Kalte Kindheit - Lindsay C. Gibson - E-Book

Kalte Kindheit E-Book

Lindsay C. Gibson

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  • Herausgeber: Kailash
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Das Standardwerk zum Umgang mit emotional unreifen Eltern

Viele psychische Erkrankungen haben ihren Ursprung in der Kindheit. Vor allem negative Bindungserfahrungen hinterlassen im erwachsenen Gehirn eine »Stressnarbe«. Wenn emotional unreife Eltern nicht in der Lage sind, dem eigenen Kind emotionalen Rückhalt zu geben, um stark und geborgen zu wachsen, macht es eine schmerzhafte Erfahrung, die sich durch das ganze weitere Leben zieht. Die Betroffenen leiden später verstärkt unter Bindungsangst, Verlustängsten und mangelndem Selbstwertgefühl. Mit berührenden Fallgeschichten und den richtigen Fragestellungen hilft die Psychologin Lindsay Gibson, derartige Verletzungen zu verarbeiten und emotionale Bedürfnisse klar zu artikulieren.

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Seitenzahl: 344

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Die amerikanische Autorin Lindsay C. Gibson ist Psychotherapeutin. Sie lebt und arbeitet in West-Virginia, USA. Dies ist ihr zweites Buch.

Lindsay C. Gibson

Kalte Kindheit

Wie wir trotz unemotionaler Eltern Wärme im Leben finden

Aus dem Englischen von

Elisabeth Liebl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Adult Children of Emotionally Immature Parents. How to Heal from Distant, Rejecting or Self-Involved Parents.« bei New Harbinger Publications, Inc.
© 2018 Kailash Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München © 2015 by Lindsay C. Gibson First published by: New Harbinger Publications, Inc. Lektorat: Ralf Lay Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, Daniela Hofner, München Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering ISBN 978-3-641-22396-0V002
www.kailash-verlag.de

Für Skip – mit all meiner Liebe

Inhalt

Einführung

1. Wie emotional unreife Eltern das Leben ihrer Kinder beeinflussen

2. Woran Sie emotional unreife Eltern erkennen

3. Wie es sich anfühlt, emotional unreife Eltern zu haben

4. Vier Typen emotional unreifer Eltern

5. Die Reaktion der Kinder auf emotional unreife Eltern

6. Wie es ist, ein Internalisierer zu sein

7. Zusammenbruch und Erwachen

8. Wie Sie sich von emotional unreifen Eltern nicht mehr aufs Glatteis führen lassen

9. Wie es sich anfühlt, ganz frei von Rollen und Fantasien zu leben

10. Wie man emotional reife Menschen erkennt

Nachwort

Dank

Anmerkungen

Einführung

Gewöhnlich halten wir Erwachsene für reifer als ihre Kinder. Was aber, wenn besonders sensible Kinder schon wenige Jahre nach der Geburt emotional entwickelter sind als ihre Eltern, die bereits ein paar Jahrzehnte auf dieser Welt leben? Was geschieht, wenn diese unreifen Eltern nicht in der Lage sind, die seelischen Bedürfnisse ihres Nachwuchses zu erfüllen? Solche Konstellationen enden für die Kinder unweigerlich in emotionaler Vernachlässigung, ein Phänomen, das so gravierend ist wie irgendeine körperliche Deprivation.

Emotionale Vernachlässigung in der Kindheit führt zu schmerzlichen Einsamkeitsgefühlen, die sich langfristig schädlich auf die Beziehungsfähigkeit und die Partnerwahl auswirken. In diesem Buch geht es darum, wie unemotionale Eltern ihre Kinder negativ prägen, vor allem wenn diese besonders sensibel sind. Es soll Ihnen aber auch zeigen, wie Sie Heilung finden können von dem Schmerz und der Verwirrung, die sich unweigerlich einstellen, wenn Ihre Eltern gefühlsmäßig unerreichbar sind.

Solche Eltern haben Angst vor echten Empfindungen und verweigern sich jeder Nähe. Ihre Lebensstrategien sind darauf ausgerichtet, die Realität fernzuhalten, statt sie anzupacken. Sie sind keiner Selbstreflexion zugänglich, daher können sie mit Kritik nicht umgehen und entschuldigen sich nie. Ihre mangelnde Reife macht sie unzuverlässig, vor allem auf emotionalem Gebiet. Sie sind blind für die Bedürfnisse ihrer Kinder, weil sie in erster Linie mit den eigenen beschäftigt sind. Thema dieses Buches ist unter anderem, dass unemotionale Eltern die gefühlsmäßigen Belange ihrer Kinder immer den eigenen Überlebensinstinkten unterordnen.

Die emotionale Vernachlässigung durch Eltern, die sich nur um sich selbst kümmern, taucht in den berührendsten Geschichten unserer Kultur auf. In Büchern und Filmen begegnen uns immer wieder unreife Elterngestalten, die ihren Kindern das Leben zur Hölle machen. In den Mythen und Märchen aller Länder findet dieses Elternbild seit Jahrhunderten seinen Widerhall. Wie viele Märchen drehen sich um verlassene Kinder, die Hilfe bei Tieren oder anderen Menschen suchen müssen, weil ihre Eltern sich den Teufel um sie scheren! Entweder weil sie keine Ahnung haben oder schlicht nicht verfügbar sind. In einigen dieser Märchen ist die Elternfigur sogar ausgesprochen böse, und die Kinder müssen selbst ihr Überleben sichern. Dieses Narrativ wird nicht umsonst seit Jahrhunderten immer wieder gehört und gelesen: Das Erzählmotiv rührt an eine unbequeme Wahrheit. Kinder müssen für sich selbst einstehen, wenn sie von ihren eigentlichen Beschützern und Förderern vernachlässigt oder im Stich gelassen werden. Offensichtlich sind solche Eltern schon seit der Antike ein Problem.

Sie werden in diesem Buch eingehend in das Thema der emotionalen Unreife eingeführt. Vielleicht fühlen Sie sich ja hier oder da an Charaktere erinnert, die zu den großen Geschichten unserer eigenen Kultur gehören, oder aber an familiäre Situationen, die Sie aus Vorabendserien kennen beziehungsweise in der einschlägigen Presse gelesen haben …

Wenn Sie sich mit der emotionalen Unreife erst einmal eingehend beschäftigt haben, wissen Sie, warum Sie sich manchmal so einsam fühlen, obwohl Ihnen andere Menschen immer wieder sagen, wie sehr sie Sie lieben. Ich hoffe inständig, dass dieses Buch Ihnen befriedigende Antworten auf lang gehegte Fragen geben kann, zum Beispiel warum die Beziehungen zu manchen Ihrer Angehörigen so frustrierend und verletzend sind. Das Gute daran ist: Wenn Sie sich erst einmal bewusst gemacht haben, was emotionale Unreife ist und bewirkt, dann können Sie realistischere Erwartungen an andere Menschen richten. Sie sehen klar und deutlich, welche Art von Beziehung mit ihnen möglich ist, und fühlen sich nicht ständig von der ausbleibenden Reaktion verletzt.

