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Drei Leichen auf einem abgelegenen Hof und ein tödliches Geheimnis ...
Ein mysteriöser Dreifachmord auf einem Bauernhof versetzt die Bewohner eines holsteinischen Dorfes in Angst. Für Pia Korittki, neue Kommissarin bei der Lübecker Mordkommission, soll dieser Fall zur Bewährungsprobe werden. Als während der Ermittlungen ein sechzehnjähriges Mädchen spurlos verschwindet, wird die Zeit knapp. Und Pia erkennt, dass sich hinter der Fassade ländlicher Wohlanständigkeit abgrundtiefer Hass und verbotene Leidenschaften verbergen ...
Der erste Band der erfolgreichen "Pia Korittki"-Krimi-Reihe von Bestsellerautorin Eva Almstädt!
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Seitenzahl: 380
Cover
Über die Autorin
Titel
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
Nachbemerkung der Autorin
Leseprobe – Engelsgrube
Eva Almstädt absolvierte eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Ihr erster Roman KALTER GRUND wurde zum Auftakt der erfolgreichen Serie um die Lübecker Kommissarin Pia Korittki. Die Autorin lebt mit Mann und zwei Kindern in Schleswig-Holstein.
Eva Almstädt
KALTER GRUND
Pia Korittkis erster Fall
Kriminalroman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
© 2004 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Karin Schmidt
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © shutterstock/Daniiel; shutterstock/Dudarev Mikhail; shutterstock/xpixel © Plainpicture/BY
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0028-1
Dieses eBook enthält eine Leseprobe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes »Engelsgrube« von Eva Almstädt.
Für die Originalausgabe:Copyright © 2005 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock: Bildagentur Zoonar GmbH | Daniiel | Dudarev Mikhail
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Über Nacht waren die Temperaturen in Ostholstein unter den Gefrierpunkt gesunken. Als Bettina Rohwer am frühen Morgen vor ihre Haustür trat, empfing sie der kalte Ostwind, der ungehindert über die weite Landschaft und um das einsame Haus herum heulte. Es war noch stockfinster.
Im Schein der Außenlaterne ging sie zu ihrem Auto hinüber und begann, die Frontscheibe Stück für Stück von der festsitzenden Eisschicht zu befreien. Der Wind zerrte an ihren krausen Haaren und dem offenen Parka, den sie sich gleichgültig übergeworfen hatte. Sie fühlte, wie die Kälte tief in ihren Körper drang, aber sie wehrte sich nicht dagegen.
Die Kratzerei war mühsamer, als sie gedacht hatte, und durch die Kälte fühlten sich ihre Finger in Sekundenschnelle taub und kraftlos an. Sie würden zu spät zum Schulbus kommen. Bettina Rohwer fuhr ihre beiden Kinder in diesem Winter wieder regelmäßig zur nächstgelegenen Bushaltestelle im Dorf. Während sie noch verbissen kratzte, hörte sie plötzlich ein rumpelndes Geräusch, das immer lauter wurde. Zunächst vermutete sie, dass der Milchlaster gleich an ihr vorbeidonnern würde. Der Feldweg, an dem sie wohnte, führte nur noch zu dem Hof ›Grund‹ der Familie Bennecke. Die hielten dort, soweit Bettina informiert war, so an die 80 Milchkühe. Trotz der Dunkelheit bemerkte sie recht schnell, dass sie sich geirrt hatte. Der Lastwagen hinterließ einen ekelhaft süßlichen Gestank nach Tod und Verwesung. Es musste der Wagen des Abdeckers sein.
Er war in diesem Winter schon so oft bei ihnen vorbeigefahren, dass Bettina sich allmählich fragte, wie es in den Ställen der Benneckes wohl zugehen mochte. Ihre düsteren Vorstellungen lenkten sie eine Weile von ihrer monotonen Tätigkeit ab. Als sie fast fertig war, hörte sie das Rumpeln in der Ferne erneut. Verwundert hielt sie inne … Wieso kam der Abdecker schon so schnell wieder zurück? Zu ihrem Erstaunen vernahm sie nun jedoch das Quietschen von Bremsen. Der Lastwagen kam vor ihrem Haus zum Stehen. Die Scheinwerfer des Wagens wurden abgeblendet und eine korpulente Gestalt hievte sich aus der Fahrerkabine. Der Mann stöhnte leise. Er sah zu dem erleuchteten Rechteck des Küchenfensters hinüber, hinter dem jetzt wahrscheinlich ihre beiden Kinder neugierig in die Dunkelheit starrten. Dann erst entdeckte er sie.
Der Gestank, der sich wellenartig vom Laster her ausbreitete, machte Bettina wütend. Ebenso die auf sie zutorkelnde Gestalt, die um diese Uhrzeit schon betrunken zu sein schien. Instinktiv wich Bettina einen Schritt zurück und stieß dabei mit dem Rücken gegen den Seitenspiegel ihres Autos.
»Hallo! Ich brauche Hilfe! Ist hier jemand?«
»Was ist denn? Warum halten Sie hier?«
Seiner Stimme nach zu urteilen, war der Mann doch nicht betrunken. Er schien vor irgendetwas Angst zu haben.
»Die Benneckes …«, stieß er hervor, »ich war eben auf ihrem Hof, weil Rainer Bennecke mich gestern Abend noch zu sich bestellt hatte …« Er atmete geräuschvoll, fast hörte es sich so an, als heulte er.
»Ja und? Was ist mit Ihnen?«, fragte Bettina gereizt. Sie fühlte einen Widerwillen diesem Mann gegenüber, den sie selbst nicht ganz verstand.
Der ungebetene Besucher schien sich kaum auf den Beinen halten zu können. Er stützte sich an einer Mülltonne ab und stammelte: »Sie sind alle tot! Alle drei Benneckes. Sie liegen auf dem Hofplatz herum und ich … ich wäre beinahe über sie gefahren!«
»Sind Sie ganz sicher? Da kann doch Gott weiß was herumliegen. Haben Sie genau nachgesehen?« Eine verendete Kuh kam Bettina Rohwer in den Sinn.
»Ich habe nachgesehen. Wenn ich sage, sie sind tot, dann sind sie es auch! Was glauben Sie denn? Ich … ich habe ihren Arm überrollt!«
»Was für einen Arm?«
»Na, den von Frau Bennecke. Ich glaube, sie sind alle erschossen worden!«
Dem Abdecker schienen die Knie weich zu werden. Bettina sah sich genötigt, seinen Ellenbogen zu nehmen und ihn zu der verwitterten Holzbank zu führen, die an der Hauswand stand.
»Ich werde die Polizei anrufen«, sagte sie. Angesichts der Fassungslosigkeit des Mannes fühlte sie sich ruhig und überlegen. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Tramm. Ich heiße Holger Tramm. Beeilen Sie sich …«
Sie ging ins Haus zum Telefon und wählte 110.
Nachdem sie die Polizei informiert hatte, war es endgültig zu spät, um die Kinder noch rechtzeitig zum Schulbus zu bringen. Der nächste Bus fuhr erst um kurz nach acht Uhr. Bettina Rohwer schickte ihre beiden Kinder, Sina und Torge, mit einer kurzen Erklärung hoch in ihre Zimmer. Sie würde ihnen eine Entschuldigung für die erste Stunde schreiben müssen. Ob ein Mord in direkter Nachbarschaft als Begründung herhalten konnte? Die Vorstellung erheiterte sie. Ein ungewohntes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Im nächsten Moment stutzte sie. Was war denn los mit ihr? Entwickelte sie sich zu einem Monstrum? Seit Wochen hatte sie nichts mehr komisch gefunden, und nun das? Es musste an diesen Tabletten liegen, die sie in einem fort nahm. Stimmungsaufheller, Beruhigungsmittel oder Schlaftabletten, je nachdem. Bettina Rohwer war überzeugt davon, dass ihr das ganze Zeug sowieso nicht half. Darauf verzichten wollte sie in ihrer derzeitigen Situation aber auch nicht.
