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Ein dunkler Ort, den man nicht betreten darf. Ein Mord in Islands Einöde, der brutaler nicht sein könnte. Und der Glaube an finstere Mächte, die durch die Risse im Lavagestein nach oben steigen wie giftige Dämpfe und die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Eingeschlossen von einem Schneesturm weiß Kommissar Skagen, der Mörder ist mitten unter ihnen. Er muss ihn stellen, bevor er erneut zuschlägt. Ein Fall für Tom Skagen von der Sondereinheit Skanpol, der ihn im Land der Elfen und Zwerge in die Abgründe des Glaubens und Aberglaubens blicken lässt.
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Seitenzahl: 541
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Anne Nørdby
Kalter Sturm
Thriller
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Kameron kincade / unsplash; Robert bye / unsplash; John thomas / unsplash
ISBN 978-3-7349-3022-5
Tom Skagen – Kriminalkommissar bei Skanpol
Jette Vestergaard – Kriminalhauptkommissarin bei Skanpol, Skagens Chefin
Jens Fram – Skagens norwegischer Kollege bei Skanpol
Kaisa Baumann – Skagens finnische Kollegin bei Skanpol
Maja Lövgren – schwedische Polizistin, Skagens Freundin
Göran Berg – schwedischer Polizist, Majas Chef
Norwegen:
Erling Øksnes – Ermittlungsleiter in Stavanger
Lise Haugland – Polizistin in Stavanger
Iver Ofori – Polizist in Stavanger
Island:
Halla Austdal – Polizeibedienstete aus Egilsstaðir
Bjarni Egilsson – Polizeibediensteter aus Seyðisfjörður
Nils Jónsson – Kriminalkommissar aus Reykjavík
Magnusson-Hof:
Ásgeir Magnusson – Schaffarmer auf Dverganes
Eydis Halldórsdóttir – Ásgeirs Frau, Schaffarmerin und Elfenbeschwörerin
Zoe Ásgeirsdóttir – 18-jährige Tochter von Ásgeir und Eydis
Ada und Berit – Zwillingstöchter von Ásgeir und Eydis
Thorsten Brandt – Versicherungsmakler aus Bremen
Wiebke Brandt – Thorstens Frau
Abigal (Alischa) Brandt – jugendliche Tochter von Thorsten und Wiebke
Pia Brandt – zweitälteste Tochter von Thorsten und Wiebke
Judith Brandt – kleinste Tochter von Thorsten und Wiebke
Jonas Brandt – kleiner Sohn von Thorsten und Wiebke, der verschwindet
Samuel Factor Romigius – Gründer einer Freikirche aus Bremen
Gislason-Hof:
Gisli Gislason – Schaffarmer auf Dverganes
Maggy Gislason – Gislis zweite Frau aus England, Schaffarmerin
Kári Gislason – jugendlicher Sohn von Gisli, ist mit Abigal zusammen
Lif Gislason – Gislis Tochter
Matthes Wittmann – Tischler aus Bremen
Jule Wittmann – Matthes’ Frau, Übersetzerin
Enna Wittmann – Tochter von Matthes und Jule
Silas Wittmann – Sohn von Matthes und Jule
Kalman-Hof:
Þór Kalman – alter Schaffarmer auf Dverganes
Yngvi Sveinsson – junger Saisonarbeiter von Kalman
Willum Njarðvik – zweiter Saisonarbeiter
In Island ist es üblich, sich mit Vornamen anzusprechen und zu duzen.
In der Ferne leuchtet das Meer. Das Gras ist noch gelb vom Winter. Es wird dauern, bis der Frühling hier oben im Norden ankommt und mit ihm endlich die Tage, an denen man wieder draußen sitzen kann und sich nicht drinnen verstecken muss. Der Winter ist ätzend gewesen. Kalt und grau und mit viel Schnee. Der Sturm hat die Wellen so hoch gegen die Klippen geschlagen, dass es salzig regnete. Eigentlich ist es in diesem Landstrich das ganze Jahr über kalt … und nass. Das Mädchen hasst das Wetter, das gesamte Land. Der Wunsch, von hier zu verschwinden, ist wie ein Brennen in ihrem Brustkorb, das von Tag zu Tag stärker wird. Sobald sich die Gelegenheit bietet, wird sie abhauen und ihren bescheuerten Eltern und den nervigen Geschwistern den Mittelfinger zeigen. Egal wohin. Hauptsache, weg, Hauptsache, warm. Vielleicht Spanien, Australien oder die Südsee. Gemeinsam mit ihrem Liebsten. Ohne den würde sie nicht gehen.
Sie wendet sich vom Meer ab und dreht sich zu ihm. Ihr Freund sitzt im Schneidersitz auf einem flechtenbewachsenen Felsen und blickt verträumt in die Ferne. So als liebte er, was er da sieht. Dabei hat er ihr versichert, dass es ihm genauso geht. Dass er ebenfalls fortwill. Obwohl er in der Gegend geboren und aufgewachsen ist. Auf der Schaffarm. Er sagt auch, dass sein Leben todlangweilig und öde sei. Er will in eine große Stadt, wo es alles gibt – nur keine Schafe.
Das Mädchen kommt aus dem Süden. Warum ihre Eltern unbedingt in diese scheißkalte Gegend wollten, ist ihr unverständlich. Sie war dagegen. Aber ihre Meinung zählt ja nicht.
Sanft streichelt sie ihrem Freund über den Arm. Sie bemerkt das Lächeln, das seine Mundwinkel umspielt. Sein Profil ist hübsch. Seine blonden Locken wehen in seine Stirn, und seine blauen Augen funkeln im Licht der tief stehenden Sonne. Gott, ist er süß! Sie will für immer mit ihm zusammen sein. Mit ihm auf Reisen gehen und nie wieder zurückkommen. Zu ihrer Scheißfamilie und den Scheißgeschwistern. Ihr Bruder ist der Schlimmste von allen. Himmel und Hölle, hoffentlich werden es nicht noch mehr Geschwister. Bis jetzt ist Mama schlank. Doch wer weiß. Ihre Mutter ist gerne schwanger, als wäre es ihr Hobby. In Wahrheit verlangt das ihr Glaube von ihr. Verhütung verboten! Was für ein Schwachsinn. Wie kann man sich sein Leben von Gott vorschreiben lassen?
Das Mädchen verzieht das Gesicht. Einen weiteren Schreihals würde sie nicht ertragen. Ihre Geschwister sind einfach nur ätzend, lärmen rum und streiten sich. Nie hat sie ihre Ruhe. Dauernd muss sie auf einen der drei aufpassen, weil ihr Vater arbeitet und ihre Mutter den Haushalt macht. Mama ist total überfordert. Entweder jammert sie oder sie meckert. Warum hat Mama so viele Kinder bekommen, wenn sie sich andauernd darüber beklagt? Das kapiert das Mädchen nicht.
Ob ihre Eltern sich überhaupt noch lieben? Zumindest sieht sie nie, dass sie sich küssen. Schnell kreuzt das Mädchen zwei Finger übereinander und schickt den Wunsch ins Universum. Bitte, keinen weiteren Schreihals!
Sie hört ein Geräusch und dreht den Kopf. In einiger Entfernung läuft ihr kleiner Bruder über die Wiese und ruft nach ihr. Bislang hat er sie nicht entdeckt. Rasch springt sie vom Stein und versteckt sich dahinter. Ihren Freund zieht sie mit sich in den kalten Schatten. Sie legt ihre Hände auf die rauen Flechten und späht um den Felsen herum. Ihr Bruder läuft weiter bis zum Schafgatter, erklimmt es ungeschickt und hält nach ihr Ausschau. Sein Kopf ruckt dabei in sämtliche Richtungen, während seine winzigen Hände sich an der Metallstange festklammern. Seine Finger sind kaum lang genug, um die Streben zu umfassen.
Sie hört, wie er nach ihr ruft. Eine Abfolge schriller Töne, die ihr durch Mark und Bein gehen. Das Mädchen presst die Zähne aufeinander, verschließt die Ohren. Mamas und Papas Prinz. Diese hässliche und pummelige Kröte, die ununterbrochen mit hoher Stimme quakt und ekeligen Rotz in der Nase hat.
Bestimmt hat ihr Bruder von Mama den Auftrag erhalten, sie zu holen. Das bedeutet, dass es Arbeit zu erledigen gibt. Aber dazu hat sie keine Lust. Sie will die Zeit mit ihrem Liebsten verbringen, nicht mit Wäscheaufhängen, Badschrubben, Staubsaugen oder schlimmer: Im Stall bei den stinkenden Schafen mithelfen, wenn die Lämmer geboren werden. Was dabei alles mit rauskommt, ist noch ekliger als der Rotz in der Nase ihres Bruders.
Der Winter war lang und die Orte, an denen sie sich heimlich mit ihrem Freund treffen konnte, sind rar. Sie müssen sich davonschleichen, wenn sie zusammen sein wollen. Heute können sie zum ersten Mal wieder draußen sitzen. Das soll ihnen niemand verderben. Erst recht nicht ihr kleiner Bruder. Und auch nicht Gott, der nur Verbote kennt. Besonders für die Dinge, die Spaß machen.
Sie beobachtet, wie ihr Bruder zwischen den Streben des Gatters hindurchklettert und auf der anderen Seite den Feldweg hinab zu den Klippen läuft. Er weiß genau, dass er dort nicht allein hindarf. Das ist zu gefährlich. Das Meer verschluckt Kinder.
Ein böses Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen. Was, wenn ihr Bruder ins Meer fallen würde? Da könnte man sicher nachhelfen.
Sie stößt sich vom Stein ab und geht auf das Schafgatter zu.
»Wo willst du hin?«, ruft ihr Freund hinter ihr her.
