Ostseetod - Eva Almstädt - E-Book
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Ostseetod E-Book

Eva Almstädt

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Beschreibung

"Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der Nachbarin ihr Kind"

In einem kleinen Dorf an der Ostsee verschwindet ein elfjähriges Mädchen. Die groß angelegte Suchaktion bleibt erfolglos; angeheizt durch Gerüchte formiert sich eine Bürgerwehr. Kurz darauf wird im Wald die Leiche eines Mannes gefunden - Mord, wie sich herausstellt. Welche Verbindung besteht zwischen dem Toten und dem verschwundenen Kind? War der Tote Laras Entführer? Kommissarin Pia Korittki, selbst Mutter, weiß, dass jede Sekunde zählt. Und dann ist plötzlich ein zweites Mädchen verschwunden ...

Ein neuer Fall für Kommissarin Pia Korittki - Der elfte Band der erfolgreichen Krimi-Reihe von Bestsellerautorin Eva Almstädt!

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Seitenzahl: 500

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

Nachwort

Eva Almstädt

OSTSEE-TOD

Kriminalroman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Karin SchmidtTextredaktion: Dorothee CabrasTitelillustration: © plainpicture/hasengoldUmschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-2266-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Prolog

Sie fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit. Die Dunkelheit war ihr Freund geworden. Auch der Druck der Bodenbretter gegen ihren Hinterkopf, die Schulterblätter, den Po und die Fersen war tröstlich. Hier zu liegen gab ihr Halt.

Ihre Schultern passten genau zwischen die Seitenwände, die nicht nachgaben, so kräftig sie sich auch dagegenstemmte. Der schwere Deckel grenzte ihr Versteck nach oben hin ab. Er war mit einem Knall heruntergefallen. Vielleicht würde sie nie wieder hier rauskommen, bis sie irgendwann eine vertrocknete Mumie war? Sie zog die Unterarme unter ihren Körper und drückte sich hoch, bis sie mit dem Kopf die obere Begrenzung spürte. Sie versuchte, an sich hinunterzusehen. Es war so dunkel, dass sie weder ihr Kleid noch ihre weißen Strümpfe oder die Sandalen erkennen konnte. Ihre Sachen würden hier noch schmutziger werden. Das Kleid klebte ihr feucht an Brust und Bauch. Der Gestank überdeckte den Geruch nach Staub und altem Holz. Ihre Augen brannten, genau wie ihr Hals. Sie horchte auf ihre Atemzüge, ihren Herzschlag, das Scharren ihrer Füße, wenn sie sie nicht mehr stillhalten konnte.

Und sie horchte auf das, was sie so sehr fürchtete: das Geräusch seiner Schritte. Sie hatte Angst vor dem Moment, wenn er den Deckel öffnete. Wenn sie ihn ansehen musste, während er von oben auf sie herabblickte. Sie kannte jede Linie in seinem Gesicht. Die herabgezogenen Mundwinkel, die Kälte und Verachtung in seinen Augen … Sie konnte ihm nicht entkommen.

Dies hier war nur ein Aufschub.

1. Kapitel

Florian Warnke sah durch das Stallfenster auf den Hof hinaus. Er wollte sichergehen, in den nächsten Minuten nicht gestört zu werden. Der Vorplatz unter der Kastanie war menschenleer. Ebenso der staubige Fahrweg, der von der Dorfstraße zu seinem Gehöft führte. Er verkaufte Antiquitäten. Im Nebengebäude betrieb seine Frau Lucie ihre Ballettschule. Sie hatte ja Académie de Danse auf ihr Firmenschild schreiben wollen – in Grotenhagen auf dem Dorf! Lucie schien manchmal in einer Art Paralleluniversum zu leben. Durch die Brandschutzmauer hörte er gedämpft klassische Musik. Entweder dachte sie sich eine neue Étude aus, mit der sie ihre Ballettschülerinnen traktieren konnte, oder sie quälte sich selbst.

Mit einem Ächzen zog Florian das Biedermeiersofa vor. Er nahm das Ölgemälde mit der heiligen Elisabeth von Thüringen von der Wand und lehnte es gegen die Sofalehne. Der konzentriert-leidende Gesichtsausdruck der Heiligen ähnelte dem seiner Frau, wenn sie einen Spagat im Stehen machte. Hinter dem Bild befand sich die Revisionsklappe des stillgelegten Ofens. Florian horchte noch einmal, ob auch wirklich keiner kam, dann öffnete er die Klappe. Er tastete sich in den von ihm präparierten Hohlraum dahinter vor. Warum hatte er sich eigentlich noch keinen Tresor zugelegt? Verdammter Geiz! Und wo waren die zehntausend Euro, die er am Freitag von der Bank geholt hatte? Ein Schweißtropfen lief ihm den Rücken hinunter. Draußen fuhr ein Auto vor, er hörte eine Tür klappen. Florian ertastete die Geldscheine, griff zu und zog den Arm so rasch zurück, dass er sich an der rauen Oberseite des Hohlraums den Handrücken aufriss. Er stopfte das Geldbündel in die Hosentasche, knallte die Metallklappe zu, hängte Elisabeth wieder an den Nagel und schob mit einem weiteren Ächzen das Sofa zurück an seinen Platz. Das Glockenspiel über der Eingangstür erklang. Sein Schwager Rüdiger Dietz trat ein.