Sie ging noch einmal nach draußen, um dem Abdecker von ihrem Anruf bei der Polizei zu berichten. Dann kehrte sie in ihre Küche zurück, froh darüber, dass der große Mann wie erstarrt auf der Bank draußen sitzen geblieben war. Sie wollte ihm beim Warten auf die Polizei nicht Gesellschaft leisten, weder draußen in der Kälte noch in der Geborgenheit ihrer Küche.
Sie ließ heißes Wasser ins Spülbecken rauschen und sammelte die Holzbretter und Becher vom Frühstückstisch zusammen. Die einfache Arbeit beschäftigte nur ihre Hände, ihre Gedanken wanderten weiter. An der Spüle stehend, fiel ihr Blick durch das Fenster hinaus in den Garten. Die Büsche und Bäume nahmen im ersten Tageslicht langsam Konturen an. Weit hinter ihrem Garten und dem angrenzenden Acker schimmerte durch einen Baumgürtel der Grevendorfer See. Das Wasser erschien bleigrau und kalt – eiskalt. Unweit des Sees lag der Hof ›Grund‹, dessen Bewohner alle tot waren. Und kalt. Ob so der Tod war? Kalt und schwarz, wie die Tiefen des Grevendorfer Sees? Oder wie das dunkle Grab, in das sie den kleinen, weißen Sarg ihrer Tochter Elise versenkt hatten?
Pia Korittki stand am Fenster ihres Büros und trommelte nervös mit den Fingerspitzen gegen die kalte Scheibe. Sie befand sich im 7. Stockwerk des Polizeihochhauses. Zu ihren Füßen lagen der Trave-Kanal und weiter dahinter die Altstadt Lübecks, halb verborgen von einem Schleier dichter, nasser Schneeflocken, die unablässig gegen das Glas klatschten.
Sie waren sicher schon alle in Kürschners Büro, ihre neuen Kollegen von der Mordkommission. Ein weiterer Aufschub der bevorstehenden Zusammenkunft würde ihr nichts als zusätzliche Unannehmlichkeiten bringen. Ihre Lage war sowieso schon deprimierend genug. Pia riss sich von dem hypnotisierenden Anblick der wirbelnden Schneeflocken los und machte sich auf den Weg zu dem Büro am anderen Ende des Flures. Ihr Kollege, Kriminalhauptkommissar Wilfried Kürschner, hatte zu einer kleinen Feier anlässlich seines 55. Geburtstages geladen. Er hatte den Sektumtrunk in Anschluss an die Frühbesprechung gelegt, weil dann die meisten von ihnen noch im Hause waren.
Kriminalkommissarin Korittki betrat Kürschners Büro mit gleichmütiger Miene. Nur ein paar der anwesenden Männer registrierten ihr Eintreten überhaupt. Kürschner teilte sich den Raum mit seinem Kollegen Heinz Broders. Das Büro mit der breiten Fensterfront wirkte viel dunkler als sonst, weil die Menschenansammlung das hereindringende Tageslicht abschirmte. Es roch nach Kaffee, Zigarettenrauch und süßen Gebäckstücken.
Pia Korittki gehörte seit nunmehr elf Wochen zur Mordkommission der Bezirkskriminalinspektion Lübeck. Anfangs war sie zuversichtlich gewesen, früher oder später in der neuen Abteilung akzeptiert zu werden. Die Wochen waren jedoch vergangen, ohne dass sich an ihrem Status des »Geduldetwerdens« etwas gebessert hätte. Inzwischen dachte Pia mit einem Anflug von Galgenhumor, dass es leichter wäre, Aufnahme in der Fußballnationalelf zu finden, als in diesem Kommissariat akzeptiert zu werden. Erschwerend kam hinzu, dass die neuen Kollegen sich auch untereinander nicht sonderlich gut verstanden. Sie schienen in zwei Lager gespalten zu sein. Egal was Pia sagte oder tat, sie brachte immer mindestens eine der Fraktionen gegen sich auf.
Es kursierten zudem Gerüchte, Pia Korittki habe einem äußerst beliebten Kollegen, der sich ebenfalls beworben hatte, diesen Job vor der Nase weggeschnappt. Ihre bisherigen Leistungen im Polizeidienst waren überdurchschnittlich gut. Trotzdem unterstellte man ihr, sie hätte ihr Ziel nur über Beziehungen erreicht. Unglücklicherweise war bekannt geworden, dass ihr langjähriger Freund Robert Voss einen einflussreichen Posten bei der Hamburger Kripo innehatte. Niemand interessierte sich dafür, dass Robert sich sogar deutlich gegen ihre Pläne ausgesprochen hatte.
»Den Geruch kriegst du tagelang nicht wieder runter …«, hatte er lakonisch bemerkt, als Pia ihm von ihrer geplanten Versetzung zur Mordkommission erzählt hatte.
Kriminalhauptkommissar Wilfried Kürschner nahm die Glückwünsche hinter seinem Schreibtisch stehend entgegen. Pia gratulierte ihm mit einem kräftigen Händedruck, tauschte ein paar höfliche Floskeln aus und hielt dann nach einem freien Platz in dem überfüllten Büro Ausschau. Da alle Sitzgelegenheiten bis hin zu der breiten Fensterbank besetzt waren, stellte sie sich zu Mona vom Kriminaldauerdienst. Sie musste eine Freundin von Wilfried sein, denn eigentlich gehörte sie nicht zu diesem Kreis dazu.
Mona lächelte sie unsicher an, den Rücken an einen Aktenschrank gelehnt. Wilfrieds Zimmerkollege Heinz Broders hatte es derweil übernommen, den Sekt zu verteilen. Es war nicht seine erste Runde heute. Die meisten der Anwesenden hielten volle oder halb volle Sektgläser in der Hand.
Pia wunderte sich etwas, denn in ihrer alten Abteilung hatte man sich streng an die Dienstvorschriften gehalten und während der Arbeitszeit überhaupt keinen Alkohol getrunken.
»Keine Sorge, der soll alkoholfrei sein«, flüsterte ihre Nachbarin ihr zu, so als hätte sie Pias Gedanken erraten.
Heinz Broders setzte sich in Szene, indem er mit seinem dicken Hintern in grauer Polyesterhose wackelte und jeden, dem er gerade einschenkte, mit einem dummen Spruch bedachte. Wenn die Männer überhaupt auf seine Sprüche reagierten, dann nur mit einer sehr gemäßigten Erwiderung. Broders beißender Charme war schließlich bekannt.
Pias leerer Magen rumorte und ihre Hand, die das Sektglas hielt, zitterte. Sie hatte Heinz Broders schon bei mehreren Gelegenheiten beobachtet. Ihrer Ansicht nach war er ein unzufriedener, streitsüchtiger Polizist, der verbal über Leichen ging. Er hatte keinerlei Hemmungen, auch noch die gemeinste Boshaftigkeit auszusprechen, wenn sie nur ein Körnchen Wahrheit enthielt. In dem Lager, das Pia heimlich »Die alten Vasallen« getauft hatte, war er einer der Fundamentalisten. Als er endlich auf Pia zukam, verzog sich sein bärtiges Gesicht zu einem Grinsen:
»Na, Engelchen. Deine Hand zittert ja. Hast wohl Schiss vorm bösen Onkel Heinz!« Ein paar der Umstehenden lachten.
