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Im Garten eines verwahrlosten Anwesens auf Fehmarn wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Der Mord löst bei Einheimischen und Touristen Entsetzen aus. Doch die Eltern des Opfers scheinen etwas zu verschweigen. Stattdessen heißt es, dass auf dem alten Haus ein Fluch liegen soll.
Pia Korittki, Kommissarin und alleinerziehende Mutter, glaubt nicht an Geistergeschichten. Aber dann geraten die Ermittlungen in eine Sackgasse, und Pia Korittki erkennt etwas Unglaubliches: dass es Zeit wird, sich mit dem Fluch zu befassen ...
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Seitenzahl: 456
Cover
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
Epilog
Nachbemerkung
Eva Almstädt, 1965 in Hamburg geboren und dort auch aufgewachsen, absolvierte eine Ausbildung in den Fernsehproduktionsanstalten der Studio Hamburg GmbH und studierte Innenarchitektur in Hannover. Seit 2001 ist sie freie Autorin.
Eva Almstädt lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Schleswig-Holstein.
Eva Almstädt
Ostseefluch
Kriminalroman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Michael Meller Literary Agency, München
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dorothee Cabras
Titelillustration: © istockphoto/crossroadscreative
Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz
Datenkonvertierung E-Book:
Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-1089-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Fehmarnscher Abendkurier, August 1985
Nachbarin macht grausigen Fund:
Vier Tote in Haus auf Fehmarn
Sie wollte nur kurz nach dem Rechten sehen, denn die sieben und neun Jahre alten Töchter der Familie B. waren seit Tagen nicht in der Schule gewesen. Doch die Nachbarin machte eine grausige Entdeckung: Insgesamt vier Tote befanden sich im Haus der Familie B. auf Fehmarn. Die Eltern und zwei Kinder dürften ermordet worden sein, darauf deuten erste Hinweise.
Als auf ihr Klingeln an der Haustür niemand reagierte, sah die Nachbarin durch das Küchenfenster auf der Rückseite des Hauses. Sie entdeckte den Familienvater Karl-Heinz B., 52, am Boden liegend und alarmierte umgehend Polizei und Notarzt. Der Arzt konnte jedoch nur noch den Tod des Mannes feststellen. Karl-Heinz B., nach Polizeiangaben Seemann bei der Handelsmarine und gerade auf Landurlaub, starb durch einen Kopfschuss.
Bei der Durchsuchung des Hauses fand die Polizei im Keller die Leichen der Ehefrau Anita B., 43, sowie die der beiden Töchter. Während die Frau durch mehrere Messerstiche in den Brustbereich getötet wurde, sind die Mädchen nach ersten Erkenntnissen erstickt worden. Den fünfjährigen Sohn der Familie, der sich in einer Kammer unter der Treppe versteckt hatte, entdeckte die Polizei erst Stunden später. Er ist körperlich unversehrt, doch ob er Angaben zum Tathergang machen kann, ist bislang unklar. Er befindet sich in der Obhut des Jugendamtes. Polizei und Staatsanwaltschaft haben die Ermittlungen aufgenommen.
Sollte er sie jetzt etwa suchen? Auf sein Rufen hatte Milena nicht geantwortet, dabei war sie ganz bestimmt zu Hause. Drinnen oder irgendwo im Garten. Entweder konnte sie ihn nicht hören, oder sie wollte es nicht.
Patrick Grieger hielt die zweite Möglichkeit für die wahrscheinlichere. Milena schmollte, weil sie sich heute Morgen wieder mal gestritten hatten und er danach einfach abgehauen war. Sie konnte aber auch stur sein. Er hatte ihr schließlich geholfen, als sie nicht mehr weiterwusste, nun war sie an der Reihe, sich ein klein wenig erkenntlich zu zeigen. Was war daran so schwer? An der Loyalität ihrem Vater gegenüber konnte es nicht liegen, dass sie sich weigerte, ihm, Patrick, diesen Gefallen zu tun. Milena hasste ihre Eltern. Der blöde Streit am Morgen war jedenfalls nicht seine Schuld gewesen. Und überhaupt, die seit Tagen andauernde Hitze machte doch alle verrückt. Auf einer Insel in der Ostsee sollte auch im Hochsommer hin und wieder mal eine frische Brise wehen. Wind, wenigstens ein Lüftchen!
Patrick ließ den Blick noch einmal über den Vorgarten streifen. Die blau gefärbten Tücher seiner Vermieterin, Kunstobjekte – jedenfalls keine Wäsche, da das Zeug seit April unangetastet geblieben war – hingen reglos zwischen den Bäumen. Das Laub der Kastanien sah trocken aus, vereinzelt hatten die Blätter schon eine braungoldene Färbung angenommen. Und das viel zu hohe Gras schien sowieso kurz vor der Selbstentzündung zu stehen. Die Hitze war unerträglich.
Er wich zurück ins Haus und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Drinnen war es längst nicht mehr so kühl wie zu Anfang der Hitzeperiode, aber draußen war es schier unerträglich. Milena konnte sich doch nicht zur Mittagszeit freiwillig im Garten aufhalten! Na ja, ganz sicher war Patrick sich bei ihr nicht. Sie hatte kurz nach ihrem Einzug ins Haus im hinteren Teil des Grundstücks einen Gemüsegarten angelegt. Im Mai, als es regnerisch und kühl gewesen war, hatte sie mit Energie und Hingabe Grassoden aus dem Boden gehackt und gehebelt, die darunterliegende, dunkelbraune Erde umgegraben und geharkt und dann Fäden gespannt, an denen entlang sie kleine Pflanzen gesetzt oder Saatgut ausgebracht hatte. Erst war er über Milenas Hingabe an das Projekt erfreut gewesen, dann hatte er ihren Eifer etwas seltsam gefunden, und als es so heiß und trocken geworden war, hatte er sie wegen ihrer Wasserverschwendung vor den anderen Mitbewohnern in Schutz nehmen müssen.
Die ersten von Milena selbst gezogenen Möhren waren nicht länger gewesen als sein kleiner Finger – und nur halb so dick. Und viel mehr kam auch nicht dabei herum. Insgeheim hatte er den anderen Bewohnern recht geben müssen: Milenas Gemüsegarten war Energie-, Zeit- und Wasserverschwendung.
Vorgestern, nachdem Milena zwei Tage lang vergessen hatte, ihr Beet zu gießen, war sie ob der vertrockneten Salatköpfchen in Tränen ausgebrochen. So viel zum Projekt Gemüseaufzucht. Sie würde doch jetzt nicht wieder von vorn …?
Im Haus war sie jedenfalls nicht. Patrick hatte schon in jedes Zimmer gesehen. Sogar in das dunkle Kabuff unter der Treppe hatte er geschaut. Es war der einzige Ort im Haus, wo ihn ein kalter Luftzug gestreift hatte. Eine abgestandene, modrige Kühle. Ungesund und auf eine Art und Weise befremdlich, über die er nicht weiter nachdenken wollte. Wieso sollte es ausgerechnet dort, in dem staubigen Gelass unter der Treppe, kälter sein als anderswo? Das musste er sich eingebildet haben, weil er die alten Geschichten kannte.
Patrick Grieger mochte das Haus nicht. Im Dorf wurde es wegen seiner Lage in einer Senke und einer lange zurückliegenden Tragödie, die sich hier zugetragen haben sollte, »Mordkuhlen« genannt. Nicht, dass er an Geister oder verfluchte Orte oder solchen Zauber glaubte. Er war Naturwissenschaftler. Für ihn war diese Wohngemeinschaft ein billiges Dach über dem Kopf, mehr nicht.
Beim Betreten der Küche zog Patrick angewidert die Oberlippe hoch. Im Spülstein stapelte sich schmutziges Geschirr, und die Sprossenzucht auf der Fensterbank verbreitete zusammen mit den Essensresten im Biomüll einen muffigen Geruch. Er öffnete die Küchentür, die in den hinteren Teil des Gartens führte, um zu lüften. Die Hitze traf ihn wie ein Schlag mit einer Bratpfanne. Auf der Südseite des Hauses war es noch wärmer, als er erwartet hatte. Er blinzelte und trat hinaus. Die Sonne stand fast senkrecht am Himmel. Sollte er noch mal nach Milena rufen? Das zum Haus gehörende Grundstück war riesig, vielleicht hatte sie ihn nur nicht gehört. Milena musste irgendwo in der Nähe sein. Sie kam ja gar nicht weg von hier. Ihr Fahrrad war kaputt, und ein Auto besaß sie nicht. Dass sie sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatte, konnte er sich auch nicht vorstellen. Wo hätte sie auch hingehen sollen? Zu ihren Eltern, die im selben Dorf wohnten, gewiss nicht.