»Moin, Flo.« Er sah sich um. »Gar keine Kunden da?«

»Es ist Viertel nach zehn, Rüdiger. Das hier ist kein Baumarkt, wo man sich mal schnell ein paar Bretter besorgt.«

»Mein Schwesterchen arbeitet jedenfalls schon. Ich hab durchs Fenster geguckt und sie hüpfen gesehen. Ich will Lucie dabei lieber nicht stören. Also dachte ich mir, ich schau mal bei dem guten alten Flo herein.«

»Ich hab auch zu tun.«

»Ach ja?« Rüdiger stiefelte durch die Ausstellung, streifte die Schiffstruhe aus dem sechzehnten Jahrhundert, strich mit der Hand über die Lehne eines mit cremefarbenem Taft bezogenen Luis-Seize-Stuhls, rückte eine kristallene Weinkaraffe zurecht.

»Was willst du, Rüdiger?« Florian musste heute rechtzeitig in Polen eintreffen. Nicht, dass die Leute es sich anders überlegten und den Frankfurter Wellenschrank doch noch zu Brennholz verarbeiteten. Oder dass ihm jemand zuvorkam, der sich ebenfalls mit Antiquitäten auskannte.

»Du blutest ja. Hast du dich geprügelt?«, fragte Rüdiger.

Florian sah an sich hinunter. Ein Blutfaden lief über seinen Handrücken. Es tropfte auf den Steinfußboden. Florian ging in die Teeküche, wickelte sich ein Geschirrtuch um die Hand und gesellte sich wieder zu Rüdiger. Sein Schwager strich gerade über das polierte Zedernholz der Schiffstruhe mit den Intarsien.

»Suchst du was, Rüdiger?«

»Hast du hier Möbel umgestellt? Ganz allein?« Er wies auf die Schleifspuren auf dem Fußboden, dann auf das Biedermeiersofa. »Ich suche einen Job. Bin gerade ein bisschen klamm.«

»Ah ja?« Lucies Bruder hatte keinen Arbeitsvertrag mehr in den Händen gehalten, seit er vor einem Jahr aus Marbella zurückgekehrt war. »Klamm« bedeutete bei ihm, dass der Automat seine EC-Karte eingezogen hatte und Rüdiger im Dorfgasthof anschreiben ließ. »Du kannst morgen Abend wiederkommen und mir beim Ausladen und Zusammenbauen helfen. Eventuell hab ich sogar was zum Polstern und Neubeziehen da.«

»Aber nicht wieder was mit einem so ätzend empfindlichen Stoff wie neulich.«

Wie kam sein Schwager dazu, Forderungen zu stellen? War er in Marbella nicht daran gescheitert, Aufträge zahlungskräftiger Kunden an Land zu ziehen?

Rüdiger verlagerte sein Gewicht auf die Fersen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich muss jetzt los. Neue Möbel holen«, sagte Florian.

»Du meinst alte.« Rüdiger grinste. »Soll ich nicht mitkommen?«

Das würde ihm so passen: Stundenlang gemütlich auf dem Beifahrersitz hocken, ihn ungefragt vollqualmen, alles dumm kommentieren und abends eine Hotelübernachtung und ein Abendessen schnorren. Andererseits kannte Florian seine Geschäftspartner noch nicht. Der Ort, wo er hinmusste, lag irgendwo zweihundert Kilometer hinter der Grenze im Nirgendwo. Er würde dort auf sich allein gestellt sein. Und diese Leute wussten, wie viel Bargeld er bei sich hatte. Florian wog die Vor- und Nachteile gegeneinander ab. »Nein, Rüdiger. Nicht nötig. Ich ruf dich an, wenn ich wieder hier bin.«

»Ich könnte auch so lange auf deinen Laden aufpassen.«

»Nein, danke. Es steht schon im Internet, dass ich geschlossen habe.«

»Ach so. Im Internet!« Rüdiger sah ihn abwartend an.

In Florians Brieftasche befanden sich fünfzig Euro. Er legte das Geschirrtuch beiseite, zog sie hervor. Das Geld hatte eigentlich einen Teil seiner Spesen abdecken sollen, doch er nahm den Schein heraus und hielt ihn seinem Schwager hin. »Wie wäre es mit einer Anzahlung? Ich rechne dann morgen Abend mit dir ab.«

Rüdiger starrte auf den Fünfziger. Er leckte sich über die Unterlippe zwischen den ungepflegten Barthaaren. »He, he, so nötig hab ich es nun auch wieder nicht!« Sein Blick wanderte zu dem Bild über dem Sofa. Elisabeth, die blassen Hände gefaltet, die Augen gequält gen Himmel gerichtet, hing etwas schief vor der Revisionsklappe.