»Das wirst du schon sehen«, sagt sie und winkt ihm. »Komm mit. Wir gehen runter zu den Klippen.«
Halla Austdal betritt das kleine Büro der Polizei in Seyðisfjörður, das sich in einem weiß gestrichenen Holzhaus mit rotem Ständerwerk befindet und nicht weit von der größten und einzigen Touristenattraktion des verschlafenen Hafenortes entfernt liegt: der hellblauen Kirche mit dem regenbogenfarbenen Fußweg davor.
In dem Gebäude des Sysselmanns, des Bezirksvorstehers, befinden sich noch ein paar weitere Behörden wie der Zoll oder das Sozial- und Familienamt. Alles in einem sozusagen. Isländischer Pragmatismus.
»Hallo, Bjarni«, grüßt Halla den einzigen Polizisten des Ortes.
»Hæ, Kollegin! Wie geht’s? Lange nichts gehört. Was macht die große Stadt?«
Halla lacht. Sie kennt Bjarni aus ihren Kindertagen, ist in Seyðisfjörður aufgewachsen und aus dem Kaff abgehauen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab. Allerdings hat sie es nur bis über den Pass nach Egilsstaðir geschafft. Mit etwas mehr als 2.500 Einwohnern immerhin die größte Stadt im Osten des Landes. Im Gegensatz zu den knapp 660 Leuten, die in Seyðisfjörður hausen und die sie fast alle mit Namen kennt. Zudem ist sie mit der Hälfte davon verwandt.
»Ich kann nicht klagen«, antwortet sie. »Bei uns gibt es ein Nachtleben, und wir haben ein Fußballstadion. Was willst du mehr? Aber Spaß beiseite. Fahren wir gleich los?«
»Klar, ich habe nur auf dich gewartet.« Bjarni stemmt seinen riesigen Körper aus dem lederbezogenen Arbeitssessel, der verdammt bequem aussieht. Er schlüpft in seine Uniformjacke und nimmt seine Mütze. »Dein oder mein Auto?«
»Deins. Du kennst die Strecke besser.«
»Okay.« Bjarni, der etwa 20 Jahre älter ist als Halla, watschelt voran. Die Gummisohlen seiner Schuhe quietschen auf dem Linoleumboden. Am Ausgang steckt er den Kopf in das Büro des Sysselmanns, der hier eine Sysselfrau ist, und sagt: »Ich bin mit Halla draußen auf Dverganes.«
»Die Sache mit dem Kind?«, hört Halla die Bezirksvorsteherin fragen.
»Ja, ich hoffe, dass sich das schnell aufklärt, sonst wird es eine größere Aktion.«
»Ich drücke euch die Daumen.«
»Danke.« Bjarni setzt sich die Mütze auf und dreht sich mit ernster Miene zu Halla um. »Auf geht’s.«
Wenig später fahren sie über die Küstenstraße in Richtung Osten. Halla ist froh, dass die Straße nach den Erdrutschen vor ein paar Jahren repariert wurde. Jeder Einwohner des Dorfes hat mit angepackt, um die Strecke wieder befahrbar zu machen. In Island ist der Boden ständig auf die ein oder andere Weise in Bewegung. Ein Land, das nie zur Ruhe kommt.
Nachdem sie die letzten Häuser von Seyðisfjörður hinter sich gelassen haben, verwandelt sich die Asphaltstraße in eine Schotterpiste. Vor ihnen liegt eine holprige Fahrt von mindestens einer Stunde über die Halbinsel Dverganes, auf der es Berge bis zu 1.000 Metern Höhe gibt, dazu viele Steine, Geröll, alte Lavafelder und ein paar vereinzelte Schafhöfe. Am Ende der Landzunge steht der orangefarbene Leuchtturm von Dalatangi am offenen Nordatlantik und begrüßt die Schiffe, die in den Fjord einfahren. Das Leuchtfeuer gehört jedoch bereits zum nächsten Bezirk und ist nur über die Straße auf der anderen Seite der Halbinsel zu erreichen, also einmal ganz außen herum. Ein Umweg von über zwei Stunden. Dort, wo sie jetzt hinwollen, ans Nordufer, befinden sich die Schafhöfe, die sich tapfer gegen die Elemente zur Wehr setzen. Die Familien, die dort seit Generationen wohnen, kennt Halla nicht persönlich, aber sie weiß, dass sie ein sehr hartes und entbehrungsreiches Leben führen. Man muss schon ein bestimmter Schlag Mensch sein, um auf dieser kargen Felsinsel zu überleben, die im Winter im Schnee versinkt und im Sommer von Stürmen und Regen gepeitscht wird.
»Also, was genau ist passiert?«, fragt Halla.
Bjarni, der den Polizeijeep konzentriert über den mit Schlaglöchern übersäten Schotterweg lenkt, stößt Luft aus. »Ach, die Magnussons und die Gislasons haben sich zwei deutsche Familien eingeladen, die ihnen über das Sommerhalbjahr auf dem Hof helfen sollen. Dafür bekommen sie Kost und Logis. ›Urlaub gegen Hand‹, du weißt schon. Die Magnussons und die Gislasons bieten das seit Längerem an.«
»Sind es immer dieselben Familien, die kommen?«
»Soweit ich es verstanden habe, sind es jedes Mal andere.«
»Und der vermisste Junge stammt aus einer der deutschen Familien?«
»Richtig. Er ist erst fünf Jahre alt und wahrscheinlich unerlaubt in das Lavafeld gegangen, das hinter dem Hof liegt. Viele Höhlen und scharfkantiges Gestein. Die Schafbauern nennen es dimmu hraunar und machen einen großen Bogen darum.«
»Die dunkle Lava … davon habe ich gehört«, raunt Halla unbehaglich. Sie kennt die Geschichten, die sich um diesen unwirtlichen Landstrich drehen. Und keine davon geht gut aus.
»Die Schafbauern und zahlreiche Helfer haben bis auf das Lavafeld bereits alles abgesucht«, sagt Bjarni. »Sogar mit ihren Hunden. Aber sie haben den kleinen Jonas nicht gefunden. Und in das Lavafeld trauen sie sich nicht. Deshalb haben sie uns gerufen.«
Vielleicht hat sich Jonas in der dimmu hraunar verirrt, denkt Halla. Oder er ist ins Meer gefallen und im eisigen Wasser ertrunken. Eine Gänsehaut kriecht über ihren Rücken.
»Wie lange ist er schon weg?«
»Seit heute Vormittag.«
»Hm, es ist recht kalt, da besteht die Gefahr, dass er unterkühlt.«
»Auf jeden Fall. Zwar soll der Junge einen Pullover aus Schafwolle tragen, dicke Hosen und Gummistiefel, doch das reicht nicht für die Nacht. Die Temperaturen können trotz Frühling noch immer unter null fallen.«
Halla muss an die Touristen denken, die nach Island kommen und sich nicht angemessen kleiden. Sie sehen die beeindruckenden Fotos von den Gletschern und den schwarzen Stränden mit den glitzernden Eisbrocken am Jökulsárlón, verschwenden jedoch keinen Gedanken daran, dass für solche Schönheiten auch gewisse Temperaturen nötig sind. Selbst im Sommer kann es bis auf Höhe des Meeresspiegels schneien. Und jetzt haben sie gerade mal Anfang Mai.
Der Jeep holpert durch die Schlaglöcher und lässt Halla auf ihrem Sitz auf und ab hüpfen.
»’tschuldige«, brummt Bjarni. »Die Straße ist wirklich schlecht.«
Halla hält sich am Türgriff fest und schaut konzentriert nach vorn, damit ihr nicht übel wird. »Hat die Lämmersaison begonnen?«, fragt sie.
»Ja, auf den Höfen ist viel los. Da haben die Leute die Kinder nicht ständig im Blick. Die Kleinen haben wohl in der Nähe des Lavafeldes gespielt, wobei es ihnen jedoch strikt untersagt wurde, dort hineinzugehen. Der verschwundene Junge soll allerdings vorwitzig und neugierig sein.«
»Du meinst unerzogen?« Halla sieht Bjarni von der Seite an. Dass die Kinder, die auf den Schafhöfen geboren wurden, wissen, wie man sich in der Natur verhält, daran hat sie keinen Zweifel, aber diese verhätschelten Stadtkinder vom europäischen Festland … Die haben nicht die geringste Ahnung davon, wie gefährlich es sein kann, sich zu weit vom Haus zu entfernen. Das ist in Island definitiv etwas anderes als im behüteten Vorgarten einer Einfamilienhaussiedlung in München.
»Die Eltern der deutschen Familien haben den Kindern wohl sehr genau eingeschärft, dass das Lavafeld tabu ist, und bisher sollen sie sich auch daran gehalten haben.«
»Wie lange sind sie schon hier?«
»Seit Februar.«
»Seit drei Monaten?«, fragt Halla überrascht. »Müssen die Kinder denn nicht in die Schule?«
Bjarni zuckt mit den Achseln. »Vielleicht machen die Eltern mit ihnen Homeschooling.« Er deutet mit dem Kinn nach vorn. »Wir sind da.«
Sie halten vor einem hellblau gestrichenen Wohnhaus, hinter dem ein zweites Haus aus Holz steht. Beide Gebäude wirken heruntergekommen, was kein Wunder ist bei der harschen Witterung. Da hält die Fassadenfarbe gerade mal zwei Winter. Neben den Häusern ducken sich drei weitere Bauten in die karge Landschaft: eine roh gezimmerte Scheune und zwei Schafställe. Ein Pick-up parkt vor dem zweistöckigen Wohnhaus und ein Traktor mit verschlammten Reifen und offener Motorhaube wurde vor der Scheune abgestellt. Der Mann, der daran arbeitet, trägt einen Strickpulli und graue Arbeitshosen. Als Halla und Bjarni aussteigen, dreht er sich um. Mit ernster Miene wirft er den öligen Lappen weg und geht auf sie zu, eine Zigarette im Mundwinkel.