Hinter den Büschen weiter hinten bewegte sich was. Eine Sturmmöwe flatterte auf, dann noch eine. Ihre Schreie klangen heiser, fast vorwurfsvoll. Patrick folgte dem platt getrampelten Pfad in den hinteren Teil des Gartens. Über dem angrenzenden Feld flirrte die Luft vor Hitze. Es raschelte hinter dem Gebüsch. Patrick vernahm weitere Möwenschreie. Sicher, das Grundstück lag in direkter Ostseenähe, aber was passierte dahinten? Fütterte Milena etwa die Vögel? Oder hatte sie etwas Essbares liegen gelassen? Unsinn. Sie interessierte sich nicht für Tiere, sie hatte sogar Angst vor ihnen. Das eine Mal, als er sie mit ins NABU Wasservogelreservat Wallnau genommen hatte, um Vögel zu beobachten, hatte sie am Vögeln mehr Interesse gezeigt als an Vögeln. Er lächelte über das Wortspiel und umrundete das Gebüsch, hinter dem sich der kleine Gemüsegarten befand.
Da sah er sie. Milena lag mit dem Gesicht nach unten in der trockenen Erde ihres quadratischen Beetes. Sie ist nur bewusstlos, dachte Patrick, das kommt von dieser verdammten Hitze – ein Kreislaufkollaps. Aber dann würden die Vögel doch nicht … Und da waren auch Fliegen. Patrick wollte zu ihr laufen, doch er konnte sich nicht bewegen. Eine Silbermöwe landete neben dem reglosen Körper seiner Freundin. Dann pickte sie an Milenas Kopf herum. Er musste unbewusst irgendeinen Laut ausgestoßen haben, jedenfalls wich die Möwe widerstrebend zurück und flog dann auf. Erst da erkannte Patrick, was das Tier angelockt hatte: Milenas Hinterkopf war … verletzt. Durch ihr feucht glänzendes Haar sah er Blut, Knochensplitter und etwas Graues, an dem eine flaumige, weiße Feder klebte. Ein paar Sekunden lang stand Patrick wie erstarrt da und versuchte, die Bilder, die er sah, zu einem logischen Ganzen zusammenzufügen. Dann wurde ihm schlecht.
Der Fundort der Leiche lag einen guten Kilometer von dem Dorf Weschendorf auf Fehmarn entfernt. Pia Korittki, Kriminalkommissarin bei der Bezirkskriminalkommission in Lübeck, war im Anschluss an einen Termin in Neustadt zu diesem Einsatz gerufen worden. Sie lenkte ihren Privatwagen über die holprige Piste und fluchte leise, als die Stoßdämpfer des alten Citroën knirschten. Die Dächer des Ortes Weschendorf verschwanden schon wieder hinter Knicks und Bäumen, aber das Gebäude, das Pia suchte, war noch nicht in Sicht. Der- oder diejenige, die das Haus in die Landschaft gesetzt hat, muss ein großer Naturfreund und ein noch größerer Menschenfeind gewesen sein, dachte sie, als sie schon wieder unsanft aufsetzte.
Der mit Schlaglöchern übersäte Feldweg endete an einem windschiefen Gatter. Keine Hausnummer, aber ein rostiges Schild am Zaun, das vor dem bissigen Schäferhund warnte. Es waren erst zwei Streifenwagen, ein Leichenwagen und auch nur wenige andere Autos zu sehen. Pia erkannte Horst-Egon Gablers blauen Audi. Er war der Leiter des K1 und ihr Vorgesetzter, also befand sie sich an der richtigen Adresse.
Sie wusste noch nicht viel: Einer der Bewohner, ein Mann namens Patrick Grieger, hatte gegen Mittag die Polizei verständigt, weil er im Garten des Hauses die Tote gefunden hatte. Es handelte sich seinen Angaben zufolge um eine seiner Mitbewohnerinnen. Milena Ingwers war ihr Name. Als sich die Besatzung eines Streifenwagens aus dem nahen Burg auf Fehmarn davon überzeugt hatte, dass sie es tatsächlich mit einem Tötungsdelikt und nicht etwa den Folgen eines Sonnenstichs zu tun hatten, war auch das Kommissariat 1 der Bezirkskriminalinspektion Lübeck informiert worden.
Pia Korittki sprach einen uniformierten Kollegen an, der am Gatter den Zugang kontrollierte, und wies sich aus. Dann umrundete sie das Haus, um zum Fundort der Leiche zu kommen. Das Gebäude hatte seine Glanzzeit augenscheinlich schon vor dem Ersten Weltkrieg hinter sich gehabt. Von der Fassade bröckelte in tellergroßen Stücken der Putz und zeigte bedenkliche Risse. Die Fenster waren zum Teil blind, bei anderen waren die Scheiben gesprungen, eines im Obergeschoss hatte man notdürftig mit einer Platte Sperrholz repariert. Den Vorgarten zierten rätselhafte Objekte, von Skulpturen aus rostigen Eisenstangen über Arrangements aus eingefärbten Betttüchern bis hin zu Stapeln von Altreifen. Kleine Tafeln mit Sinnsprüchen oder kurzen Gedichten hingen aufgereiht am Zaun.
Die Tote befand sich im hinteren Teil des Gartens, hatte ihr der Kollege gesagt.
Pia war früh dran, sodass sie den Kollegen von der Schutzpolizei noch beim Absperren helfen musste. Da außer einem wild wuchernden Holunderbusch keine Möglichkeiten zum Befestigen des Absperrbandes vorhanden waren, mühte sie sich ab, ein paar Metallstäbe in die hart gebackene Erde zu treiben. Bei dieser Aktion konnte sie das Opfer recht gut sehen. Die Frau lag mit dem Gesicht nach unten in einem Beet. Sie war offenbar recht jung. Glatte, helle Haut, noch etwas Babyspeck an Oberarmen und Schenkeln, schwarz gefärbtes, schulterlanges Haar, das am Ansatz, dort, wo es nicht blutverkrustet war, hell schimmerte. Die Todesursache war dem ersten Augenschein nach die massive Kopfverletzung, die Pia selbst auf mehrere Meter Entfernung noch gut erkennen konnte. Es sah so aus, als hätte ein scharfkantiger Gegenstand dieses Loch im Schädel der Frau verursacht. Pias Blick wanderte weiter: keine sichtbaren Abwehrverletzungen an den Armen. Die Hände sahen weich und kindlich aus; die Fingernägel waren bis aufs Fleisch abgekaut und teilweise von splitterndem, schwarzem Nagellack bedeckt. Die Frau trug ein Rippentop aus grauer Baumwolle, dessen Träger ihr über die Schultern gerutscht waren, darunter einen schwarzen BH. Auf ihrem rechten Schulterblatt prangte ein Tattoo, das eine Art geflügelten Drachen darstellte. Die zu knappen Shorts abgeschnittenen Jeans verdeckten kaum den Schritt der Toten. So, wie sie mit gespreizten Beinen dalag, war für jedermann sichtbar, dass sie nur einen schwarzen String darunter trug. Einen kurzen Moment dachte Pia, dass es dem Opfer sicher zuwider wäre, so schutzlos den Blicken von Fremden ausgesetzt zu sein. Der Tod hatte sie überrascht und vollkommen hilflos zurückgelassen.
Pia riss sich zusammen. Sie hatte hier ihren Job zu erledigen. Das einzig Sinnvolle, das sie für die junge Frau noch tun konnte, war, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
»Kein schöner Anblick«, sagte Michael Gerlach, als Pia das restliche Absperrband zurück zum Einsatzwagen brachte. Ihr Kollege musste gerade erst angekommen sein, denn sein Hemd war noch blütenrein, und sein halblanges Haar sah aus wie frisch geföhnt.
»Das ist es doch nie.« Pia wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn.
»Was hältst du von der Umgebung?«
Der verwahrloste Garten ging übergangslos in eine Art Wildnis über. Pia zuckte mit den Schultern. »Nicht Fisch und nicht Fleisch. Schwer zu sagen, ob die Frau in ihrem privaten Umfeld oder im öffentlichen Raum getötet worden ist. Immer vorausgesetzt, dass der Fundort der Leiche überhaupt der Tatort ist.«
»Streng betrachtet, ist es ein Privatgrundstück«, sagte Gerlach und zog ein Papiertaschentuch hervor. Auch er schwitzte also. Das war irgendwie beruhigend.
»Nur dass Hans und Franz hier entlanglatschen und die holde Maid im Garten haben werkeln sehen können«, meinte Pia. »Also nicht ganz so privat.«
»Du glaubst, sie hat bei der Hitze im Garten gearbeitet?« Er guckte ungläubig.