»Dann bis morgen Abend«, sagte Florian. »Ich ruf dich an, sobald ich zurück bin.« Er ließ den Schein auf den Beistelltisch mit den Nussbaum-Intarsien fallen.

Rüdiger schnappte ihn sich und steckte ihn zusammengeknüllt in die Brusttasche seines karierten Hemdes. »Also gut«, sagte er gnädig.

»Ach ja. Ich an deiner Stelle würde Lucie heute lieber nicht behelligen. Sie ist wegen der Aufführung ihrer Kids ziemlich mit den Nerven runter«, ließ Florian ihn wissen.

»Lucies große Aufführung ist doch erst im Oktober.«

Florian hob die Schultern und versuchte einen »Weiber halt«-Blick.

»Du solltest deine Frau mehr unterstützen, Flo. Lucies Ballettschule wirft doch wohl mehr Geld ab als dein Gerümpel hier.« Rüdiger verschaffte sich einen lässigen Abgang.

Florian ballte die rechte Hand zur Faust, bis es in den Gelenken knackte. Sein Schwager brachte ihn jedes Mal zur Weißglut. Wenn er sich von Lucie trennen würde, wäre er auf einen Schlag auch diesen Kotzbrocken los. Wenn … Er fühlte eine leichte Erregung in sich aufsteigen, als er dabei an Sophie dachte. Sophie, die er nach seiner Rückkehr treffen würde. Mit der er Pläne schmieden wollte. Hatte Sophie eigentlich Geschwister?

Er wartete, bis das Geräusch von Rüdigers Toyota mit dem quietschenden Keilriemen verklungen war. Dann zog er das Sofa wieder vor, nahm das Bild ab, öffnete die Klappe und steckte die Hand noch einmal in den Revisionsschacht. Er zog eine Schachtel heraus. Darin befand sich, noch in der Originalverpackung, ein Elektroschocker.

»Kommen noch mehr Leute?«, fragte Kriminalhauptkommissar Heinz Broders, als sich zwei weitere Kollegen in den Besprechungsraum des K1 schoben und nach Pia Ausschau hielten.

»Ich hab keine Ahnung, woher die das alle wissen.« Pia Korittki stand in einer Menschentraube und nahm Glückwünsche entgegen. Sie hatte vor ein paar Tagen die Nachricht erhalten, dass sie nun Kriminalhauptkommissarin sei. Zur Feier des Tages hatte sie für ihre Kollegen belegte Brötchen und Getränke ausgegeben, auch weil sie es an ihrem Geburtstag vor ein paar Wochen versäumt hatte. Doch im Besprechungsraum im siebten Stock wurde es langsam eng. Immer mehr Kollegen, auch aus anderen Abteilungen, schauten vorbei, um ihr zu gratulieren und einen Klönschnack zu halten.

»Gib es zu, Broders: Du hast dem gesamten Polizeihochhaus einen Wink gegeben, dass ich einen ausgebe«, sagte Pia halblaut zu ihrem Lieblingskollegen.

»Klar. Und denen vom Finanzamt drüben auch«, scherzte Broders. Das Lübecker Finanzamt lag quasi gegenüber, in einem anderen Flügel des Behördenhochhauses.

»Wenn die Ersten hinten aus dem Fenster fallen, schreitest du aber ein, oder?«

»He, ich habe die Unmengen an Essen und Trinken gesehen, die du heute Morgen hier angeschleppt hast. Ich wollte nur möglicher Verschwendung lebenswichtiger Ressourcen vorbeugen.« Er griente.

»Danke für die Einladung, Pia«, sagte Bente Svenson, ein Kollege von der Schutzpolizei, ein Hüne mit rotblonden Haaren. »Ich habe Holly mitgebracht. Das geht hoffentlich in Ordnung. Mach Sitz, Holly!« Der rabenschwarze Labrador Retriever, ein Drogenspürhund der Polizeihundestaffel, gehorchte sofort.

»Klar. Eine unserer besten Mitarbeiterinnen. Ich hoffe, der Essensgeruch irritiert Holly nicht zu sehr«, sagte Pia mit Blick auf die Hündin. »Hundekuchen habe ich nämlich nicht besorgt.«

»Ein paar Steaks medium rare tun es auch.« Bente lachte schallend. »Keine Sorge, Pia. Sie ist ein Profi. Holly fällt bestimmt nicht unbeherrscht über dein Buffet her, selbst wenn ich sie von der Leine lasse. Ganz im Gegensatz zu einigen deiner Kollegen …«

»Das probieren wir jetzt aber nicht aus«, sagte Broders. Er mochte Hunde nur im Kleinformat, auf dem Schoß von irgendwem und am liebsten mit Halstüchlein oder einem Schleifchen auf dem Kopf.

Pia, die die vielen Gratulanten verlegen machten, kraulte Holly hinter dem Ohr. »Greift lieber zu, solange noch was da ist«, sagte sie. »Ich will das Zeug nicht wieder mit nach Hause nehmen müssen.«

»Wieso, hat dein Schatz denn abends keinen Hunger?«, fragte Bente.