»Ich hab nur Angst, dass du mich mit Sekt bekleckerst, bei dem Tanz, den du hier aufführst!« Sie hielt ihm ihr Glas hin. Viele Kollegen sahen nun mäßig interessiert zu ihnen hinüber. Es war Pia klar, dass Broders das nicht auf sich sitzen lassen würde. Er schenkte ihr ein, aber es kamen nur noch ein paar Tropfen aus der Flasche.
»Oh, tut mir wirklich Leid, Engel. Aber das Zeug ist wahrscheinlich sowieso nicht nach deinem Geschmack …«
Das falsche Lächeln erinnerte Pia an einen Zähne bleckenden Gorilla, es unterstrich seine aggressiven Gefühle mehr, als dass es sie verdeckte. Er beobachtete sie lauernd. Während die anderen Kollegen bisher nur misstrauisch bis ablehnend auf sie reagierten, schien Broders sie aus vollem Herzen zu hassen.
»Ich heiße nicht Engel«, antwortet sie ihm leise, denn alle anderen Gespräche waren inzwischen verstummt.
Durch die plötzliche Stille wurde auch Wilfried Kürschner aufmerksam. »He, lasst das Mädel hier nicht verdursten!«, rief er Heinz über seinen Schreibtisch hinweg zu. »Draußen im Kühlschrank steht noch mehr.«
Doch weder Broders selbst noch einer der anderen machte Anstalten, den fehlenden Sekt zu holen.
Sekundenlang hatte Pia Korittki das Gefühl, ziemlich dumm dazustehen.
»Auf dein Wohl, Wilfried!« Sie kippte die Pfütze in ihrem Glas hinunter. Dabei fühlte sie, dass das T-Shirt, das sie unter ihrem Rolli trug, ihr feucht in den Achselhöhlen klemmte. Sie hatte das dringende Bedürfnis, sich zu bewegen, möglichst weit weg von hier.
Sie schlenderte ans andere Ende des Raumes, wo sich die Kaffeemaschine befand, und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Das anhebende Stimmengewirr zeigte ihr, dass sie nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Als sie jedoch an Broders vorbeiging, der die Mitte des Raumes für sich beanspruchte, zischte dieser ihr leise zu:
»Hau bloß wieder ab, Schätzchen! Du wirst es hier nie schaffen.«
Zurück in ihrem eigenen Büro, das am hintersten Ende des Korridors lag, hatte sie ihrer Wut und Frustration erst einmal Luft gemacht. Mit einem gezielten Tritt hatte sie den abgesessenen Bürostuhl gegen den Heizkörper geknallt. Als das nicht half, hatte sie versucht, sich mit ein paar tiefen Atemzügen zu beruhigen.
Danach nahm sich Pia eine Arbeit vor, die etwas Konzentration erforderte, wenn schon nicht intellektuelle Fähigkeiten. Sie hoffte, dass sie dadurch wenigstens vom Grübeln über ihre miserable Lage hier abgehalten werden würde.
Dass ihre Arbeit nicht sehr anspruchsvoll war, lag daran, dass man ihr noch nichts zutraute, was die Intelligenz einer Barbiepuppe überforderte.
Pia Korittki war dem Team um Conrad Wohlert zugeteilt. Sie untersuchten den Tod eines Geschäftsmannes, den man ertrunken aus der Wakenitz gezogen hatte. Die Sache schleppte sich schon seit Monaten dahin und Kriminalrat Gabler, der langsam ungeduldig wurde, hatte Pia als zusätzliche Unterstützung eingeteilt. Sie bekam allerdings nur die langweiligste Arbeit aufgetragen, all das, wozu die anderen keine Lust hatten.
Pia brannte darauf, ihre Fähigkeiten und ihre Einsatzbereitschaft endlich unter Beweis stellen zu können. Sie war schon mehrmals bei ihrem Vorgesetzten Horst-Egon Gabler gewesen und hatte ihn gedrängt, ihr endlich eine verantwortungsvolle Aufgabe zu übertragen. Bisher erfolglos. Sie saß an ihrem Rechner und arbeitete Aufträge ab, die auch eine versierte Schreibkraft hätte erledigen können – wenn eine zur Verfügung gestanden hätte.
»Aber dafür haben sie ja nun mich …«, murrte sie und hämmerte wütend auf die Tastatur ihres Computers ein, »aber warte, Horst-Egon, ich werde es euch schon zeigen …«
In diesem Moment öffnete sich die Tür und einer ihrer Kollegen betrat den Raum. Pia, deren Büro bisher nicht gerade der kommunikative Mittelpunkt des Kommissariats gewesen war, sah überrascht auf.
»Ich hoffe, ich störe nicht zu sehr; es hört sich von draußen an, als würdest du für die Tippsen-Olympiade üben.«
Die spöttische Stimme gehörte Marten Unruh. Kriminalhauptkommissar, soweit Pia wusste, und recht angesehen in der Abteilung. Meistens bildete er mit KOK Michael Gerlach ein Team. Marten Unruh hatte sich bei den Dienstbesprechungen bisher zurückgehalten. Pias Einschätzung nach gehörte er zu dem zweiten Lager hier, das sie für sich die »heimlichen Rebellen« getauft hatte. Die Bezeichnungen der beiden verfeindeten Lager bezogen sich auf das Verhalten dem viel gehassten Chef der Abteilung gegenüber.
Marten Unruh war schmal und sehnig gebaut wie ein Marathonläufer. Seine Kleidung war lässig bis nachlässig, das braune Haar einen Tick zu lang und seine Augen hatten eine hellgraublaue Farbe. Gegen seinen Kollegen Michael Gerlach, der stets ein bisschen wie ein Hugo-Boss-Model aussah, wirkte er unscheinbar. Pia hatte ihn bei den Besprechungen jedoch genau beobachtet, in dem Zweier-Team gab er den Ton an. Seine Blicke waren schneidend und sein Ton leise, aber scharf. Den anderen schien sein Sarkasmus Respekt einzuflößen.
Er lehnte mit seinen verwaschenen, ausgefransten Jeans an ihrem ebenso abgeschabten Schreibtisch und sah nachdenklich auf sie herunter. Ein Privileg, das ihm bei seinen 178 Zentimetern Körperlänge sonst nicht vergönnt war.
»Der ganze Kram hier ist eigentlich Arbeit für ein Schreibbüro …«, bemerkte Pia und rollte mit ihrem Bürostuhl ein Stück vom Tisch ab, um Marten Unruh besser ansehen zu können.
»Tja, bislang nur unwichtiges Zeug«, antwortete er, ihre Akten auf dem Schreibtisch mit wenigen Blicken erfassend, »aber so haben wir wohl alle mal angefangen.«
»Ich bin aber keine Anfängerin!«, entgegnete Pia schärfer als beabsichtigt.