»Sie hat zumindest Gartenclogs an den Füßen. Außerdem liegen neben der Leiche eine Harke und eine kleine Schaufel.« Pia kniff die Augen gegen das flirrende Licht zusammen. Die Sonne entzog der Landschaft jegliche Farbe. »Der Feldweg da drüben führt direkt am Grundstück entlang. Von dort konnte man die Frau im Gemüsebeet bestimmt gut sehen.«
»Aber wer zum Teufel sollte bei diesem Wetter hier spazieren gehen?«
»Stand vorn an der Abzweigung nicht was von ›Weg zum Strand‹?«, fragte Pia. »Ich kann das Meer schon fast riechen.«
»Ich meine, ich rieche hier was anderes.« Gerlach verzog das Gesicht. »Wenn sie die Leiche nicht bald wegbringen, läuft sie uns von allein davon.«
Pia nickte, wusste aber gleichzeitig, dass das ein frommer Wunsch war. Zunächst musste die Tote aus allen Blickwinkeln fotografiert und die Spuren rundherum gesichert werden. Es würde noch etwas dauern, bis man sie in dem bereitstehenden Leichenwagen wegbringen konnte. Und Pia wollte sich nicht ausmalen, wie heiß es in dem schwarz-silbernen Wagen des Bestattungsinstituts war, der schon eine Weile im gleißenden Sonnenlicht stand.
Rund um den Fundort wuchs jetzt die Anzahl der Nummerierungs-Schildchen, mit denen die Kriminaltechniker die Spuren zwischen den welken Salatköpfen markierten. Über die Köpfe der Kollegen von der Kriminaltechnik hinweg, die in ihren weißen Overalls schwitzten, fiel Pias Blick auf einen Mann, der mit in die Hüfte gestützten Händen am Einsatzwagen hinter der Absperrung stand. Ein Unbekannter, der in ein Gespräch mit Horst-Egon Gabler vertieft war. War das schon der neue Kollege, der ihnen angekündigt worden war? Sie hatte den Namen Manfred Rist nicht sofort zuordnen können, aber nun, da sie den Mann dort stehen sah, traf die Erinnerung sie wie ein Hieb in den Magen. Verdammter Mist! Ausgerechnet der! Rist hatte zwar etwas zugelegt, doch die Art, wie er den Kopf schief legte und sich dann im Nacken kratzte, während er mit Horst-Egon Gabler sprach, beseitigte jeden Zweifel. Bei ihrer letzten Begegnung hatte er langes Haar gehabt, das zu einem schmierigen Zopf zusammengebunden gewesen war. Nun trug er es millimeterkurz geschnitten. Im hellen Sonnenschein sah es mittlerweile mehr grau als braun aus.
Ihr Zusammentreffen lag – Pia rechnete nach – inzwischen vier Jahre zurück. Die Begegnung war nicht gerade eine ihrer Sternstunden bei der Polizei gewesen. Aber für Manfred Rist war die Sache noch weitaus unangenehmer ausgegangen. Bei der Erinnerung an das, was sie ihm angetan hatte, spürte Pia, dass ihr Gesicht zu glühen begann. Und das lag nicht an der unbarmherzig auf sie niederbrennenden Nachmittagssonne.
Eigentlich sollte ich froh sein, dass Rist zu uns gestoßen ist, meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Das Kommissariat 1 der Bezirkskriminalinspektion litt unter chronischer Unterbesetzung, woran Pia, die seit der Geburt ihres Sohnes nur noch Teilzeit arbeitete, nicht ganz unschuldig war.
»Na, hast du ihn erkannt?«, fragte Gerlach, der sie anscheinend beobachtet hatte.
»Mit Mühe. Es ist lange her. Er erinnert sich bestimmt nicht mehr an mich«, sagte Pia ohne Überzeugung. Über ihre erste Begegnung mit Rist hatte sich das ganze Polizeihochhaus amüsiert.
Gerlach rang sich trotz der unablässig rinnenden Schweißperlen auf seiner Stirn ein Grinsen ab. »Nur wenn er unter fortgeschrittener Demenz leidet.«
Pia zog eine Grimasse.
»Aber er ist ja freiwillig zu uns ins Kommissariat gekommen«, sagte er feixend. »Entweder hat er dir verziehen, oder …«
»Oder was?« Sie zog eine Augenbraue hoch.
»Er will noch eine Rechnung begleichen.«
»Eigentlich kann sich Rist nicht beklagen. Statt langweiligem Vorstellungskaffee bekommt er bei uns als Erstes eine Leiche serviert.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Und was für eine heiße!«, bemerkte Gerlach taktlos. »Jedes Kommissariat pflegt halt seine eigenen Rituale.«
»Willst du damit sagen, wir halten uns gar nicht erst mit langen Vorreden auf?« Pia biss sich auf die Lippe. Das hatte sie bei ihrer ersten Begegnung mit Rist jedenfalls nicht getan. Es kam ihr mit einem Mal so vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie ihn in Broders’ Büro angetroffen hatte. Die Frage war, wie gut Rists Schmerzgedächtnis war.
Ein uniformierter Kollege geleitete Pia und Gerlach zum Hintereingang des Hauses, der geradewegs in die Küche führte. Der Mann, der die Tote gefunden hatte, saß mit gesenktem Kopf am Tisch.
»Sind Sie Herr Grieger?«, fragte Pia.
Er nickte matt.
Pia stellte sich und Gerlach vor.
»Patrick, du musst jetzt nicht mit denen sprechen, wenn du nicht willst«, sagte eine Frau, die im Hintergrund stand. Pias Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit im Haus zu gewöhnen. Die Frau war mittelgroß und üppig gebaut. Schwere Brüste und ein runder Bauch zeichneten sich unter einem Kleid mit Batikmuster ab. Ihr hennarotes Haar war aufgesteckt, doch wie alle hier war sie verschwitzt, und ein paar Strähnen klebten ihr auf der Stirn und im Nacken. Die Füße der Frau steckten in flachen Ledersandalen, um ihren Hals baumelten zahllose Ketten.
»Und wer sind Sie?«, fragte Gerlach.
»Irma Seibel. Ich wohne hier, wenn’s Ihnen nichts ausmacht.«
»Wir werden Sie später auch noch befragen«, sagte Pia. »Aber als Erstes müssen wir mit Herrn Grieger reden. Hier in der Küche, wenn möglich.«
Die Frau stellte den Kessel, den sie in der Hand gehalten hatte, langsam auf dem altmodischen Gasherd ab und musterte die Polizisten.
»Wenn Sie jetzt bitte solange draußen warten würden«, forderte Michael Gerlach sie mit sanfter Stimme auf.
Irma Seibel starrte die Polizisten immer noch an. Pia sah förmlich, wie sie im Geiste verschiedene Proteste formulierte und wieder verwarf.
»Es ist schon okay, Irma«, murmelte Patrick.
»Na gut. Ich muss sowieso los – Zoe abholen«, sagte sie und verließ den Raum.
Patrick Grieger war achtundzwanzig Jahre alt und wohnte seit März in dem Haus in der Nähe von Weschendorf. Er gab vor laufendem Aufnahmegerät an, in Kiel im siebten Semester Biologie zu studieren. »Ich bin nicht mehr jeden Tag an der Uni«, sagte er. »Deshalb hab ich meine teure Bude in Kiel auch aufgegeben. Hier muss ich nicht so viel Miete zahlen. Stattdessen packe ich beim Renovieren mit an. Na ja, immer, wenn ich Zeit dazu habe.«
»Wem gehört das Haus?«
»Keine Ahnung, so einer Frau von der Insel hier. Irma ist die offizielle Mieterin, und ich bin ihr Untermieter. Sie ist in Ordnung.«
»Und wer wohnt sonst noch hier?«
»Arne Klaasen. Irmas Freund oder Lebensabschnittspartner. Oder Stecher. Wie Sie wollen.« Er sah Pia provozierend an.
»Das sind all Ihre Mitbewohner?«, fragte sie kühl.
»Nein. Milena hat auch hier gewohnt.« Er schluckte. »Sie ist die … Frau im Garten …« Patrick deutete mit dem Kopf vage in Richtung Fenster.
»Wie hieß Milena mit Nachnamen?«
»Milena … keine Ahnung. Ingwers oder so.«
»Und wie war Ihr Verhältnis zu Milena Ingwers?«
»Ich konnte sie ganz gut leiden«, antwortete er undeutlich.
»War sie Ihre Freundin?«, fragte Gerlach.
Patrick Grieger brauste auf. »Typisch, immer allem und jedem gleich ein Etikett aufdrücken! Einordnen, abheften und rein in die Schublade, was?«
»Bei Frau Seibel und Herrn Klaasen hatten Sie kein Problem damit, die Dinge beim Namen zu nennen«, sagte Pia ruhig.