In der Psychotherapie ist es ein wohlbekanntes Phänomen, dass die emotionale Loslösung von schädlichen Elternbeziehungen zu mehr Frieden und Autonomie führt. Doch wie kommt man dahin? Wir gehen den Weg der Einsicht. Man fragt sich, warum selbstbezogene Eltern nicht lieben können. Dieses Buch soll zeigen, dass es solchen Eltern schlicht an emotionaler Reife fehlt. Sobald Sie sich die entsprechenden Charakterzüge verdeutlicht haben, können Sie selbst herausfinden, welche Ebene der Beziehung mit diesem Typ Mensch möglich ist oder eben auch nicht. Ein solches Wissen hilft uns, zu uns selbst zurückzufinden. Wir können das Leben aus uns selbst heraus leben, statt uns ständig auf unsere Eltern zu beziehen, die sich einfach nicht ändern wollen. Wenn wir erst einmal begriffen haben, dass diese Unfähigkeit allein in ihrer emotionalen Unreife wurzelt, können wir unsere Einsamkeit hinter uns lassen. Wir begreifen, dass der Grund für die Vernachlässigung nicht in uns selbst liegt, sondern ausschließlich bei ihnen. Wenn wir erkennen, warum sie nicht anders sein konnten oder können, sind wir in der Lage, uns von unserer Enttäuschung frei zu machen. Und wir zweifeln nicht mehr länger daran, dass wir liebenswert sind.

In diesem Buch werden Sie herausfinden, warum ein Elternteil oder beide Ihnen nicht jene Form des Umgangs bieten konnten, die Sie emotional zufriedengestellt hätte. Sie werden entdecken, warum Sie ständig das Gefühl hatten, nicht wahrgenommen zu werden, und warum Ihre wohlmeinenden Kommunikationsbemühungen am Ende nicht fruchteten.

Kapitel 1 zeigt auf, warum Menschen, die mit emotional unreifen Eltern aufwuchsen, sich so häufig einsam fühlen. Sie werden darin Geschichten von Menschen finden, deren fehlende tiefere Bindung an ihre Eltern ihr Erwachsenenleben drastisch beeinflusste. Sie erfahren, was seelische Vereinsamung wirklich heißt und wie ein erhöhtes Gewahrsein diese Gefühle der Isolation durchbrechen kann.

In den Kapiteln 2 und 3 erkunden wir gemeinsam die Charakterzüge gefühlskalter Eltern und die Beziehungsprobleme, die sich daraus ergeben. Vor dem Hintergrund des Konzepts der emotionalen Unreife werden viele Verhaltensweisen Ihrer Eltern plötzlich klar. Sie finden darin auch einen Test, der Ihnen helfen soll herauszufinden, an welchen Punkten Ihre Eltern emotionale Unreife zeigten. Außerdem erfahren Sie, welche Gründe es geben kann, dass die gefühlsmäßige Entwicklung Ihrer Eltern an einem bestimmten Punkt stehen geblieben ist.

Kapitel 4 stellt die vier Haupttypen emotional unreifer Eltern vor. Damit können Sie feststellen, mit welchem elterlichen Verhalten Sie konfrontiert waren. Des Weiteren werden Verhaltensweisen beschrieben, mit denen Kinder sich zunächst ihr Überleben sichern, die sich im späteren Leben jedoch nachteilig auswirken können.

In Kapitel 5 geht es darum, wie Kinder die Verbindung zum eigenen Selbst aufgeben, um ihre vorgesehene Rolle in der Familie besser spielen zu können. Dazu gehören auch Fantasien über das Verhalten, das wir von anderen Menschen einfordern können, weil wir hoffen, dass sie uns von der früheren Vernachlässigung heilen. Sie werden zwei verschiedene Reaktionsmuster kennenlernen, die Kinder emotional unreifer Eltern entwickeln: Internalisierung und Externalisierung. Dies erklärt auch, weshalb Kinder aus ein und derselben Familie mitunter so große Unterschiede aufweisen in der Art, wie sie »funktionieren«.

In Kapitel 6 beschreibe ich die internalisierende Persönlichkeit ein wenig ausführlicher. Dabei handelt es sich um den Persönlichkeitstyp, der sich für Selbstreflexion und persönliches Wachstum interessiert, jenen Typus also, der sich von dem vorliegenden Buch am ehesten angezogen fühlt. Der Internalisierer ist ein hoch wahrnehmungsfähiger, sensibler Mensch, dessen Instinkt ihn naturgemäß dazu anhält, sich für andere einzusetzen und mit ihnen Kontakte zu knüpfen. Sie werden sehen, ob dies der Persönlichkeitstyp ist, der zu Ihnen passt. Gewöhnlich meinen diese Menschen, sich entschuldigen zu müssen, wenn sie Hilfe brauchen. Im Kontakt mit anderen übernehmen sie die Beziehungsarbeit und stellen ihre eigenen Interessen zugunsten Dritter konsequent hintan.

Kapitel 7 widmet sich der Frage, was passiert, wenn alte Muster nicht mehr funktionieren und die Betroffenen endlich ihre Bedürfnisse erkennen. An diesem Punkt wenden sie sich häufig um Unterstützung an die Psychotherapie. Hier mache ich Sie mit Leuten bekannt, die aus ihrer Selbstverleugnung erwacht sind und beschlossen haben, künftig ein anderer Mensch zu sein. In diesem Prozess, in dem sie sich selbst die Wahrheit eingestanden haben, konnten sie die Fähigkeit zurückgewinnen, ihren Instinkten zu vertrauen, und haben ihr wahres Selbst wiedergefunden.

In Kapitel 8 stelle ich Ihnen einen Ansatz vor, der hilft, Beziehungen zu anderen Menschen bewusster zu gestalten. Ich nenne dies das »Reifegrad-Gewahrsein«. Wenn Sie im Wissen um die Kennzeichen emotionaler Reife lernen, andere besser einzuschätzen, können Sie diese Menschen objektiver sehen und mit ihnen all die Signale emotionaler Unreife. Sie werden lernen, was mit solchen Leuten geht und was nicht und wie Sie sich vor dem seelischen Stress schützen können, den diese Zeitgenossen mitunter verursachen. All dies wird Ihnen helfen, neuen Frieden zu finden und Selbstvertrauen aufzubauen.