Marten ging nicht weiter darauf ein. Er lächelte wissend: »Vielleicht ist heute dein Glückstag, du sollst zu unserem Chef kommen, und zwar«, er sah auf seine Armbanduhr, »jetzt!«
Pia fühlte ein leichtes Flattern in der Magengegend. »Hast du eine Ahnung, worum es geht?«
»Nein, ich wollte dich gerade unauffällig aushorchen, ich habe nämlich den gleichen Termin. Hotte Gabler sprach ausdrücklich von Unruh und Korittki.«
Pia musste fast widerwillig lächeln, denn der Spitzname »Hotte« stand in scharfem Kontrast zu dem ernsten, von sich eingenommenen Kriminalrat Horst-Egon Gabler.
»Ist nicht von mir. Trotzdem schön zu wissen, dass du es doch hast«.
»Was denn?«
»Humor«
Pia blieb keine Zeit mehr, darauf zu antworten oder darüber nachzusinnen, warum man hier der Ansicht war, sie hätte keinen Humor. Kurze Zeit später befand sie sich zusammen mit Unruh im Büro des Chefs.
Kriminalrat Gabler griff sich einen Zettel von seiner Schreibtischunterlage und wandte sich an Marten Unruh: »Sie müssen die Ermittlungen im Fall »Wilkenburg« abgeben, Gerlach kann das allein weiter verfolgen. Ich brauche Sie sofort für einen neuen Fall. Ein dreifacher Mord in Grevendorf, kam eben erst rein. Das ist wirklich das Letzte, was wir noch gebrauchen können …«
Dann blickte er zu Pia, als sähe er sie zum ersten Mal und müsse sich erst erinnern, was sie hier wolle.
»Wissen Sie, wo Grevendorf ist, Frau Korittki?«, blaffte er sie unfreundlich an.
»Wenn ich eine entsprechende Landkarte habe, schon«, antwortete Pia gelassen.
»Na bitte, das ist Ihre neue Mitarbeiterin, Unruh. Ich habe zurzeit zu viele Mordfälle oder zu wenig Leute, ganz wie man es nimmt. Die junge Kollegin muss sich also ab heute freischwimmen. Weitere Unterstützung bekommen Sie von den Kollegen vor Ort. Ich habe denen klar gemacht, dass wir momentan völlig unterbesetzt sind. Setzen Sie sich dort mit Kriminalkommissar Weber in Verbindung. Der ist zuständig für den abschließenden Bericht über den Sicherungsangriff. Alles Weitere werden wir dann sehen.«
Pia wollte schon aufstehen. Die Personalknappheit schien sich endlich zu ihren Gunsten auszuwirken und für Gabler war die Angelegenheit hiermit offensichtlich geregelt. Da beugte sich Unruh vor und sagte, ohne sie dabei anzusehen, zu Gabler:
»Ich halte das für keine gute Idee. Wenn das wirklich eine größere Sache ist, wird sich die Presse darauf stürzen. Wir stehen dann ziemlich unter Beobachtung. Ich brauche Mitarbeiter, die eingearbeitet sind, keine Anfängerin.«
Pia spürte, wie ihre Ohren vor Ärger ganz heiß wurden. Eine Anmaßung, sie als Anfängerin zu bezeichnen, nur weil sie noch nicht lange bei der Mordkommission war. Als ob in anderen Abteilungen nicht ebenso ernsthaft gearbeitet würde.
Gabler klickerte angespannt mit seinem Kugelschreiber und sah ebenfalls an Pia vorbei. »Ich verstehe Sie ja, Unruh. Mir ist es auch nicht recht, aber zurzeit habe ich niemanden außer ihr, also …«
»Holen Sie Friedrichs aus dem Urlaub zurück. Der sitzt eh nur in seiner Bude und langweilt sich. Er hat vor seinem Urlaub zu mir gesagt, wir sollten ihn anrufen, wenn was los ist«, sagte Marten eindringlich.
Pia spürte, wie wichtig es ihm war, seinen Willen durchzusetzen. Zuerst reagierte sie nur überrascht und wütend auf seine Bemerkung. Doch dann fühlte sie sich zunehmend unbehaglich. Vielleicht war es wirklich nicht günstig, gleich voll verantwortlich in so wichtige Ermittlungen einzusteigen, flüsterte eine aufdringliche Stimme in ihrem Kopf. Es wäre immerhin ihr erster Mord, kein Vermisstenfall oder gefährliche Körperverletzung. Es würde von ihrer Arbeit mit abhängen, ob ein Mörder gefasst würde oder nicht.
Gabler schien einen Moment zu überlegen. Das fortwährende Klickern war das einzige Geräusch im Büro.
»Nein, Friedrichs braucht auch mal Urlaub. Der Mann ist seit anderthalb Jahren ununterbrochen im Einsatz. Dass ihm zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, ist sein Problem. Ich möchte keinen Ärger bekommen, wenn er uns eines Tages einfach zusammenklappt«.
»Unsinn«, widersprach Marten, »rufen Sie ihn an, der freut sich und wir sind aus dem Schneider«.
Pia sah, dass Kriminalrat Gabler unschlüssig war. Sie wusste intuitiv, dass die richtige Bemerkung von ihr zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung bringen würde. Doch angesichts der offenen Ablehnung von Marten Unruh fühlte sie sich wie gelähmt. Ihre Wangen brannten und der Schweiß brach ihr zum zweiten Mal an diesem Morgen aus den Poren. Sollte sie sich besser noch etwas zurückhalten, bis sie mit Ermittlungen betraut wurde, bei denen sie nicht ausgerechnet mit Marten Unruh zusammenarbeiten musste? Ein falscher Einstieg konnte alles verderben. Die Auswahl an vorurteilsfreien, offenen Kollegen war in dieser Abteilung allerdings begrenzt.
Gabler räusperte sich. Pia musste entscheiden, wie sie sich verhalten sollte. Sie hob das Kinn und sagte mit fester Stimme: »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich hier den Job mache, für den ich eingestellt wurde. Auch wenn Kriminalhauptkommissar Unruh das nicht passt, weil er lieber mit einem seiner Kumpels zusammenarbeiten möchte.«
Marten Unruh blickte sie völlig überrascht an. Dann kniff er die Augen zusammen und sie sah die Wut in seinen Augen. Er wusste so gut wie sie, dass Gabler sich nur zu gern von ihr umstimmen lassen wollte.
»Es geht hier wohl kaum um persönliche Wünsche oder Abneigungen«, sagte Gabler giftig, aber Pia fühlte, dass sie einen Punkt gemacht hatte.
Unglücklicherweise unterbrach ein Telefonanruf die Debatte und Gabler meldete sich barsch. Unruh nutzte die Zeit, indem er versuchte, Pia umzustimmen.
»Das wird verdammt ungemütlich da draußen zugehen. Das Dorf liegt zu weit weg von Lübeck, um dauernd hin- und herzufahren. Wir brauchen dort eine mobile Einsatzzentrale. Das bedeutet Arbeit rund um die Uhr. Ich hab wirklich nichts gegen dich persönlich, aber für einen ersten Mordfall ist das ein bisschen heavy. Halt dein Pulver trocken und warte auf eine bessere Gelegenheit, dich zu beweisen.«
»Ich hab mich nicht für diesen Posten hier beworben, um nun für euch die Tippse zu spielen ….«
Gabler hatte den Anrufer kurz abgefertigt und beendete sein Telefonat gerade, sodass Unruh ihr nur noch zuflüstern konnte: »Das wird eine Nummer zu groß für dich, Korittki!«
Die Verachtung in seiner Stimme ähnelte der von Heinz Broders, eine halbe Stunde zuvor.