»Okay. Milena war so was wie meine Freundin. Aber ich hab sie nicht angerührt. Ich meine … ich hab ihr das nicht angetan!« Er starrte Pia mit aggressiv vorgerecktem Kinn an.
Patrick Grieger hatte ein schmales Gesicht mit ausgeprägter Nase. Seine Haare und Augen waren dunkel, sein Blick stechend. Er war attraktiv, wenn auch auf eine Weise, die Frauen über dreißig dazu verleiten konnte, ihm erst mal eine anständige Mahlzeit vorzusetzen und ihm begütigend zu versichern, alles werde gut … Irgendwann.
»Erzählen Sie uns bitte, was heute passiert ist. Von Anfang an.«
Er blies die Luft aus und starrte einen Moment aus dem Fenster. Pia beobachtete, dass seine schmale Hand, die auf der abgewetzten Tischplatte lag, zitterte. Sie sah weiß und gepflegt aus, die Fingernägel waren unversehrt und sauber. Sie fragte sich, wie ausgeprägt sein »Mitanpacken« bei den Renovierungsarbeiten wohl war.
Patrick Grieger schilderte in abgehackten Sätzen, wie er morgens gegen neun Uhr aufgewacht war. »Wegen dieser Affenhitze. Mein Zimmer liegt unter dem Dach.« Es war ganz ruhig gewesen. Irma Seibel und Arne Klaasen hatten das Haus schon verlassen. Irma betrieb einen Secondhandladen in Burg, in dem sie Kinderkleidung verkaufte, gab er Auskunft. Sie fuhr für gewöhnlich um acht Uhr los, weil sie ihre Tochter Zoe vor der Öffnung des Geschäfts noch im Kindergarten abgeben musste.
»Ihre Tochter?«, hakte Gerlach nach.
»Zoe ist fünf«, erklärte Patrick. »Wie gesagt, sie ist Irmas Tochter, aber Arne ist nicht der Vater. Arne war auch irgendwohin gefahren.« Er berichtete weiter, dass Arne Klaasen mal hier, mal dort auf irgendwelchen Baustellen arbeitete. Hauptsächlich war er jedoch mit Reparaturen an dem Haus beschäftigt, in dem sie wohnten. Milena hatte gerade Tee getrunken, als er, Patrick, in die Küche gekommen war. Er sei morgens nicht so gesprächig, sagte er. Sie hatten kaum miteinander geredet. Und er wusste nicht, welche Pläne Milena für den Tag gehabt hatte.
»War sie berufstätig?«, fragte Pia.
»Milena?« Er klang erstaunt.
»Wie alt war sie?«
»Achtzehn. Das ist doch kein Alter zum Sterben«, begehrte er auf, fiel aber sofort wieder in sich zusammen.
»Oder ging sie noch zur Schule? Hat sie studiert?«
»Milena hat eigentlich gar nichts gemacht«, bemerkte er verwundert, als würde ihm der Mangel an Beschäftigung gerade erst bewusst.
»Wie hat sie ihren Lebensunterhalt bestritten?«
Er zuckte mit den Schultern. »War ja nicht teuer – das Leben hier.«
Pia seufzte leise. Sie musterte Patrick Grieger von der Seite. Er wirkte ziemlich nervös, das konnten auch seine zusammengesunkene Haltung und die patzigen Antworten nicht überspielen.
»Um wie viel Uhr haben Sie das Haus verlassen?«
»Nach neun. So Viertel nach, kann auch zwanzig nach gewesen sein.«
»Wo sind Sie gewesen?«
»Rumgefahren. Ich wollte zum Wasservogelschutzgebiet Wallnau.«
»Was haben Sie dort getan? Aufzeichnungen gemacht oder vielleicht fotografiert?«
»Nein. Als ich dort war, hab ich gemerkt, dass ich meine Ausrüstung vergessen hatte. Außerdem war es zu heiß zum Arbeiten. Ich bin weiter zum Strand gefahren und hab gebadet. Und bin dann nur so rumgewandert.«
Na, wenn das nicht mal ein Alibi ist!, dachte Pia. »Hat Sie vielleicht irgendjemand gesehen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wäre besser, oder? Als ich gegen zwei Uhr mittags zurückkam, war Milena nicht im Haus. Sie hat kein Auto, und ihr Fahrrad stand wie fast immer platt im Vorgarten. Sie konnte also nicht weggefahren sein. Das war seltsam.«
»Was taten Sie dann?«
»Ich hab nach ihr gerufen und sie überall im Haus gesucht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie in der Mittagshitze draußen ist. Je mehr Zeit vergangen ist, desto mehr hab ich mich gefragt, wo sie nur steckt. Ich dachte mir, dass ich doch mal im Garten nachsehe, und da … fielen mir die Vögel auf.«
»Was für Vögel?«
»Möwen. Mehrere Sturmmöwen und eine Silbermöwe, um genau zu sein. Largus argentatus. Ihr Geschrei kam aus dem Gemüsegarten. Ich bin hin, um nachzusehen. Da habe ich Milena dann gefunden …« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und starrte eine Weile schweigend vor sich hin. »Eigentlich wusste ich gleich, dass sie tot sein muss, als ich sie so daliegen sah. Möwen sind Allesfresser, sie fressen sowohl lebende Nahrung als auch Aas. Sie sind dabei nicht wählerisch, echte Überlebenskünstler. Man nennt sie auch ›Ratten der Lüfte‹, wussten Sie das?« Er sah Pia verwirrt an. Offenbar hatte er den Faden verloren.
»Und was haben Sie dann unternommen?«
»Ich stand erst wie versteinert da. Irgendwann hab ich Milena dann doch angefasst, wollte sie umdrehen, aber ich konnte es nicht. Es war grauenhaft. Ihr Kopf, die offene Wunde … Sie war schon tot, oder? Bestimmt war sie schon tot! Ich hätte ihr nicht mehr helfen können, oder?«
»Der Arzt schätzt, dass sie mindestens zwei Stunden tot war, bevor er hier eintraf.«
Patrick senkte den Blick. Pia fielen seine erstaunlich langen, dichten Wimpern auf.
»Haben Sie sonst noch etwas dort angefasst?«, fragte sie.
»Nein. Ich glaube nicht … Ich bin zurück ins Haus gelaufen und hab die Polizei angerufen. Nicht mal den Notarzt – gleich die Polizei. Die haben aber trotzdem noch einen Rettungswagen hergeschickt. Vollkommen umsonst.«
»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, das Sie uns bei dieser ersten Befragung noch sagen möchten?«, hakte Gerlach nach.
Patrick Grieger sah ihn irritiert an. »Ich hätte es mir denken können! Das heute war natürlich noch nicht alles.«
»Wir stehen noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen. Wer hatte Ihrer Meinung nach ein Motiv, Milena Ingwers zu ermorden? Hatte sie Feinde?«, fragte Pia.
»Braucht es immer einen Grund? Es gibt doch genug Perverse auf der Welt.«
»Konkret fällt Ihnen niemand ein?«
Er schüttelte den Kopf.
»Können Sie uns sagen, wen wir benachrichtigen müssen? Was ist mit ihren Eltern?«
»Sie unterschätzen die Fehmaraner Buschtrommeln.«
Pia reichte die Adresse von Milenas Eltern, die Patrick Grieger ihnen widerstrebend notiert hatte, an Horst-Egon Gabler weiter, der diese Ermittlungen leitete. Je eher die Eltern des Opfers informiert wurden, desto besser. Das Haus mit dem Fundort der Leiche lag zwar abseits vom eigentlichen Ort, aber jedes Fahrzeug, das jetzt hier war, hatte Weschendorf passieren müssen. Und wenn nicht schon die Polizeifahrzeuge und der Rettungswagen im Dorf Aufmerksamkeit erregt hatten, dann mit Sicherheit der Leichenwagen. Es wunderte Pia, dass noch keine Schaulustigen aufgetaucht waren. Aber was wusste sie schon? Sie saß seit einer halben Stunde in dieser Küche, deren einziges Fenster in den Garten hinter dem Haus hinausging. Auf dem mit Unkraut überwucherten Vorplatz hätte inzwischen die Bühne für »Fehmarn Open Air« aufgebaut worden sein können, ohne dass sie etwas davon mitbekommen hätte.
Irma Seibel war die Nächste, die befragt werden sollte. Sie hatte inzwischen ihre Tochter abgeholt und bei Freunden untergebracht, solange die Polizei in ihrem Haus alles auf den Kopf stellte, wie sie in vorwurfsvollem Ton erklärte.
Pia schluckte jeglichen Kommentar dazu herunter. Ein Schock wirkte sich auf unterschiedlichste Art und Weise auf die Menschen aus. Irma Seibel schien eher der aufbrausende Typ zu sein, der seine Gefühle in Aktionen verarbeitet. Sie hatte einen Korb mit Wollsocken mit in die Küche gebracht, stellte ihn auf dem Küchentisch ab und setzte sich. »Muss das sein?«, fragte sie, als Pia das Aufnahmegerät wieder einschaltete.