»Nicht auf Brötchen«, sagte Broders. Er senkte die Stimme. »Die sind noch nicht so lange zusammen.«

Ein weiterer Kollege steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich hab gehört, es gibt was zu feiern?«

»Ach nee, der Schelling! Ohne Overall und Maske hätte ich dich beinahe nicht erkannt«, begrüßte Bente den Kriminaltechniker.

Der Kollege vom K6 kam näher. »Glückwunsch zur Hauptkommissarin, Pia! Wie fühlt es sich denn an?«

»Na, im Grunde ändert sich nicht viel«, antwortete sie.

»Höchstens auf dem Bankkonto«, sagte Bente.

»Und wann übernimmst du den Laden hier?«, fragte Schelling.

Manfred Rist stand plötzlich neben Pia. »Vielleicht tanzt sie ja irgendwann einmal auf meinem Grab«, sagte er. »Aber bis dahin …« Rists Ton war scherzhaft, doch der Blick, mit dem er Pia bedachte, verriet seine Gefühle. Er war seit ein paar Monaten der Leiter des K1 und damit nun Pias direkter Vorgesetzter. Horst-Egon Gabler, der ehemalige Abteilungsleiter, war aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand gegangen. »Ich hoffe, du denkst daran, hier hinterher alles wieder in Ordnung zu bringen, Pia.« Er schnappte sich eine Frikadelle vom Buffet. »Wirklich in Ordnung.«

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Manfred«, erwiderte sie.

»Ich sag es ja nur. Rein prophylaktisch.« Er drehte ihr den Rücken zu und verließ den Raum.

Schelling griff nach einem Krabbenbrötchen. »Ein Fan von dir, Pia?«

»Mein allergrößter.« Pia bemerkte Schellings besorgten Blick. »Entweder reißen Manfred und ich uns zusammen und kommen in Zukunft miteinander aus, oder einer von uns geht«, sagte sie.

»He, da hab ich auch noch ein Wort mitzureden, als Faktotum der Abteilung.« Broders stand nach einem Ausflug ans Buffet nun wieder bei ihnen. Holly, die bislang kreuzbrav neben ihrem Herrchen gesessen hatte, wurde unruhig.

»Du und ein Faktotum.«

»Ich weiß, die neuen Schuhe reißen es raus«, sagte Broders zufrieden. Die Blicke der Umstehenden gingen hinunter zu seinen neongrünen Sportschuhen mit den leuchtend gelben Schnürsenkeln.

»Broders, die brennen mir Löcher in die Netzhaut«, sagte Bente.

»Aber sie machen jung!«

Der Labrador streckte den Kopf vor und schnüffelte an Broders’ Schuh. Ein Knurren stieg in seiner Kehle auf.

»Ruhig, Holly«, sagte Bente. »Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten.«

»Vielleicht hast du eine Scheibe Wurst unter der Sohle kleben?«, vermutete Pia.

»Oder du hast die Schuhcreme heute Morgen mit Leberwurst verwechselt«, sagte Schelling.

»Auf so etwas reagiert Holly nicht«, erwiderte Bente.

Betretenes Schweigen.

Broders lief rot an. Er atmete tief ein und aus. »Lass die Hundedame ruhig mal. Ich will das jetzt wissen.«

»Was willst du wissen?«, fragte Pia, die von einem weiteren Gratulanten abgelenkt worden war.

»Wie du meinst.« Bente lockerte die Leine, machte eine leichte Kopfbewegung, und die Hündin schoss vor. Holly schnüffelte an Broders’ Sportschuh, ein Beben ging durch ihren Körper, und ihr Nackenfell richtete sich auf. Der Labrador setzte sich vor Broders hin und gab Laut. Es war ein einziges »Wuff«, doch es reichte aus. Alle im Raum sahen zu ihnen hin.

»Na, so etwas!«, sagte Broders mit schmalen Augen.

»Ist gut, Holly. Hierher und Platz!«, kommandierte Bente. Er hob erstaunt die Augenbrauen. »Hey, was war das denn?«, fragte er Broders. »Auf die Story dazu bin ich gespannt«, sagte er zu ihm, als das Gespräch rundherum wieder anhob.

»Sicher. Aber vorher muss ich leider noch mal weg.« Broders entschuldigte sich mit einem Nicken bei Pia, bevor er den Besprechungsraum verließ.

»Das kann er dir ganz bestimmt erklären«, sagte Schelling beinahe beschwörend zu Bente. »Du kennst ihn doch. Es ist unser Heinz Broders.«

Bente nickte mit angespanntem Gesicht. »Natürlich kann er das. Sorry, Pia. Er hat mich darum gebeten. Ich wollte deine Feier nicht stören.«

»Schon gut. Ist ja nichts passiert.« Doch Pia fragte sich, was Broders’ überstürzter Abgang zu bedeuten hatte.

2. Kapitel

»Kann mich einer von euch zu Mia nach Wagau fahren?« Lara Eibholz steckte den Kopf wieder zur Küchentür herein. Das Mittagessen war beendet, und sie war vor fünf Minuten nach oben verschwunden, angeblich um ihre Hausaufgaben zu machen.