Kapitel 9 dreht sich um Menschen, die sich auf diesem Weg ein neues Gefühl der Freiheit und Ganzheit erobert haben. Ihre Geschichte soll Ihnen vermitteln, wie es sich anfühlt, frei von den Schuldgefühlen und dem Chaos zu sein, die unreife Eltern verursachen können. Wenn Sie sich auf Ihre eigene Entwicklung konzentrieren, können Sie sich von den Nachwirkungen der gefühlskalten Kindheit befreien.

Kapitel 10 soll Ihnen zeigen, wie Sie Menschen finden, die Sie gut behandeln und mit denen Sie eine sichere und verlässliche Beziehung einzugehen vermögen. So können Sie die schädlichen Beziehungsmuster durchbrechen, die für Kinder solcher Eltern so typisch sind. Sie öffnen sich auf eine ganz neue Weise für Beziehungen und sagen der Einsamkeit so ein für alle Mal Ade.

Nach der Lektüre dieses Buches werden Sie fähig sein, in anderen die Zeichen emotionaler Unreife zu erkennen. Ihnen wird klar, warum Sie sich immer so allein gefühlt haben und warum Ihre Versuche, gefühlsmäßige Nähe zu solchen Menschen herzustellen, von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Und Sie werden lernen, mit dem überentwickelten Einfühlungsvermögen umzugehen, das Sie zur emotionalen Geisel von Manipulatoren machte, die Ihnen nichts zurückgeben konnten. Stattdessen werden Sie mit sicherem Blick Leute erkennen, die zu aufrichtiger Nähe fähig sind und ein positives Kommunikationsverhalten an den Tag legen.

Ich freue mich, Ihnen die Resultate meiner jahrelangen Recherchen und Lektüre zu diesem Thema vorstellen zu können – zusammen mit den faszinierenden Geschichten von Klienten, mit denen ich gearbeitet habe. Mich hat dieses Thema den Großteil meiner beruflichen Laufbahn intensiv beschäftigt. Dabei kommt es mir so vor, als würden wir alle auf den Kaiser ohne Kleider starren. Die Wahrheit wurde vor uns verborgen durch das soziale Stereotyp, dass man Eltern nicht objektiv beurteilen könne. Daher ist es mir wirklich eine große Freude, Ihnen meine Forschungsergebnisse vorzulegen, deren Richtigkeit meine Klienten mehr als einmal bestätigt haben.

Ich hoffe, damit dazu beitragen zu können, dass die Verwirrung und das emotionale Leid all jener verringert wird, die mit emotional unreifen Eltern aufgewachsen sind. Wenn dieses Buch Ihnen hilft, Ihre innere Vereinsamung zu verstehen und stattdessen tiefe Bindungen voller Nähe zu knüpfen, dann habe ich meine Mission erfüllt. Unterstützt es Sie dabei, dass Sie sich selbst als wertvollen Menschen sehen, der nicht von den Manipulationen anderer abhängt, dann ist meine Aufgabe getan. Ich weiß, dass Sie vieles von dem, was Sie hier lesen werden, tief in Ihrem Inneren schon immer gewusst haben. Ich kann Ihnen nur sagen, dass Sie damit durch und durch recht hatten.

Ich wünsche Ihnen hiermit das Allerbeste!

Kapitel 1

Wie emotional unreife Eltern das Leben ihrer Kinder beeinflussen

Zur gefühlsmäßigen Vereinsamung kommt es, sofern man nicht ausreichend emotionale Kontakte zu anderen Menschen hat. Das kann bereits in der Kindheit beginnen, wenn man sich von den eigenen, ständig mit sich selbst beschäftigten Eltern nicht wahrgenommen fühlt, aber auch im Erwachsenenleben, während tiefe Verbindungen plötzlich verloren gehen. Tritt dieses Gefühl jedoch in der Kindheit auf, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man keinerlei emotionale Reaktion von seinen Eltern bekam.

In einem solchen Klima aufzuwachsen ist eine einsame Erfahrung. Die Eltern mögen nach außen hin vollkommen »normal« wirken und sich auch unauffällig verhalten. Für die materiellen Belange ihres Kindes – dessen körperliche Gesundheit, gute Ernährung, Sicherheit – sorgen sie ausreichend. Doch wenn sie keine starke Gefühlsbindung zu ihm herstellen, wird das Kind dort ein Loch fühlen, wo bei anderen Menschen das Empfinden der Geborgenheit lokalisiert ist.

Das einsam machende Gefühl, von anderen nicht gesehen zu werden, bedeutet einen ebenso grundlegenden Schmerz wie eine körperliche Verletzung. Nur ist es eben von außen nicht sichtbar. Emotionale Vereinsamung ist ein vages Gefühl tief im Innern, kaum zu erkennen oder zu beschreiben. Man könnte es vielleicht als Gefühl der Leere bezeichnen, des Alleinseins. Man hat es auch schon »existenzielle Einsamkeit« genannt, aber es ist daran nichts Existenzielles. Wenn Sie dieses Gefühl haben, geht es auf das Verhalten Ihrer Familie zurück.

Kinder haben keine Möglichkeit, den Mangel an emotionaler Nähe zu identifizieren. Sie haben dafür keine Begriffe. Noch unwahrscheinlicher ist es, dass sie die gefühlsmäßige Unreife ihrer Eltern feststellen können. Sie spüren da nur diese Leere – so empfinden Kinder ihre Einsamkeit. Im »Normalfall« begegnet das Kind diesem Gefühl, indem es zu Vater oder Mutter geht und sich ihrer Zuneigung versichert. Hatten Ihre Eltern aber Angst vor tiefen Empfindungen, dann bleiben Sie zurück mit dem Gefühl der Beschämung, weil Sie vergeblich Trost bei ihnen gesucht hatten.

Wenn die Kinder erwachsen werden, dann bleibt ihnen diese innere Leere erhalten, selbst wenn sie an der Oberfläche ein unauffälliges Leben führen. Sie bleibt bis ins Erwachsenenalter bestehen, wenn die Betroffenen immer wieder unbewusst Beziehungen eingehen, aus denen sie keine emotionale Nähe ziehen können. Sie kommen in die Schule, gehen zur Arbeit, heiraten und ziehen Kinder groß, während sie gleichzeitig in sich immer dieses gewaltige Gefühl der Isolation spüren. In diesem Kapitel werden wir uns mit der Erfahrung der emotionalen Vereinsamung eingehender beschäftigen. Und wir werden sehen, dass ein gesünderes Selbstgewahrsein den Betroffenen helfen kann zu verstehen, was ihnen fehlt und wie sie ihr Leben verändern müssen, um zu diesem optimierten Gewahrsein zu finden.