»Hæ!«, sagt er und begrüßt sie mit einem festen Händedruck. »Ich bin Ásgeir Magnusson. Ich habe euch angerufen.«
Bjarni nickt und richtet seinen Blick auf das Lavafeld, das sich hinter dem Gehöft erstreckt wie ein gigantischer Ausblick in die Hölle. Damals muss sich die heiße Lava träge den Hang hinabgeschoben haben. Doch auf ihrem Weg nach unten zu den Klippen ist sie erstarrt und hat das Meer nie erreicht. Wann ist das passiert? Halla fällt es nicht ein. Sie weiß aber, dass früher in ihrer Schule darüber gesprochen wurde.
Ásgeir hebt einen Arm und zeigt auf die schwarze Masse. »Die anderen sind dort draußen und suchen.«
»Und du?« Halla fixiert den Schafbauern, der wirkt, als könnte er durch nichts aus der Ruhe gebracht werden. Er ist um einiges älter als sie. Dicke graue Strähnen stehen von seinem Kopf in sämtliche Richtungen ab, was ihm etwas Jungenhaftes verleiht.
»Na, ich habe darauf gewartet, dass ihr kommt«, antwortet er und schiebt den Zigarettenstummel mit der Zunge in den Mundwinkel.
»Na, und jetzt sind wir da«, entgegnet Halla trocken. Sie schaut sich auf dem Hofgelände um. Der Vorplatz ist ziemlich schlammig, wirkt ansonsten jedoch aufgeräumt. Ab und zu dringt ein Blöken aus der offenen Stalltür. Oben am Himmel kreist eine Skua, eine Große Raubmöwe. Wahrscheinlich wartet sie darauf, dass die ersten Küken der Seevögel schlüpfen. Dann gäbe es reichlich Futter für sie und ihre Brut. Ob die Papageientaucher schon aus ihrem Winterquartier auf der offenen See zurückgekehrt sind? Halla blickt zum Meer hinüber, das sich heute schiefergrau zeigt. In der Ferne wandern Schaumkronen über das Wasser auf die andere Seite des Fjords, wo die Berge mit einem zarten grünen Hauch überzogen sind. Das Rauschen der Wellen, die unten gegen die Klippen schlagen, ist allgegenwärtig und übertönt den Schrei der Skua.
Wie man hier bloß überlebt? Halla wendet sich an den Schafbauern. »Kannst du mir zeigen, wo der Junge als Letztes gesehen wurde?«
»Natürlich.« Magnusson gibt ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen, und stapft über das frisch spießende Gras der Wiese. Ein Hund begleitet sie. Ein schwarz-weißer Border Collie. Er sieht sein Herrchen an, als erwartete er einen Auftrag. Doch Magnusson hüllt sich in Schweigen.
»Sind die Schafe in den Ställen?«, erkundigt sich Halla. Bjarni trottet mit gesenktem Kopf neben ihr, überlässt ihr die Fragen.
»Ja, bis sie ihre Lämmer bekommen haben. Das wird noch zwei, drei Wochen dauern. Und wenn es wärmer wird, dürfen sie auf die Weiden. Vorher ist es nachts zu kalt für die Lämmer. Sie könnten erfrieren.«
»Aha. Wie suchst du eigentlich deine Gäste fürs Jahr aus? Müssen sie landwirtschaftliche Erfahrung haben?«
»Nein, die Arbeit bei uns kann man schnell lernen, daher sind Vorkenntnisse nicht wichtig. Ich inseriere in einer deutschen Naturkost-Zeitung, damit habe ich die besten Erfahrungen gemacht. Ich habe gerne alternativ eingestellte Gäste, denen ökologische Landwirtschaft und Nachhaltigkeit wichtig sind. Solche Leute findet man nicht über die üblichen Work-and-Travel-Portale. Außerdem sind Deutsche am verlässlichsten. Gisli vom Nachbarhof handhabt das genauso. Oft geben wir ein Doppelinserat raus.«
»Verdient ihr mit den Gästen Geld?«, will Halla wissen.
»Nein, sie geben uns ihre Arbeitskraft und bekommen dafür Unterkunft und Verpflegung.«
»Und wovon lebt ihr hier draußen?«
»Von den Schafen.«
»Nur von den Schafen?« Halla hebt ungläubig die Brauen.
»Die Wolle ist von bester Qualität und überall auf der Welt begehrt«, erklärt Magnusson. »Ebenso das Fleisch. Unsere Tiere grasen noch ganz natürlich und bekommen keine Chemikalien ab. Höchste Bioqualität. Das ist etwas Besonderes in einer total verschmutzen Welt.«
Halla nickt interessiert. Sie wusste nicht, dass das Islandschaf einen solchen Status innehat. »Halten die Langzeitgäste denn die volle Saison durch?«
»In der Regel wissen die meisten, worauf sie sich einlassen. Oft ist ihr Aufenthalt lange im Voraus geplant. Da ist ja einiges an Organisation nötig, besonders wenn man mit Kindern herkommt.« Magnusson hält vor der zerklüfteten schwarzen Masse aus Lava an, während sein Hund weiter hechelnd umherstreift. Er hebt den Arm und deutet auf mehrere mit weißer Plastikfolie umwickelte Rundballen, die aussehen wie riesige Marshmallows. »Die Kinder haben bei den Silageballen gespielt, und auf einmal war Jonas weg.«
»Gibt es einen Grund, warum der Junge weggelaufen sein könnte? Einen Streit unter den Kindern vielleicht? Oder waren die Eltern böse mit ihm? Irgendetwas, was den Jungen dazu veranlasst haben könnte, sich zu verstecken?«
Magnusson zieht an einer frisch angezündeten Zigarette. »Jonas ist ein quirliger Junge, aber auch sehr lieb.« Er nimmt den Glimmstängel aus dem Mund und atmet den Rauch aus, der sofort vom Wind mitgenommen wird. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das mit Absicht gemacht hat. Außerdem hätte meine Aska ihn gefunden, wenn er in der Nähe wäre.« Er deutet auf den Border Collie, der geschäftig hin und her läuft.
Das beantwortet nicht die Frage nach einem etwaigen Streit, denkt Halla. Das Argument mit dem Hund überzeugt sie jedoch. Sie blickt auf den Lavastrom. Das erkaltete Gestein hat bizarre Formen angenommen. Manche erinnern sie an menschliche Gestalten, andere wiederum haben etwas Unheimliches, Schimärenhaftes an sich. Je länger Halla auf die krummen Figuren guckt, desto eindringlicher wird das Gefühl, aus dem Lavafeld heraus beobachtet zu werden. Sie wendet sich ab.
Wenn der Junge tatsächlich dort hineingelaufen ist, wird es schwer werden, ihn zu finden. Der Lavastrom erstreckt sich über mehrere Kilometer den Berg hinauf. Ohne Unterstützung aus der Luft ist da kaum etwas zu machen.
»Gibt es einen Weg da durch?« Sie zeigt auf den schwarzen Gesteinswall, ohne hinzusehen. Das Gefühl ist weiterhin da.
»Es gibt einen alten Wanderpfad, der mit kleinen Steinhaufen markiert ist, doch der Weg ist riskant. Das Gestein ist einfach zu scharfkantig.« Magnusson deutet zu dem Berg hinauf, von dem sich der Strom hinabgewälzt hat. »Ich habe das damals als kleiner Junge miterlebt. Es war Furcht einflößend.«
»Wann war das?«, fragt Halla.
»1980«, antwortet Bjarni anstelle von Magnusson.
Das war sechs Jahre, bevor sie geboren wurde, denkt Halla. In ihrer Kindheit hat sie Leute im Dorf davon erzählen hören. Es muss ein spektakulärer Ausbruch gewesen sein.
»Jeder, der in dieser Gegend lebte, wurde evakuiert und in Seyðisfjörður untergebracht«, erzählt Magnusson. »Wir konnten nichts tun, außer zu beten, dass unsere Häuser verschont bleiben würden.«
»Und wir alle haben gebetet«, ergänzt Bjarni ernst.
Halla blickt zu den Gebäuden hinüber, die keine 50 Meter vom Lavastrom entfernt stehen.
»Gott hat seine schützende Hand über die Höfe gehalten«, sagt Magnusson, »und den Lavastrom daran vorbeigelenkt.«
»Gibt es hier noch aktiven Vulkanismus?«, will Halla wissen.
»Nein, die Lava ist erkaltet. Aber weiter unten am Fluss befinden sich ein paar heiße Quellen. In letzter Zeit gab es zwar kleinere Erdstöße, aber nichts Ernstes. Die Geologen von der Uni in Reykjavík überwachen die Aktivität.«
Halla zückt ihr Handy. »In drei Stunden wird es dunkel. Ich fordere den Hubschrauber aus Egilsstaðir an. Hoffentlich ist er verfügbar. Aus der Luft finden wir den Jungen schneller.« Sie deutet hinunter zur Steilküste. »Kann er auch zu den Klippen gelaufen sein?«
Magnusson schüttelt den Kopf. »Die Kinder sagen, dass er hier oben war, als er verschwunden ist.«
Kinder erzählen viel, wenn der Tag lang ist, denkt Halla. Sie wählt die Nummer der Küstenwache und bespricht den Fall mit dem Dienststellenleiter. Nachdem sie aufgelegt hat, sagt sie: »Der Heli kommt. Dauert aber.«
Der Schafbauer atmet erleichtert auf. »Das ist gut. Ich dachte schon, wir müssen da rein, ins Lavafeld.« Es sieht aus, als erschauderte er, denn er zieht kurz die kräftigen Schultern hoch. Dann wirft er die Zigarette ins Gras und tritt sie aus.
