucht. Gigi – du erinnerst dich bestimmt noch an meine Freundin Gilda – und Rémy, also ihr Ehemann, feiern bald ihre goldene Hochzeit in Monaco, und wir haben schon geplant, etwas länger dortzubleiben …« Sie verlieh ihrer Stimme einen leicht flehenden Tonfall und machte zugleich klar, dass von ihr jetzt auf keinen Fall Unterstützung zu erwarten war.

Und zwar ganz bewusst. Mama machte nie etwas einfach nur so, weil es ihr gerade in den Sinn gekommen war. Sie machte alles immer genauso, wie sie es wollte. Das Leben anderer spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Und sie würde auch ganz bestimmt nicht ins kalte, eisige Lauttasaari auf die Beerdigung von irgendjemandem gehen, erst recht nicht auf die Beerdigung des zu Depressionen neigenden und unter seltsamen Umständen ums Leben gekommenen Ex-Mannes. Nicht mal, um ihrem einzigen Kind beizustehen. Und davon einmal abgesehen wusste Mama, dass sie sich im Falle einer Rückkehr lästigen Gerüchten und langen Blicken aussetzen würde und dass man hinter ihrem Rücken über sie tuscheln würde. Die überraschende Trennung des Ehepaares Vaara war noch nicht vergessen.

»Ich rufe später noch mal an. Ich muss jetzt meine Sachen einräumen, dann diesen Polizisten anrufen und so weiter«, sagte Ronja.

»Selbstverständlich, Liebling. Natürlich tust du das, was du tun musst. Aber ich bin hier, immer nur einen Anruf entfernt, mein Schatz. Denk daran«, erwiderte Mama mit sanfter Stimme.

Ronjas Herz schmerzte. Sie wollte ihre Mutter nicht verabscheuen, denn Mama war schließlich die Einzige, die ihr noch geblieben war. Das war nicht viel. Trotzdem würde sie sich in nächster Zeit wohl eher nicht bei ihr melden.

»Du kommst doch irgendwann zu Besuch, oder? Du bist immer herzlich willkommen. Du bist mein Ein und Alles! Pass gut auf dich auf, ma chérie. Bisous!« Mamas Standardsprüche kamen in der gleichen Reihenfolge wie immer.

Nach dem Telefonat spürte Ronja, wie die Wärme und der Geruch des Atlantiks allmählich verblassten.

Das Grau der Wohnung war bedrückend.

Die dunklen Ecken seufzten, und die vertrauten Möbel bekamen in der Herbstdämmerung etwas Furchteinflößendes. Vielleicht hatte ihre Mutter ja recht, vielleicht wäre es wirklich besser für Ronja, wenn sie irgendwo anders unterkommen würde.

Am besten sollte sie den Staub, den Tod und die abgestandene Luft wohl einfach wegwischen. Aber zuerst bräuchte sie Tee. In London hatte Ronja es lieben gelernt, Tee zu trinken. Es beruhigte, klärte den Geist, und wenn man es brauchte, war es zur gleichen Zeit belebend. Sie trat in die Kochnische und öffnete die Schränke. Aus dem Oberschrank flog ihr eine Staubwolke ins Gesicht, die bei ihr einen Hustenanfall auslöste. Nachdem sie sich wieder erholt hatte, fuhr sie damit fort, die Schränke zu durchsuchen, bis sie im hinteren Teil ein Päckchen Tee fand. Ronja füllte den Wasserkocher, der am Rand der Spüle stand, und schaltete ihn ein. Im Schrank daneben fand sie die von ihrem Vater aufbewahrten hässlichen Becher mit Werbeaufdrucken. Wahllos schnappte sie sich einen davon und goss kochendes Wasser bis an den Becherrand. Langsam sank der Teebeutel auf den Boden des Bechers, während Ronja in ihren Wollsocken zum Ledersofa schlich. Sie warf den warmen Schal, den sie mitgenommen hatte, über ihre Füße, um sie zu wärmen. Das abgenutzte Leder des Sofas knarrte unter ihr.

Ronja fummelte an der Fernbedienung herum, zum Schluss hämmerte sie regelrecht darauf ein, aber der Fernseher ging einfach nicht an. Schließlich warf sie die Fernbedienung frustriert in die Sofaecke und schaltete stattdessen das Internetradio auf ihrem Handy an. Zumindest irgendeine lebendige Stimme in dieser Kammer. Der Tee war immer noch kochend heiß.

