Kalubs End - Elea Brandt - E-Book

Kalubs End E-Book

Elea Brandt

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Beschreibung

Verfolgungsjagden im All, aufregende Coups und knallharte Verhandlungen – für Ex-Schmuggler Leyo gehört dieses Leben der Vergangenheit an. Seiner Familie zuliebe verdingt er sich auf dem heruntergekommenen Planeten Ranun als Barmann und träumt von der guten alten Zeit. Doch dann geht ein allerletzter Coup sagenhaft schief und auf einmal stecken Leyo und seine Familie mitten in einem Machtkampf um Politik und Ressourcen, bei dem nicht weniger auf dem Spiel steht als die Rettung ihres Planeten.

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Inhalt

Cover

Titelei

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Elea Brandt

Kalubs End

Outlaws in Space

Space Western

Brandt, Elea: Kalubs End. Outlaws in Space. Hamburg, Plan9 Verlag 2023

1. Auflage 2023ISBN: 978-3-948700-81-2

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.ePub-eBook: 978-3-948700-82-9

Lektorat: Sabrina Emrich, MainzSatz: 3w+p GmbH, RimparUmschlaggestaltung: © Christl Glatz | Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von Adobe Stock und iStock/Getty Images Plus Umschlagabbildungen: © Pedro/AdobeStock, © Sylphe_7/iStock/Getty Images Plus, © fbxx/iStock/Getty Images Plus, © Bilanol/iStock Getty Images Plus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Plan9 Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© Plan9 Verlag, Hamburg 2023Alle Rechte vorbehalten.https://www.plan9-verlag.deGedruckt in Deutschland

Content Notes: Alkohol- und Drogenkonsum, Feuer, Entführung, Gefangenschaft, Gewalt gegen Schutzbefohlene (erwähnt), Kampfhandlungen, Naturkatastrophe

Einige Figuren in diesem Roman verwenden Neopronomen, z. B. ser/sem oder nim. Dabei handelt es sich um Wortneuschöpfungen, die binäre Pronomen wie „sie“ oder „er“ umgehen. Eine Sammlung von verschiedenen Neopronomen findet sich z. B. im Nichtbinär-Wiki (https://nibi.space/).

Kapitel 1

Der Einschlag kam völlig überraschend. Leyo riss das Steuer nach links, das Schiff taumelte, entging aber einem zweiten Treffer. Die Armaturen vor ihm blinkten in wildem Staccato. Ein weiterer Signalton mischte sich in das Orchester von Piepsen, Knirschen und Heulen. Der linke Neutralisator. Verdammter Dreck!

Leyo warf einen Blick auf das Display. Er verlor rapide an Geschwindigkeit und besaß keine einzige Rakete mehr. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Piraten aufholten. Außer ...

Mit einem schiefen Grinsen klopfte er gegen das Schaltpult. »Schön brav, alter Junge. Durchhalten, klar? Wir kommen nachhause. In einem Stück.«

Ein Torpedo näherte sich und Leyo riss erneut das Steuer herum. Zu spät! Das Geschoss streifte den Rumpf, das Schiff wankte. Irgendwo knackte es vernehmlich in den Leitungen. Angespannt starrte Leyo auf die Kontrolllampen.

Bitte kein Xenonleck. Bitte kein ...

Die Warnleuchte flammte auf.

»Scheiße!« Leyo schlug mit flacher Hand auf die Armaturen. Er checkte den Radar. Nur noch zehn Novasecs, dann hatten sie ihn eingeholt. Der hintere Deflektorschild war schon seit dem ersten Treffer zerstört, der vordere stark beschädigt. Das Licht im Cockpit flackerte.

»Tu mir das nicht an, Junge«, flehte Leyo und hämmerte auf den Knopf für die Notversorgung. »Bitte, tu mir das nicht –«

Ein letztes Aufflammen, dann war es dunkel. Vor ihm gähnte die endlose Sternenleere, nur die Warnleuchten sowie das Display glommen schwach. Grimmig entschlossen packte Leyo den Steuerungshebel.

Es ist noch nicht vorbei! So leicht kriegt ihr mich nicht!

Das Schiff legte sich in die Kurve. Die Ware im hinteren Transporterraum flog krachend aus der Verankerung. Leyo vollführte eine Rolle und tauchte abrupt ab. Wenn die Finte glückte, dann –

»He! Ich rede mit dir!«

Leyo blinzelte. Das Cockpit vor seinen Augen verschwamm. Die Armaturen wichen einem schäbigen Holztresen, der Steuerhebel einer Flasche billigem Whisky, und statt dem Knacken und Pochen in den Leitungen des Schiffes erklang vor ihm ein ungeduldiges Klopfen.

Irritiert hob Leyo den Kopf. Zwei pechschwarze Augen starrten ihn aus einem wettergegerbten, schlecht rasierten Gesicht an. Und sie wirkten alles andere als wohlwollend.

»Träumst du oder was?« Jovar schnaubte und tippte ungeduldig sein Schnapsglas an. »Auffüllen. Aber flott.«

»Ja, ja.« Leyo griff nach der Flasche und goss ein. Seine Bewegungen waren fahrig und ein Schluck Whisky versickerte im Holz, das sicher mehr Alkohol vernichtet hatte als der härteste Trinker von Kalubs End.

Verdammt, er war schon wieder weg gedöst. Kein Wunder, die Arbeit in diesem Loch war fader als einem Karfaun die Ohren zu putzen. Da wurde man wenigstens noch beizeiten angespuckt.

Wachsam ließ Leyo den Blick durch die Kneipe huschen und sah sich um. Ein Glück, Rubha war nicht aufgetaucht. Sie würde ihm eine gepfefferte Standpauke halten, wenn sie sah, dass er schon wieder faulenzte und seinen Tagträumen nachhing.

Er hielt Jovar die offene Hand hin, um zu kassieren, doch der grunzte nur. »Setz es auf meinen Zettel.«

»Vergiss es, hier wird nicht mehr angeschrieben. Du zahlst sofort oder fliegst raus. Neue Regel von der Chefin.«

Jovar verzog missmutig das Gesicht und kramte in seiner Westentasche. Ein einzelner Ruq kam zum Vorschein. »Hier. Mehr hab’ ich nicht.«

»Toll«, knurrte Leyo und griff nach der Münze. Wieder kein Trinkgeld – aber was erwartete er auch in diesem Loch? »Dann trink aus und verschwinde. Soweit ich weiß, schuldest du Rubha noch ein kleines Vermögen. Bete, dass sie das nicht so bald rausfindet.«

Jovar grinste schief und tippte sich gegen den breitkrempigen Lederhut, ehe er nach draußen verschwand. Seufzend bettete Leyo sein Kinn wieder auf die verschränkten Arme und wippte mit dem Fuß auf und ab. Der Schankraum war beinahe leer, wie immer. Nur vereinzelte Gestalten hockten an zwei Tischen in der Ecke, stierten auf ihre Gläser und spielten mit abgegriffenen Karten. In der Luft hing ein saurer Mief nach Schnaps und Schweiß, der Boden war mit Sand und Staub bedeckt, genau wie die meisten Flaschen in den Regalen, und über allem ertönte das schiefe Gejaule der analogen Soundbox.