»Es ist für uns einfacher. Wenn es Sie stört, dass wir das Gespräch aufzeichnen, können wir Sie auch in Lübeck befragen, wo dann jemand mitschreibt.«
»Schon gut, schon gut!« Sie nahm eine bunte Wollsocke aus dem Korb und steckte ein Holzei hinein, dessen himmelblaue Farbe durch das Loch in der Ferse hervorlugte. Nach der ersten Verwunderung kam Pia das gar nicht so ungelegen. Sollte die Frau doch ihre Hände beschäftigen, wenn es ihr half, sich auf die Befragung zu konzentrieren. Socken zu stopfen war zumindest origineller, als zu rauchen oder mit einem Kugelschreiber zu spielen.
Pia sprach die Angaben zu Datum, Uhrzeit und anwesenden Personen auf Band und ließ sich die Personalien der Frau nennen. Irma Seibel war vierundvierzig Jahre alt. Sie gab an, seit 2008 in dem Haus zu wohnen. Vorher hatte sie in einer Wohnung in Heiligenhafen gelebt. Sie sei nur die Mieterin, erklärte sie. Besitzerin des Anwesens sei eine Frau namens Maren Rosinski aus Weschendorf. »Die Rosinski wollte das Haus eigentlich verkaufen, aber sie ist es nicht losgeworden. Das ging über Jahre so. Ich hab es mir bei Inselaufenthalten immer wieder angeschaut und gesehen, wie es mehr und mehr verfiel. Irgendwann hab ich dann die Besitzerin darauf angesprochen. Die Einheimischen würden das Haus nicht mögen, hat sie mir erklärt. Deswegen kaufe es keiner. So ein Quatsch! Es war ’ne Ruine, als wir hier eingezogen sind. Aber deshalb war die Miete für mich bezahlbar. Zoe soll in und mit der Natur aufwachsen«, erklärte sie.
»Wer ist 2008 alles hier eingezogen?«, fragte Gerlach.
»Ich und meine Tochter. Dann noch der Arne, Arne Klaasen. Ohne ihn wäre es nicht möglich gewesen. Er ist ein guter Handwerker, wissen Sie. Und ein Typ namens Bart. Er hieß eigentlich Bartholomäus.«
»Mit Vor- oder mit Nachnamen?«
»Keine Ahnung. Ich hab keinen Untermietvertrag mit ihm abgeschlossen. Er ist hier untergekrochen und hat Arne bei den gröbsten Arbeiten geholfen. Als er anfing zu nerven, hab ich ihn rausgeworfen. Und es waren immer mal wieder Leute hier, für Wochen oder auch mal für ein paar Monate. So wie der Patrick, den ihr ja schon in die Mangel genommen habt.«
Irma griff zum Stopfgarn und leckte das Fadenende an, bevor sie es durch das Nadelöhr bugsierte. Sie zog die zerlöcherte Socke über dem Holzei stramm und begann, sie zu stopfen.
»Und wie war das mit Milena Ingwers?«, fragte Pia.
»Was soll mit ihr gewesen sein?« Irma Seibels Stimme klang gepresst.
»Nun ja. Immerhin liegt sie jetzt tot im Gemüsegarten. Jemand hat ihr den Schädel eingeschlagen«, sagte Gerlach.
»Für euch ist das hier doch nur ein Job, nicht wahr?«, erwiderte sie bitter. »Was interessiert euch das Mädchen?«
»Fangen wir von vorne an: Wann und wie kam Milena Ingwers zu Ihnen? Warum hat sie hier gelebt?«, fragte Pia, ohne sich von dem Vorwurf aus der Ruhe bringen zu lassen.
Irma Seibel legte die Socke auf den Tisch und drückte ihre Fingerkuppen gegen die Schläfen. »Mein Kopf! Diese verdammte Schwüle bringt mich um.« Sie blinzelte angestrengt. »Milena kam im Mai zu uns. Um den Zehnten herum. Sie brauchte einen Ort, um sich zu sammeln. Sie brauchte Schutz.« Irmas Blick wanderte in Richtung Garten.
Pia wusste nicht, ob man es von Irma Seibels Platz aus sah, aber sie selbst konnte durch das Fenster beobachten, wie der Leichnam der jungen Frau gerade in einem Zinksarg zum Leichenwagen getragen wurde. Der Boden unter den Füßen der Männer war so trocken, dass die ganze Aktion in eine leichte Staubwolke gehüllt war. Das Schutzzelt der Kriminaltechnik leuchtete weiß vor dem Hintergrund der dunklen Baumkronen. »Wovor brauchte Milena Schutz?«, fragte Pia eindringlich.
»Vor den Forderungen und Repressalien der Gesellschaft im Allgemeinen. Vor ihren Eltern im Besonderen.«
»Was ist mit ihren Eltern?«
»Spießige, hinterhältige Schleimer, alle beide. Er ist eine Art Gärtnerei-Tycoon von Ostholstein. Macht Geld mit seinen langweiligen Wohlstands-Pflanzen. Buchsbaum für den Vorgarten, Weihnachtssterne im Advent …«
»Und die Mutter?«
»Milena hat sie beinahe noch mehr gehasst als ihren Vater. So richtig ›Kinder, Küche, Kirche‹, die Frau. Nur dass die Kirche an erster Stelle kam und das einzige Kind darüber vergessen wurde.«
»Können Sie die Konflikte zwischen Eltern und Tochter konkretisieren?«, fragte Gerlach.
»Milena sollte in eine Form gepresst werden: Schulabschluss, dann eine Ausbildung, irgendwas mit Pflanzen, klar, ganz wie der Vater es sich wünschte. Es war der Horror für sie. Sie hat den Druck und die Schikanen irgendwann nicht mehr ausgehalten und diese sogenannte Lehre abgebrochen. Daraufhin haben ihre Eltern sie nicht mehr unterstützt. Bevor sie hier ankam, war Milena quasi obdachlos. Zum Glück hat der Patrick sie gefunden und mit hergebracht. Sie kannte das Haus hier aus der Zeit, als sie noch bei ihren Eltern in Weschendorf gewohnt hat. Es war für sie fast so, wie nach Hause zu kommen. Ich konnte nicht anders, ich musste ihr Unterschlupf gewähren. Oder hätte ich ihr etwa meine Hilfe verweigern sollen?«
»Wissen Sie, wie alt sie war?«
»Achtzehn.«
»Auch schon, als sie hier ankam?«
Irma Seibel presste die Lippen zusammen.
»Das wäre dann wohl eher ein Fall für das Jugendamt gewesen«, sagte Gerlach.
Irma Seibel griff wieder zu ihrer Handarbeit und stach die Nadel in das Gewebe. »Genau das wollte ich ihr ersparen. Drei Wochen später war sie ja volljährig.«
»Wo ist ihr anderer Mitbewohner, Arne Klaasen?«, fragte Pia. Sie wollte das Thema Minderjährigkeit erst mal außen vor lassen.
»Der Arne arbeitet«, antwortete Irma Seibel knapp. Sie fädelte die Nadel durch die vorbereiteten, parallel verlaufenden Fäden. Oben, unten, oben, unten.
»Und wo genau?«
Die Nadel verharrte über dem Stopfei. Irma Seibel sah Gerlach herausfordernd an. »Ich weiß es nicht.«
»Wie können wir ihn erreichen?«
»Gar nicht. Er ist auf einer Baustelle. Irgendwo auf der Insel, nehme ich an. Er hat den Pritschenwagen mitgenommen.«
»Wann kommt er ungefähr zurück?«
Sie zog nur eine ihrer dichten Augenbrauen hoch.
»Dann erwarten wir ihn morgen früh um neun im Kommissariat in Lübeck«, sagte Pia und legte ihre Karte auf den Tisch. »Er sollte vorher aber noch mal anrufen und sich den Termin bestätigen lassen.«
»Ich bin nicht Ihr Büttel«, entgegnete Irma Seibel.
»Aber Sie sind daran interessiert, dass der Mord an Milena Ingwers aufgeklärt wird, oder?«
Irma Seibel starrte sie wütend an. Dann nickte sie.
Pia erhob sich. Auf dem Weg zur Tür drehte sie sich in Columbo-Manier noch einmal um. »Bevor wir es vergessen: Wo waren Sie heute Vormittag, Frau Seibel?«
»In meinem Laden in Burg. Ich habe ein eigenes Geschäft, um das ich mich kümmern muss.«
»Und wann waren Sie wieder hier?«
»Patrick hat mich angerufen, nachdem er die Polizei informiert hatte. Er war total aufgelöst. Da hab ich den Laden abgeschlossen und bin sofort hergefahren.«
»Dann ist ja alles geklärt. Wenn Sie in Ihrem Geschäft waren, lässt sich das sicher nachprüfen«, sagte Gerlach.