Thomas sah von seiner Zeitung auf, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag. »Ich bin gleich wieder auf dem Trecker, Schätzchen. Das weißt du doch. Frag deine Mutter.« Er hatte einen Becher Kaffee in der Hand.

Sophie sammelte die benutzten Teller ein. »Tut mir leid, Lara. Heute nicht. Ich muss pünktlich um halb drei den Laden aufschließen.« Sie warf einen Blick zur Wanduhr. »Kannst du nicht den Bus nehmen?«

»Der nächste Bus fährt erst in einer halben Stunde«, entgegnete Lara.

Ihr Vater seufzte. »Ich verstehe sowieso nicht, weshalb du ständig unterwegs sein musst. Warum verabredest du dich nicht in Grotenhagen oder bittest deine Freundinnen zu uns? Hier ist doch Platz genug.«

»Weil ich jetzt aufs Gymnasium gehe. Da ist es doch normal, dass ich neue Leute kennenlernen möchte, die auch woanders wohnen als in Grotenhagen.«

»Wo wohnt deine neue Freundin noch mal?«

»Im Nachbarort, in Wagau.«

»Fahr Lara doch eben schnell dorthin«, sagte Thomas zu seiner Frau.

»Ich muss gleich wieder ins Geschäft, das sagte ich bereits«, erwiderte Sophie gereizt. Sie zog die Klappe des Geschirrspülers auf und räumte das Geschirr ein.

»Meine Mutter kann doch eben den Laden für dich aufschließen.«

Das altbekannte Thema. Sophie seufzte. »Ich freue mich, wenn Agatha mir ab und zu hilft, Thomas. Aber es ist mein Laden. Sie behandelt mich wie ihre Aushilfe.«

»Und was ist mit deinen Hausaufgaben, Lara?«, wandte Thomas sich an seine Tochter, um von diesem Thema abzulenken.

»Das meiste hab ich schon in der Schule erledigt.« Laras Blick ging noch einmal zwischen ihren Eltern hin und her. Dann verschwand sie aus der Küche.

»Und was machst du mit Mads, wenn du den ganzen Nachmittag im Laden stehen willst?«, fragte er.

»Mads ist gern mit mir im Geschäft. Er kann mir bei den Zwetschgen helfen oder mit seiner Eisenbahn spielen. Und Lara fährt die drei Stationen mit dem Bus. Wo ist das Problem?«

»Und wie soll sie zurückkommen?«

»Auch mit dem Bus.«

»Ich mag nicht, wenn unsere Tochter spätabends noch allein durch die Weltgeschichte gondelt.«

»Ich auch nicht.« Sophie zwang sich, ruhig und sachlich zu sprechen. »Aber davon kann nicht die Rede sein. Der letzte Bus fährt um zehn nach sechs.«

Thomas faltete die Zeitung zusammen und stand auf. »Also, dann sag ich Lara, dass du sie heute Abend auch nicht abholst.« Er betonte das, als hätte sie sich eben von der gemeinsamen Tochter losgesagt.

»Man muss seinen Kindern auch etwas zutrauen«, rief Sophie ihm hinterher. Obwohl … Sie bedauerte schon ein wenig, ihre Tochter nicht fahren zu können. Bisher war Laras neue Freundin erst einmal bei ihnen gewesen. Mia schien ein selbstbewusstes und sympathisches Mädchen zu sein. Es interessierte Sophie, wie und wo sie in Wagau wohnte und wer ihre Eltern waren. Sie hatte gehört, dass Mias sechzehnjähriger Bruder Lukas Arm in Arm mit der Nachbarstochter, Cäcilia Nagel, gesehen worden war. Cäcilia war, wohlgemerkt, nicht viel älter als Lara. Sophie war froh, dass Lara mit ihren elf Jahren etwas verträumt und immer noch sehr kindlich war. Aber die drei Stationen mit dem Bus zu fahren, das war nun wirklich kein Problem. Sie würde sie abends zusammen mit Mads an der Bushaltestelle abholen.

Wie um sie für ihren Entschluss, ihre Tochter nicht zu fahren, zu bestrafen, bescherte das Schicksal Sophie in der ersten Stunde keinen einzigen Kunden im Hofladen. Der Himmel war strahlend blau; der Hofkater lag faul in der Sonne. Die Spatzen balgten sich auf dem staubigen Parkplatz, und sie saß in der Remise fest. Trotz der aufwendigen Umbauten war der Raum dunkel und immer ein wenig fußkalt. Sophie kümmerte sich um die neu angelieferten Zwetschgen vom benachbarten Obsthof und half anschließend ihrem Sohn Mads, die Holzeisenbahn im Hinterzimmer des Geschäfts aufzubauen.

Gegen vier kamen zwei Touristinnen, fragten nach Kuchen, die Kinder quengelten, weil sie ein Eis wollten, und nach einer halben Stunde, in der sie alles angefasst und kommentiert hatten, kauften sie zwei Bananen und ein Rosinenbrötchen.

Wenig später schneite Agatha, Sophies Schwiegermutter, herein. »Was für ein Tag! Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee«, rief sie und verschwand in der Teeküche.