Emotionale Nähe

Emotionale Nähe zu erleben heißt, dass Sie jemanden haben, mit dem Sie über alles reden können, jemanden, dem Sie all Ihre Gefühle zumuten können. Sie fühlen sich mit diesem Menschen so sicher, dass Sie sich ihm ganz öffnen, ob nun mit Worten, mit Blicken oder einfach nur durch das Gefühl der Verbundenheit beim ruhigen Zusammensein. Diese Intimität ist erfüllend. Sie schenkt uns das Gefühl, so gesehen zu werden, wie wir wirklich sind. Sie kann nur dann entstehen, wenn der andere versucht, uns kennenzulernen, ohne uns zu verurteilen.

Als Kinder fühlen wir uns sicher, wenn wir diese tiefe Verbindung zu jenen Menschen herstellen können, die sich um uns kümmern. Eltern sollen Kindern das Gefühl geben, dass da immer jemand ist, bei dem sie Zuflucht suchen können. Wenn Eltern emotionale Reife besitzen, können sie diese emotionale Verbindung quasi jederzeit herstellen. Sie sind sich ihrer selbst so bewusst, dass sie mit ihren eigenen Gefühlen und denen anderer Menschen gut zurande kommen.

Was noch wichtiger ist: Sie sind ihren Kindern zugewandt, registrieren deren Stimmungen und interessieren sich für deren Gefühle. Ein Kind fühlt sich sicher, wenn es den Kontakt zu solch einem Elternteil sucht, ob es nun seine Begeisterung mit ihm teilen will oder Trost braucht. Eltern sollten ihr Kind spüren lassen, dass sie Freude am Umgang mit ihm haben und dass es in Ordnung ist, über seine Gefühle zu sprechen. Solche Eltern haben ein lebendiges, ausgeglichenes Gefühlsleben und werden nicht wankend in ihrem Interesse und ihrer Aufmerksamkeit für das Kind. Sie sind verlässlich.

Emotionale Vereinsamung

Unentwickelte Eltern hingegen sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie die inneren Befindlichkeiten ihres Kindes gar nicht erst bemerken. In ihren Augen sind Gefühle ohnehin wenig wichtig. Sie haben Angst vor Nähe. Da ihnen ihre eigenen gefühlsmäßigen Bedürfnisse Unbehagen bereiten, sind sie nicht in der Lage, auf dieser Ebene Unterstützung zu geben. Solche Eltern werden selbst nervös oder wütend, wenn ihr Kind sich aufregt. Sie bestrafen es, statt es zu trösten. Derartige Reaktionen führen dazu, dass das Kind sein instinktives Bedürfnis unterdrückt, bei den Eltern Schutz und Erklärungen zu suchen. Damit aber fällt die Pforte zu, die eine gesunde Nähe ermöglicht hätte.

Wenn einer oder beide Elternteile nicht reif genug sind, um Ihnen gefühlsmäßige Unterstützung zu gewähren, dann spüren Sie das als Kind zwar, wissen wie gesagt aber nicht, was da im Argen liegt. Sie nehmen dann vielleicht an, dieses nagende Gefühl des Alleinseins und der Leere sei Ihr höchstpersönliches, merkwürdiges Erfahrungsmuster und Sie seien deshalb anders als andere. Als Kind können Sie nicht wissen, dass jenes hohle Gefühl in Ihrem Innern eine völlig normale Resonanz auf das Fehlen emotionaler Nähe ist, eine Reaktion, die alle Menschen zeigen. »Emotionale Vereinsamung« ist ein Begriff, in dem die heilsame Gegenstrategie schon anklingt: nämlich von einem anderen Menschen mitfühlendes Interesse an unseren Gefühlen zu erfahren. Diese Art der Einsamkeit ist keine grundlose oder gar abnorme Empfindung. Sie entsteht immer dann, wenn wir ohne hinreichendes Interesse vonseiten anderer aufwachsen.

Um diese Beschreibung der emotionalen Vereinsamung zu vervollständigen, möchte ich hier noch die Geschichte zweier Menschen vorstellen, die sich an dieses Gefühl von Kindesbeinen an lebhaft erinnern und es besonders eindrücklich geschildert haben.

David

Auf meinen Kommentar, in einer Familie wie der seinen aufzuwachsen müsse wohl eine recht einsame Erfahrung gewesen sein, antwortete mein Klient David: »Es war unglaublich einsam. Als wäre ich vollkommen isoliert. Mein Leben war einfach so. Die Einsamkeit fühlte sich völlig normal an. In meiner Familie war jeder vom anderen getrennt, und wir waren alle emotional isoliert. Wir lebten nebeneinanderher ohne jeden Kontakt. In der Highschool fand ich dafür ein Bild: Ich trieb allein auf dem Ozean, niemand war rundum zu sehen. So fühlte ich mich bei mir zu Hause.«

Als ich nochmals nachhakte, meinte er: »Es war einfach ein Gefühl der Leere, des Nichts. Ich hatte keine Ahnung, dass nicht alle Menschen sich so fühlten. Für mich war dieses Gefühl Alltag.«

Rhonda

Rhonda erinnerte sich in ähnlicher Weise noch gut daran, wie allein sie sich als Siebenjährige fühlte, während sie neben dem Umzugswagen stand, der sie, ihre Eltern und ihre drei älteren Geschwister an einen neuen Wohnort bringen sollte. Körperlich war sie natürlich »bei« ihrer Familie, doch niemand legte den Arm um sie oder sagte etwas zu ihr. Sie fühlte sich vollkommen allein: »Ich stand da mit meiner Familie, aber niemand erklärte mir, was dieser Umzug zu bedeuten hatte. Ich fühlte mich vollkommen allein und versuchte herauszufinden, was da vor sich ging. Ich war bei ihnen, aber es fühlte sich nicht so an, als wäre ich mit ihnen zusammen. Ich weiß noch, wie erschöpft ich war und mich fragte, wie ich ganz allein mit alldem fertigwerden sollte. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich ja nur zu fragen bräuchte. Meine Familie war für mich unerreichbar. Ich hatte viel zu viel Angst, um irgendetwas mit ihnen zu teilen. Ich wusste ja, dass ich damit selbst klarkommen musste.«

Die Botschaft in der emotionalen Vereinsamung

Tatsächlich ist dieses schmerzliche Einsamkeitsgefühl eine gesunde Reaktion. Die Angst, die David und Rhonda empfanden, zeigte ihnen, dass sie emotionale Kontakte brauchten. Doch da ihre Eltern nicht mitbekamen, wie sie sich fühlten, konnten sie dieses Gefühl nur tief in sich begraben. Glücklicherweise führen unsere Gefühle uns, sobald wir sie anerkennen, zu einer authentischen Bindung an andere. Die Ursache für Ihre emotionale Vereinsamung zu erkennen ist der erste Schritt zu einem erfüllteren Beziehungsleben.