Wenn Trostlosigkeit einen Namen hatte, dann hieß sie Rubhas Saloon.

Missmutig starrte Leyo auf den Lappen und die wenigen Gläser, die in der Spüle standen. Er könnte den Tresen abwischen oder die Bar ausfegen, doch nichts davon klang attraktiv – und Löcher in die Luft starren genauso wenig. Hinzu kam die kleine, fiese Stimme in seinem Kopf, die ihm zuraunte, wie dankbar er für seine Arbeit hier sein sollte. Rubha war nicht mehr die Jüngste und die Pflege für ihren kranken Sohn kostete Zeit, seit ihr Mann vor einem halben Jahr gestorben war, also hatte sie sich entschieden, jemanden einzustellen. Sein Glück, Jobs waren rar hier in der Gegend. Und trotzdem fiel es Leyo schwer, dankbar dafür zu sein, in einer miesen Kaschemme noch mieseren Fusel an Leute auszuschenken, die verzweifelt versuchten, ihre Sorgen im Alkohol zu ertränken und ihre letzten Ruq beim Kechet verspielten.

Frustriert schleuderte Leyo den Lappen in die Spüle und lehnte sich wieder über den Tresen. Es gab so viele tolle Jobs da draußen. Gut bezahlte Jobs. Jobs, die Spaß machten, die ihn forderten, die ihm Geschick und Logik abverlangten. Die ihm dieses unvergleichliche Kribbeln in der Magengegend bescherten, das er schon jetzt, wenige Monate später, schrecklich vermisste. Die Langeweile war wie ein stetes, schmerzhaftes Jucken hinter seinen Schläfen, das einfach nicht aufhören wollte und ihn regelrecht um den Verstand brachte.

Genug jetzt, mahnte er sich, als seine Gedanken abzudriften drohten. Es half nichts, sich in Tagträumen und Sehnsüchten zu verlieren. Er war wegen seiner Familie hier. Für die, die man liebte, musste man nun einmal Kompromisse eingehen. Aber verdammt, der Weltraum fehlte ihm, die Verfolgungsjagden, der Nervenkitzel, alles daran.

Er hob müde den Kopf, als die Tür aufschwang, und wandte den Blick zum Eingang. Eine Gruppe aus vier Personen betrat den Saloon, alle in staubige, abgerissene Ledermäntel gekleidet mit schweren Stiefeln und Knarren am Gürtel. Auf der Wange trugen sie eine gut sichtbare Tätowierung, einen schlampig gestochenen Skorpion, der aus der Ferne wie ein Bluterguss aussah.

»Keine Waffen hier drin«, brummte Leyo halbherzig, erntete aber nur abfällige Blicke und ein höhnisches Wiehern.

»Halt uns auf, Barjunge.« Shefta, ihre Anführerin, ließ sich breitbeinig an einen Tisch sinken und grinste Leyo mit schiefen Zähnen an. Ihre braune Haut war von Sand und Sonne gegerbt, ihr fehlte das linke Ohr und die Nase war vielfach gebrochen. Eine Schönheit war sie nie gewesen, aber sie hatte Charisma, die Ausstrahlung eines Menschen, der genau wusste, was er wollte, und nicht weniger als das bekam. Kein Wunder also, dass es ihr gelungen war, eine ganze Bande von gewaltbereiten Galgenvögeln um sich zu scharen.

Die meisten Skorpione waren tumbe Schlagetods, aber das galt nicht für Shefta und ihre so genannten Captains, die in der Gang das Sagen hatten und mit denen man sich lieber nicht anlegte. Außerdem hatte sich ihre Bande in den letzten Monaten auf über ein Dutzend Mitglieder vergrößert und wer einem Skorpion blöd kam, hatte schnell die ganze Horde am Hals.

Leyo setzte also ein unverbindliches Lächeln auf und beugte sich über den Tresen. »Was darf’s sein?«

Shefta sah sich in der Runde um. »Einen Doppelten für jeden.« Sie senkte die Stimme. »Aber den guten, nicht den beschissenen Fusel, den du da stehen hast. Den spuck ich dir ins Gesicht.«

Leyo nickte ergeben, öffnete einen Schrank unter dem Tresen und zog eine nicht etikettierte Flasche mit karamellfarbene Flüssigkeit heraus. Er hatte keine Ahnung, woher Rubha das Zeug bezog, vermutlich brannte es jemand schwarz. Trotzdem schmeckte es Welten besser als das synthetische Gesöff, das sich die Bevölkerung von Kalubs End leisten konnte.

Er goss je zwei Fingerbreit Schnaps in jedes Glas und trug sie dann zum Tisch hinüber. Neben Shefta saß Ephi, eine jüngere geschlechtslose Person im Rang eines Captain mit kahl rasiertem Kopf und einer tiefen Narbe an der Hand. Die Namen der anderen beiden kannte Leyo nicht. Es war ihm auch egal. Haudraufs mit ungepflegten Bärten und grimmigen Gesichtern, die sich mächtig und brutal fühlten, sobald sie eine Waffe in der Hand hatten. Solche Gestalten kannte er zu Genüge, da brauchte er sich keine Namen oder Pronomen zu merken.

Shefta zog die Augenbrauen hoch. »Kein Eis?«

»Sind wir hier die Skylounge oder was?« Leyo schnaubte. »Das Kühlsystem ist kaputt.«

» Reparier’s.«

»Sag das Rubha, ist ihr Saloon, nicht meiner. Macht zwölf Ruq.«

Sheftas Gefolgschaft stieß einen undefinierten Laut aus, doch zu Leyos Erleichterung zückte Shefta ihre Brieftasche und legte die Münzen auf den Tisch. Wieder kein Trinkgeld.

Na toll.

Missmutig steckte Leyo das Geld ein und kehrte zum Tresen zurück, um die Gruppe weiter im Auge zu behalten. Im Moment wirkten sie friedlich, doch er wusste aus Erfahrung, wie schnell die Stimmung bei zu viel Alkohol und Frust im Raum kippen konnte. Eine Schlägerei war das Letzte, was er wollte – beim vorigen Mal hatte Rubha ihm die Schäden vom Gehalt abgezogen.

Schon jetzt warfen die Gäste an den anderen Tischen den Skorpionen immer wieder scheele Blicke zu. Vor allem Sheftas prall gefüllte Brieftasche, die sie demonstrativ vor sich auf den Tisch gelegt hatte, zog Aufmerksamkeit auf sich. Die Bandenchefin wusste genau, dass niemand es wagen würde, sie und ihre bewaffneten Leute anzugreifen, also konnte sie leicht mit dem Reichtum prahlen, den sie verarmten Farmern und anderen bedauernswerten Gestalten als Schutzgeld aus den Rippen geleiert hatte.