»Kaum. Es war nicht viel los heute.« Sie starrte aus dem Fenster, die Augenbrauen zusammengezogen, die Lippen nur noch ein schmaler Strich. Dann fragte sie: »Was soll eigentlich das Zelt da in meinem Garten? Wollt ihr hier etwa übernachten?«
»Es ist zum Schutz aufgestellt worden, damit keine Spuren vernichtet werden, falls das Wetter umschlägt.«
»Spuren … Meint ihr, da ist irgendwas zu sehen, so trocken wie der Boden ist?«
»Es geht nicht nur um Fußspuren.«
Sie schien einen kurzen Moment darüber nachzudenken. Dann sagte sie: »Meinetwegen könnt ihr das Zelt hierlassen, wenn ihr fertig seid. Ich brauch noch was, um Zoes Sandkiste zu beschatten.«
In Weschendorf stand Hauptkommissar Heinz Broders vor dem Haus, dessen Adresse Patrick Grieger als die von Milena Ingwers’ Eltern angegeben hatte. Es handelte sich um einen Bungalow aus den Achtzigern: parkähnliches Grundstück, ein Extra-Häuschen für die Doppelgarage, schneeweißer Kies auf der Zufahrt. Broders kam nicht umhin, die kunstvoll gestutzten Buchsbäume zu bewundern. Spindeln, Kegel und ein … ja, ein zum Sprung ansetzender Gepard waren zu erkennen. Broders fand es befriedigend, wenn die Natur sich ihm so gebändigt präsentierte. Als hätte der Mensch alles im Griff. Nun, in diesem Garten schien das so zu sein. Chaos und Willkür waren Broders verhasst.
Er konzentrierte sich wieder auf sein Vorhaben. Wohnten hier tatsächlich die Eltern des Opfers? Ein Irrtum wäre fatal. Weder draußen am Tor noch neben der soliden Eingangstür war ein Namensschild angebracht. Stattdessen fühlte Broders das Objektiv einer Kamera auf sich gerichtet.
»Bist du dir sicher, dass die Ingwers hier wohnen?«, vergewisserte er sich halblaut bei seinem Begleiter.
Der junge Kollege von der Schutzpolizei in Burg nickte, das jugendlich glatte Gesicht in erzwungener Ausdruckslosigkeit erstarrt. Im Auto auf der kurzen Fahrt hierher hatte er Broders erzählt, dass er die Familie Ingwers zumindest vom Sehen kannte. Rudolf Ingwers sei ein bekannter Unternehmer, ihm gehöre eine große Gärtnerei. Außerdem sei sein jüngster Bruder mit Milena Ingwers zusammen konfirmiert worden.
Broders hörte die Anspannung in seiner Stimme. Sie erinnerte ihn an seine Anfangszeit bei der Polizei: der Horror davor, Angehörigen eine Todesnachricht überbringen zu müssen. Noch schlimmer war es, wenn man die Leute kannte. Aber der Kollege war der Ansicht gewesen, dass auf jeden Fall ein Insulaner dabei sein sollte, nicht nur die Polizei vom Festland. »Vom Festland« – Fehmarn war eine Insel, das vergaß man schnell, wenn man über die Brücke hierhergefahren war.
Die Tür öffnete sich, und ein Mann Anfang fünfzig musterte sie. Bei ihrem Anblick verriet sein Gesicht erst Erstaunen, dann eine böse Vorahnung.
Das wird hier heute nicht leicht werden, dachte Heinz Broders. »Sind Sie Rudolf Ingwers?«
Der Mann nickte und sah beunruhigt von einem zum anderen. Er war mittelgroß, stämmig gebaut und hatte braune Augen – und er färbte sein Haar.
Broders war sich sicher, dass das dunkle Braun nicht echt sein konnte. Es hatte die Farbe von Bitterschokolade, neunzig Prozent Kakao, von der er Herzrasen bekam. Broders stellte sich und seinen Kollegen vor und bat darum, einen Moment eintreten zu dürfen.
»Ist etwas mit Milena?«, fragte Ingwers sofort. Sein Blick wanderte zu Broders’ Begleiter, der merklich zuckte.
»Ist Ihre Frau auch zu Hause?«
»Judith?«
Hatte er mehrere? »Ihre Ehefrau. Ist sie hier?«, wiederholte Broders.
»Äh, sie ist im Moment nicht zu sprechen. Sie sollten zuerst mit mir reden.« Er führte sie ins Haus. In der großzügigen Diele verharrte er an einem runden Tisch, offenbar unsicher, ob er den Beamten einen Platz anbieten sollte oder nicht.
»Wir haben vorhin die Leiche einer jungen Frau auf Mordkuhlen aufgefunden«, sagte Broders’ Kollege entschlossen. Es war das erste Mal, dass Heinz Broders diesen Namen hörte: Mordkuhlen. Das war seltsam … geradezu grotesk. »Es tut mir leid, aber es handelt sich bei der Toten aller Wahrscheinlichkeit nach um Ihre Tochter Milena«, fuhr der junge Beamte fort. Ohne Umschweife, geradeheraus, so hatte man es ihnen auf der Polizeischule beigebracht.
»Nein.« Ingwers starrte die Polizisten an. Seine Hand umkrampfte die Lehne eines Stuhls, den er eben hatte hervorziehen wollen. »Sind Sie sicher? Ich meine, kennen Sie meine Tochter überhaupt?«
»Ein Mitbewohner auf Mordkuhlen hat sie identifiziert.«
»Was ist mit ihr passiert? Sagen Sie schon.«
Rudolf Ingwers schien der Typ zu sein, der gern den Ton angab. Selbst jetzt, da er offensichtlich unter Schock stand, versuchte er, die Gesprächsführung an sich zu ziehen.
»Setzen Sie sich doch erst einmal. Wir werden alle Ihre Fragen dazu beantworten«, sagte Broders beschwichtigend.
Immerhin, Ingwers ließ sich auf einen der Stühle sinken. Auf seiner Oberlippe standen Schweißperlen, sein gebräuntes Gesicht war blass geworden.
Broders und der Kollege nahmen ebenfalls Platz.
»Milena kann nicht tot sein!« Ingwers hob die Faust und ließ sie krachend auf den polierten Kirschholztisch niedersausen. Er schüttelte leicht den Kopf, als wäre er über seine eigene Reaktion erstaunt. Dann sagte er mühsam beherrscht: »Sie ist doch fast noch ein Kind! Sie hat ihr Leben noch vor sich! Was … was ist mit ihr passiert? War es ein Unfall?«
»Wir müssen davon ausgehen, dass sie ermordet worden ist. Wahrscheinlich wurde sie erschlagen.«
»Was? Wo?«
»Im Garten des Hauses. Ein Mitbewohner hat sie gefunden.«
»War er es? Hat er ihr das angetan?« Rudolf Ingwers’ Stimme wurde heiser.
»Wir wissen noch nicht, wer es getan hat.«
Ingwers stand auf und ging ein paar Schritte auf und ab. Er rang mit den Händen und drehte sich dann abrupt wieder zu Broders um. »Und wann ist das passiert?«
»Gefunden wurde sie heute Mittag gegen vierzehn Uhr.«
»Ich war heute Vormittag bei einem Kunden auf dem Festland. Wenn ich gewusst hätte, dass meine Tochter in Gefahr ist …« Er brach ab. In seinen Augen spiegelte sich das unfassbare Grauen.
Trotz des Schocks: ein eilig präsentiertes Alibi, dachte Broders und neigte leicht den Kopf.
»Habe ich dir nicht immer gesagt, dass Milena in Gefahr ist?«, hörte Broders da eine Frau sagen. Sie stand so plötzlich im Türrahmen, als hätte sie sich gerade erst materialisiert. Ihre altmodische Kleidung, ihr strähniges mausbraunes Haar und die sehr blasse Haut erweckten den Eindruck, es mit einer Art Geist zu tun zu haben. Die Augen der Frau waren starr auf Rudolf Ingwers gerichtet.
Heinz Broders räusperte sich. »Frau Ingwers?«
Doch sie antwortete nicht. »Was ist mit Milena? Was wollen diese Leute hier?«, fragte sie ihren Ehemann, als wären Broders und sein Kollege gar nicht anwesend.
»Milena ist tot, Judith.« Ingwers klang sanft, aber auch seltsam gereizt.
»Nein, das ist nicht wahr. Niemals …« Judith Ingwers’ Pupillen wurden riesengroß, sie verdrehte die Augen, und dann rutschte sie wie in Zeitlupe am Türrahmen herunter.