Wie Kinder mit emotionaler Vereinsamung fertigwerden

Emotionale Vereinsamung ist so belastend, dass ein Kind buchstäblich alles tun wird, um irgendeine Bindung zu einem Elternteil herzustellen. Solche Kinder lernen häufig, die Bedürfnisse der anderen vor die eigenen zu stellen, sozusagen als Preis für die Beziehung zu ihnen. Sie erwarten dann gar nicht mehr, dass andere sie unterstützen oder Interesse an ihnen zeigen. Stattdessen übernehmen sie die Rolle des Helfers und machen alle glauben, dass sie keine eigenen Bedürfnisse hätten. Unglücklicherweise vertieft dies ihre Einsamkeit noch, denn das Verbergen unserer tiefsten Bedürfnisse verhindert echte Bindungen ja gerade.

Da sie keine Unterstützung von den Eltern haben, keine innere Bindung an sie, versuchen diese Kinder schleunigst, die Kindheit hinter sich zu lassen. Sie merken bald, dass es am besten ist, wenn sie schnell erwachsen werden und für sich selbst sorgen können. Sie entwickeln dann meist mehr Kompetenz, als dies für ihr Alter üblich ist. Im Herzen aber bleiben sie einsam. Sie gehen bald zum Erwachsenendasein über und nehmen Jobs an, sobald dies irgend geht. Viele werden früh sexuell aktiv und heiraten jung oder gehen zum Militär. Als wollten sie damit sagen: »Wenn ich mich sowieso um mich selbst kümmern muss, kann ich genauso gut weitermachen wie gehabt und mir wenigstens die Vorteile des Erwachsenenlebens sichern.« Sie freuen sich aufs Erwachsensein, weil sie glauben, dass es ihnen Freiheit und Zugehörigkeit schenken wird. Traurigerweise passiert es bei dieser Eile häufig, dass sie die falsche Person heiraten, sich ausbeuten lassen oder in einem Beruf verharren, der ihnen mehr nimmt, als er gibt. Und sie lassen sich auch in Beziehungen auf emotionale Vereinsamung ein, einfach weil das Gefühl ihnen von Haus aus vertraut ist.

Warum sich Muster aus der Vergangenheit stets wiederholen

Wie kann es passieren, dass Kinder emotional unreifer Eltern als Erwachsene in gleichermaßen unbefriedigenden Beziehungen landen, obwohl das Fehlen jeglicher gefühlsmäßigen Bindung im Elternhaus so schmerzhaft war? Die entwicklungsgeschichtlich ältesten Bereiche unseres Gehirns sagen uns, dass wir sicher sind, wenn wir zu einer Gruppe gehören.1 Wir neigen dazu, Situationen zu bevorzugen, mit denen wir Erfahrung haben, weil wir wissen, wie wir damit umgehen können. Als Kinder werden wir uns der Grenzen unserer Eltern nicht bewusst, weil es uns Angst macht, wenn wir sie als unreif oder fehlerbehaftet erleben. Aber wenn uns die schmerzhafte Wahrheit über unsere Eltern nicht bewusst ist, sind wir in künftigen Beziehungen nicht in der Lage, Menschen mit einer ähnlichen Charakterstruktur aus dem Weg zu gehen. Diese Vogel-Strauß-Haltung lässt uns immer wieder in dieselbe Situation geraten, einfach weil wir sie nicht kommen sehen. Sophies Geschichte zeigt diese Dynamik sehr deutlich.

Sophie

Sophie war seit fünf Jahren mit Jerry zusammen. Sie hatte einen tollen Job als Krankenschwester und fühlte sich glücklich, eine feste Beziehung zu haben. Mit zweiunddreißig wollte sie heiraten, aber Jerry hatte es damit nicht so eilig. In seinen Augen war ja alles bestens so. Er war ein witziger Typ, doch emotionale Nähe schien er nicht gut zu vertragen. Jedenfalls machte er stets dicht, wenn Sophie das Gespräch auf Gefühle brachte. Mit der Zeit wurde Sophie immer frustrierter. Sie wandte sich an eine Therapeutin, weil sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte. Es war ja auch gar nicht so einfach: Sie liebte Jerry, aber sie wollte allmählich eine Familie gründen, und ihr lief die Zeit davon. Außerdem fühlte sie sich schuldig und machte sich Sorgen, ob sie nicht zu viel von ihm verlangte.

Eines Tages schlug Jerry vor, sie sollten doch mal wieder in das Restaurant gehen, wo sie ihr erstes Date hatten. Irgendetwas an seinem Ansinnen ließ Sophie hellhörig werden. Vielleicht würde er ihr ja doch noch einen Antrag machen! Sophie konnte ihre Aufregung während des Essens kaum verbergen.

Und tatsächlich, kaum waren die Teller abgeräumt, holte Jerry eine kleine Schachtel aus der Jackentasche. Er schob sie über den Tisch, Sophie hielt vor Aufregung die Luft an. Als sie die Schachtel öffnete, fand sie jedoch keinen Ring darin. Nur ein Stück Papier mit einem Fragezeichen darauf. Sophie sah ihren Freund verständnislos an.

Jerry grinste sie an. »Nun kannst du deinen Freunden endlich sagen, dass ich ›die Frage‹ gestellt habe!«

»Was jetzt? Willst du wissen, ob ich dich heiraten will?«

»Nein. Das sollte ein Scherz sein. Hast du das nicht verstanden?«

Sophie war stocksauer und tief verletzt. Als sie ihre Mutter anrief und ihr davon erzählte, schlug diese sich auf Jerrys Seite. Das sei doch ganz witzig, Sophie solle das nicht so ernst nehmen.

Ich kann mir beim besten Willen keine Beziehungssituation vorstellen, in der so was ein gelungener Scherz wäre. Tatsächlich ist es herablassend und gemein. Erst später erkannte Sophie, dass Jerry und ihre Mutter viel gemeinsam hatten. Sie legten beide wenig Sensibilität an den Tag, wenn die Gefühle anderer Menschen zu beachten waren. Wann immer Sophie versuchte, einem der beiden zu erklären, wie es ihr ging, fühlte sie sich hinterher abgewertet.

In der Therapie erkannte Sophie allmählich die Ähnlichkeiten zwischen Jerrys Gefühllosigkeit und dem Mangel an Einfühlungsvermögen ihrer Mutter. Sie merkte, dass sie in ihrer Beziehung nur die emotionale Vereinsamung wiederholte, die sie als Kind empfunden hatte. Und sie sah, dass ihre Frustration über Jerrys emotionale Distanz keineswegs neu für sie war. Tatsächlich hatte sie das ganze Leben das Gefühl gehabt, allein dazustehen.