Ephi packte Würfel aus und sie begannen ein Spiel, bei dem die Einsätze unverschämt hoch waren. Shefta hatte die schmutzigen Stiefel auf den Tisch gelegt und den Mantel abgeworfen, sodass das Holster mit ihrer Waffe gut für alle sichtbar an ihrem Gürtel baumelte. Leyo hasste dieses selbstgefällige Gehabe.

Er sah sich gerade nach einer Beschäftigung um, die ihn von der angespannten Stimmung im Raum ablenken würde, als die Tür erneut aufschwang. Eine abgerissene Gestalt schlich in den Schankraum, eine Frau, wie Leyo annahm. Weiße Haut schimmerte zwischen den Lumpen hervor, die ihr vom mageren Körper hingen, ihr aschblondes Haar war zu einer verfilzten Matte verkommen und an den Füßen trug sie keine Schuhe, sondern nur ein paar dünne Stoffstreifen. An der Hand ging ein Kind von vielleicht fünf oder sechs Jahren, das verängstigt an seinem Daumen lutschte.

»Verzeihung«, murmelte die Frau mit brüchiger Stimme und sah sich im Raum um. »Ich möchte die Herrschaften nicht belästigen. Mein Name ist Radni, ich war Erntehelferin auf einer Farm in der Gegend, aber ich habe keine Arbeit mehr. Ich bitte Sie, könnten Sie vielleicht einen Ruq oder zwei entbehren?« Sie hob zögerlich die Metallschale in ihrer Hand. »Meine Tochter hat seit Tagen nichts gegessen, wissen Sie. Nur eine Kleinigkeit. Wenn Sie möchten.«

Leyo seufzte und schielte zur Kasse. Rubha würde ihm jede einzelne Münze vom Lohn abziehen und ihn hochkant feuern, wenn sie erfuhr, dass er Geld verschenkte. Der Anblick von Armut war in Kalubs End keine Seltenheit. Alle hier hatten Grund zu betteln. Bis auf ein paar privilegierte Ausnahmen, zu denen sich auch Leyo zählen durfte.

Shefta musterte Radni und ihre Tochter mit höhnischem Lächeln und nahm die Füße vom Tisch. Ein Blick zu ihren Leuten genügte und sie standen auf. »Du belästigst uns sehr wohl.« Breitbeinig baute sie sich vor der Bettlerin auf. Das Grinsen auf ihren Lippen gefiel Leyo gar nicht. »Aber wenn du Geld brauchst, haben wir vielleicht ein Angebot für dich. Hundert Ruq für den kleinen Bastard da.«

Erschrocken zog Radni ihre Tochter an sich und machte einen Schritt rückwärts. »Es ... tut mir leid. Ich wollte Sie nicht stören. Bitte entschuldigen Sie. Wir werden einfach weitergehen.«

»Nichts da.« Ephi trat nach vorne, die Arme vor nimm Brust verschränkt. »So wies aussieht, kannst du doch ohnehin nicht für das Blag sorgen. Ist ja nur noch Haut und Knochen. Hundert Ruq, dann wird sie es bei uns gut haben.«

»Das reicht jetzt«, befahl Leyo und verdrängte das flaue Gefühl in seinem Magen. Unter dem Tresen hatte Rubha ihre Doppelläufige verstaut, aber sie machte nur selten Gebrauch davon. Und Leyo war ein grauenhafter Schütze. »Hinsetzen, und zwar flott. Und Sie«, damit deutete er auf die Bettlerin, »gehen jetzt besser.«

Einer der beiden bärtigen Skorpione lachte höhnisch auf und erhob sich ebenfalls. Er trug keine Knarre am Gürtel, dafür eine geschliffene Machete, deren Klinge Leyos Eingeweide verknotete. »Halts Maul, Mann, dein Gequatsche interessiert hier keinen. Was meint ihr, he? Zeigen wir dem Miststück, was wir mit Leuten machen, die unseren Feierabend mit ihrem Gestank und ihrer Drecksvisage stören?«

Die Bettlerin war bleich geworden, ängstlich umklammerte sie ihre Tochter, die leise wimmerte. »Hören Sie, es tut mir leid. Ich wollte das nicht. Ich gehe sofort, ich belästige Sie nie wieder.«

»Zu spät.« Ephi schloss demonstrativ die Finger um den Griff des Revolvers an nims Gürtel. »Jetzt hast du uns den Abend schon ruiniert. Und unser großzügiges Angebot hast du auch noch ausgeschlagen. So was mögen wir gar nicht.«

»Shefta, lasst den Scheiß!«, knurrte Leyo. Seine Hand wanderte unter den Tresen und drückte den Knopf, der das Fach mit der Schrotflinte entriegelte. »Ihr setzt euch jetzt alle wieder schön artig auf euren Platz, sonst fliegt ihr raus, verstanden? Ich geb’ euch noch eine Runde aus.«

»Sieh an, auf einmal.« Shefta grinste wölfisch. »Netter Versuch, Barjunge. Aber wir haben hier einen Ruf zu verlieren, weißt du.«

»Einen Ruf?«, wiederholte Leyo tonlos. »Wehrlose Leute anzugreifen, die euch nichts getan haben, nur damit ihr euch wie die Größten fühlen könnt?«

Ephi schnaubte. »Sie stinkt wie ein Karfaun und hat uns blöd angemacht, so was geht uns auf die Nerven. Problem damit, Barjunge?«

»Ich habe ein Problem.«

Alle Blicke im Raum wandten sich um. Eine Person an den hinteren Tischen war aufgestanden und näherte sich der Szenerie. Sie war hochgewachsen und sehnig, mit kräftigen Armen und breitem Kreuz. Ein wandernder Schrottsammler, schätzte Leyo. Zumindest lag neben dem Tisch ein Rucksack mit allerlei Geräten und Werkzeugen.

»So?« Shefta zog einen Mundwinkel hoch. »Wer bist du überhaupt, he?«

»Nur ein Mann, der hier in Ruhe seinen Whisky trinken will«, erklärte der Fremde ohne eine Spur Angst in der Stimme. »Und ihr macht mich gerade verdammt sauer.«

»Das tut uns aber leid«, spottete Shefta und stemmte die Hände in die Hüfte. Leyo ahnte, dass sie dabei an ihre Knarre griff. »Können wir dir da irgendwie behilflich sein?«

»Allerdings.« Der Fremde lockerte seinen Mantel und Leyo riss die Augen auf. Der Kerl trug eine RX am Gürtel! Eine beschissene, vollautomatische Laserwaffe! »Ihr könntet euch aus meinem Saloon verziehen.«

»Dein Saloon?«, höhnte Ephi. »Denkst du, du machst uns Angst mit deinem Spielzeug? Die ist doch nie und nimmer echt.«

Der Fremde legte die Hand an den Griff. »Willst du es herausfinden?«

»Keiner findet hier irgendwas raus«, knurrte Leyo und lehnte sich über den Tresen. Er schielte zur Tür. Die Bettlerin wich langsam zurück, trat Stück für Stück den Rückzug an. »Wenn ihr euch für nichts und wieder nichts die Schädel wegballern wollt, dann macht das draußen. Ich hab’ keinen Bock auf eine Riesensauerei hier drin.«

»Hast du gehört, Alter?« Ephi grinste. »Komm doch mit vor die Tür, da können wir unsere Probleme ausräumen.«

Der Fremde ließ seinen Blick schweifen und sah Radni hinterher, die im selben Moment mit ihrer Tochter nach draußen huschte und die Beine in die Hand nahm. »Nein danke«, erwiderte er und ließ sich wieder an seinen Tisch sinken. »Mir ist heute nicht nach einem Blutbad.«

Die Skorpione wechselten einen Blick.