»Da sehen Sie mal, was Sie angerichtet haben!«, herrschte Ingwers ihn an, als Broders zu der bewusstlosen Frau lief, um ihr zu helfen.
Es war inzwischen Abend geworden. Pia hielt vor einem Mietshaus in der Glockengießerstraße. Fiona, Felix’ Tagesmutter, wohnte hier in einer Wohnung im Erdgeschoss. Das Küchenfenster, das zur Straße rausging, war mit bunten Bildchen beklebt, die Motive von einem Bauernhof darstellen sollten. Das Mobile aus Tonkarton-Pinguinen hinter der blank geputzten Scheibe bildete einen seltsamen Kontrast zu den geschätzten fünfunddreißig Grad im Schatten, die heute in Lübeck gemessen worden waren. Doch zu Fionas Wohnung gehörte ein kleiner, schattiger Hinterhofgarten, in dem wahrscheinlich sogar über Mittag noch einigermaßen annehmbare Temperaturen geherrscht hatten.
Pia öffnete die Wagentür. T-Shirt und Jeans klebten ihr nach der kurzen Fahrt in ihrem nicht klimatisierten Privatwagen am Körper. Sie vermutete, dass ihr Gesicht stark gerötet war. Sie hatte sich beim Herumstehen im Gemüsegarten ordentlich die Haut verbrannt. Felix war am Morgen von ihr sorgfältig mit einer Sonnenmilch mit Lichtschutzfaktor fünfzig eingecremt worden, doch um sich selbst zu schützen, war keine Zeit mehr gewesen. Im Polizeijargon ein klarer Fall von »vernachlässigter Eigensicherung«. Pia klingelte und stieß nach dem Summen die Haustür auf.
Fiona stand im dunklen Hausflur an der Wohnungstür und erwartete sie. An eines ihrer nackten Beine klammerte sich, wie fast immer, ein Kind. Nicht Felix – darüber war er inzwischen hinaus.
»Hi, Fiona. Tut mir leid, dass ich wieder erst auf den letzten Drücker komme.«
»Wenn ich pünktlich Feierabend machen wollte, hätte ich nicht das Kind einer Polizistin angenommen«, sagte Fiona und ließ Pia eintreten. »War’s ein schlimmer Tag?«
»Seh ich so aus?« Pia warf einen schnellen Blick in den Garderobenspiegel. Es war noch schlimmer.
Fiona deutete in Richtung Garten. »Felix wird dich wohl trotzdem noch erkennen. Er hat schon nach dir gefragt.«
Ihr kleiner Sohn saß auf dem Rand der Sandkiste und leckte gerade ganz versunken ein Förmchen aus. Als er sie sah, stand er auf, schwankte ein wenig, um sein Gleichgewicht zu finden, und kam, das Förmchen fest umklammert, mit wackeligen Schritten auf sie zu. Das Laufen wurde täglich besser. Kaum war sie einen Tag nicht da, hatte er wieder etwas Neues gelernt. Er streckte ihr das Förmchen entgegen, doch als sie vor ihm in die Hocke ging, um ihn in den Arm zu nehmen, fing er an zu weinen. Pia drückte ihn an sich und fühlte, wie sich seine kleinen, sandigen Finger in ihren Nacken gruben.
»Hey, Felix. Jetzt bin ich ja wieder da«, flüsterte sie.
»Es war den ganzen Tag in Ordnung«, sagte Fiona. »Er hat eigentlich gar nicht geweint. Nur einmal, als er sich beim Hinfallen ein wenig wehgetan hat. Aber wenn er dich sieht, ist es vorbei.«
»Er hat sich wehgetan?«
Es war nur eine Schramme am Knie, die Fiona sorgfältig mit Desinfektionssalbe und einem Pflaster verarztet hatte. Fiona war die perfekte Mutter. Sie kochte nur Gemüsegerichte mit Zutaten aus dem Biomarkt, und hätte es das zu kaufen gegeben, wären auch die Sandförmchen in ihrem Haushalt aus ökologisch unbedenklichem und unbehandeltem Holz gewesen. Felix hier zu wissen, während sie arbeitete, war für Pia ein gutes Gefühl. Aber es war irgendwie auch frustrierend, wenn sie ihre eigenen mütterlichen Fähigkeiten mit denen Fionas verglich.
»Wir sehen uns übermorgen«, sagte Fiona beim Abschied. »Vergiss bitte nicht, Felix nächstes Mal ein langärmeliges T-Shirt mitzugeben. Pauline ist dann auch da, und wir wollen vielleicht mal wieder zum Spielplatz gehen.« Wenn die Sonne schien, bestand Fiona auf Sonnencreme, einem breitkrempigen Hut, langen Ärmeln und langen Hosen.
»Er bekommt alles mit, was er braucht«, versicherte Pia und machte einen geistigen Vermerk: dringend waschen! Morgen fand sie hoffentlich die Zeit dazu. Es war ihr freier Tag. Ihr Tag mit Felix.
Fiona erzählte ihr noch, dass sie am nächsten Tag einen Zahnarzttermin wahrnehmen und einkaufen gehen wollte. Pia nickte. Also würde Fiona dann nicht einspringen können, falls sie selbst wider Erwarten doch arbeiten musste. Zu Beginn einer neuen Ermittlung wusste man nie so genau, was kam.
Pia trug Felix, der zappelte, weil er lieber über die Straße laufen wollte, zum Auto. Unfassbar, wie so ein kleiner Mensch das Leben eines anderen komplett umkrempeln konnte.
Im Haus der Ingwers war wieder Ruhe eingekehrt. Die beiden Polizisten hatten sich vor einer guten Stunde auf den Weg gemacht. Der Hausarzt war eben gegangen. Das Beruhigungsmittel, das er Judith injiziert hatte, wirkte prächtig. Rudolf Ingwers hatte an sich halten müssen, den Arzt nicht aufzufordern, seiner Frau doch bitte eine ordentliche Dröhnung zu verpassen. Aber Dr. Mellert hatte ihn auch so verstanden. Ingwers wusste nicht, wie er mit seinen Gefühlen klarkommen sollte, mit dem Entsetzen, der Trauer und der Wut. Wut auf das Schicksal, das ihm seine Tochter genommen hatte. Er spürte das Verlangen, um sich zu schlagen oder wenigstens mit Worten zu verletzen, um sich irgendwie Luft zu machen – da konnte er sich nicht auch noch um Judith kümmern.
»Wie soll sie das nur ertragen? Den Tod ihres eigenen Kindes …«, hatte Rudolf nur flüstern müssen, und Mellert hatte nach einer weiteren Ampulle gegriffen. Er hätte besser Viehdoktor werden sollen, war von jeher Rudolfs Meinung über den Arzt gewesen. Mellerts »Rosskuren« waren berüchtigt. Dafür fuhr er aber bei Nacht und Nebel noch zu den entlegensten Höfen der Insel hinaus, um Patienten zu helfen, die sich selbst nicht zu ihm bewegen konnten. Karl Mellert gehörte zu der aussterbenden Spezies der praktischen Ärzte, die noch bereitwillig Hausbesuche machte.
Judith lag mit offenem Mund auf dem Bett und schnarchte. Es machte Rudolf schon aggressiv, sie nur anzusehen. Hinter den geschlossenen Lidern warteten ihre runden, wässrigen Augen, mit denen sie ihn in letzter Zeit immer so missbilligend ansah. Und das würde jetzt schlimmer werden, viel schlimmer. Aber das Unglück, das über die Familie gekommen war, war doch nicht seine Schuld! Nur, dass Judith das wohl anders sehen würde. Die Frage, wie sie mit Milenas ungebührlichem Verhalten umgehen sollten, hatte zuletzt mehr und mehr zwischen ihnen gestanden.
In der Diele zog er sein Mobiltelefon aus der Tasche, starrte einen Moment darauf und steckte es wieder ein. Er würde sich sowieso noch gute Begründungen für das eine oder andere Telefonat ausdenken müssen. Die Polizei stand noch ganz am Anfang ihrer Ermittlungen. Immer eins nach dem anderen, dachte er. Die Kontrolle behalten. Ein erster Schritt war, dass er seine Tochter noch einmal sehen wollte, so schmerzhaft das auch sein würde. Er musste sich Gewissheit verschaffen. Und er sollte sich irgendwie von ihr verabschieden, sonst würde ihn ihr vorwurfsvoller Blick noch bis in seine Träume verfolgen.
»Hier«, sagte Irma und stellte die bauchige Teekanne auf den Tisch. Sie schenkte ihrem Mitbewohner großzügig ein.