Als sie wieder draußen auf dem Flur standen, hatte Pia vorerst ihren Willen durchgesetzt. Wenigstens schien sich Marten Unruh schnell ins Unabänderliche zu fügen. Auf dem Weg zum Parkdeck besprach er die weitere Vorgehensweise mit ihr.
»Wir nehmen zusammen einen Dienstwagen«, bestimmte er und klimperte mit dem Schlüssel in der Hand. »Morgen werden wir sehen, ob wir noch ein zweites Auto brauchen.«
Grevendorf in Ostholstein präsentierte sich an diesem Januarvormittag öde und verlassen. Von den etwa tausend Einwohnern des Ortes war kein einziger zu sehen. Nur ein paar schwarze Saatkrähen hockten in den Wipfeln der kahlen Bäume; sie schienen das stille Dorf zu beobachten.
Kurz vor dem Ortsausgang störte das zuckende Blaulicht eines Streifenwagens die dörfliche Stille. Die Polizisten hatten sich an der Durchfahrt zum Grevendorfer Redder postiert, dem Feldweg, der zum Gehöft der Benneckes führte. Wenn man so Schaulustige vom Tatort fern halten wollte, war dies ein überflüssiges Unterfangen. Grevendorfs Einwohner zeigten sich desinteressiert.
Marten Unruh und Pia Korittki wurden, nachdem sie sich ausgewiesen hatten, von den Uniformierten sofort durchgelassen. Sie fuhren noch etwa einen Kilometer einen asphaltierten Weg entlang, bevor sie den in einer kleinen Senke gelegenen Hof ›Grund‹ erreichten, den Fundort der drei Toten.
Der Hofplatz bot ein chaotisches Bild. Zwei Streifenwagen mit Blaulicht, drei Zivilfahrzeuge, ebenso viele Leichenwagen und ein Traktor standen dicht gedrängt auf der unebenen Fläche. Der verbliebene Platz war mit flatterndem Absperrband abgegrenzt.
Pias Blick aus dem Beifahrerfenster wurde von den drei Leichen auf dem Boden wie magnetisiert angezogen. Die anwesenden Polizisten standen unschlüssig herum, nur einer von ihnen reagierte, als sich der dunkelblaue Passat seinen Weg durch die Menge bahnte. Ein korpulenter Mittvierziger mit Halbglatze winkte hektisch und dirigierte sie zu einem Parkplatz unterhalb einer alten Kastanie.
»He, Sie da! Gehen Sie gefälligst anders herum. Und fahren Sie auch Ihren Leichenwagen ein Stück nach rechts, die Herren von der Mordkommission treffen jetzt ein!«, hörte Pia ihn durch die Wagenscheibe brüllen.
Der so Angesprochene, ein junger Mann mit einem dünnen Zopf, beachtete ihn gar nicht. Er schlenderte zu seinem Kollegen hinüber, der gerade eine Thermoskanne Kaffee hervorgeholt hatte. Die Männer lehnten sich stehend an die Seite des grauen Leichenwagens. Jeder von ihnen hatte kurz darauf einen Becher Kaffee in der Hand.
»Sieh mal, die Herren von der Mordkommission«, sagte der mit dem Zopf grinsend und deutete auf Pia Korittki, die gerade ausgestiegen war und ihre Daunenjacke überzog. »Das wird dem alten Kommissar Weber aber gar nicht gefallen …«
»Was meinst du, eine Frau als Kommissarin?«, fragte der andere.
»Genau, sie wird ihn ganz schön aus dem Konzept bringen.«
Pia verdrehte entnervt die Augen über die Bemerkungen, die sie unfreiwillig mitanhörte. Dann wandte sie sich den noch unbekannten Kollegen zu, die schon länger am Tatort waren. Die Gesprächsfetzen der jungen Männer drangen jedoch immer noch an ihr Ohr.
»Ihr blondes Haar sieht irgendwie frivol aus, an einem tristen Ort wie diesem …«
»Mein Geschmack ist sie jedenfalls nicht. Völlig unweiblich. An so einer holt man sich doch Gefrierbrand, wenn man sie anfasst«.
»Besser als die Tussi, die du neulich abgeschleppt hast …«
»War halt ein Fehlgriff …«
Das Gespräch zwischen den beiden verebbte. Nach ein paar Minuten des Schweigens sah Pia, wie sie in seltsamer Eintracht ihre Kaffeereste ins Gebüsch kippten und sich in den Leichenwagen setzten.
Pias Gedanken verweilten noch kurz bei dem Wort »Gefrierbrand«, das zu ihr hinübergeweht war. Dann schüttelte sie die unangenehmen Assoziationen ab und versuchte, sich ein Bild vom Tatort zu machen.
Die drei Leichen befanden sich mitten auf dem Hofplatz, in direkter Linie zwischen der Haustür des Wohnhauses und zwei abgestellten Autos, einem älteren Mercedes und einem roten Polo.
Das Wohnhaus war ein unproportioniert wirkender Backsteinbau, zweckmäßig und nüchtern. Links im Hintergrund lagen ein älteres, halb verfallenes Stallgebäude und ein neues, das mit Wellblech verkleidet war. Ein dunkelgrauer Schuppen und eine offene Remise befanden sich gegenüber vom Wohnhaus. Alles wirkte uneinheitlich und irgendwie vernachlässigt auf Pia.
Der kalte Ostwind, der ungehindert über den Platz wehte, ließ alle Beteiligten frösteln und die Schultern höher ziehen. Schließlich meinte Marten Unruh, sie sollten anfangen. In ein paar Stunden, wenn es wärmer würde, wäre der ganze Hof im Schlamm versunken. Noch war der Boden gefroren, aber tiefe Furchen von Treckerreifen zeigten, dass es schnell nass und morastig werden konnte.
Der Gerichtsmediziner machte den Anfang. Er tat einen großen Schritt über das Absperrband und ging auf die erste der drei Leichen zu. Die anderen folgten ihm. Sie hatten sich Plastiküberschuhe angezogen und folgten einem vorher festgelegten Pfad, um das Risiko, Spuren zu vernichten, zu minimieren.
Pias Herz klopfte heftig. Als sie um den ersten Leichnam herumgegangen waren, blickten sie in das Gesicht eines etwa 20jährigen Mannes. Der Tote hatte schmale, ebenmäßige Gesichtszüge, umrahmt von feinem, schwarzem Haar. Die Augen des jungen Mannes waren offen, von erstaunlich klarem Blau, und starrten über den Kies des Hofplatzes hinweg in Richtung Kastanie. Er lag auf der Seite, zwei schwarz geränderte Einschusslöcher im Brustbereich zeigten, was ihn zu Fall gebracht hatte.
Pia hatte im Laufe ihres Berufslebens schon viele Tote gesehen, meistens waren es Opfer von Selbsttötungen oder Unfällen gewesen. Es hatte ihr nie größere Probleme bereitet. Deshalb war sie überrascht von der Heftigkeit ihrer Reaktion. Der Anblick löste Wut und Entsetzen bei ihr aus: Zwei Schüsse, abgefeuert aus dem Hinterhalt, und ein noch junges Leben war unwiderruflich vorbei. Irrationalerweise fand sie es am schlimmsten, dass der Mörder sein Opfer einfach in der Kälte hier draußen hatte liegen lassen. Nicht, dass die Kälte ihm noch etwas anhaben konnte. Es war die Geste: Er hatte ihm nicht nur sein Leben genommen, sondern seinen toten Körper einfach den Launen der Natur und den neugierigen Blicken seiner Mitmenschen ausgeliefert. Sie registrierte überrascht, dass sie Hass und den Wunsch nach Vergeltung spürte.