Schuldgefühle, weil man unglücklich ist

Menschen wie Sophie liegen mir sehr am Herzen. Sie »funktionieren« so gut, dass andere immer denken, sie hätten keine Probleme. Tatsächlich macht ihre Kompetenz es schwer für sie, ihren eigenen Kummer ernst zu nehmen. »Ich habe doch alles«, heißt es dann meist. »Ich sollte glücklich sein. Warum geht es mir dann so mies?« Das ist die verwirrende Frage, die sich viele stellen müssen, deren äußere Bedürfnisse in der Kindheit zwar erfüllt wurden, deren emotionale Anliegen jedoch unbeantwortet blieben.

Menschen wie Sophie fühlen sich häufig schuldig, wenn sie sich beklagen. Männer und Frauen gleichermaßen können einem sofort alles aufzählen, wofür sie dankbar sein sollten. Als wäre das Leben eine Additionsaufgabe, deren positive Summe signalisiert, dass alles in Ordnung ist. Und doch werden die Betroffenen das Gefühl nicht los, dass sie vollkommen allein sind und auch in ihren engsten Beziehungen nicht jene Nähe erfahren, nach der sie sich sehnen.

Wenn sie zu mir kommen, sind sie häufig entweder bereit, den Partner zu verlassen, oder sie haben eine Affäre, die ihnen wenigstens ein wenig von dem gibt, was sie brauchen. Andere gehen jeder Liebesbeziehung aus dem Weg, weil sie emotionales Engagement als eine Falle sehen, in die sie nicht tappen möchten. Wieder andere nehmen die unbefriedigende Beziehung der Kinder wegen hin und kommen in die Therapie, weil sie lernen wollen, ihren Ärger und ihre Frustration loszuwerden.

Die allerwenigsten kommen in dem Wissen, dass ihr Mangel an befriedigender emotionaler Nähe seine Wurzeln in der Kindheit hatte. Gewöhnlich wundern sie sich zutiefst darüber, wie sie in dieses Dasein geraten konnten, das sie nicht glücklich macht. Sie kämpfen mit dem Gefühl, selbstsüchtig zu sein, wenn sie mehr vom Leben wollen. Sophie zum Beispiel meinte ganz zu Anfang: »Beziehungen sind doch immer frustrierend. Jede Beziehung ist Arbeit, oder nicht?«

Damit hatte sie natürlich teilweise recht. Gute Beziehungen erfordern Anstrengung und Nachsicht. Doch es darf keine Mühe kosten, überhaupt bemerkt zu werden. Emotionale Nähe herzustellen sollte eigentlich der leichte Teil sein.

Emotionale Vereinsamung betrifft alle Geschlechter

Obwohl Frauen immer noch eher als Männer ihre Zuflucht in der Psychotherapie suchen, habe ich mit vielen Männern gearbeitet, die ebenfalls mit Einsamkeit in ihrer wichtigsten Beziehung zu kämpfen hatten. In gewisser Hinsicht ist dies für sie noch schwieriger, da man in unserer Kultur ja ohnehin davon ausgeht, dass Männer weniger emotionale Bedürfnisse haben. Wenn man sich jedoch einmal die Selbstmordraten ansieht und die Masse an Gewalttaten, wird schnell klar, dass das nicht stimmen kann. Männer neigen, wenn sie sich emotional bedroht fühlen, eher zur Aggression oder zu (leider) erfolgreichen Suizidversuchen. Wenn es ihnen an emotionaler Nähe fehlt, sie keine Zuwendung erfahren oder kein Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln, fühlen Männer sich innerlich genauso leer wie Frauen, selbst wenn sie sich Mühe geben, dies nicht zu zeigen. Emotionale Bindungen sind ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, das alle Geschlechter gleichermaßen betrifft.

Kinder, denen es nicht gelingt, ihre Eltern zu einer emotionalen Bindung zu bewegen, versuchen, diese herzustellen, indem sie die Rollen übernehmen, die ihre Eltern zu schätzen scheinen. Das verschafft ihnen zwar meist vorübergehende Anerkennung, doch echte emotionale Nähe sieht anders aus. Eltern, die zu dieser Art Bindung nicht fähig sind, entwickeln nicht plötzlich Einfühlungsvermögen, nur weil das Kind etwas macht, was ihnen gefällt.

Wer in der Kindheit nicht genug Nähe erfahren hat, kann später oft nicht glauben, dass jemand tatsächlich eine Beziehung mit ihm eingehen möchte, einfach nur, weil er ist, wer er ist. Das trifft Männer und Frauen gleichermaßen. Sie gehen davon aus, dass sie eine Rolle spielen müssen, wenn sie Nähe haben wollen. Und in diesem Rollenspiel nimmt der andere immer die erste Stelle ein.

Jake

Jake hatte vor Kurzem Kayla geheiratet, ein übersprudelndes Geschöpf, von dem er sich wahrhaft geliebt fühlte. Bis kurz nach der Hochzeit war Jake noch glücklich. Nun aber fühlte er sich zutiefst deprimiert. »Ich sollte mehr als zufrieden sein«, meinte er. »Als Mann bin ich echt ein Glückspilz. Ich versuche ja auch, der Mensch zu werden, den sie in mir sieht. Doch ich habe dauernd das Gefühl, ich spiele ihr etwas vor. Ich zwinge mich dazu, optimistischer zu sein, als ich in Wirklichkeit bin. Aber ich finde es schrecklich, dieses Gefühl, dass ich nur so tue, als ob.«

Ich fragte Jake, welche Art von Mensch er für Kayla denn sein sollte.

»Ein total glücklicher Typ eben, so wie sie selbst einer ist. Ich müsste ihr das Gefühl geben, dass ich sie liebe und glücklich machen will. So sollte es zumindest sein.« Er sah mich an, als erwarte er von mir eine Bestätigung. Ich wartete einfach ab, und so sprach er weiter: »Wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt, gebe ich mir wirklich Mühe, zufrieden und guter Laune zu sein. Aber in Wirklichkeit bin ich total erschöpft.«

Ich fragte ihn, was seiner Ansicht nach passieren würde, wenn er Kayla von dem Druck erzählte, den er empfinde. »Sie wäre am Boden zerstört und wahrscheinlich auch ziemlich wütend, wenn ich versuchen sollte, mit ihr darüber zu reden.«

Ich entgegnete, dass sich das eher so anhörte, als habe er in der Vergangenheit mal jemanden wütend gemacht, als er seine Gefühle äußerte. Nach Kayla höre sich das jedenfalls nicht an. Mich erinnerte das mehr an seine cholerische Mutter, die schnell wütend wurde, wenn die Leute nicht taten, was sie wollte.

Jakes Beziehung zu Kayla verlockte ihn, sich zu entspannen und ganz er selbst zu sein, aber er war sicher, dass ihre Beziehung ein Ende finden würde, wenn er aufhörte, sich so viel Mühe zu geben.