Ronja versank in einem von Selbstmitleid erfüllten Dämmerzustand. Die ganze Welt war so düster und kalt. Eine große Träne kullerte ihr die Wange herunter, als das auf dem Tisch liegende Telefon mit einem Piepton eine Textnachricht ankündigte. Und dann noch eine. Das musste Max sein. 

Bist du schon da? Hat nach dem anfänglichen Stress mit dem Umbuchen alles gut geklappt? Du schaffst das! XOXO

Bin jetzt in Papas Wohnung. Es gibt jetzt noch einiges zu erledigen, schreibe dir später mehr.

Ronja tippte auf Englisch zurück, sie würde Max später noch eine ausführlichere Nachricht schreiben.

Dann warf sie einen Blick auf die zweite Nachricht, die sie bekommen hatte. Milla. Natürlich.

Bist du schon hier? Wie geht’s dir? Bald sehen wir uns!

Lächelnd ließ Ronja das Telefon wieder zurück auf den Tisch sinken. London-Leben, Finnland-Leben – das alles schien gerade Lichtjahre entfernt zu sein wie unbekannte Universen. Merkwürdig, dass vierundzwanzig Stunden zuvor die Welt noch eine ganz andere gewesen war.

Ronja wollte für einen Moment mit ihren Gedanken allein sein. Sich sammeln. Sich überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Vielleicht wäre sie ja dann in der Lage, sich mit allen Leuten zu treffen, um deren Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee. Die Flüssigkeit war inzwischen etwas abgekühlt und wärmte ihren ganzen Körper. Doch die unangenehme Stille kroch näher.

Es klingelte an der Tür, und Ronja rutschte das Herz in die Hose.

Mit zitternden Händen schlich sie vorsichtig und ganz leise zur Wohnungstür. Bis auf Max wusste noch niemand, dass sie schon hier war. Und sie hatte nichts als ihre bloßen Hände, um sich notfalls zu verteidigen … Dann verblasste dieser Gedanke. Ronja umklammerte das Telefon in ihrer Hand, bis ihre Fingerknöchel ganz weiß waren. Sie war bereit, den Notruf zu wählen, falls das nötig sein sollte.

Sie schlich näher zur Tür und warf einen Blick durch den Türspion.

Draußen stand ein Mann.

Der Typ sah nicht nach einem Polizisten aus. Er sah alt aus. Instinktiv überprüfte Ronja, ob die Türsicherung fest an ihrem Platz war.

»Hallo! Entschuldigung, wenn ich störe …«, rief der Mann hinter der Tür und klingelte dann noch einmal.

»I… Ist da jemand …?«

Ronja holte tief Luft. Sie verhielt sich ja völlig paranoid. Vor diesem älteren Herrn hatte man wohl kaum etwas zu befürchten. Warum stellte sie sich überhaupt vor, dass jemand herkommen würde, um sie zu bedrohen? Total lächerlich. Sie musste ihre Nerven wieder unter Kontrolle bekommen. Ronja öffnete das Sicherheitsschloss, und die Tür schwang weit auf. Der Verdacht, dass der Mann ein mysteriöser Vergewaltiger und Mörder sein könnte, löste sich in Luft auf.

»Entschuldigung, ich habe mich nur bei dem Geräusch der Türklingel erschreckt, als ich da drüben alleine auf dem Sofa saß«, stammelte Ronja und spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Ungeschickt strich sie sich ihre Haare hinters Ohr.

Jetzt sah sie ihn richtig.

Der Mann, der im Gang stand, war gar nicht alleine.

Als Ronja durch den Türspion geschaut hatte, war ihr entgangen, dass neben ihm ein angeleinter schwarzer etwas pummeliger Labrador saß, der sie aus dunklen Augen freundlich ansah.

Dann begann das Tier wie wild mit dem Schwanz zu wedeln.

»Minni! Ach, du meine Güte!«, rief Ronja. Für einen Moment vergaß sie den Mann und hockte sich hin, um den Hund zu kraulen. Minni leckte zufrieden über das vertraute Gesicht und schob ihren Kopf unter Ronjas Arm.

Dann schnüffelte eine feuchte Nase an Ronjas Wange und hinter ihrem Ohr.

»Ich … Entschuldigung, dass ich störe. Ich bin ein Nachbar. Martti. Martti Lahdenkangas aus Nummer sechzehn. Ich hatte mitbekommen, dass jemand in Harris Wohnung gekommen ist. Ich nehme an, dass du seine Tochter bist, oder?« Zaghaft streckte der freundlich aussehende Mann ihr seine Hand entgegen.