Hinter ihnen ertönt ein Laut. Hastig dreht Halla sich um und betrachtet die gekrümmten Silhouetten der dimmu hraunar. Doch da ist nichts, was das Geräusch verursacht haben könnte. Die Lavazacken und verdrehten Türme ragen reglos auf, als wäre eine riesige Ansammlung von grobschuppigen Drachen dort zu Stein erstarrt. Trotzdem fühlt Halla sich noch immer beobachtet.
»Hast du das gehört?«, fragt Bjarni neben ihr leise. »Das klang wie ein Lachen.«
»Ja«, flüstert Halla und unterdrückt ein neuerliches Schaudern, während sie auf das zerklüftete Gestein des dunklen Landes blickt.
Ungerührt blickt das dunkle Land zurück.
Der Lärm des Helikopters übertönt das Rauschen der Brandung an den Klippen. Die blau-weiße Maschine schwebt in der Ferne langsam vorbei. Halla hat der Crew durchgegeben, dass sie nicht nur das Lavafeld, sondern auch die Küstenlinie abfliegen sollen. Für den Fall, dass der Junge doch zum Meer gelaufen ist. Sie will nicht riskieren, dass er stirbt, weil sie an der falschen Stelle gesucht haben.
Es knackt im Funkgerät. »TF-EIR an Austdal.«
Halla drückt auf den Sendeknopf. »Austdal hört.«
»Es ist nichts im Wasser. Das muss allerdings nichts heißen. Ein Körper geht schnell unter, und die Strömung zieht ihn aufs offene Meer.«
»Verstanden. Trotzdem danke.«
»Kein Problem. Wir fliegen noch eine weitere Runde mit der Wärmebildkamera über das Lavafeld.«
»Alles klar. Austdal over and out.«
Halla lässt das Funkgerät sinken und beobachtet, wie der Helikopter mit einem Seitwärtsschwenk ins Landesinnere abbiegt und auf das Lavafeld zusteuert. Der Suchtrupp steht im schwindenden Licht des Tages davor. Es sind hauptsächlich die einheimischen Schafzüchter und die Gastfamilien, die sich zusammengetan haben, um die Polizei zu unterstützen. Halla hat angeordnet, dass sich alle an einem Punkt einfinden sollen, sobald der Heli einen Wärmescan macht, sonst würde es ständig falschen Alarm geben. Erwartungsvoll heben die Menschen die Köpfe und verfolgen den Flug des Hubschraubers. Bjarni ist unter ihnen, seine Miene ist nicht leicht zu deuten, aber Halla glaubt, darin Resignation zu lesen. Er hat wenig Hoffnung, den Jungen heute noch zu finden, nach den vielen Durchgängen, die sie bereits hinter sich haben.
Halla geht auf die Gruppe zu, die kalten Hände tief in den Taschen ihrer Uniformjacke vergraben. Mit dem Nachlassen des Tageslichts fallen die Temperaturen rascher, als ihr lieb ist.
Wenn der Junge da draußen ist, würde er die Nacht über furchtbar frieren.
Sie tauscht einen Blick mit Bjarni, der unmerklich den Kopf schüttelt. Halla räuspert sich, sie will nicht zu niedergeschlagen wirken, während sie mit der Mutter des vermissten Jungen spricht. Wiebke Brandt ist eine zierliche Person mit der Figur eines jungen Mädchens und dem verhärmten Gesicht einer 60-Jährigen. Sie reicht Halla gerade mal bis zur Brust. Eine der anderen Frauen hat einen Arm um sie gelegt und stützt sie, während ihr Mann mit hängenden Schultern neben ihr steht.
»Frau Brandt«, sagt Halla auf Deutsch. Sie ist als Mädchen während eines Schüleraustauschs ein Jahr in München gewesen. Einer der Gründe, warum ihr Chef sie für den Fall abgeordnet hat, der eigentlich in Bjarnis Zuständigkeitsbereich fällt, doch ihr Kollege spricht nur Englisch. »Wir fliegen jetzt ein letztes Mal über die Lava. Anschließend müssen wir die Suche für heute leider einstellen. Es wird zu dunkel und der Hubschrauber muss tanken.«
»Wir können doch nicht einfach so aufhören zu suchen«, klagt Wiebke Brandt mit brüchiger Stimme.
»Es tut mir leid. Ich wünschte, die Umstände wären anders. Wenn die Wärmebildkamera nichts anzeigt, dann …«
»Heißt das, Jonas ist tot?!« In den Augen der Frau leuchtet Panik auf.
»Nein, das heißt es nicht. Es kann sein, dass sich Ihr Sohn in eine der unzähligen Höhlen im Lavastrom verkrochen hat. Das würde erklären, warum der Helikopter ihn nicht findet.«
»Aber würde er nicht den Lärm der Maschine hören und rauskommen?«, wirft Thorsten Brandt ein, der Vater des Jungen. Mit seinem dichten dunklen Haar, das ihm in kleinen Locken in die Stirn fällt, und den lebhaften braunen Augen sieht er wesentlich jünger aus als seine Frau. Ein hübscher, leicht feminin wirkender Mann. Allerdings spricht eine große Müdigkeit aus seinem Blick.
»Ich weiß nicht«, antwortet Halla, »Kinder reagieren unterschiedlich. Würde Ihr Sohn das tun?«
Die Eltern sehen einander an. Schließlich nickt die Mutter. »Jonas ist intelligent, er würde verstehen, dass nach ihm gesucht wird, und sich bemerkbar machen.«
»Dass Ihr Junge nicht rauskommt, kann vieles bedeuten. Unter anderem, dass er erschöpft ist und schläft. Oder er ist unterkühlt und mag sich nicht bewegen«, erklärt Halla.
»Oder er hat sich verletzt«, ergänzt die Mutter besorgt. Dabei überziehen zahlreiche Falten ihr Gesicht.
Mein Gott, denkt Halla, sie wirkt richtig ausgemergelt. Dabei ist sie höchstens Anfang 40.
»Das ist alles Eydis’ Schuld«, jammert die Mutter. »Sie hätte den Kindern nicht diese Geschichten erzählen dürfen.«
»Jetzt fang nicht schon wieder damit an, Wiebke«, mischt sich ihr Mann ein.
»Wenn es nun aber so ist!«, blafft die Mutter anklagend zurück. »Ich habe doch recht, oder?« Sie dreht sich zu den anderen in der Gruppe, die schweigend zu Boden blicken. Keiner traut sich, etwas zu sagen.
»Das ist Quatsch, Wiebke. Und das weißt du«, fährt Thorsten Brandt fort. »Jonas würde niemals aus diesem Grund ins Lavafeld gehen. Er hat verstanden, dass es gefährlich ist.«
»Und du hast wie immer die meiste Ahnung von allem, Thorsten!«
Der Vater presst die Lippen aufeinander. Er ist sichtlich beschämt vom Vorwurf seiner Frau.
»Um was für Geschichten handelt es sich denn?«, erkundigt Halla sich. Auch ihr ist der Streit der Eltern unangenehm, aber er zeigt, dass in der Familie etwas nicht stimmt. Womöglich ist das der Grund, warum der Junge weggelaufen ist.
»Eydis hat den Kindern Märchen über Elfen und Zwerge erzählt, die in der Gegend leben sollen«, erklärt der Vater. »Deshalb wird der Landstrich auch Dverganes genannt.«
»Zwergenhalbinsel«, sagt Halla, die mit den Geschichten groß geworden ist.
Thorsten Brandt nickt. Er wirkt gefasst und will konstruktiv sein. »Meine Frau findet, dass Eydis’ Geschichten über das Lavafeld viel zu schaurig für Kinder sind.«
»Das sind fruchtbare Gruselmärchen!«, protestiert die Mutter.
»Ja, aber ich denke, sie dienen dazu, die Leute und vor allem die Kinder davon abzuhalten, ins Lavafeld zu gehen. Man kann sich dort schnell verlaufen oder sich die Hände und Füße aufschneiden.«
»Da haben Sie recht, Herr Brandt«, bestätigt Halla. »Die Lava und das vulkanische Glas zerschneiden sogar Leder und die Sohlen von Schuhen. Man muss höllisch aufpassen, wohin man tritt. Mich interessiert jedoch, was diese Elfengeschichten konkret mit Jonas’ Verschwinden zu tun haben sollen.«
Thorsten Brandt seufzt. »Wiebke ist der Meinung, dass Jonas fest an die Elfen glaubt und nach ihnen suchen wollte.«
»So ist es ja auch!« Die Mutter verschränkt die Arme vor der mageren Brust. »Unser Junge hat viel Fantasie und ist versessen darauf, von Eydis noch mehr über die Elfen und Zwerge zu erfahren. Zu allem Überfluss hat sie behauptet, dass sie einmal einem Elf begegnet sei. Was für ein ausgemachter Blödsinn. Ich hatte Eydis darum gebeten, den Kindern keine Flausen mehr in den Kopf zu setzen, doch sie hat meinen Wunsch nicht beherzigt.«
»Weil es eben ihre Art der Warnung für die Kinder ist, nicht in das Lavafeld zu gehen«, erklärt ihr Mann erneut. »Sie hat deutlich gesagt, dass die Elfen nicht nett zu den Menschen sind und man sie in Ruhe lassen soll, sonst würden sie einen holen und den Rest des Lebens für sich arbeiten lassen … oder Schlimmeres.«
»Ach hör doch auf!«, keift Frau Brandt und fährt mit der Hand durch die Luft.