Verstohlen forschte sie in den Gesichtern von Unruh und Weber nach ähnlichen Regungen. Unruh sah unbewegt aus, Weber eher aufgeregt als unangenehm berührt.
Pia wandte sich den zwei weiteren Opfern zu, dieses Mal besser vorbereitet und distanzierter als beim ersten Mal. Die Leiche einer Frau lag auf dem Rücken, ihre Augen waren verdreht. Die Schüsse hatten sie in Brust und Hals getroffen. Außerdem lag der linke Arm unnatürlich verdreht neben ihrem Körper. Sie hatte dunkelbraunes, steif gelocktes Haar und braune Augen. Ihre Gesichtszüge wirkten hart und starr. Die Blässe des Todes schimmerte unnatürlich durch eine dicke Schicht bräunlichen Make-ups. Sie trug einen Trenchcoat über einer dunkelblauen Stoffhose und einer gelben Bluse. Ihre Füße steckten in für die Jahreszeit zu dünnen grauen Slippern.
Der zweite Mann lag auf dem Bauch. Er trug nichts als ein ausgeleiertes T-Shirt und eine nicht mehr ganz saubere Jogginghose. Sein Haar war schütter und grau, seine Figur stämmig, um die Leibesmitte etwas aufgeschwemmt.
Der Gerichtsmediziner runzelte die Stirn und richtete sich auf. Er war ein ernster, kleiner Mann mit spitzer Nase und einer schwarzen Baskenmütze auf dem Kopf. Zunächst einmal zündete er sich bedächtig ein Zigarillo an, dann kratzte er sich am Kopf. Nachdem er ein paar Züge geraucht hatte, begann er zu sprechen:
»Sie sind alle erschossen worden, wie es aussieht mit einem großkalibrigen Gewehr. Der Schütze hat aus einiger Entfernung geschossen, wahrscheinlich von dort …« Er deutete auf das kleine Wäldchen neben dem Wohnhaus. Es folgte ein kurzes Palaver über den Todeszeitpunkt und ob alle drei sofort tot gewesen seien. Der Gerichtsmediziner ließ sich auf nichts festnageln und Unruh gab nach ein paar ungeduldigen Versuchen mit einem Schulterzucken auf.
»Warten Sie es einfach ab!«, war die abschließende Bemerkung des Arztes. Er drückte seinen halb aufgerauchten Zigarillo an dem Metallstab aus, mit dem das Absperrband platziert worden war. Dann legte er die Kippe sorgsam zurück in die Schachtel und verstaute diese in seiner Jackentasche. »Sonst noch Fragen?« Er blickte gespielt geduldig in die Runde.
»Sehen Sie zu, dass Sie die drei auf den Tisch bekommen, damit wir etwas haben, mit dem wir arbeiten können«, sagte Marten Unruh und starrte dem Rechtsmediziner dabei ungerührt ins Gesicht. Der hielt seinem Blick einen Augenblick stand, richtete seine Antwort dann jedoch an Pia:
»Alles Weitere liegt nicht mehr an mir. Die Obduktion wird ein Kollege durchführen.«
»Wie schade …«, kam es trocken von Unruh.
Der Gerichtsmediziner hielt es nicht für nötig, darauf etwas zu entgegnen. Er drehte sich auf dem Absatz um und marschierte zurück zu seinem Auto. Im Gehen hob er noch einmal seine Hand zum Gruß, sah sich jedoch nicht noch einmal um.
»Wer hat denn den gebissen?« Kriminalkommissar Weber schien konsterniert, weil er nicht richtig verabschiedet worden war. Sein Blick blieb an Marten Unruh hängen.
»Ich habe ihm nur gesagt, er solle sich beeilen. Je eher wir diesen Verrückten fassen, desto besser«, antwortete dieser. »Bei sechs oder sieben so gezielten Schüssen wird es sich ja wohl kaum um einen Jagdunfall handeln.«
»Hier in der Gegend wird viel gejagt, es hat schon manchen Unfall gegeben. Ich könnte Ihnen da ein paar Geschichten erzählen … Diese Jagd hat übrigens Bernhard Förster gepachtet, der Besitzer von Gut Rothenweide«, berichtete Hartmut Weber.
»Wissen Sie, ich kenne mich damit nicht aus, aber hat schon einmal ein Jäger mit sechs Schüssen versehentlich drei Menschen umgebracht?«, erwiderte Marten Unruh zynisch.
Weber lief rot an. Pia ärgerte sich über Unruhs Auftreten. Sie würden mit den Leuten hier zusammenarbeiten müssen. Dabei war es wenig hilfreich, wenn man sie so vor den Kopf stieß.
»Wir sollten den abgesperrten Bereich jetzt räumen«, sagte sie, um Kommissar Weber abzulenken. »Die Kriminaltechniker stehen schon in den Startlöchern. Je eher wir Ergebnisse von denen bekommen, desto besser.«
Marten Unruh bedachte sie mit einem Blick, der sagte, er hasse diesen übertriebenen Eifer …
»Wo kommen Sie eigentlich her, Weber?«, fragte er eine Spur höflicher.
»Aus Eutin, Polizeiinspektion Eutin, um genau zu sein.«
»Wundervoll. Aber das ist zu weit weg. Wir brauchen hier vor Ort einen Stützpunkt. Einen Raum mit Telefon- und Faxanschluss und der Möglichkeit, mal eine Tasse Kaffee zu trinken. Wenigstens für die ersten Tage. Haben Sie eine Idee, Weber?«
Kommissar Weber runzelte die Stirn, dann meinte er zögernd:
»Wir könnten im Dorfkrug fragen, aber dort ist es ziemlich eng, glaube ich. Besser wäre noch das ›Hotel am See‹. Ich weiß nur nicht, ob die nicht Betriebsferien machen im Januar …«
»Ich sehe schon, Sie kennen sich hier aus«, kürzte Unruh die Ansprache ab. »Organisieren Sie uns einen Raum und geben Sie mir dann Bescheid.«
Damit verabschiedete er sich in Richtung Dienstwagen. Er startete den Motor, um die Heizung voll aufdrehen zu können, und griff nach dem Telefon. Pia fing Kommissar Webers fragenden Blick auf und zuckte mit den Achseln.
»Na, dann werde ich mal«, sagte dieser und ging mit schweren Schritten davon.
Pia teilte seinen Pessimismus, was das Arbeitsklima der nächsten Tage betraf. Sie jedoch war nicht bereit, sich in irgendeiner Weise schikanieren zu lassen.
Die Hauptstraße von Grevendorf beschrieb am südlichen Ende des Dorfes einen scharfen Linksknick. Das ›Hotel am See‹ befand sich genau an dieser Stelle. Es lud alle Raser und Betrunkenen, die buchstäblich nicht die Kurve kriegten, dazu ein, direkt durch die Eingangstür ins Foyer zu krachen. Pia kam beim Anblick des Gebäudes in den Sinn, dass der Architekt kein Anhänger des Feng-Shui gewesen sein konnte. Bei dieser Lage ging das ganze Chi sofort zum Teufel.
Marten Unruh und Pia Korittki betraten nacheinander das dunkle Foyer. Es roch nach Mittagessen, scharfen Putzmitteln und Staub, jener typischen Geruchsmischung mittelklassiger Hotels, gewürzt mit einer Prise »Landluft«.
Der Hotelmanager führte sie in einen nach hinten hinaus gelegenen Raum, der wohl sonst Familienfeiern vorbehalten war. Nun sollte er in den nächsten Tagen als provisorische Ermittlungszentrale dienen.