Der Rücken des Mannes war etwas krumm, und er war nur ein bisschen größer als Ronja. Seine hellgraue Jogginghose und das karierte Flanellhemd wirkten alt und abgetragen, aber bequem. An den Füßen trug er braune flauschige Filzpantoffeln. Er war etwas blass und sah freundlich aus. Sein Alter zu schätzen, war nicht ganz einfach. An den Schläfen begannen seine Haare grau zu werden und zurückzugehen. Heimlich studierte Ronja sein Gesicht: Die hellblauen Augen standen dicht beieinander, sein Blick war offen. Er hatte etwas Sanftes und Beruhigendes an sich.

»Na ja, ich wollte nur vorbeikommen, um mein Beileid persönlich auszusprechen. Und um dir Minni zu bringen. Ich hatte gemerkt, dass jemand gekommen ist, und dachte mir, dass du das bestimmt bist. Er hat oft von dir gesprochen«, erzählte Martti.

Fragend schaute Ronja ihn an.

»Harri hat mir Minni gebracht, damit ich auf sie aufpasse. Und dann hat er es nicht mehr geschafft, sie wieder abzuholen … Ich habe mir gedacht, ich behalte sie lieber erst mal, bis du kommst, damit ihr nichts passiert«, erklärte der Mann, der rot wurde. Dann überreichte er Ronja die Hundeleine.

Ronja fühlte sich wie eine Idiotin. Die Polizei hatte den Hund nicht erwähnt, aber wie konnte es denn sein, dass sie das Tier nicht mal vermisst hatte? Sie schaute den schwarzen Labrador an. Minni war schließlich schon lange hier gewesen. Als Ronja vor vielen Jahren einmal zu Besuch nach Finnland kam, war ihr in der Wohnung ihres Vaters plötzlich ein Hundewelpe entgegengetapst. Das war wirklich eine Überraschung gewesen, weil ihr Vater nie zuvor den Eindruck erweckt hatte, ein besonders großer Hundefan zu sein. Er wand sich ein bisschen, als sie sich wunderte und sich nach der Herkunft des Tieres erkundigte. Aber schließlich insistierte sie nicht weiter. Das Wichtigste war schließlich, dass ihr Vater nicht alleine in seiner Wohnung vor sich hin vegetieren würde.

»Der Tod deines Vaters tut mir sehr leid«, sagte der Nachbar hustend, und Ronja kehrte wieder in die Gegenwart zurück.

Der Mann stand immer noch vor ihr.

»Ich habe ganz zufällig von Ulla, die im Erdgeschoss wohnt, gehört, was passiert ist. Sie weiß von ihrer Tochter, die mit dem Polizisten Mikko Saaristo verheiratet ist, dass man Harri im Wasser gefunden hat. Ich verstehe nicht, wie er da gelandet ist …« Marttis verlegene Stimme wurde immer leiser und verstummte schließlich ganz.

Ronja hätte am liebsten das Gesicht verzogen. Lauttasaari war anscheinend immer noch wie ein großes Dorf. Es gab kein Entkommen – weder vor seinen Taten noch seinen Geheimnissen. Immer gab es irgendwo einen Nachbarn, der seine Nase in fremde Angelegenheiten steckte.

»Harri und ich waren so gute Nachbarn, sogar Freunde, wage ich zu behaupten. Ja, und er wohnte direkt gegenüber. Was für ein toller Zufall, dass wir so nah beieinander wohnten!«, erzählte Martti mit leuchtenden Augen.

Ronja nickte zerstreut. Sie wusste, wie das hier ablief, sie kannte diesen Menschentyp. Sie bräuchte nur eine einzige klitzekleine Information mit einem dieser klatschsüchtigen Nachbarn teilen, und es würde sich sofort wie ein Lauffeuer auf der ganzen Insel verbreiten.

»Danke, dass du dich um Minni gekümmert und sie vorbeigebracht hast!«, sagte Ronja und griff forsch nach der Türklinke, um anzudeuten, dass das Gespräch nun beendet war.

Der Nachbar schien den Wink verstanden zu haben.

»Also wenn du mal Hilfe brauchen solltest, dann findest du mich gleich da drüben. Harris Tochter helfe ich immer gerne und so viel ich kann.« Martti nickte und schlurfte dann in seinen Pantoffeln durch den Gang.

Ronja zog leicht an Minnis Leine, woraufhin der Hund zufrieden in die Wohnung tapste. Ronja schloss die Tür hinter sich. Der Nachbar schien doch ein bisschen anstrengend zu sein.