Halla, die keine Lust mehr auf den Streit hat, wendet sich an die Umstehenden, in der Hoffnung, dass einige von ihnen weniger beeinflusst von der Meinung der Mutter sind. »Wer von euch ist Eydis?«
»Das ist meine Frau«, antwortet Ásgeir Magnusson. »Sie ist im Stall bei den Schafen.« In aller Ruhe zieht er an seiner Zigarette. Sein Border Collie sitzt hechelnd neben ihm.
Halla blickt in die Gesichter der Menschen um sie herum. Neun Erwachsene und eine Jugendliche. Dazu fast ein Dutzend Kinder. Insgesamt laufen ihr hier viel zu viele Leute herum, von denen sie nicht weiß, wer wer ist. Sie würde eine Aufstellung machen müssen, um einen Überblick zu bekommen.
»Wer hatte heute die Aufsicht über die Kleinen?«
»Das war Pia, unsere zweitälteste Tochter«, berichtet Thorsten Brandt.
»Wie viele Kinder haben Sie denn?« Halla ist froh, dass sie das förmliche Sie über die Lippen gebracht hat, denn für sie ist es vollkommen ungewohnt, die Leute so anzusprechen, da sich in Island alle duzen. Sie ermahnt sich im Stillen, immer daran zu denken, wenn sie Deutsch spricht.
»Vier«, antwortet Herr Brandt, und es klingt mehr nach einem Seufzen als nach einer Feststellung.
Halla ahnt, was der Grund für die Überforderung der Eltern sein könnte. »Und Pia hat nicht nur auf Ihre, sondern auch auf die anderen Kinder aufgepasst?«
»Ja. Sie ist zwar erst zehn, aber sehr zuverlässig.« Wiebke Brandt dreht sich zu ihrem Mann um, der hilflos mit den Schultern zuckt.
Halla ist skeptisch. Sie hat zwar selbst keine Kinder, findet es aber zu viel Verantwortung für eine Zehnjährige. Doch sie will der verzweifelten Mutter kein schlechtes Gewissen machen. »Kann ich Ihre Tochter sprechen?«
»Momentan ist sie im Haus. Muss das wirklich sein, dass Sie sie verhören? Sie ist noch ein Kind«, sagt Wiebke Brandt flehend.
Ach, sieh an. Eben war sie erwachsen genug, um auf mindestens sieben Kinder aufzupassen, und jetzt ist sie selbst eines. Halla bemüht sich, ihren Zynismus nicht zu zeigen. »Erstens heißt es nicht Verhör«, sagt sie, »und zweites will ich von Ihrer Tochter nur wissen, wann und wo sie ihren Bruder das letzte Mal gesehen hat.«
»Na, genau dort drüben bei den Rundballen.« Wiebke Brandt zeigt auf die großen Plastikmarshmallows vor dem schwarzen Lavafeld.
»Und das hat Pia Ihnen erzählt?«
»Ja. Oder glauben Sie ihr etwa nicht?«
Halla sagt nichts dazu. Sie weiß, wie unzuverlässig Minderjährige als Zeugen sind. Sollte Jonas beim letzten Flug des Helikopters nicht gefunden werden, würde sie mit Pia und den anderen Mädchen und Jungen sprechen müssen. Halla hofft jedoch inständig, das vermeiden zu können. Kinder zu befragen, ist eine komplizierte Angelegenheit. Erst recht, wenn sie aus dem Ausland stammen.
Sie hebt den Blick zu den blinkenden Lichtern des Hubschraubers, der systematisch die Bereiche des Lavafeldes abfliegt, in die der Junge gegangen sein könnte. Noch bleibt es im Funk still, während sich die Finger von Hallas linker Hand um das Funkgerät verkrampfen. Bitte findet ihn, denkt sie. Sonst sieht es schlecht aus.
Der Hund des Schafbauern gibt einen japsenden Laut von sich. Da hat Halla eine Idee. »Kann dein Collie den Jungen nicht im Lavafeld suchen?«
Ásgeir Magnusson schüttelt den Kopf, die Zigarette zittert in seinem Mundwinkel. »Wenn ich Aska da reinschicke, zerschneidet sie sich die Fußballen. Dafür bräuchte ich feste Lederüberzieher für sie, und auch die würden nicht lange halten.«
»Verstehe.« Halla presst die Lippen aufeinander. Also würde auch ein Mantrailer-Hund nichts bringen. Mist!
Ihr Funkgerät erwacht zum Leben. »TF-EIR an Austdal!«
Hastig drückt sie auf den Knopf. »Was gibt’s? Habt ihr den Jungen?«
»Negativ. Wir haben alles abgeflogen. Da ist nichts.«
»Verstanden. Könnt ihr morgen früh noch einmal den Fjord überprüfen?«
»Geht klar.«
»Danke. Dann bis morgen. Austdal over and out.«
Der Helikopter dreht ab und fliegt in Richtung Seyðisfjörður davon.
»Was machen die? Warum hören die auf zu suchen?«, ruft Wiebke Brandt. Hysterie schwingt in ihrer Stimme mit.
Halla kann ihre Angst verstehen. »Frau Brandt, es tut mir leid, aber die Suche ist für heute zu Ende.«
»Warum das denn? Was wird aus meinem Sohn? Es wird dunkel.«
»Das weiß ich, und ich hoffe, dass er so geistesgegenwärtig war und sich in eine der Höhlen verkrochen hat. Dafür spricht, dass wir ihn aus der Luft nicht finden konnten. Wir werden morgen bei Sonnenaufgang weitersuchen. Mit Verstärkung. Es ist einfach zu gefährlich, im Dunkeln durch das Lavafeld zu laufen.«
»Gott bewahre, wir können ihn nicht allein da draußen lassen. Er ist erst fünf! Was, wenn er auf Raubtiere trifft?«
»Auf Island gibt es keine Raubtiere. Lediglich Polarfüchse. Und die tun Menschen nichts«, versucht Halla der Frau ihre Ängste zu nehmen, auch wenn sie selbst nicht gerade zuversichtlich ist.
»Aber …«
»Komm, Wiebke. Die Polizistin hat recht«, lenkt ihr Mann ein. »Es ist zu gefährlich. Jonas wird schon nichts passieren, wenn er in einer Höhle ist. Wir finden ihn morgen. Ganz sicher.«
Die Mutter zischt etwas, das Halla nicht versteht. Dafür reichen ihre Deutschkenntnisse nicht aus. Sie hört ein Räuspern und dreht sich um. Hinter ihr steht Ásgeir Magnusson mit seinem Hund, der ihm wie ein Schatten zu folgen scheint.
»Braucht ihr mich noch? Ich würde gerne meine Frau bei den Schafen ablösen.« Der Schafbauer zeigt hinüber zu den Ställen.
»Klar. Geh nur«, sagt Halla.
Ásgeir tippt sich an die Mütze und trollt sich samt Hund zum Stall, aus dem das aufgeregte Blöken eines Schafs dringt. Es klingt, als stünde es kurz vor der Niederkunft.
»Okay!«, ruft sie laut. Sie ist müde vom vielen Reden und der Kälte, muss aber durchhalten. »Ich würde jetzt gerne reingehen und drinnen mit Ihnen allen sprechen. Auch mit den Kindern, die mit Jonas gespielt haben.«
»Wieso? Sind die etwa verdächtig?«, meldet sich die deutsche Frau zu Wort, die vorhin Wiebke Brandt im Arm gehalten hat. Zu Hallas Überraschung spricht sie fließend Isländisch.
»Und wer sind Sie?« Halla versucht, sich im dämmrigen Licht das Gesicht der Frau einzuprägen. Sie ist schlank und groß und hat eine lange, schmale Nase. Ihre rotgrauen Haare trägt sie zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Schulter fällt. Ihr selbstgestrickter Islandpullover hat ein schönes Muster.
»Ich bin Jule Wittmann und gehöre zu den Gästen vom anderen Hof bei den Gislasons. Das ist mein Mann Matthes.« Sie zeigt auf einen Typen mit strohblondem Pferdeschwanz und Bart. Auch er hat einen Islandpulli an. »Wir haben zwei Kinder.« Als sie das sagt, senkt sie unwillkürlich den Blick.
»Haben die auch mit Jonas gespielt, bevor er verschwand?«
Die Frau bejaht.
»Dann wäre es für uns von Interesse, mit ihnen zu sprechen. Ihr Isländisch ist im Übrigen ausgezeichnet.«
»Danke. Ich arbeite als Übersetzerin von isländischen Büchern und habe früher eine Zeit lang in Reykjavík gelebt.«
»Oh, wie spannend.« Halla lächelt Jule Wittmann an, die bescheiden zurücklächelt.
Sie machen sich auf den Weg zu dem hellblauen Wohnhaus. Halla friert bis auf die Knochen. Der Wind hat aufgefrischt und sie will in die Wärme. Bei dem Gedanken wird ihr plötzlich schlecht. Denn Wärme ist etwas, das der Junge da draußen nicht hat.
Tom Skagen küsst Maja und streicht ihr eine blonde Locke aus dem Gesicht. Er würde sie am liebsten den ganzen Tag lang ansehen. Seit sie sich vor einem Jahr bei der Ermittlung zu einem Fall in Schweden zufällig wieder über den Weg gelaufen sind, ist er so glücklich wie nie.
Er küsst sie noch einmal auf die Wange und legt sich zurück auf das Kissen, sieht hinauf zu den Dachschrägen seines Schlafzimmers in der Wohnung im Schanzenviertel. Er freut sich auf das Wochenende, das sie zusammen in Hamburg verbringen werden, bevor Maja wieder nach Schweden fährt.