»Kluge Entscheidung.« Erst jetzt schien Shefta zu realisieren, dass das Opfer ihrer Schikanen verschwunden war, und verzog das Gesicht. »Na toll, das Miststück ist weg. Danke, Opa, gut gemacht.«

»Gern geschehen. Noch einen Doppelten, bitte.«

»Vergiss es.« Shefta drehte sich zu dem Mann um und zog mit einer fließenden Bewegung ihre Pistole. Alle Gäste im Raum versteiften sich augenblicklich. »Du kommst jetzt schön mit nach draußen, und keine Mätzchen.«

Das Lächeln des Fremden verrutschte nicht, er sah Shefta unentwegt an, ohne eine Miene zu verziehen. »Nein, danke.«

»Das war keine Bitte, Arschloch!« Shefta spannte den Hahn. Ephi zog ebenfalls nimse Pistole. »Aufstehen und mitkommen.«

Leyo bewunderte die Seelenruhe des Fremden, der noch immer ungerührt auf seinem Platz saß. Entweder war er verdammt mutig oder lebensmüde.

»Meine Liebe«, erklärte er sanft, die Hand am Griff seiner RX. »Bis du abgedrückt hast, habe ich jedem deiner Freunde ein Loch ins Hirn gebrannt. Glaub mir, ich schieße schneller und präziser als ihr.«

»Willst du’s drauf ankommen lassen?«, knurrte Shefta. »Na los. Ein Mucks, und ich drücke ab.«

»Einen Scheiß wirst du.« Leyo hob die Schrotflinte und legte sie an. Hoffentlich merkte niemand, wie sehr er dabei zitterte. Schusswaffen waren seit jeher seine Nemesis. »Ihr alle packt jetzt schön brav eure Waffen hier auf den Tresen oder verpisst euch sofort aus meiner Bar, sonst pumpe ich euch mit Blei voll.«

Shefta war einen Moment abgelenkt und gab dem Fremden damit die Zeit, seine RX zu ziehen. Der rote Punkt leuchtete wie ein Furunkel auf Sheftas Stirn – und er wackelte kein bisschen.

»Seid ihr taub?«, knurrte Leyo. »Ich zähle bis drei, dann habt ihr entweder eure Scheißknarren hier auf den Tisch gelegt oder seid durch die Tür da raus. Also. Eins ...«

Shefta stieß einen erbosten Laut aus, doch angesichts der aktuellen Situation schien auch sie nicht mehr gewillt, eine Schießerei anzuzetteln. Das Risiko, von einer Ladung Schrot oder Laserstrahlen durchbohrt zu werden, wog die Rache an einem dahergelaufenen Fremden offenbar nicht auf.

»Wir sehen uns wieder«, zischte sie in Richtung des Schrottsammlers. »Und dann wirst du bezahlen, das schwöre ich dir.« Sie nickte den anderen zu und sie stolzierten geschlossen aus dem Saloon. Die Tür schwang noch einige Male quietschend auf und zu, dann trat Stille ein. Leyo ließ die Doppelläufige sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Fremde nahm die RX herunter, durchquerte den Raum und legte die Waffe auf den Tresen. Ein schönes Stück – und verdammt neu. Die 7-Z-Reihe wurde erst seit zwei Jahren gefertigt und war obendrein unter Militärverschluss. Auf dem Schwarzmarkt waren die Dinger kaum zu kriegen, Leyo erinnerte sich an einige Interessierte, die er hatte vertrösten müssen. Selbst private Söldnercorps hatten keine Chance, größere Mengen zu besorgen, ohne die alliierten intergalaktischen Streitkräfte, kurz ALIS, auf den Plan zu rufen und sich vor einem Militärgericht verantworten zu müssen.

Skeptisch musterte Leyo den Fremden. Wer auch immer er war: Die Nummer mit dem Schrottsammler kaufte er ihm nicht mehr ab.

Der Mann nahm auf einem Barhocker Platz und lächelte entwaffnend. »Schenken Sie mir noch einen ein?«

Leyo nickte stumm. Instinktiv griff er nach der teuren Flasche Whisky unter dem Tresen und goss ein. Er zweifelte daran, dass dieses Getränk den Namen überhaupt verdiente. Es war eine alte Bezeichnung aus Zeiten vor der Kolonialisierung, aber Whisky klang eben besser als »Schnaps aus Getreidematsch«.

Leyo füllte gleich zwei Gläser, das zweite nahm er sich selbst. Er prostete dem Fremden zu und stürzte den Doppelten hinunter. Der Schnaps brannte angenehm in seiner Kehle und füllte seine Brust mit Wärme. Amjan hätte ihm sicher eine ganze Reihe spannender Aromen nennen können, die dem Schluck innewohnten, doch für ihn schmeckte jeder Whisky gleich. Abgesehen von dem billigen Fusel, den er an die normalen Gäste ausschenkte, der war einfach nur widerlich und hatte ein betörendes Aroma von Brennspiritus.

Der Fremde musterte ihn immer noch schweigend. Aus der Nähe betrachtet wirkte er jünger, aber früh gealtert und verhärmt. Unter dem Lederhut lugten verschwitzte, schwarzgraue Locken hervor, ein dunkler Drei-Tage-Bart überzog seine Wangen und die Augen verschwanden beinahe unter buschigen Brauen. Trotzdem hatte er etwas an sich, fand Leyo. Die Ausstrahlung eines Menschen, der viel gesehen hatte und sich von nichts aus der Ruhe bringen ließ. Nicht einmal von einem auf seinen Kopf gerichteten Pistolenlauf. Außerdem entdeckte er eine verblichene Tätowierung auf dem braungebrannten Handrücken des Mannes. Eine Regimentsbezeichnung, aber keine, die er kannte. Ein Veteran also?