Marten sah sich kritisch in dem dunklen, etwas muffigen Raum um: »Also schön, das dürfte genügen … Wie sieht es aus mit einem Telefon? Fax? Internet-Anschluss?«
Die glatte Fassade des Hotelmanagers bekam einen kleinen Riss, zwei kreisrunde rote Flecken erschienen auf seinen Wangen. Er antwortete, dass ein Telefonanschluss vorhanden sei und sie für Fax und Internet im Notfall sein Büro benutzen könnten. Dann verließ er eilig den Raum.
»Ein neuer Verbündeter …«, bemerkte Pia trocken.
Die erste Dienstbesprechung im ›Hotel am See‹ verlief in unterkühlter Atmosphäre. Die ihnen zugeteilte Verstärkung aus Eutin bestand aus insgesamt drei Kollegen, unter ihnen auch Hartmut Weber, den sie ja bereits am Tatort kennen gelernt hatten. Die anderen beiden waren etwas jünger als Kriminalkommissar Weber. Pia schätzte den einen, Hannes Steen, auf Anfang vierzig, Thomas Roggenau auf Mitte bis Ende zwanzig.
Marten Unruh saß auf der Tischkante und fasste kurz die bisherigen Erkenntnisse zusammen. Die Opfer hießen Rainer, Ruth und Malte Bennecke und waren Vater, Mutter und Sohn. Der ›Grund‹, wie der Hof und das angrenzende Wäldchen genannt wurden, gehörte schon seit Generationen der Familie Bennecke. Außer einer erwachsenen Tochter, die Katrin Bennecke hieß und in Frankfurt lebte, gab es keine näheren Verwandten mehr.
In Frankfurt war die Polizei bereits informiert worden. Sie würde Katrin Bennecke vom Tod ihrer Familie unterrichten und sie dazu auffordern, die Polizei in Ostholstein bei ihren Ermittlungen zu unterstützen.
Die nächsten Nachbarn der Benneckes waren zwei Familien auf dem Hinrichs-Hof. Ein Resthof, der an demselben kleinen Weg lag, der auch den ›Hof Grund‹ mit Grevendorf verband.
Weiterhin gab es einen Hof, der mit dem ›Grund‹ über einen kaum befahrenen Feldweg verbunden war. Er gehörte den Suhrs, die damit ebenfalls zur nächsten Nachbarschaft zählten. Fuhr man von dort weiter in Richtung See, kam man zum Gut Rothenweide, das Hartmut Weber im Zusammenhang mit der Jagd schon erwähnt hatte.
Pia beobachtete, wie Thomas Roggenau und Hannes Steen viel sagende Blicke tauschten, als Unruh Bernhard Förster, den Besitzer von Rothenweide, erwähnte. Dieser Name schien aus irgendeinem Grund die Aufmerksamkeit der beiden Polizeibeamten zu erregen. Sie schienen jedoch nicht bereit zu sein, darüber zu sprechen. Vielleicht war es nur der Neid, den der Besitz einen Gutshauses unweigerlich erwecken konnte, der diese Reaktion hervorrief.
Da sie viele der bisherigen Informationen Hartmut Weber verdankten, der verwandtschaftliche Beziehungen in Grevendorf hatte, teilte Marten Unruh ihm bei der Aufgabenverteilung die mühsamste Arbeit zu. Zusammen mit seinem Kollegen Roggenau sollte Weber in Grevendorf von Tür zu Tür gehen und erste Befragungen vornehmen, nach denen dann zu entscheiden war, mit wem man sich später näher befassen würde. Die direkten Nachbarn der Benneckes behielt Unruh sich selbst vor. Pia sollte ihn begleiten.
Kommissar Steen sollte die zu erwartenden Hinweise aus der Bevölkerung erfassen und auswerten. Eine Arbeit, die er gut von Eutin aus erledigen konnte, wo er, wie Steen betonte, schließlich auch noch andere Arbeit auf dem Tisch hatte.
Anschließend sollte Pia sich den Fahrer des Lastwagens vornehmen, der die Leichen entdeckt hatte. Ein Mann namens Holger Tramm.
Als der Name des Abdeckers fiel, merkte Roggenau auf: »Ich halte es nicht für ratsam, wenn ihre Assistentin diese Befragung durchführt«, warf er ungefragt dazwischen.
Pia spürte, wie sie sich augenblicklich verspannte. Sie hatte sich, wie die anderen auch, mit ihrem Dienstgrad vorgestellt. Die Bezeichnung Assistentin war ein Fehlgriff, und zwar ein beabsichtigter, wie sie vermutete.
»Warum sollte ich ihrer Ansicht nach diese Befragung nicht durchführen?«, gab sie sofort zurück.
Der Angesprochene grinste: »Na, ein Typ wie dieser Abdecker, der nimmt Frauen doch gar nicht ernst. Jedenfalls nicht in dem Zusammenhang. Nichts gegen Sie persönlich, aber da wird man doch einen etwas härteren Ton anschlagen müssen.«
»Ich werde schon den richtigen Ton treffen.«
»Woher wollen Sie denn wissen, was für ein Typ das ist? Kennen Sie den Mann?«, fragte Marten Unruh völlig ruhig. Er tat gerade so, als wäre Roggenaus Einwand begründet gewesen.
»Nein, das nicht. Aber der Mann ist Abdecker von Beruf. Der wird nicht zimperlich sein. Ich würde mich bereit erklären, das zu übernehmen.«
Pia merkte, wie sie innerlich kochte. Bloß nicht provozieren lassen, dachte sie noch, bevor sie etwas zu scharf entgegnete:
»Wann denn, wenn Sie in Grevendorf von Tür zu Tür gehen?«
Thomas Roggenau machte den Mund auf, um noch etwas zu antworten, doch ein: »Entspann dich, Thomas!« von seinem Kollegen ließ ihn den Mund wieder zuklappen.
Pia starrte ihm noch so lange herausfordernd ins Gesicht, bis er den Kopf abwenden musste. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Unruh den kleinen Machtkampf mit mildem Interesse beobachtet hatte.
Zum zweiten Mal an diesem Tag fuhren Pia und Marten Unruh den schmalen Asphaltweg hinunter. Diesmal hielten sie jedoch auf halbem Weg vor dem Haus, in dem die Familien Rohwer und Kontos wohnen sollten.
Es lag ganz allein auf einer kleinen Anhöhe, ein Resthof, der aus einem kombinierten Wohn- und Wirtschaftsgebäude bestand; ein schlichtes Backsteingebäude mit Holzsprossenfenstern. Efeu rankte rechts und links neben dem Eingang empor und eine verwitterte Holzbank stand an der Hausmauer. Alles sah ein wenig vernachlässigt aus. Als hätte jemand alles voller Enthusiasmus angelegt und sei es nun leid, es ständig in Schuss zu halten.
Marten steuerte auf den ehemaligen Stallbereich zu, wo nun die Familie Kontos wohnte.
»Ich führe das Gespräch«, sagte er halblaut, bevor er klingelte. Pia zuckte die Achseln. In diesem Moment schwang die Haustür auf.
Gerlinde Kontos war eine aufwändig zurechtgemachte Frau von etwa 50 Jahren. Pia, die Farben, Glanz und Glitter verabscheute, schüttelte sich innerlich, zollte aber dem Aufwand und der Konsequenz ihrer Aufmachung einigen Respekt. Frau Kontos schien den Besuch der Polizei erwartet zu haben.