Agatha tat ihrem Sohn gegenüber gern so, als würde ihre freiwillige Mitarbeit in Sophies Laden über Gebühr ausgenutzt und überhaupt nicht honoriert. Gut, Geld bekam Agatha nicht dafür, aber ihre Rente, zusammen mit der Summe, die Thomas ihr monatlich für den Hof überwies, reichte doch wunderbar zum Leben, fand Sophie. Und auch das renovierte Altenteilerhaus mit neuer Einbauküche und frischem Laminat im ganzen Erdgeschoss ließ eigentlich keine Wünsche offen. Ihre Schwiegermama genoss es sichtlich, jeden Tag zu kommen und zu gehen, wie es ihr passte, mit den Kunden zu tratschen, sich wichtigzumachen und Sophie dabei auf die Nerven zu fallen.

»Mads, mein Engel!«, hörte Sophie Agatha rufen. »Na, langweilst du dich, kleiner Mann? Hat deine Mama mal wieder keine Zeit für dich? Willst du einen Schoko-Keks von der Oma?«

Ein großer schwarzer Kombi fuhr vor. Aus ihm schälte sich, mit Taschen, Baseballkappen, Sonnenhüten und Sonnenbrillen bewaffnet, eine vierköpfige Familie. Sie kamen lärmend herein und blinzelten in das trübe Licht in der Remise.

»Mir ist zu kalt hier drin«, klagte das Mädchen.

»Geh doch nach draußen, das liebe Mäh-Schaf streicheln«, sagte die Mutter, aber das Mädchen wich nicht von ihrer Seite. Kluges Kind, draußen stand ja auch nur Freddy, der Ziegenbock, im Gehege.

»Papa, warum sind die Kartoffeln so schmutzig?«, fragte der Junge.

»Das ist alles bio«, sagte der Vater und lächelte Sophie an.

»Kann ich Ihnen helfen?« Agatha trat hinzu. Sie hielt nichts von der Taktik, dem Kunden erst einmal etwas Zeit zu geben, um sich umzuschauen. Ihr vernachlässigter Enkelsohn und der dringend benötigte Kaffee waren vergessen, weil ihre Schwiegertochter ja augenscheinlich unfähig war, die Kunden richtig zu bedienen.

»Wir gucken erst mal, danke«, sagte die Mutter.

»Aber sicher doch. Wir haben wunderbare Rote Beete! Kennen Sie Kartoffel-Rote-Beete-Auflauf? Ein Gedicht!«

»Danke, wir wohnen hier an der Ostsee im Hotel, wir wollten nur nach frischem Obst schauen.«

»Die Mirabellen sind köstlich. Ich koche immer Mirabellenmarmelade ein. Zum Frühstück aufs Brötchen … mmh!«

»Agatha, kannst du mir bitte mal helfen?«, bat Sophie mit angestrengt klingender Stimme.

»Moment bitte. Meine Schwiegertochter braucht mich! Was ist denn schon wieder, Sophie?«

Sie musste Agatha außer Gefecht setzen. Also bat sie sie, die Marmeladengläser neu zu sortieren. Noch eine Rezeptidee von ihr, und sie würde schreien. Da huschte ein Schatten an der verglasten Eingangstür vorbei, Fahrradbremsen quietschten, und Friedlinde Hellbach zog mit ihrem Auftritt im Laden die Blicke der Touristen auf sich. Trotz des Sommerwetters trug sie praktische Schnürschuhe, einen wadenlangen Wollrock und eine Strickjacke, alles in Farben zwischen Kitt und Schlamm. Sie hatte ihr dünnes Haar zu einem Zopf gebunden, doch die Hälfte klebte ihr im erhitzten Gesicht. Sophie konnte sich denken, was die Kunden aus der Stadt jetzt über sie alle dachten. Landeier …

»Moin, Friedel«, grüßte Agatha sie. »Wie geht’s dir und deinem Vater?«

»Danke, Agatha. Es muss ja.«

»Wir haben heute schöne neue Rote Beete.«

»Rote Beete aus eigener Ernte? Mein Vater liebt Rote Beete. Ich meine nur … ich wollte morgen eigentlich Hühnerfrikassee kochen.«

»Dann machst du ihm einen Rote-Beete Salat dazu«, schlug Agatha vor.

Und hinterher Mirabellenmarmelade, dachte Sophie ketzerisch. Sie war mal wieder außen vor, doch sie hielt sich bereit, falls die Touristen vielleicht Obst in der Auslage fanden, das ihren kritischen Blicken standhielt. Gerade als die Entscheidung zwischen einer Melone und ein paar Nektarinen fallen sollte, kam Mads mit schokoladeverschmiertem Gesicht und laufender Nase aus dem Hinterzimmer und verlangte ihre Aufmerksamkeit. In diesem Moment entschloss sich die Familie zu einem Großeinkauf von Äpfeln, Kirschen und einer Wassermelone, den Agatha eilfertig ausführte.