»Sie sind Leyo, nicht wahr?«, fragte er unvermittelt. »Sie waren früher Pilot der Duca.«

Leyo runzelte die Stirn. »Möglich.«

»Sie haben einen hervorragenden Ruf in entsprechenden Kreisen. Sie gelten als zuverlässig, loyal, diskret ...«

»Und im Ruhestand«, ergänzte Leyo beflissen. »Sonst würde ich Ihnen kaum an diesem bezaubernden Ort Schnaps ausschenken.«

»Nicht unbedingt ein Karrieresprung, wenn ich das so sagen darf.«

Leyo zuckte mit den Schultern. »Ich werde nach Stunden bezahlt, kann das Trinkgeld behalten und muss mich nicht mehr mit Raumpiraten, Zollvorschriften und Treibstofflecks herumschlagen.«

»Dafür mit schießwütigen Gangs.«

Leyo lachte. »Sie sind hier auf Ranun, mein Freund. Der Zusammenstoß gerade eben war noch harmlos.«

Der Fremde schwieg und drehte nachdenklich das Schnapsglas in den Händen. »Die Perspektiven könnten besser sein, was?«

Leyo seufzte genervt, beugte sich nach vorne und fixierte den Mann eindringlich. »Lassen wir doch das belanglose Geplänkel. Was wollen Sie von mir?«

Das Lächeln des Fremden wurde breiter und zeichnete Furchen auf seine Stirn. »Ich hätte da ein Angebot für Sie. Aber wenn Sie nicht mehr im Geschäft sind ...«

Leyo verfluchte den Kerl. Er sollte einfach mit den Achseln zucken, sich seinen Gläsern zuwenden und den klebrigen Tresen wischen, aber er hing bereits an den Lippen des Fremden. Ein unbekannter Söldnerveteran mit einer RX am Gürtel, der verdammt gut über ihn Bescheid zu wissen schien ... Seine Neugier war geweckt, definitiv. Auch wenn er nicht annehmen würde, er wollte hören, was der Kerl zu bieten hatte und wieso er auf ihn aufmerksam geworden war.

»Richtig«, erklärte Leyo vernehmlich, eine Spur lauter und übertriebener als nötig. »Ich bin nicht mehr im Geschäft. Also sparen Sie sich Ihre Schmeicheleien.«

Er senkte die Stimme und neigte sich ein Stück weiter nach vorne. »Der Laden hier steht unter Colays Kommando, er satt hat nicht gern, wenn Fremde hier Geschäfte machen. In zwei Stunden am Eingang zum Gigantenfriedhof.«

Der Mann nickte.

Grins nicht so selbstgefällig, dachte Leyo erbost. Ja, der Kerl hatte ihn in einem denkbar ungünstigen Moment erwischt, das musste er zugeben, und ihn dabei mit Schwung an den Eiern gepackt. Aber noch hatte er gar nichts zugestimmt, und das würde er auch nicht. Er hatte es seiner Familie versprochen.

*

Zwei Stunden später übergab Leyo die Bar an Rubha und machte sich auf den Weg. Um diese Jahreszeit wurde es früh dunkel, die Zwillingsmonde leuchteten rot über den Dünen und brachten kühlen Wind, der wispernd durch den Sand strich.

Trotz seines abweisenden Namens musste Kalubs End einmal ein ansehnliches Städtchen gewesen sein, allerdings lag das viele Jahrzehnte zurück. Heute waren die meisten Hütten verfallen, die großen Anwesen am Ortsrand abgetragen und der Sand hatte die Überreste fast gänzlich verschluckt. Leyo hatte es nie anders erlebt, und er hatte viele seiner siebenunddreißig Lebensjahre an diesem trostlosen und trotzdem irgendwie liebenswerten Ort verbracht. Kalubs End war ein bisschen wie er selbst. Eigensinnig, kaputt und exzentrisch, aber mit einem unbeugsamen Überlebenswillen, dem man Respekt zollen musste.

Er schlenderte die Hauptstraße entlang, wo die schreiend bunt bemalten Fassaden einen Eindruck von verblichenem Wohlstand erweckten. Wirklich gut besucht waren allerdings nur der Saloon und das Bordell, vor dem auffällige rote Lampions leuchteten.

Am Ende der Straße wehte ihm der Gestank der Karfaune in die Nase, die in ihren Gattern spärliche Grasbüschel aus dem Boden rissen und ihn aus stumpfen Augen anstarrten. Die haarigen Vierbeiner waren einer der wenigen ertragreichen Geschäftszweige in Kalubs End, denn ihr Fell war ebenso begehrt wie ihre Milch und sie benötigten kaum Trinkwasser. Leyo tätschelte einem der Karfaune im Vorbeigehen die Nase, ehe ihn der ätzende Gestank weitertrieb. Kaum zu fassen, dass ein einziges Tier so miefen konnte!

Die Xenonlaternen entlang der Hauptstraße blieben hinter ihm zurück, bis nur noch Sternenlicht Leyos Pfad erhellte. Es störte ihn nicht weiter, er kannte den Weg.

Kalubs End trug seinen Namen zu Recht, denn es war eine Sackgasse im Nirgendwo. Hinter den bunten Hausfassaden ragte ein Felsplateau in die Höhe, das sich viele Kilometer in alle Richtungen erstreckte, bis im Westen das Salzmeer begann. Im Osten führte die einzige Verbindungsstraße durch endlose Steppe in den nächsten Ort und weiter nach Kasdan, die größte Stadt im Umkreis von mehreren tausend Kilometern.

Ranun war kein besonders lebensfreundlicher Planet für die menschliche Spezies. Terraforming hatte einen Teil davon bewohnbar und urbar gemacht, sodass sich die Föderation auch hier hatte ausbreiten können, um die Bodenschätze abzutragen, aber zum Zentrum der Galaxis war der Planet nie geworden.

Leyo schlug den Weg Richtung Süden ein und blieb nach einer Weile stehen, um den Kopf in den Nacken zu legen. Der Anblick war jedes Mal beeindruckend. Der Gigantenfriedhof war nicht etwa eine Ruhestätte für Herrscher vergangener Epochen, wie der Name vermuten lassen konnte, sondern ein gewaltiger Schrottplatz. Tausende Raumschiffe waren hier gestrandet, Kolosse aus verrostetem Metall und verbogenem Stahl, die sich wie Bergflanken vom Nachthimmel abzeichneten. Kräne und Baumaschinen ragten wie Gerippe aus den Dünen, und Schrottteile lagen über dem Boden verteilt. Bleche, Rohre, Tanks, Silos, Kabel, Metallstangen und sogar Cockpitteile oder Pilotensitze. Der Schrotthandel war ein mühseliges und schweißtreibendes Geschäft, von den Gefahren ganz zu schweigen. Herabstürzende Trümmer, bewaffnete Überfälle, scharfkantige Metallteile – die meisten, die sich daran versuchten, hatten eine kurze Lebenserwartung. Ganz abgesehen davon, dass die Konzerne nur Hungerlöhne zahlten, egal, wie viel sie mit dem Material auf dem intergalaktischen Markt erzielten.

Leyo warf einen Blick über die Schulter, ihm schien niemand zu folgen, keine Menschenseele war zu sehen. Offiziell gehörte der Schrottplatz samt Inhalt der Föderation und anfangs hatte es noch ein paar unmotivierte Wachposten gegeben oder Drohnen, die nachts patrouillierten. Doch irgendwann hatte die Gouverneurin dieses galaktischen Quadranten jedes Interesse an Ranun und Kalubs End verloren. Seither dienten der Stacheldrahtzaun, der den Schrottplatz umfriedete, und die vereinzelten Wachtürme nur noch der Dekoration.