Maja legt eine Hand auf seine nackte Brust und seufzt. Skagen hört deutlich, wie wohl sie sich fühlt. Dem kann er sich nur anschließen. Aber eine Sache liegt ihm auf dem Herzen.
Er dreht den Kopf. »Hast du dich schon entschieden?«
Sie tippt mit dem Zeigefinger auf seine Brust. »Noch nicht. Göran wird den Posten des Dienststellenleiters im Sommer übernehmen, und bis dahin muss klar sein, wer sein Nachfolger wird.«
Skagen spielt mit einer ihrer Locken. »Ich habe dir gesagt, wie stolz ich bin, dass Göran dich für seinen Posten vorgeschlagen hat …«
»… aber es bedeutet auch mehr Verantwortung und mehr Arbeit, und wir hätten noch weniger Zeit füreinander«, beendet Maja den Satz.
Skagen nickt nachdenklich. Darüber haben sie schon mehrfach gesprochen, und sie sind bisher zu keiner Lösung gekommen. Er will Maja in allem, was sie vorhat, unterstützen. Allerdings macht die Tatsache, dass sie für verschiedene Polizeibehörden in unterschiedlichen Ländern arbeiten, die Sache kompliziert.
»Ich habe lange darüber nachgedacht«, sagt Maja. »Ich liebe dich, Tom …« Sie hält inne und einen bangen Moment denkt er, sie will Schluss machen. Sein Herz beginnt zu rasen.
»Ich will dich weiterhin sehen können. Alles andere ergibt keinen Sinn für mich«, fährt sie fort. »Daher werde ich mich vermutlich gegen die Beförderung entscheiden.«
»Bist du verrückt?« Skagen richtet sich auf. »Das würde ich niemals von dir verlangen. Ich möchte nicht, dass du wegen mir zurücksteckst.«
»Das weiß ich.« Maja lächelt traurig und streicht ihm durchs Haar. »Und es ist lieb.«
Er beißt sich auf die Lippen. Er hat nie gewollt, dass sie etwas für ihn aufgibt. Am liebsten würde er sie davon abbringen, aber er weiß, dass er das nicht schaffen würde, denn Maja hat absolut ihren eigenen Kopf. Was auch gut so ist.
Er greift nach ihrer Hand und küsst sie. »Ich bitte dich, denk über deine Entscheidung nach. Wirf diese Chance nicht weg.«
Maja zögert, schließlich lächelt sie. »Ich werde es mir überlegen. Zwei Wochen habe ich noch. Dann will Göran ein Ja oder Nein von mir. Bis dahin kann ich ihn noch zappeln lassen. Und jetzt hätte ich gerne ein paar Minuten Nachspielzeit.« Ihre Hand wandert in tiefere Regionen und ihre Lippen auf seinen Mund.
Ausgerechnet in diesem Moment klingelt Skagens Handy. Es ist die Melodie, die er für Skanpol eingestellt hat. »Mist!«, zischt er und streckt genervt den Arm aus. Das Handy liegt auf dem Boden, und auf dem Display leuchtet grell und auffordernd ein Name: Jette Vestergaard.
»Meine Chefin«, brummt er und nimmt den Anruf an. »Was gibt’s?«
»Schlechte Nachrichten, Tom«, sagt Jette und kommt wie immer gleich zur Sache. »Es geht um den Nordvei-Fall. Um Marcel Walka.«
Walka? Skagen kramt in seinem Gedächtnis nach Informationen. Dann fällt es ihm ein. Marcel Walka ist der Mann, den sie letztes Jahr in Norwegen auf dem Kreuzfahrtschiff verhaftet haben. Ein ehemaliger Kommissar vom LKA Berlin, leider auch Reichsbürger und Mitglied des deutschen Ablegers einer rechten Gruppierung namens Åsgards Söhne. Das norwegische Chapter von Åsgard wollte mit Walka einen Anschlag auf ein Jugendlager verüben, was Skanpol in Zusammenarbeit mit den norwegischen Kollegen zum Glück verhindern konnte. Skagen erinnert sich an die letzten hasserfüllten Worte von Ex-Kommissar Walka, die er nach seiner Verhaftung von sich gegeben hat: Wir haben euch längst im Griff. Polizei, Bundeswehr, Justiz. Ihr seid unterwandert, bald werden wir in der Überzahl sein. Und wenn wir erst an der Macht sind, werdet ihr am Galgen baumeln.
»Was ist mit ihm?«, fragt er kalt.
»Walka ist tot.«
»Wie bitte?«, entfährt es Skagen, während Maja fragend die Augenbrauen hebt. »Er sitzt doch in der JVA Tegel ein. Wie kann das sein?«
Jette seufzt am anderen Ende. »Das wissen wir nicht. Es sieht allerdings nach Selbstmord aus. Walka ist in seiner Zelle erhängt aufgefunden worden.«
Als Skagen bewusst wird, was das bedeuten könnte, überzieht ein klammes Gefühl seine Haut. »Wurde er unschädlich gemacht?«, fragt er. »Vom Onkel?« So heißt der führende Kopf von Åsgards Söhnen, der sich mit großer Wahrscheinlichkeit innerhalb des Polizeikorps befindet.
»Genau das denke ich, Tom. Walka wurde ausgeschaltet.«
»Aber warum? Wollte er auspacken?«
»Natürlich haben wir uns erhofft, von ihm Informationen über den Onkel zu erhalten, weil wir bis heute nicht wissen, wer sich dahinter verbirgt. Ich war mehrmals bei Walka im Gefängnis und habe ihm das Angebot gemacht, dass er früher rauskann, wenn er redet. Und beim letzten Mal sah es so aus, als würde er tatsächlich darüber nachdenken.«
»Und jetzt ist er tot«, konstatiert Skagen. »Was für ein merkwürdiger Zufall.«
»Du sagst es. Die Sache stinkt zum Himmel.« Jette schickt noch einen Fluch auf Dänisch hinterher.
»Wie kann so etwas passieren? Stand er nicht unter Bewachung?«
»Doch, natürlich.«
»Okay.« Skagen wirft einen Blick zu Maja hinüber. »Soll ich nach Berlin fahren und die Ermittlung unterstützen?«
»Nein, ich werde denen auf die Finger schauen, denn ich traue den Berlinern keinen Zentimeter über den Weg. Die haben damals schon seltsam auf unsere Anfragen reagiert.«
Skagen weiß, dass Jette auf die unsägliche Unterwanderung der deutschen Polizeibehörden durch die rechte Szene anspielt, die eine innere Bedrohung für alle darstellt und Skanpol seit einiger Zeit beschäftigt. Denn aus Deutschland gibt es viele Kontakte zu rechten Gruppierungen in Skandinavien und Verbrüderungen mit diesen.
»Ich fahre heute noch los«, sagt Jette, und Skagen hört deutlich den Stress in ihrer Stimme. »Ich nehme Jens mit, er kennt sich mit dem Fall ja ebenfalls aus.«
»Und ich?«, fragt Skagen gekränkt. Er war am Nordvei-Fall maßgeblich beteiligt.
»Du machst dich auf den Weg nach Norwegen. Gleich morgen früh. Du musst dich darum kümmern, dass die beiden Mitglieder von Åsgards Söhnen, die dort einsitzen, in Sicherheit gebracht werden. Es besteht Anlass zur Sorge, dass sie ebenfalls ins Fadenkreuz des Onkels geraten.«
Skagen starrt auf die Zimmertür. Er hört, wie Maja neben ihm mit den Fingern auf die Matratze trommelt. Das war’s mit dem entspannten Wochenende mit ihr. Und sie würde dafür auch noch Verständnis haben.
Die Stimmung ist gedrückt, als alle in der Diele des großen Farmhauses der Magnussons ihre Schuhe ausziehen und ins Regal stellen, einschließlich Halla und Bjarni.
Thorsten Brandt führt sie in die Küche, die von einem riesigen Esstisch dominiert wird, auf dem allerhand Geschirr und Essensreste stehen. Über ihren Köpfen trampeln kleine Füße durch das obere Stockwerk. Halla meint, die Deckenleuchte wackeln zu sehen. Plötzlich rumpelt es auf der Treppe und die Kinderschar kommt heruntergeprescht. Mit hochroten Köpfen stürmen die Kleinen in den Raum wie ein Tsunami aus überschäumender Fröhlichkeit. Sie scheinen vergessen zu haben, dass eines von ihnen fehlt. Sie jagen einander durch die Küche zum Wohnzimmer. Ein älteres Mädchen bleibt bei Thorsten und Wiebke Brandt stehen und fragt nach ihrem Bruder Jonas. Halla vermutet, dass es Pia ist. Das Mädchen plagen bestimmt Schuldgefühle.
Wiebke Brandt setzt sich auf einen der Stühle am Tisch, während ihr Mann der Tochter erklärt, was los ist. Wegen des Geschreis versteht Halla kaum ein Wort.
Bjarni steht mit großen Augen daneben und kann das Chaos kaum fassen. Dann reicht es Halla. Sie holt tief Luft und erhebt die Stimme: »Können wir vielleicht für etwas Ruhe sorgen?«
Jule Wittmann erkennt den Ernst der Lage und ermahnt die spielenden Kinder, leiser zu sein. Das funktioniert genau für eine Minute, danach donnern die Schritte wieder oben durch den Flur, und diesmal wackelt die Lampe wirklich.
Halla bedeutet den Erwachsenen, sich zu setzen, und als sich jeder von ihnen einen Stuhl an den Tisch gerückt hat und schweigend zu ihr aufblickt, atmet sie auf. Endlich Stille. Sie will gerade anfangen zu sprechen, da platzt eine Frau in die Küche, die Halla bislang nicht kennt. Sie wirkt abgehetzt, die blonden Strähnen hängen ihr ins Gesicht, obwohl sie sich ein buntes Tuch um den Kopf gewickelt hat. Sie trägt eine weite Arbeitshose und ein ausgeleiertes Sweatshirt mit Flecken darauf.