So etwas hatte ihr gerade noch gefehlt!

Minni sah Ronja mit ihren vertrauensseligen Augen an. Sie kannte diesen Menschen, kannte dessen Geruch und akzeptierte ihn.

»Hier sind wir jetzt also, nur wir zwei Mädels.« Ronja schaute den Hund an, schüttelte den Kopf und zog sich dann wieder auf das Sofa zurück. Was sollte sie bloß mit Minni machen? Schließlich konnte sie den Hund nicht einfach als Handgepäck mit in den Flieger nach London nehmen. Aber darüber würde sie sich später noch Gedanken machen, vielleicht würde sie ja irgendwo in der Nachbarschaft ein gutes Zuhause für den Hund finden.

Minni schaute Ronja an, so als ob sie gerade über das Gleiche nachdenken würde. Ihr Herrchen war verschwunden, unruhig lief sie hin und her, kontrollierte verwirrt das leere Schlafzimmer und tapste dann wieder zurück ins Wohnzimmer, wo sie Ronjas Fuß anstupste. Dann besetzte der große Labrador die Hälfte des Sofas, aber Ronja brachte es nicht übers Herz, Minni mit einem Fußtritt zu verscheuchen. Das sanfte Wesen des Hundes beruhigte sie, und Ronja hoffte, dass es umgekehrt genauso war. Hoffentlich war sie zumindest ein kleiner Trost für Minni.

Ronja war sich nicht sicher, ob sie jemals wieder vom Sofa aufstehen wollte. Vielleicht würde sie einfach für immer dort sitzen bleiben, und irgendwann würde man sie mumifiziert in der Wohnung ihres toten Vaters finden. Oder sie würde von dem Hund angeknabbert werden. Lächelnd schaute sie Minni an.

»Du würdest mich doch nicht fressen, oder? Aber was rede ich denn da? Natürlich würdest du das früher oder später tun, du würdest mein Gesicht abnagen. Und meine Oberschenkel erst, die wären bestimmt ein Leckerbissen«, alberte Ronja herum und umarmte dann den schwarzen Riesen. Minnis Fell war rau und weich zugleich.

Es hatte etwas Tröstendes.

Minni ließ ihren Kopf auf Ronjas Schulter sinken. Die große schwarze Schnauze zitterte ein bisschen.

Ronja quoll das Herz über vor Freude.

KAPITEL 6

Anton betrat den Konferenzraum, ließ sich in einen Stuhl fallen und seufzte tief. Gedanken an den Toten vom Kasinoranta quälten ihn. In diesem Moment lag die Leiche beim Gerichtsmediziner, war in dessen Obhut, um endgültig die Todesursache festzustellen, aber Anton hatte das Gefühl, als ob das eine Ewigkeit dauern würde. Es war Mittwoch und schon einige Tage her, seitdem die Leiche gefunden worden war. Man hätte eigentlich annehmen können, dass Mäkinen die Arbeit schneller erledigen würde. Normalerweise war Anton bei so etwas immer dabei, aber diesmal hatte es sein Zeitplan nicht zugelassen. Er musste also warten, und das war alles andere als leicht.

Natürlich hatte Anton bereits am Fundort der Leiche kapiert, dass es sich hierbei nicht um einen Unfall handelte, aber sie brauchten ein vorläufiges Autopsiegutachten des Gerichtsmediziners, damit sie sich die nächsten Schritte überlegen konnten. Trotzdem lief Antons Ermittlerhirn auf Hochtouren. An einem kalten Oktoberabend lief der inzwischen Verstorbene in Sommerkleidung und ohne Portemonnaie oder Schlüssel nach draußen. Und er hatte eindeutige Würgemale am Hals.

Auch wenn es natürlich manche Leute schafften, sich selbst in kuriose Situationen zu bringen, YouTube war voll mit solchen verrückten Unfällen. In Lauttasaari hatten die wochenlangen Herbststürme Wohnungen und Autos beschädigt und Bäume entwurzelt. Theoretisch war es also durchaus möglich, dass der Tote bei einer Windböe an einem Felsen den Halt verloren hatte und ins Wasser gestürzt war, sich dabei sein Gesicht an einem Stein aufgeschlagen hatte und ertrunken war.

Aber irgendetwas passte hier nicht zusammen. Antons Bauchgefühl sagte ihm, dass die Erklärung nicht ganz so einfach sein konnte.