Als ich Jake sagte, seine sichere neue Beziehung böte ihm vielleicht die Gelegenheit, endlich um seiner selbst willen geliebt zu werden, konnte er mit dem Verweis auf seine emotionalen Bedürfnisse zunächst wenig anfangen: »Wenn Sie das sagen, hört sich das total armselig und bedürftig an.«

In seiner Kindheit hatte Jakes Mutter ihrem Sohn beigebracht, dass emotionale Bedürfnisse ein Zeichen von Schwäche seien. Und wenn er nicht tat, was sie wollte, fühlte er sich unzulänglich und nicht liebenswert.

Am Ende lernte Jake, zu seinen Gefühlen zu stehen und in seiner Beziehung mit Kayla der zu sein, der er wirklich war. Und Kayla akzeptierte ihn auch so. Erstaunt war er am Ende nur über den leidenschaftlichen Zorn, den er auf seine Mutter hatte. »Ich kann nicht glauben, wie sehr ich sie gehasst habe«, meinte er. Jake war nicht klar, dass Hass eine ganz normale, unwillkürliche Reaktion ist, wenn jemand versucht, uns grundlos zu kontrollieren. So ein Mensch löscht unsere emotionale Lebenskraft aus, indem er seine Bedürfnisse auf unsere Kosten erfüllt.

Beziehungsfalle Elternfürsorge

Zu derartiger emotionaler Vereinsamung kann es nicht nur bei Liebespaaren kommen. Ich habe mit Singles gearbeitet, die über ähnliche Erfahrungen berichteten, nur bezogen diese sich auf die aktuelle Beziehung zu ihren Eltern oder Freunden. Häufig raubt ihnen dabei die Elternbindung so viel Energie, dass sie nicht mehr genug für eine Partnerschaft übrig haben. Sie lehnen eine solche Bindung häufig ab, weil sie in der Beziehung zu ihren Eltern gelernt haben, dass hier Einsamkeit und Belastung nicht selten Hand in Hand gehen. Daher betrachten sie jede Art fester Bindung als Falle, in die sie möglicherweise tappen könnten. Solche Menschen sind meist mit einem Elternteil gestraft, der sie behandelt, als wären sie sein Eigentum.

Louise

Louise war eine alleinstehende Lehrerin Ende zwanzig, die von ihrer dominanten Mutter völlig kontrolliert wurde. Diese war eine ruppige Expolizistin, die von Louise erwartete, dass sie bei ihr lebte und für sie sorgte. Dabei waren ihre Ansprüche so extrem, dass Louise sich schon mit Selbstmordgedanken trug. Daher machte ihre Therapeutin Louise unmissverständlich klar, dass ihr Leben davon abhinge, ob sie sich von ihrer Mutter lösen könne. Als Louise ihrer Mutter sagte, sie würde ausziehen, war deren Antwort: »Das wird nicht geschehen. Du wirst dich deiner selbst schämen. Außerdem komme ich ohne dich nicht zurecht.«

Glücklicherweise brachte Louise die Kraft auf, sich ein eigenes, unabhängiges Leben zu schaffen. Dabei entdeckte sie, wie man mit Schuldgefühlen durchaus gut leben kann – und dass sie ein geringfügiger Preis für die eigene Freiheit sind.

Wenn Sie Ihren Instinkten nicht vertrauen

Emotional unreife Eltern wissen nicht, wie sie ihren Kindern beibringen können, dass deren Gefühle und Instinkte wertvoll sind. Ohne diese Bestätigung aber lernen die Kinder, sich an dem zu orientieren, was andere für wichtig halten. Als Erwachsene verleugnen sie dann ihre Instinkte. Das geht mitunter so weit, dass sie sich auf Partnerschaften einlassen, die sie gar nicht wollen. Und dabei denken sie noch, es sei allein ihre Aufgabe, die Beziehung am Laufen zu halten. Sie sind der festen Überzeugung, es sei normal, darum kämpfen zu müssen, dass man sich mit seinem Partner versteht. Jede Beziehung braucht ein gewisses Quantum Einsatz, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten, aber das sollte sich nicht anfühlen, als müsse man sich ewig abmühen, ohne je ein Ergebnis zu erzielen.

Wenn zwei Partner zueinanderpassen, ihre wechselseitigen Gefühle verstehen und sich gegenseitig unterstützen, sind Beziehungen in Wahrheit eine Freude und nicht ewige Mühsal. Es ist keineswegs zu viel verlangt, dass man sich freut, wenn man den Partner sieht oder wenn man miteinander etwas unternimmt. Sagt Ihnen jemand: »Man kann nicht immer alles haben!«, dann können Sie gewöhnlich davon ausgehen, dass dieser Mensch nicht bekommt, was er braucht.

Sie dürfen darauf vertrauen, dass Sie schon spüren werden, wann Sie emotional zufrieden sind und alles bekommen haben, was Sie brauchen. Sie sind kein bodenloses Fass, das immer neue Forderungen stellt. Sie dürfen Ihren inneren Impulsen ruhig glauben. Sie signalisieren Ihnen auch zuverlässig, wenn etwas Wesentliches fehlt.

Hat man Sie aber darauf gedrillt, Ihre eigenen Gefühle zu missachten, werden Sie sich schuldig fühlen, sobald Sie eine Beschwerde äußern, denn von außen sieht ja alles prima aus. Sie haben einen Ort, an dem Sie wohnen können, bekommen regelmäßig Ihr Gehalt, haben genug zu essen und einen Partner oder Freunde. Wie heißt es dann gern? »So schlimm kann es ja wohl auch nicht sein …«

Viele Menschen können problemlos aufzählen, warum sie zufrieden sein sollten. Sie geben nicht gern zu, dass ihnen etwas Grundlegendes fehlt. Und machen sich Vorwürfe, weil sie nicht die »richtigen« Gefühle haben.

Meaghan

Meaghan hatte mit ihrem Freund zweimal Schluss gemacht, bevor sie dann im ersten Studienjahr schwanger wurde. Obwohl er sie heiraten wollte, fühlte diese Beziehung sich für sie nicht richtig an. Ihre Eltern allerdings fanden den Freund ganz toll. Er kam ja schließlich aus einer wohlhabenden Familie. Also drängten sie Meaghan, ihn zu ehelichen, vor allem, wo doch was Kleines unterwegs war. Und Meaghan gab nach. Ihr Mann wurde ein sehr erfolgreicher Immobilienmakler, was ihn für ihre Eltern noch attraktiver machte. Jahre später, als ihre drei Kinder endlich zum College gingen, wollte Meaghan sich scheiden lassen, aber sie fühlte sich immer nur schuldig deshalb.