Mit einem letzten halb verwunderten, halb mitleidigen Blick auf Friedlinde seitens der Mutter und einem Lächeln für Sophie seitens des Vaters verließen die Touristen schwatzend den Laden, um auch dem »lieben Schaf« noch einen Besuch abzustatten.

Agatha rieb sich die molligen Hände. »So, und nun zu dir, Friedel? Wie kann ich dir helfen?«

Friedlinde zog ihre Einkaufsliste, notiert auf einem gebrauchten Briefumschlag, aus dem Weidenkorb. »Also, ich …«

»Moin, die Damen«, ertönte eine raue Stimme von der Ladentür her. Rüdiger Dietz war ein seltener Anblick im Hofladen. Er gehörte eher zur Stammkundschaft des Gasthofs. Mit seinem fettigen Haar, dem aufgeschwemmt aussehenden Gesicht und dem Goldkettchen im Ausschnitt seines weit offen stehenden karierten Flanellhemdes passte er nicht in den Hofladen. Er passte auch nicht in dieses idyllische Dorf. Er passte ebenso wenig in Sophies Weltbild wie Friedlinde Hellbach. Doch auch Rüdiger Dietz wohnte hier. Genauer gesagt hauste er in einem verlotterten Wohnwagen auf dem Grundstück der Warnkes. Lucie Warnke, Laras Ballettlehrerin, war seine Schwester, aber die beiden hatten überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander.

Sophie begrüßte ihn freundlich, denn sie wollte sich ihre Gedanken keinesfalls anmerken lassen. »Was kann ich für dich tun, Rüdiger?« Es ging außerdem auch um ihre Ehre. Diesen Kunden würde sie sich nicht von ihrer Schwiegermutter wegschnappen lassen.

»Drei Brötchen, Sophie.«

»Ich hab aber nur Vollkorn.« Sogleich ärgerte sie sich über sich selbst. Natürlich hatte sie nur Vollkorn. Dies war ein Bio-Laden. Vollkorn war das Maß aller Dinge. Sophie fürchtete allerdings, dass Rüdiger das anders sah.

»Solange sie mich satt machen.« Er grinste. »Kannst du sie mir gleich schmieren, mit Käse und Wurst oder so?«

»Gern doch.« Sie klärte ihn nicht über die diversen Bio-Käse-Sorten auf, sondern nahm den günstigsten aus der Kühltheke. Beim Preis rundete sie trotzdem ab. Ihr Mantra war, dass sie zu ihren Produkten stehen musste – jederzeit. Doch Rüdiger war zum einen unbelehrbar und zum anderen für ihren Geschmack zu grob und zu laut, als dass sie es auf eine Diskussion ankommen lassen wollte. Er reichte ihr einen zerknautschten Fünfziger über den Tresen, sodass sie beim Wechselgeld passen musste. Einmal mehr half Agatha ihr aus.

»Was war denn plötzlich mit Friedel los?«, fragte Sophie ihre Schwiegermutter, als sie wieder allein im Laden standen, schon um von ihrem unzureichenden Wechselgeldbestand abzulenken. »Sie war so schnell weg. Dabei hatte sie doch eine lange Liste dabei.«

Friedlinde Hellbach war, nur mit einem Laib Brot unter dem Arm und einer gestammelten Entschuldigung, gegangen.

»Ich glaube, sie hatte ein Problem mit Rüdigers Anwesenheit«, sagte Agatha.

»Das ist doch albern.«

Agatha zuckte mit den Schultern. »Sie kommt bestimmt morgen wieder. Die Rote Beete, die ich ihr empfohlen habe, lässt sie sich nicht entgehen.«

Um Viertel nach sechs setzte Sophie Mads auf sein Kettcar mit der Führungsstange und machte sich mit ihm auf den Weg zur Bushaltestelle. Sie war fünf Minuten zu früh und wartete, bis der Bus im Dunst eines lauen Sommerabends auftauchte. Vorsichtshalber fasste sie den Griff, mit dem sie Mads Kettcar steuern konnte, fester. Der Bus hielt, die Hydraulik der Türen gab einen Seufzer von sich. Zwei Teenager stiegen aus und schulterten ihre Schulrucksäcke. Sophie kannte die Jungen, allerdings nur vom Sehen. Sie wohnten in dem kleinen Neubaugebiet von Grotenhagen. Die Türen schlossen sich. Der Bus fuhr an. Sophie starrte ihm hinterher, bis er um die nächste Kurve der Dorfstraße verschwunden war.

Die Jugendlichen – sie waren etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt – zündeten sich sogleich im Schatten des Haltestellenhäuschens eine Zigarette an.

»Hallo, ihr beiden!«

Sie zuckten zusammen und sahen Sophie mit abwehrend hochgezogenen Schultern an.