»Hæ, ich bin Eydis«, grüßt sie Halla und Bjarni. »Entschuldigt, ich musste noch beim Lammen helfen. Mein Mann hat mich abgelöst.« Sie schlängelt sich zu einem freien Stuhl neben Jule Wittmann durch. Dabei streicht sie der verschüchterten Pia über den Kopf. »Es gibt zwei neue Lämmchen«, sagt sie leise. »Wenn du willst, kannst du sie nachher streicheln.«
Pias Mundwinkel zucken, doch das Lächeln kann sich nicht richtig entfalten. Zu groß ist die Sorge um ihren Bruder.
Als endlich Ruhe herrscht, stellt sich Halla an den Kopf der langen Tafel. »Mein Kollege Bjarni und ich werden gleich reihum eure Namen und Personennummern abfragen, sofern wir diese nicht schon aufgenommen haben.«
Halla blickt eine junge Frau mit pink lackierten Fingernägeln an, die vielleicht gerade mal 18 Jahre alt ist. »Fängst du an?«
»Okay. Ich bin Zoe, die älteste Tochter von Ásgeir und Eydis. Ich wohne hier auf dem Hof«, sagt sie.
»Und ich bin Alischa«, sagt das Mädchen mit den pechschwarzen Haaren neben ihr.
»Was erzählst du da?«, kommt es von Frau Brandt. »Du bist Abigal. Abigal Brandt.« Sie dreht sich zu Halla. »Unsere älteste Tochter.«
Abigal stößt trotzig Luft aus und rollt mit den Augen. Sie scheint vom Verschwinden ihres Bruders eher genervt zu sein als um ihn besorgt.
Bjarni schreibt sich ihren Namen auf und auch die folgenden. Bei Matthes und Jule Wittmann fragt Halla nur oberflächlich die Daten ab, weil sie sie bereits kennt. Danach wendet sie sich an zwei junge Burschen. Der eine ist ein dünner blasser Junge und der andere ein bulliger Typ mit Glatze.
»Willum Njarðvik«, sagt der speckige Kerl. Eine helle Narbe zieht sich über seinen kahl rasierten Schädel und ein Tattoo mit Buchstaben windet sich aus dem Kragen seines Flanellhemdes. Seine Finger zieren ebenfalls Tätowierungen. Halla erinnert sein Aussehen an das eines Hooligans.
»Ich arbeite als Saisonkraft für den alten Kalman«, fügt Willum hinzu.
»Kalman?«, fragt Halla. »Wer ist das?«
»Þór Kalman. Ihm gehört der dritte Hof auf Dverganes ganz am Ende der dimmu hraunar.«
»Aha. Wohnst du auch bei ihm?« Willum nickt. Halla richtet ihre Aufmerksamkeit auf den blassen Typen mit den farblosen Haaren und Wimpern. »Und wer bist du?«
»Yngvi Sveinsson. Ich bin beim alten Kalman angestellt, so wie Willum.« In seinen Augen flackert es und er weicht ihrem Blick aus. Yngvi trägt einen schwarzen Hoodie mit dem Aufdruck »See you in Valhalla«, schmutzige Jeans und klobige Wanderstiefel. Sein Körperbau ist schlank, fast zierlich, besonders seine Hände. Halla wundert sich, wie er damit die schwere Arbeit auf einer Schaffarm meistert, aber oft steckt in drahtigen Kerlen überraschend viel Kraft.
»Wohnst du ebenfalls bei Kalman?«
»Ja«, entgegnet Yngvi einsilbig. Dann wandert sein Blick wieder durch die Küche.
»Okay, danke«, sagt Halla.
Als Nächstes ist Pia dran, und Halla nimmt sich vor, das Mädchen besonders sensibel zu behandeln. »Und du hast auf die Kleinen aufgepasst, während sie in der Nähe des Lavafeldes gespielt haben?«
Pia nickt schüchtern. Sie hat lange dunkelblonde Haare, die sie zu zwei Zöpfen geflochten und hochgebunden hat. Affenschaukeln heißt diese Frisur, glaubt Halla. Sie verleiht dem Mädchen etwas Altmodisches. Pias braune Augen huschen unruhig zu Bjarni, der im Hintergrund hoch aufragt wie ein Riese in Uniform.
»Du brauchst keine Angst vor Bjarni oder mir zu haben«, sagt Halla. »Wir wollen deinen Bruder finden. Daher wäre es gut zu wissen, wo du ihn das letzte Mal gesehen hast.«
»Ich weiß es nicht.« Verängstigt drückt Pia ihr Kinn an die Schulter.
»Überleg mal in Ruhe. Wo warst du, als dir aufgefallen ist, dass Jonas fehlt?«
Aus dem oberen Stockwerk ertönt ein lautes Poltern.
»Wir sind auf den Ballen herumgeklettert«, antwortet Pia. »Wir haben sie gegen die Jungen verteidigt. Jonas hat sich ein paarmal angeschlichen, doch Silas hat ihn verjagt. Irgendwann kam er nicht mehr wieder, und wir haben nach ihm gerufen. Aber er hat nicht geantwortet. Er versteckt sich öfter und ärgert uns damit. Das nervt.« Als hätte sie das nicht sagen dürfen, schließt Pia den Mund und blickt zu ihrer Mutter, die sie mit einer tadelnden Miene bedenkt.
»Und danach?«, fragt Halla weiter.
»Als wir zum Teetrinken reinkommen sollten, ist uns aufgefallen, dass Jonas nicht mehr da ist. Wir haben ihn überall gesucht und dann unseren Eltern Bescheid gesagt.« Sie scharrt mit ihrer Fußspitze über die Dielen. »Es tut mir leid, dass ich nicht besser aufgepasst habe.«
»Das war nicht gut, Pia«, wendet Wiebke Brandt ein. »Du musst die Aufgaben, die wir dir anvertrauen, ernst nehmen und …«
Halla hält nicht viel davon, das Kind mit Vorwürfen zu überschütten, und unterbricht die Mutter. »Es muss dir nicht leidtun, Pia. So etwas kann passieren. Es ist nicht deine Schuld.«
Pia wirkt unsicher. Ihre Augen schimmern feucht. Gleich würde sie weinen.
»Wirklich nicht«, bekräftigt Halla. »Was glaubst du, wohin Jonas gegangen ist?«
Pia starrt auf ihre Wollsocken, ohne ein Wort zu sagen. Es wirkt, als hätte sie Angst vor ihren Eltern.
»Antworte der Polizistin!«, fordert ihre Mutter sie auf.
»Ich … glaube, dass Jonas ins dunkle Land gegangen ist«, murmelt Pia.
»Du meinst die dimmu hraunar?«, hakt Halla nach.
»Jonas liebt die Geschichten von den Elfen. Er wollte wissen, ob Eydis’ Erzählungen wahr sind und tatsächlich Elfen und Zwerge in der Lava wohnen.«
»Hab ich’s nicht gesagt?«, schimpft die Mutter. »Es ist Eydis’ Schuld.«
Halla hebt eine Hand. »Frau Brandt, bitte lassen Sie Ihre Tochter vernünftig antworten, so wie Sie es verlangt haben. Wenn ich Ihre Meinung dazu hören will, werde ich Sie fragen.«
Wiebke Brandt klappt den Mund zu, und Halla wendet sich wieder an Pia. »Seid ihr Kinder schon mal im Lavafeld gewesen?«
Wieder reibt Pia ihr Kinn an der Schulter. Sie verschweigt etwas, fürchtet sich ganz eindeutig davor, es zu erzählen, weil sie sonst Ärger bekäme. Es wäre ratsam, sie noch einmal allein zu befragen, denkt Halla. Plötzlich rinnen Tränen über Pias Gesicht, und sie beginnt zu schluchzen.
Ihre Eltern rühren sich nicht, sitzen steif auf ihren Plätzen und strafen ihre Tochter mit Gefühlskälte. Leise Wut steigt in Halla auf. Am liebsten hätte sie das Mädchen in den Arm genommen, aber als Polizistin kann sie nicht die Aufgabe von Mutter oder Vater übernehmen. Wie kann man nur so hartherzig sein? Erst bürden sie ihrer Tochter diese unverhältnismäßige Aufgabe auf und dann sind sie nicht in der Lage, ihr die Last von den Schultern zu nehmen und sie zu trösten. Was sind das für Leute? Kurz kommt Halla der Gedanke, dass Jonas deswegen abgehauen sein könnte.
»Gab es unter euch Kindern mal Streit?«, fragt sie die schniefende Pia.
»Nein … na ja … doch. Mit Silas hat sich Jonas öfter gestritten. Silas hat ihn neulich sogar gebissen.«
»So ein Quatsch, die beiden sind die besten Freunde«, wendet Jule Wittmann ein. »Die zwei Jungen verbringen viel Zeit miteinander. Da gibt es natürlich hin und wieder Streit. Aber dass Silas beißt, stimmt nicht. Er ist vielleicht manchmal etwas wild, das ist alles.«
Pia sieht aus, als wollte sie widersprechen, doch die Erwachsenen schüchtern sie ein.
»Kann ich mit Silas reden?«, fragt Halla.
»Er ist erst fünf. Ich glaube nicht, dass er Ihnen viel erzählen kann«, antwortet Jule Wittmann.
»Ist er oben?«
»Sie werden nicht mit ihm reden. Das verstört ihn.«
»Keine Sorge, ich werde achtsam mit ihm umgehen.«
»Nein!«
Halla weiß, dass es keinen Zweck hat, Kinder gegen den Willen ihrer Eltern zu befragen. Sie würde auf anderem Wege an die Information gelangen müssen.