Bei unserer ersten Therapiesitzung meinte sie: »Ich weiß einfach nicht, wie ich mich ausdrücken soll.« Weder ihr Mann noch ihre Eltern konnten verstehen, weshalb sie mit ihrer Situation nicht glücklich war. Und sie selbst fand nicht die richtigen Worte, um ihre Gefühle zu verdeutlichen. Bei jedem Versuch einer Erklärung konterten ihre Eltern sofort mit Gegenargumenten. Sie werteten ihre Gründe als »rein emotional« ab, zum Beispiel wenn sie klagte, dass er ihr nicht zuhöre, dass er ihre Gefühle und ihre Bitten nicht akzeptiere oder dass sie mit ihrem Mann kein bisschen Spaß habe. Meaghan versuchte, ihren Eltern zu erklären, dass sie und ihr Mann nicht zusammenpassten, weder auf sozialer noch auf sexueller Ebene. Gemeinsame Interessen fänden sie schon gar nicht.

Meaghans Problem war jedoch nicht, dass sie sich nicht auszudrücken verstand. Vielmehr wollte ihre Familie einfach nicht zuhören. Ihr Mann und ihre Eltern versuchten erst gar nicht, sie zu verstehen. Sie konzentrierten ihre Bemühungen lediglich darauf, Meaghan beizubringen, dass sie nicht richtiglag.

Meaghan fühlte sich schuldig und verwirrt, weil ihre emotionalen Bedürfnisse mittlerweile schwerer wogen als ihr Ehegelübde. Ich sagte ihr, Verpflichtungen seien nicht der richtige Nährstoff für Beziehungen. Sie nähren sich aus der Freude emotionaler Nähe, aus dem Gefühl, dass sich da jemand für einen interessiert und sich die Zeit nimmt, einem zuzuhören und die eigenen Erfahrungen verstehen zu wollen. Wenn dieses Gefühl fehlt, wird die Partnerschaft nicht gedeihen. Beiderseitige emotionale Ansprechbarkeit ist das wesentlichste Ingrediens gelingender menschlicher Gemeinschaften.

Meaghan hielt sich selbst für einen schlechten Charakter, weil sie ihren Mann verlassen wollte. Wenn Menschen eine emotional unbefriedigende Beziehung nicht mehr länger ertragen, wie soll man dann ihren Wunsch zu gehen bezeichnen? Sind sie selbstsüchtig, impulsiv oder hartherzig? Geben sie zu früh auf, oder sind sie vielleicht einfach unmoralisch? Wenn sie all das so lange ertragen haben, warum können sie nicht einfach weitermachen? Warum das Boot ins Wanken bringen?

Nun, das ist vermutlich genau der Punkt: dass sie es so lange hingenommen haben. Vielleicht ist mittlerweile einfach alle verfügbare Energie aufgebraucht. Wie bei Meaghan, die jahrelang versucht hat, ihrem Mann und ihren Eltern das zu geben, was sie erwarteten. Meaghan hatte immer wieder probiert, ihren Eltern ihre Gefühle zu erklären, ihnen zu erzählen, wie unglücklich sie war. Sie versuchte, ihrem Mann dies sogar zu vermitteln, indem sie ihm Briefe schrieb. Aber weder er noch ihre Eltern hörten ihr je wirklich zu. Stattdessen machten sie ihr deutlich, was sie von ihr wollten – der klassische egozentrische Impuls emotional unreifer Menschen.

Glücklicherweise begann Meaghan irgendwann, die eigenen Gefühle ernst zu nehmen und konsequent danach zu handeln. Sie ließ nicht mehr zu, dass ihr Mann und ihre Eltern ihre emotionalen Bedürfnisse mit Argumenten abschmetterten, die für ihre Gefühlslage völlig irrelevant waren. Als sie endlich spürte, was sie tatsächlich von einer Beziehung erwartete, erklärte sie mir scheu: »Ich möchte einfach, dass ich für jemanden der wichtigste Mensch auf der Welt bin. Ich möchte, dass diese Person wirklich mit mir zusammen sein will.« Dann blickte sie mich verwirrt an und fragte: »Ist das zu viel verlangt? Ich weiß es nicht.«

Meaghan war von Kindesbeinen an darauf getrimmt worden, ihren natürlichen Wunsch, sich als besonderer und liebenswerter Mensch zu empfinden, als selbstsüchtig zu betrachten. Während ihrer Ehe verstärkte ihr Mann dieses Gefühl noch, indem er ihr ständig zu verstehen gab, dass sie zu viel wolle und erwarte – bis sie aufhörte zu glauben, dass er sie besser kenne als sie sich selbst.

Mangelndes Selbstvertrauen aufgrund elterlicher Zurückweisung

Wenn Eltern ihre Kinder emotional vernachlässigen oder zurückweisen, erwarten Letztere häufig dasselbe von all den übrigen Menschen. Es fehlt ihnen am nötigen Zutrauen, dass andere sie interessant finden könnten. Statt zu fordern, was sie sich wünschen, macht ihr chronisch niedriges Selbstwertgefühl sie scheu und verlegen, wenn es darum geht, die nötige Aufmerksamkeit zu erhalten. Sie sind überzeugt, sie würden den anderen mit ihren Wünschen nur verprellen. Unglücklicherweise führt die Erwartung, dass die Muster der Vergangenheit sich wiederholen, dann tatsächlich dazu, dass sie ihr Selbst im Keim ersticken und seelisch noch mehr vereinsamen.

In solch einer Situation schaffen sich die Betroffenen selbst ihre Einsamkeitserfahrung, indem sie sich ständig zurücknehmen, statt auf andere zuzugehen. Meine Aufgabe als Therapeutin ist es dann, ihnen zu der Einsicht zu verhelfen, wie sehr ihre Eltern ihr Selbstvertrauen beschädigt haben. Und ich ermutige sie, die Ängste auszuhalten, die damit verbunden sind, wenn wir etwas ganz Neues wagen und uns auf andere Menschen einlassen wollen. Die folgenden Geschichten zeigen jedoch, dass die Betroffenen dazu durchaus in der Lage sind. Meist kommen sie nämlich nicht von selbst auf die Idee, Kontakte zu anderen zu suchen. Sie haben einfach keine Erfahrung mit Menschen, die ihnen tatsächlich zu einem besseren Selbstgefühl verhelfen.

Ben

Ben litt den größten Teil seines Lebens unter Ängsten und depressiven Verstimmungen. Seine Mutter schilderte er als zurückweisende Frau, die ihn stets auf Abstand hielt. Außerdem war sie autoritär und machte ihrem Sohn deutlich, dass er in der familiären Hackordnung an unterster Stelle stand. Bens kindliche Gefühle und Bedürfnisse galten einfach als unwichtig. Er hatte gefälligst zu warten, bis die Erwachsenen bereit waren, ihm ihre Aufmerksamkeit zu widmen.