Der Geruch gammeliger Kräuter stieg Patrick in die Nase. Er schob den Becher angewidert von sich. »Ich trink dieses Gebräu nicht, Irma. Wie das schon riecht.«
»Das ist Tee mit Johanniskraut, Baldrian und ein paar Himbeerblättern. Beruhigend und stimmungsaufhellend.«
»Stimmungsaufhellend – du hast sie ja nicht mehr alle.«
»Nun reiß dich mal zusammen!«, herrschte sie ihn an.
Patrick zuckte. Er wusste nicht, wieso, aber Irma hatte etwas an sich, das ihm Respekt einflößte.
»Glaubst du, mir gefällt, dass Milena tot ist?«, fragte sie ihn. »Dass in meinem Garten ein Mord passiert ist?«
»Du denkst doch immer nur an das Haus, Irma. Weißt du, was es ist? Eine Todesfalle! Wenn Milena nicht hergekommen wäre, würde sie noch leben.«
»Was hat ihr Tod denn mit dem Haus zu tun?« Irma kniff die Augen zusammen. »Du glaubst doch nicht etwa den Quatsch, den die Leute erzählen?«
»Was? Ach, das! Natürlich nicht.«
»Und was wolltest du mir dann sagen?«
»Nichts.« Herrgott, konnte sie ihn nicht in Ruhe lassen? Wie hatte er anfangs nur das Leben und die Leute hier, allen voran Irma, entspannt finden können? Weil sie auf Förmlichkeiten verzichteten und die Dinge beim Namen nannten? Inzwischen hasste er ihren Hang, alles auszudiskutieren. Worte, leere Worte, die zu nichts führten! Und wenn sie sich ihre Gefühle auch noch mit der Gitarre in der Hand singend anvertrauten, dann war für Patrick alles zu spät. Bedauerlicherweise wusste er nicht, wo er sonst hingehen sollte. So billig würde er sonst nirgends wohnen können. Und allein der Aufwand, der nötig war, sich eine neue Bleibe zu suchen …
In seinem Zimmer unter dem Dach lagen noch Milenas Klamotten verteilt. Und ihr Geruch hing in seinem Bettzeug. Die Polizei war oben gewesen und hatte Gott weiß was angestellt. Wie sollte er heute Nacht da schlafen? Doch ohne Kohle blieb ihm nichts weiter übrig, als hierzubleiben, in der Küche zu hocken und zu warten. Irgendwann würde wenigstens Arne nach Hause kommen.
»Ich habe eigentlich gehofft, dass du dich uns mit der Zeit ein wenig öffnen würdest, Patrick.« Irma trat seitlich ans Fenster und schob das eingefärbte Betttuch, das abends als Vorhang diente, ein Stück zur Seite. Wozu war das Ding gut? Wer sollte hier hereinschauen? Und um was zu sehen? Aber in der Beziehung – und nicht nur in der – war Irma eigen. Sie zog jeden Abend alles zu, als lauerte draußen der Feind in den Büschen. Patrick hatte sie deswegen mal spießig genannt und dann eineinhalb Stunden darüber diskutieren müssen, bis Arne dem fruchtlosen Gerede ein Ende bereitet hatte.
Wo blieb er nur? Hatte er es noch nicht gehört?
Arne Klaasen gehörte zu der seltener werdenden Spezies der Handy-Verweigerer, genau wie Irma. Er hatte zwar ein Telefon dabei, aber er schaltete es nur an, wenn er selbst telefonieren wollte. Angeblich wegen der schädlichen Strahlung, die von seiner Hosentasche aus auf seine edelsten Körperteile einwirkte, wahrscheinlich aber eher aus purer Opposition. Im Haus gab es nur ein einziges altmodisches Telefon, an dem – oh, Wunder der Technik – ein Anrufbeantworter hing.
Patrick stand auf und sah ebenfalls aus dem Fenster. Es dämmerte schon. Am Horizont färbte sich der Himmel dunstig grau bis lila. Der Wind hatte aufgefrischt. Er zerrte an den Zweigen der Birken. Das rot-weiße Absperrband, das mit Metallspießen rund um den Gemüsegarten gespannt worden war, flatterte. Der LT der Spurensicherung stand immer noch auf dem Feldweg, doch in der Umgebung des weißen Zeltes waren keine Männer in Overalls mehr zu sehen.
»Wann die wohl endlich fertig sind?«, fragte Patrick.
»Wenn sie den Mörder haben«, meinte Irma und trat ein Stück zurück.
Die Tür zum Flur schwang auf. Patrick fuhr herum. Erst sah es so aus, als wäre es nur ein Luftzug gewesen. Dann erkannte er Zoes kleine Gestalt. Sie tapste barfuß in die Küche, den Kopf mit dem glatten roten Haar über die Stoffpuppe gebeugt, die sie an die Brust gepresst trug. Die mit dem filzigen schwarzen Schopf und dem gestreiften Oberteil, die sie ständig mit sich herumschleppte.
»Zoe, warum schläfst du nicht?«, fragte Irma sofort.
Das Kind blinzelte. »Ernie hat Angst.«
»Zoe, eine Puppe kann keine Angst haben«, sagte ihre Mutter mit mühsam verhohlener Ungeduld. Von morgens bis abends um Punkt sieben war Irma, was ihre Tochter anging, die Geduld in Person. Manchmal klang es ein wenig aufgesetzt, aber sie hatte sich im Griff. Doch zu der von ihr für Zoe festgesetzten Schlafenszeit schien ihre Beherrschung dann restlos erschöpft zu sein. Wenn die Kleine nicht schlafen wollte, gab es entweder Zoff, oder aber Arne erbarmte sich und las Zoe vor, bis sie eingeschlafen war. Wenn er dann wieder runterkam, saß Irma, vor Wut schnaubend, im Wohnzimmer und beklagte sich, dass er ihre Erziehung unterwandere. Manchmal blieb er da lieber gleich oben.
»Komm, ich bring dich und Ernie jetzt wieder ins Bett«, sagte Irma mit gepresster Stimme. Patrick sah zu, wie sie ihre Tochter hochhob und zur Treppe trug. »Es gibt überhaupt keinen Grund, Angst zu haben«, hörte er sie beteuern. Sie hätte auch in der Dunkelheit pfeifen können. Die Stufen knarrten unter ihrem Gewicht. Irma war so eine Heuchlerin! Es schüttelte ihn.
Hatte Milena Angst gehabt? Er konnte sich nicht mehr genau an alles erinnern, was vorgefallen war. Genau genommen setzte sich der Morgen für ihn nur noch aus bruchstückhaften Szenen zusammen. Als er Milena verlassen hatte, war sie wütend auf ihn gewesen. So viel wusste er immerhin noch.
Er hörte Irmas schwere Schritte auf den Dielen über sich. Der Wind heulte im Kamin, und ein Fensterflügel im Obergeschoss klapperte. Kam jetzt das ersehnte Gewitter, das dieser Scheißhitze endlich ein Ende bereitete?
Patrick schaute noch mal aus dem Fenster. Das Licht sah jetzt fast unwirklich aus: gelblich und fahl. Er beobachtete, wie eine Bö unter das Zelt fuhr, das die Polizeibeamten vorhin über Milenas totem Körper aufgestellt hatten. Sie selbst war inzwischen längst weggebracht worden. Nur das verdammte Ding stand noch da. Die weiße Plane blähte sich, es gab einen Ruck, und sie schlug zur Seite weg. Patrick Grieger lächelte. Er lächelte, bis etwas mit einem leisen »Tock« gegen die Hintertür flog.
Pia saß an diesem Abend mit ihrer Freundin Susanne Herbold zusammen. Die beiden hatten sich zu einem Feierabendbier in Susannes Hinterhofgarten getroffen. Die Luft war schwül. Durch die Straßen wehte ein warmer Wind, doch zwischen den Häusern stand die Luft still wie in einem Terrarium. Pia hob die kalte Flasche, einen Moment unentschlossen, ob sie sich die kühle Flüssigkeit in den Mund oder doch lieber in den Ausschnitt kippen sollte.
»Du hast dich ganz schön verbrannt heute«, stellte Susanne mit dem kritischen Blick der Ärztin fest. »Soll ich dir eine Salbe dafür geben?«
Pia legte den Handrücken an ihre Stirn. Die Haut fühlte sich immer noch heiß an. »Ich dachte, Quark hilft.«
»Hast du denn Quark im Kühlschrank?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mein Kühlschrank ist so gut wie leer. Ich bin vorhin erst von Fehmarn zurückgekommen. Da wollte ich nicht noch mit einem hungrigen Kind durch den Supermarkt laufen.«
»Es gibt Geschäfte, die auch liefern, weißt du.«
Pia winkte ab. »Morgen hab ich ja frei.«
»Ich denke, du arbeitest an einem neuen Fall?«