In der nächsten halben Stunde hatte Pia erstmals Gelegenheit, Unruhs Befragungstechnik zu studieren.
Gerlinde Kontos war eine Frau, die sich selber gern reden hörte. Mit etwas Geduld und den richtigen Fragen hätte man bestimmt ein farbenfrohes Portrait aller Dorfbewohner von ihr erhalten. Doch so wie Unruh die Sache anging, schien er Frau Kontos eher zu bremsen. Sie überlegte erst einmal, was sie erzählen wollte und was nicht. Nach einem kurzen Vorgeplänkel sagte Unruh: »Wir sollten zur Sache kommen. Sie heißen Gerlinde Kontos und wohnen hier, soweit ich informiert bin, mit ihrem Ehemann Dimitri Kontos und ihrer Tochter Agnes.«
»Das ist richtig. Mein Mann befindet sich zurzeit in Griechenland. Agnes ist noch in der Schule. Sie ist 16 und geht in Eutin aufs Gymnasium.«
»Waren Sie mit den Benneckes näher bekannt?«
»Nein, wir hatten kaum Kontakt. Sie waren zwar unsere Nachbarn, aber … wir lebten in verschiedenen Welten. Ruth Bennecke war …«, sie senkte die Stimme etwas, »eine ziemlich unangenehme, tratschsüchtige Person.«
»Erklären Sie das genauer«, forderte Pia sie auf. Unruh bedachte sie mit einem mahnenden Blick.
»Ruth Bennecke ließ an niemandem ein gutes Haar. Ihr Junge, dieser Malte, war davon natürlich ausgenommen. Vielleicht war sie so, weil sie nie so recht wegkam von ihrer Ranch? Sie war immer nur mit Haushalt und Kühen beschäftigt. Ich meine, wie soll sich eine Frau da entfalten können? Das ganze Umfeld war so … so einfach.«
Pia hatte noch nie gehört, dass jemand das Wort »einfach« mit so viel Abscheu aussprach wie Gerlinde Kontos.
»Ruth Bennecke …«, soufflierte Unruh.
»Ja, sie hat über jeden Menschen, den sie kannte, nur Schlechtes geredet. Die meisten Leute hier hatten regelrecht Angst vor ihrem losen Mundwerk. Niemand war vor ihren gemeinen Anschuldigungen sicher! Und neugierig war sie auch noch. Na ja, irgendwoher musste all der böse Klatsch ja kommen, den sie verbreitet hat.«
»Waren Sie selbst einmal davon betroffen?«
»Wovon?«
»Von einer ihrer Verleumdungen?«
»Ich … äh … weiß nicht so genau. Ich schere mich nicht so um das Gerede im Dorf. Aber Ruth Bennecke konnte mich nie leiden, insofern …«
»Könnte ihr Gerede mal jemandem gefährlich geworden sein?«, fragte Pia. Zum Teufel mit dem Redeverbot.
Gerlinde Kontos schüttelte den Kopf. »Eigentlich ist das hier ein Dorf, in dem nie etwas Weltbewegendes passiert. Bis auf heute natürlich …«
»Wie ging die Familie mit Ruth Bennecke um?«
»Es waren ja nur noch Rainer und Malte da. Ihr Mann konnte nicht weg vom Hof, und ihren Sohn, den hat sie vergöttert. War auch ein hübscher Junge, dieser Malte Bennecke. Und das wusste er auch. Er hat jede Menge Blödsinn gemacht, soweit ich das weiß«.
»Was für Blödsinn?«
Gerlinde Kontos spielte kokett mit ihrer Halskette: »Na ja, zunächst waren es nur Streiche. Er hat jüngere Mitschüler im Schulbus terrorisiert, das Schulklo überflutet, später Zigarettenautomaten geknackt. Weil Ruth ihn so penetrant gelobt hat, war so etwas natürlich immer ein Gesprächsthema im Ort. Er hat schon früh mit irgendwelchen Mädchen herumgemacht. Mit Mädchen, aber auch mit älteren Frauen. Ich weiß von einer, die war 10 Jahre älter als er. Seine Mutter hat mir manchmal fast Leid getan.«
»Wer war die Frau?«
»So gut bin ich nun auch wieder nicht informiert. Es war mehr ein Gerücht«, sagte Gerlinde Kontos bedauernd, »aber sie kam aus der Gegend hier. Wer weiß, was sie an einem wie Malte Bennecke gefunden hat«. Sie zog viel sagend die Augenbrauen hoch, wie um anzudeuten, dass ihre Vorstellung von einem guten Liebhaber eine andere sei.
»Das Allerschlimmste aber war: Letztes Jahr im Herbst hat Malte Bennecke ein kleines Kind getötet! Er ist mit seinem Motorrad hier vorbeigerast und hat die Tochter meiner Nachbarin überfahren. Es war ein Schock, einfach grauenhaft. Ich kam an dem Tag vom Einkaufen nach Hause, als der Rettungswagen mit Blaulicht hier stand. Das kleine Mädchen war angeblich sofort tot. Die Kleine ist keine zwei Jahre alt geworden! Sie können sich nicht vorstellen, wie mich das mitgenommen hat. Wenn man selbst Mutter ist …« Sie schwieg einen kurzen Moment, wie um ihre Worte wirken zu lassen.
»Ist Malte Bennecke dafür zur Verantwortung gezogen worden?«, fragte Unruh in die Pause hinein.
»Nein, nicht richtig. Es gab zwar ein Gerichtsverfahren, aber er musste nicht ins Gefängnis. Tja, wenn er für eine Weile hinter Gitter gekommen wäre, dann wäre er heute wohl noch am Leben.«
Ein paar Sekunden später wurde ihr klar, was sie da soeben gesagt hatte. Sie sah Marten Unruh mit schlecht verhohlener Neugier an: »Glauben Sie, dass der Mord an den Benneckes etwas mit dem Tod des Kindes zu tun hat?«
»Es ist noch viel zu früh, irgendwelche Vermutungen zu äußern«, sagte Unruh nur.
»Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Ihren Nachbarn, den Rohwers?«
»Gut«, meinte sie mit einer Stimme, die etwas höher war als bisher. »Wir kommen prima miteinander aus, auch wenn wir nicht direkt befreundet sind«.
»Wie steht es mit Ihrer Tochter Agnes?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Hatte sie Kontakt zu den Benneckes? Zum Beispiel zum Sohn?«
Gerlinde Kontos schüttelte energisch den Kopf: »Nein. Agnes kannte die Benneckes natürlich. Aber gerade dieser junge Mann, Malte Bennecke, der war wirklich nicht Agnes’ Stil. Meine Agnes ist doch erst 16 Jahre alt. Zurzeit interessiert sie sich noch mehr für Pferde als für Männer. Gott sei Dank! Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass die beiden sich mal in einer Kneipe oder in der Disco begegnet sind. Aber dann haben sie höchstens ein paar oberflächige Worte gewechselt, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
Pia sah Gerlinde Kontos nachdenklich an. Ihrer Erfahrung nach gab es nichts Unglaubwürdigeres als solche ausdrücklichen Beteuerungen.
»Haben Sie gestern Abend etwas Ungewöhnliches bemerkt? Schussgeräusche, ein vorbeifahrendes Auto oder Ähnliches?«
»Nein, gar nichts. Agnes und ich haben ferngesehen, unsere Lieblingsserie: Berkeley Square. Dabei hören und sehen wir nichts anderes.«