Leyo lehnte sich gegen eine verfallene Mauer und zog eine Zigarette aus der Westentasche, die er ansteckte. Er blies den Rauch in einzelnen Kringeln in die Luft und genoss das Kratzen des Tabaks in seiner Kehle. Seufzend starrte er in die Dunkelheit, während er ungeduldig mit dem Fuß auf und ab wippte.

Was machte er eigentlich hier? Stand er wirklich hier im Dunkeln und wartete auf einen völlig fremden Söldnerveteranen, um sich von ihm ein dubioses Angebot anzuhören, das er sowieso nicht annehmen würde?

Denn du wirst es nicht annehmen, schärfte er sich ein. Liska reißt dich in Stücke, falls du es tust.

Nervös trat Leyo von einem Fuß auf den anderen und wartete, während seine Gedanken kreisten. Der Fremde kannte ihn – woher? Vom Hörensagen? Oder steckte mehr dahinter? Leyo tat zwar gerne so, als sei er eine lebende Schmugglerlegende, aber in Wahrheit hatte er den Kreis derer, die seinen Namen kannten, immer angenehm klein gehalten. Ein Söldnerveteran ... Von Tajandor, vielleicht? Typen wie er passten in dieses miese Schmugglernest. Aber ein verflucht weiter Weg dafür, dass man im dortigen Raumhafen Leute für jede Art von Job fand. Da brauchte der Kerl nicht erst die halbe Galaxis zu durchqueren, um ausgerechnet ihn anzuquatschen. Nein, er musste aus der Gegend sein. Kasdan vielleicht?

Leyo zog an seiner Zigarette und schüttelte den Kopf. Seine Gedanken liefen Amok und das gefiel ihm gar nicht. Er war unterfordert, zweifellos, wenn er sich schon an einer Kleinigkeit wie diesem Söldner minutenlang festfraß. Das Gefühl an sich war ihm alles andere als fremd und meistens wusste er damit umzugehen, aber in den letzten Monaten war es schlimmer geworden. Beinahe unerträglich. Als sehnte sich sein ganzer Verstand so inständig nach Abwechslung, dass er jeden noch so kleinen Funken nutzte, um ein Gedankengewitter zu entfachen.

Neulich hatte er in Rubhas Saloon einen halben Nachmittag darüber sinniert, woher eigentlich das Wort »sternhagelvoll« kam und was es mit Sternen oder Hagel zu tun hatte. So verzweifelt war er schon.

Er ging einige Schritte und wippte auf den Fußballen auf und ab, um sich abzulenken. Kälte kroch ihm unter die Kleider, der Wind frischte auf und wehte ihm Sand in die Augen. Auf Ranun gab es nur zwei Temperaturen: klirrend kalt und brütend heiß. Man gewöhnte sich daran.

Endlich vernahm Leyo Schritte im Sand und hob den Blick. Einige Meter entfernt leuchtete das Feuer einer weiteren Zigarette auf wie ein Glühwürmchen und erhellte für einen Augenblick die Silhouette des Fremden. Leyo glaubte, ihn lächeln zu sehen. »Sie haben das mit dem Treffen ernst gemeint.«

»Was dachten Sie denn?«, fragte Leyo spöttisch. »Dass ich Ihnen eine schießwütige Gang auf den Hals hetze, die Ihnen dieses unheimlich hübsche RX-Modell und den schicken Mantel abjagt?«

»Ja, in der Art.« Er zog an seiner Zigarette. »Aber ich bin froh, dass Sie darauf verzichtet haben. Blutflecken auf Leder sind lästig.«

Leyo verdrehte die Augen. »Sie sind ein ganz harter Hund, was? Also reden wir Klartext. Was wollen Sie von mir?«

»Ich hätte ein Angebot für Sie. Ein simpler Job, aber mein Boss hat eine Menge Geld investiert und keine Lust, es an Newbies zu verlieren, die sich nicht auf Zollvorschriften und Handelswege verstehen. Es heißt, Sie wären ziemlich erfahren auf diesem Gebiet.«

»In fünfzehn Jahren lernt man so einiges«, wich Leyo aus. »Also danke für die Blumen, aber ich bin nicht interessiert. Ich habe aufgehört.«

»Ein Jammer ...« Der Fremde zog ein letztes Mal an seiner Kippe und schnippte sie dann in den Sand, wo sie verglühte. »Mein Auftraggeber wäre bereit, achthundert Credits zu bezahlen.«

Leyo verschluckte sich beinahe an seiner Zigarette, hustend stieß er Rauch in die Luft. »Haben Sie achthundert gesagt?«

»Allerdings. Bei zügiger Erledigung wäre sogar ein Bonus für Sie drin. Außerdem stellt mein Auftraggeber ein geeignetes Schiff für die Mission.«

Verdammter Mist. Ein angespanntes Kribbeln zog sich von Leyos Magen bis in seine Fingerspitzen und ließ seinen Puls vibrieren. Achthundert Credits – das war ein kleines Vermögen, umgerechnet etwa fünftausend Ruq. Um das zusammenzubekommen, musste er über ein Jahr in Rubhas Saloon Fusel ausschenken.

Nachdenklich sog er den Tabakduft ein. Achthundert Credits für einen einzigen Auftrag ... Da musste es einen Haken geben. Er musterte den Fremden. »Gut, sagen wir, ich wäre interessiert. Was ist das für ein netter, simpler Job?«

»Mein Auftraggeber möchte ein paar Produkte verkaufen.« Der Fremde griff ins Innere seines Mantels und zog ein kleines rundes Gerät hervor. Mit zwei Klicks erschien das Hologramm eines stromlinienförmigen Hoverbikes, das Leyo einen entzückten Laut entlockte.

»Eine Mycra 310?«

»Zwanzig Stück.«

Leyo legte den Kopf schief. »Aber ich dachte, nur Hovertech darf die Dinger herstellen und exportieren?«

»Gut beobachtet. Deswegen spreche ich ja auch mit einem Schmuggler und nicht mit der Geschäftsführung von Hovertech.«

»Dann sind die Dinger nicht echt?«

»Sie sehen täuschend echt aus«, bestätigte der Fremde, »zumindest von außen. Das Innenleben besteht nur aus Plastik und Pappmaché, aber wen interessieren schon die inneren Werte?«

»Wie romantisch«, konterte Leyo trocken. »Also, kurz und schmerzlos: Ich schmuggle gefälschte Hoverbikes ... wohin?«

»Heißt das, Sie nehmen den Auftrag an?«

Leyo zögerte. Achthundert Credits für einen einfachen Schmuggeldeal! Noch einmal in ein Schiff steigen, die Armaturen blinken sehen, die Geschwindigkeit fühlen, die Weite des Weltalls genießen, das Adrenalin in den Adern spüren ... »Wie lange soll das Ganze dauern? Ich habe Familie, ich kann nicht ewig wegbleiben.«

»Das Schiff steht in Kasdan bereit. Sie gehen dort an Bord, bringen die Ware nach Sima 9 und landen in Ozar. Eine Kontaktperson wird sie in Empfang nehmen.«

Leyo warf die Zigarette in den Sand und kaute auf seiner Unterlippe. Sima 9 war einer der Monde, die einen Nachbarplaneten umkreisten. Die Strecke schaffte er über ein einschlägiges Sprungtor in wenigen Stunden, er wäre also maximal einen Tag unterwegs und Amjan und Liska mussten nichts davon erfahren ... Achthundert Credits, verdammt!