»Warum soll denn Silas nicht mit der Polizei sprechen, Jule?«, mischt sich Jonas’ Mutter ein. »Jeder von uns muss doch Fragen beantworten. Meine Pia auch. Warum nicht Silas?«
»Weil er zu klein ist. Seine Aussage ist nicht relevant«, beharrt Jule Wittmann.
»Mein Sohn ist verschwunden, da ist alles relevant!«, stößt Wiebke Brandt wütend aus.
»Ich möchte das nicht. Silas ist viel zu erschöpft.«
Von oben dringt erneut ein Rumpeln zu ihnen herunter. Halla hebt den Kopf zur Zimmerdecke. Die Kinder haben offensichtlich ihren Spaß. Von Erschöpfung keine Spur.
»Dann fragen wir Silas morgen, wenn er ausgeschlafen ist«, beschließt Halla. »Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind. Es könnte tatsächlich wichtig sein.«
Frau Wittmann zögert, woraufhin Wiebke Brandt verletzt das Gesicht verzieht. Sie springt auf. »Was soll das, Jule? Jonas könnte da draußen erfrieren und du machst den Mund nicht auf? Das ist … Das ist …« Ohne den Satz zu beenden, rennt sie auf die Tür zu. Als sie an Eydis vorbeiläuft, zischt sie ihr zu: »Das ist alles deine Schuld, du Hexe!«
»Wieso? Ich habe den Kindern nur gesagt, dass sie nicht in die dimmu hraunar gehen sollen«, verteidigt sich Eydis. »Weil dort die álfar wohnen.«
»Lass endlich diesen unseligen Mist mit den Elfen. Das ist gotteslästerlicher Quatsch!«
»Ich weiß, dass es wahr ist. Das huldufólk ist böse und mag es nicht, wenn man es stört. Die Elfen haben Jonas geholt, weil er ihre Grenzen nicht beachtet hat.«
Frau Brandt reißt ungläubig die Augen auf. »Was?« Sie ballt ihre Hände zu Fäusten. »Das ist wirklich unfassbar, dass du so etwas laut aussprichst. Ich dachte, du glaubst an Gott!«
»Das tue ich auch. Aber es gibt noch andere Kräfte neben Gott.«
»Es gibt nur GOTT! Sonst nichts. Hast du das verstanden?«, brüllt Frau Brandt. Danach rauscht sie aus der Küche und wirft donnernd die Tür hinter sich zu.
Wenig später sitzen Halla und Bjarni im Polizeijeep.
»Das wird nicht einfach«, seufzt Halla.
»Das ist es nie«, entgegnet Bjarni und legt den ersten Gang ein.
Halla ist nicht wohl bei der Sache, die Suche über Nacht einstellen zu müssen und den Jungen da draußen in der Kälte seinem Schicksal zu überlassen. Es kommt ihr grausam vor. Aber es ist unmöglich, das unwegsame Lavafeld im Dunkeln zu durchqueren, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Ein falscher Schritt und sie würden sich den Hals brechen. Hoffentlich hat sich Jonas in einer der Höhlen verkrochen und wartet dort auf das Tageslicht. Nur so kann er die vielen Stunden bis zur Dämmerung überstehen. Für morgen würde Halla Verstärkung anfordern und mit einem großen Team anrücken.
Sie schluckt den Kloß im Hals runter und blickt auf die unbefestigte Schotterstraße, die sich im Scheinwerferlicht am Fjordufer entlangschlängelt. Die Schlaglöcher lassen den Jeep förmlich hüpfen. Was für eine beschissene Strecke!
»Glaubst du, dass der Junge bloß abgehauen ist?«, fragt Bjarni.
»Was ich glaube, möchtest du nicht wissen«, sagt Halla finster. Es wäre nicht der erste Fall in Island, bei dem ein Kind verschwindet und nie wieder gefunden wird. Die Natur ist unbarmherzig.
»Was, wenn jemand seine Finger im Spiel hat?«, will Bjarni wissen.
Halla lehnt sich zurück, schließt die Augen und seufzt laut auf. In ihrem Magen herrscht eine Mischung aus Hunger und Übelkeit. Sie will nur noch nach Hause und sich zu ihrem Freund ins warme Bett verkriechen. »Ich möchte heute Abend nicht mehr an irgendwelche Schreckensszenarien denken, Bjarni. Es reicht, dass der Junge die Nacht über allein da draußen ist.«
»Du hast recht«, entgegnet der Kollege. »Schlechte Gedanken bringen Unglück. Wir sollten dem huldufólk unsere positiven Wünsche schicken und es um Freundlichkeit bitten.«
Halla dreht den Kopf.
»Das meine ich ernst«, entgegnet Bjarni mit fester Stimme. »Wir müssen das verborgene Volk besänftigen.«
Halla erinnert sich daran, dass Bjarni schon damals, als er als Polizeiassistent an ihre Schule gekommen ist, um ihnen Verkehrskunde beizubringen, ein Faible für alles Übernatürliche gehabt hat. Sie hat noch deutlich seinen Schlüsselbund vor Augen, mit dem er gerasselt hat, um die Aufmerksamkeit der Schüler zu gewinnen. Er war voller Amulette und Glücksbringer. Ob er das heute noch ist?
Halla, die nicht an übernatürliche Kräfte oder das verborgene Volk glaubt, zuckt mit den Schultern. »Na gut, rede mit den álfar. Schaden kann es nicht.«
Bjarni nickt feierlich. Wie auch immer er es anstellen würde, ob er zu Hause Räucherstäbchen anzündet und dabei in die Hände klatscht oder den Elfen Milch hinstellt – Halla ist es egal. Hauptsache, sie finden den Jungen. Lebend.
Am nächsten Morgen ist es stockdunkel, als Halla und Bjarni über die Schotterpiste nach Dverganes fahren. In der Nacht war es sehr kalt, und Halla hat ein schlechtes Gewissen, während sie aus dem Autofenster blickt. Wenn der Junge sich nicht in eine Höhle verkrochen hat, wird er kaum überlebt haben.
Von der zerklüfteten Landschaft auf der Halbinsel ist im Dunkeln nicht viel zu erkennen. Hinter ihnen holpern zwei weitere Polizeiwagen mit je vier Mann über die Straße. Verstärkung aus Egilsstaðir. Auch der Hubschrauber würde heute noch einmal zum Einsatz kommen.
Halla fröstelt, obwohl die Heizung im Auto voll aufgedreht ist. Der Sonnenaufgang lässt auf sich warten, dennoch wollen sie zeitig anfangen. Halla hat eine detaillierte Karte von dem Gebiet dabei, damit sie die Suche systematisch angehen können.
Weit kann der Junge in dem Lavafeld nicht gekommen sein, daher ist sie sich sicher, dass sie ihn heute finden werden. Wenn nicht, wäre das sein Todesurteil. Eine weitere Nacht dort draußen würde er nicht überleben. Sie presst die Augen zu, um ihre schlimmen Befürchtungen zu vertreiben. Sie will es wie Bjarni halten: positive Gedanken aussenden und positive Resonanz ernten. Egal, ob Elfen im Spiel sind oder nicht.
Vielleicht hat Jonas sich verletzt und irgendwo Unterschlupf gesucht. Selbst ein Fünfjähriger begreift, was er in einer solchen Lage tun muss.
Halla hält sich am Türgriff fest, weil Bjarni einem Schlagloch ausweicht. Das Licht der Scheinwerfer hüpft über die Landschaft, beleuchtet Lavafelsen, Grassoden, Matsch und Geröll. Es wird kein Zuckerschlecken, sich durch das Lavafeld zu bewegen. Hoffentlich bleiben die Helfer unverletzt.
Sie erreichen die Ebene, auf der der Magnusson-Hof steht. Links sind die Klippen zum Meer zu erahnen, rechts die dunkle und Einhalt gebietende Masse der dimmu hraunar.
Die Hofgebäude wirken im Dämmerlicht nicht besonders einladend, obwohl sämtliche Fenster erleuchtet sind und im Stall Licht brennt. Die Bewohner sind schon auf – oder noch wach. Ähnlich wie Halla, die kaum schlafen konnte. Die ganze Nacht hat sie sich herumgewälzt und an den kleinen Jungen denken müssen. Daran konnte selbst die tröstliche Umarmung ihres Freundes nichts ändern oder das Schurren ihrer Katze.
Die Scheinwerfer gleiten über das Bauernhaus, in dem die Brandt-Familie zu Gast ist. Die Holzverkleidung verfault an einigen Stellen, und das Betonfundament weist erhebliche Risse auf. Diese Schäden sind Halla gestern gar nicht aufgefallen.
Bjarni parkt den Jeep direkt auf dem schlammigen Vorplatz. Die nachfolgenden Fahrzeuge tun es ihnen gleich. Alle steigen aus. Türen klappen, und es wird gedämpft geredet. Im Team herrscht Anspannung. Jeder von ihnen hofft, den Jungen zu finden. Halla wirft einen Blick auf das Meer. Über dem Horizont im Osten liegt ein erster rötlicher Schimmer. Bisher ist das Wetter stabil. Gute Sicht also für den Helikopter der Küstenwache.
Die Haustür des hellblauen Hauptgebäudes öffnet sich und die Bewohner treten heraus. Sie sind bereits angezogen und ausgerüstet für die Suche. Ihre Gesichter wirken blass und sorgenvoll.
Eydis, die Hausherrin, begrüßt die Polizisten. »Guten Morgen. Ich werde mich heute anstelle meines Mannes um euch kümmern. Er übernimmt meine Stallwache.«