»War da noch ein Mädchen im Bus? Elf Jahre alt. Dunkelblond, mit einem Zopf, in Jeans und einem weißen T-Shirt? Lara Eibholz, die kennt ihr doch bestimmt.«

Der Größere der beiden stieß geübt den Rauch aus. »Klar kennen wir die. Da war aber außer uns nur noch eine alte Frau aus Wagau im Bus.«

»Ist Lara vielleicht schon vorher ausgestiegen?«

»Da war überhaupt kein Mädchen. Und wir sind schon an der Mühle eingestiegen.« Der Kleinere sah Sophie beinahe mitleidig an, während er die Zigarette in der hohlen Hand versteckte. Die Station an der Mühle lag vor Wagau. Das bedeutete, dass Lara gar nicht in den Bus eingestiegen war.

»Gut. Danke.« Nichts war gut. Sophie drehte sich um und starrte in die Richtung, aus der der Bus gekommen war. Der Griff des Kettcars ruckte.

»Wo ist Lara?«, fragte Mads.

Sophie kontrollierte ihr Handy. »Sie hat wohl den Bus verpasst.« Oder Mias Eltern fuhren sie nach Hause? Oder … das war jedenfalls der letzte Bus für heute gewesen.

Blöde Beklemmung, dachte Sophie. Kaum war ein Kind nur einen Moment aus den Augen oder tat etwas Unerwartetes, klopfte einem das Herz bis zum Hals, und der Magen wurde einem flau. Sie musste an ein Buch denken, das sie vor Jahren gelesen hatte: Es hatte von einer Mutter gehandelt, die nur dann glücklich gewesen war, wenn ihre beiden Kinder gesund und friedlich im Bett gelegen hatten. In Sicherheit. Damals hatte Sophie noch keine Kinder gehabt und die Gefühle der Frau irgendwie abartig gefunden.

»Mama, ich hab so ’n Hunger!«, maulte Mads.

»Wir gehen ja schon nach Hause«, sagte sie. »Bestimmt ist Lara längst da.«

Sie wünschte jetzt, Thomas und sie wären weniger konsequent, was die Computer- und Handy-Abstinenz ihrer Kinder betraf. Dann könnte sie Lara anrufen, die Sache klären, und alles wäre gut.

Zu Hause angekommen, schnappte sich Sophie als Erstes Laras Klassenliste und suchte nach Mias Nummer. Mia Höffner, Wagau.

»Wo ist Lara? Wollen wir nicht gleich essen?«, fragte Thomas, der schon den Abendbrottisch deckte.

»Sie war nicht im Bus«, sagte Sophie knapp.

»Wie jetzt, nicht im Bus?«

Sophie deutete auf das Telefon und wandte sich von ihm ab. Es meldete sich gerade jemand. Zwei Minuten später drehte Sophie sich mit aschfahlem Gesicht zu ihrem Mann um. »Mias Mutter sagt, dass Lara um kurz vor sechs Uhr das Haus verlassen hat, um zur Bushaltestelle zu gehen.«

»Was? Und nun?«, fragte er.

»Lara muss den Bus wohl verpasst haben. Vielleicht war es ihr unangenehm, und sie hat sich deshalb zu Fuß auf den Heimweg gemacht?«

»Von Wagau?«

»Oder es hat sie jemand mitgenommen?« Sophie wollte nicht in diese Richtung denken. »Einer der Nachbarn«, schob sie schnell hinterher. Sie sah die Angst in Thomas’ Gesicht. Bis eben hatte sie sich noch halbwegs einreden können, dass sie nur gluckenhaft und übertrieben besorgt reagierte. Thomas’ offensichtliche Aufregung war die Bestätigung, dass ihr innerer Aufruhr berechtigt war.

»Ich fahr sofort los«, sagte er. »Es gibt ja nur eine Straße von Wagau nach Grotenhagen.«

»Außer dem Weg durch den Wald.«

»Unsinn«, erwiderte er. »Bleib du hier bei Mads! Und ruf mich sofort an, wenn Lara in der Zwischenzeit kommt!« Er presste die Lippen zusammen und verließ den Raum.

3. Kapitel

Die aufgeheizte Luft stand in den Straßen und Höfen der Lübecker Innenstadt. Es roch nach Abgasen, warmem Asphalt, einen Hauch süßlich nach Müll und … Sonnenmilch. Pia hatte alle Fenster ihrer Altbauwohnung in der Adlerstraße aufgerissen. Noch war nicht mit einer Abkühlung zu rechnen, doch später am Abend würde die Nähe zum Wasser für eine frische Brise sorgen hoffte sie. Im Moment drangen jedoch der Verkehrslärm der Fackenburger Allee und Stimmengewirr von der Eisdiele an der Ecke zu ihnen herauf. Vor dem Kiosk ein Stück weiter hatten sich bei dem schönen Wetter ein paar Nachbarn zu einem abendlichen Bier versammelt und lachten über irgendwas.

Pia und ihr Freund Lars saßen am Küchentisch, auf dem noch die Reste des Abendbrots standen. Keiner von ihnen hatte Lust abzuräumen. Keiner hatte Lust, sich über die Maßen zu bewegen. Nur Pias Sohn Felix hatte sich schon wieder tatendurstig in den Flur verzogen, wo er mithilfe von Bauklötzen, Legosteinen und schließlich allen greifbaren Baumaterialen wie Büchern, Schuhen und Klopapierrollen eine Rennpiste für seine Autos baute.

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