Als ginge es dir um das Geld, raunte eine boshafte Stimme in seinem Kopf. Du brauchst den Nervenkitzel, gib es doch zu. Du langweilst dich. Du bist nicht für Heim und Herd gemacht.

Leyo vertrieb die Stimme mit einer wütenden Kopfbewegung. Nur einmal. Ein allerletztes Mal. Für seine Familie, für ihre Zukunft, für sein Kind.

Für dein aufgeblasenes Ego, für deinen persönlichen Kick ...

»Ich mach es.«

Der Fremde legte überrascht den Kopf schief. »Das ging ja schnell. Ich dachte, Sie würden hartnäckiger verhandeln.«

Leyo lachte. »Zugegeben, Sie haben einen wunden Punkt erwischt. Billigen Schnaps auszuschenken war noch nie meine Berufung. Also, wie war das mit dem Bonus?«

»Hundertfünfzig Credits, wenn die Ware binnen drei Tagen am Zielort ankommt. Schaffen Sie das?«

Leyo grinste und streckte dem Fremden seine Hand entgegen. »Sagen wir tausend glatt raus und ich bin dabei.«

Der Fremde zog eine Augenbraue hoch, doch schließlich nickte er und schlug ein. Seine Hand war schwielig und sein Händedruck fest. »Wunderbar, ich wusste, wir werden uns einig. Sie erhalten in Kasdan eine Anzahlung von dreihundert Credits. Den Rest bekommen Sie bei Lieferung am Zielort.«

»Nach wem frage ich in Kasdan?«

»Kennen Sie das Dock 111?«

»Diese dreckige Bar am Raumhafen?«

»Bestellen Sie am Tresen einen doppelten Porta auf Eis. Dann wird man Ihnen die Kontaktdaten aushändigen.«

Leyo nickte und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er war seit Monaten nicht mehr am Raumhafen in Kasdan gewesen und vermisste das Flair dort. Den Geruch nach Treibstoff und Öl, das geschäftige Treiben an den Laderampen und die schmierigen Bars, in denen die Soundboxen immer dasselbe Lied spielten. Das war seine Welt. Kalubs End war ein Dorf, wo alle sich untereinander kannten, wo man sich ständig auf die Füße stieg und so tat, als hätte das Leben hier gute Seiten. Nun, die hatte es auch. Aber das war nicht der Verdienst dieses Kaffs, sondern der Menschen, die hier lebten. Im Gegensatz zum Rest der Föderation half man sich hier noch gegenseitig und achtete aufeinander. Gut, außer, man gehörte zu Sheftas Arschlochbande.

»Alles klar, wird schon schiefgehen.«

Der Fremde lächelte dünn und wandte sich zum Gehen. »Dann guten Flug. Und danke für Ihre Kooperation, das erspart mir eine Menge unnötiger Laufarbeit.«

Im Gehen rief Leyo ihm nach: »Sie haben mir immer noch nicht Ihren Namen genannt.«

»Den müssen Sie nicht wissen«, erwiderte der Fremde. »Nennen Sie mich Sergeant. Das genügt.«

Sergeant, äffte Leyo ihn in Gedanken nach. Was für ein Aufschneider. Er hätte ihn gerne noch gefragt, wo er die RX abgestaubt hatte, aber vermutlich hätte er darauf keine Antwort bekommen. Letztlich spielte es auch keine Rolle. Die meisten Leute hatten ihre Geheimnisse, und das war okay so.

Kapitel 2

Leyo sah dem Fremden nach, bis er in der Dunkelheit verschwand, steckte sich eine zweite Zigarette an und marschierte gemächlich zum Dorf zurück. Das euphorische Herzklopfen ebbte mit jedem Schritt ab und die ersten Zweifel schlichen sich ein. Sergeant, Kasdan, gefälschte Hoverbikes ...

Was verdammt nochmal hast du dir dabei gedacht?

Leyo vertrieb die Gedanken. Es war eine gute Gelegenheit, die eine Menge Geld einbrachte, mehr nicht. Das Risiko war minimal, ein harmloser, simpler Job. Seine Familie musste nichts davon erfahren – und am Ende würde sie sich über das zusätzliche Einkommen sicher freuen.

Er zog an seiner Zigarette in der Hoffnung, dass ihn das Nikotin ein wenig entspannte. So richtig wohl fühlte er sich bei der Sache nicht, ganz egal, was er sich einredete. Aber jetzt war das Kind schon in den Brunnen gefallen.

Er ließ den Gigantenfriedhof gerade hinter sich, als er ein Geräusch vernahm. Langsam drehte er sich um, die Hand am Revolver unter der Jacke. Da war jemand. Leyo konnte nichts erkennen, aber er war sich sicher, ein Knirschen zwischen Sand und Schrottteilen gehört zu haben. Er verharrte, den Blick in die Dunkelheit gerichtet. Schrotträuber? Oder nur ein Tier, das in den Trümmern nach Nahrung suchte?

Er nahm einen weiteren Zug von der Zigarette, wartete. Wenn es wirklich Banditen waren, sollte er denen nicht den Rücken zudrehen. Er trug zwar nicht viel bei sich, lediglich den Lohn dieses Tages und seine Knarre, aber beides hätte er schon gerne behalten.

Da, ein weiteres Geräusch. Das Knacken eines dürren Asts. Dann flammte unvermittelt Licht auf.

Leyo beschirmte ächzend die Augen mit seiner Hand und blinzelte, um die Flecken zu vertreiben, die auf seiner Iris tanzten. »Macht das aus, was soll der Scheiß?«

»Ich hatte recht«, vernahm er eine Stimme, »das ist er.« Die Lampe senkte sich. Leyo konnte zwei Silhouetten erkennen, deutlich kleiner als er, schlank und zierlich. »Scheiße, haben wir ein Glück.«

Leyo wischte sich über die tränenden Augen. Die Lampe erleuchtete jetzt den Boden zwischen ihm und den beiden Gestalten, sodass er sie besser erkennen konnte, ohne geblendet zu werden. »Ihr seid das. Was treibt ihr hier draußen?«

Tiru, der die Lampe in der Hand hielt, wechselte einen unsicheren Blick mit Masani neben ihm. Die beiden waren etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, mager und sehnig, mit weißer, von der Sonne gebräunter Haut und dunklen Knopfaugen. Tiru hatte seine Locken einseitig ausrasiert, Masani trug ihr glattes Haar offen. Sie waren Cousin und Cousine, soweit Leyo wusste, und die Kinder von Karfaun-Bauern.

»Ihr solltet euch nicht hier rumtreiben«, belehrte sie Leyo und drückte seine Zigarette aus. »Schrotträuber sind verdammt ungnädig mit Kindern, die nachts in ihrem Territorium her‍umlungern.«

»Wissen wir«, murmelte Tiru und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Hör mal, ähm ... Wir haben ein Problem.«

Leyo legte die Stirn in Falten. »Inwiefern?«

»Wir ... wir waren drüben beim Geisterwrack«, antwortete Masani kleinlaut. »Wir wollten ... also ...«

»Interessiert mich nicht«, schnitt Leyo ihr das Wort ab. Er kannte die Mutproben der Kids zu Genüge. Das Geisterwrack waren die Überreste eines uralten Raumkreuzers, der schon seit über hundert Jahren im Sand vor sich hin rostete. Es gab zahllose Geschichten von Gespenstern, Ungeheuern und Monstern, die in den Ruinen ihr Unwesen trieben, aber auch ebenso viele über unentdeckte Schätze und Relikte alter Tage. Dutzende Waghalsige hatten dort ihr Glück versucht, und nicht wenige waren beim Versuch gestorben. »Was habt ihr angestellt?«

»Wir ...« Masani holte tief Luft. »Wir waren zu dritt. Eigentlich. Aber wir ... wir haben Sami dort verloren.«

Leyo hatte das Gefühl, ihm sei ein Eisklumpen in den Magen gefallen. »Wie bitte? Ihr habt was?«

»Er war plötzlich weg«, wimmerte Masani. »Er ist in einen Schacht gefallen und wir wussten nicht ...«

»Und da lauft ihr einfach davon?« Leyos Stimme überschlug sich. »Wann war das?«

»Gerade eben. Wir ... wir wollten Hilfe holen, ehrlich, wir wollten nicht weglaufen. Und dann haben wir dich gesehen und dachten ...«

Leyo stieß einen Fluch aus und funkelte die Jugendlichen zornig an. »Bringt mich hin. Sofort.«

Tiru nickte hastig und marschierte mit der Lampe voraus. Leyos Herz hämmerte in seiner Kehle. Bilder erschienen vor seinem geistigen Auge, fluteten seinen Verstand mit wilder Panik. Sami auf einer scharfen Metallspitze aufgespießt. Sami umringt von blutrünstigen Schrotträubern. Sami inmitten einer Horde Nidrane, die ihn zu zerfleischen drohten. Warum trieb sich der Junge überhaupt um diese Uhrzeit auf dem Gigantenfriedhof herum, verflucht noch mal? Wieso war er nicht zuhause bei seiner Mutter, wo er hingehörte?

Hör auf! Leyo schüttelte sich. Angst kroch in jede seiner Poren. Keine Panik. Bleib ruhig. Verdammte Scheiße, bleib ruhig!

Mit weichen Knien stolperte er hinter den beiden Jugendlichen her durch das Trümmerfeld, vorbei an zerstörten Abfangjägern, Transportschiffen und Hovercrafts, die im Sternenlicht schaurige Schatten warfen. Tirus Lampe war nichts weiter als ein kümmerliches Flackern in der verschlingenden Dunkelheit, und Leyo befahl ihm nach einer Weile, sie auszuschalten. Wenn sich irgendwo Schrotträuber herumtrieben, würden die sie aus einer Meile Entfernung sehen.

Über dem Schrottplatz lag eine unheilvolle Stille, nur durchbrochen vom Knirschen ihrer eigenen Schritte auf Kies, Sand und Metallteilen. Warum rief Sami nicht nach ihnen? Wieso machte er nicht mit aller Kraft auf sich aufmerksam? Leyo wollte sich diese Frage nicht beantworten. Das Geisterwrack kam näher, ein dunkles, zerborstenes Ungetüm, das den Sternenhimmel über ihnen verdeckte. Jetzt war Tiru doch wieder gezwungen, seine Lampe einzuschalten, und Leyo umklammerte seinen Revolver fester. Er war zwar ein beschissener Schütze, aber wenn jemand seinem Jungen auch nur zu nahe kam, dann würde er ihn mit Blei spicken.

Über einzelne Felsen, Trümmerteile und Baugerüste kletterten sie an der Außenhülle des Wracks hinauf, die sich wie ein grotesker Kokon um das Innenleben aus Stahl und Chrom spannte. Ein breiter Spalt führte ins Innere, dorthin, wo früher einmal die Brücke gewesen sein musste. Der Wind pfiff schaurig in den Öffnungen und jeder Schritt auf dem rostigen Metall knarzte bedrohlich.

»Da vorne«, murmelte Masani erstickt. »Da ist er reingefallen.«

Leyo nahm Tiru die Lampe ab und leuchtete. Das Wrack war komplett zerfallen, überall taten sich Spalten im Boden auf, Risse klafften in den Wänden und Kabel hingen wie Tentakel aus Schächten und Luken.

»Was verdammt noch mal habt ihr hier überhaupt gemacht?«

»Nichts«, sagte Tiru lahm. »Wir haben nur ... also ... Sami wollte ...«

»Beantworte meine Frage!«

»Es war wegen Lanas Bande«, murmelte Masani. »Sami wollte unbedingt dazugehören, aber Lana sagt, er ist noch zu jung. Er dachte, wenn er ihr was wirklich Cooles beschaffen kann, aus dem Geisterwrack, dann ...« Ihre Stimme verlor sich und Leyo stöhnte entnervt auf. Das war so typisch für diesen Sturkopf!

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, was?

»Sami?« Leyo horchte in die Stille hinein. Das Echo hallte schaurig an den Metallwänden wider und irgendwo knarzte es in den Untiefen des Schiffes. »Sami, verdammt, wo bist du?«

Nichts.

Leyo kämpfte die Panik nieder und ging vorsichtig weiter, geduckt, um sich den Kopf nicht an herabhängenden Metallstreben anzuschlagen. Eine Böe fegte durch das Wrack, verursachte ein Heulen, das dem jaulenden Klang unruhiger Geister gar nicht so unähnlich schien.

»Sami! Sag irgendwas!«

Wieder nur ein Knarren im Gebälk und das Rieseln von herabfallendem Sand.

»Warte!« Masani ergriff ihn am Arm. »Da!«

Leyo spitzte die Ohren. Außer dem Wind, dem Ächzen des Wracks und dem leisen Summen der Lampe hörte er gar nichts. Obwohl ... doch! Da war ein Geräusch. Leyo machte einen Schritt nach vorne. Es kam aus einem der Schächte!

»Sami?« Er hob die Lampe und leuchtete in die Dunkelheit. Der Schacht war eng, aber einige Meter tief. Vielleicht ein Teil des ehemaligen Belüftungs- oder Transportsystems. »Hörst du mich?«

»Leyo?« Die Stimme klang dumpf und leise. »Was machst du hier?«

»Dir den Arsch retten, verdammt! Bist du verletzt?«

»Nein«, kam die zögerliche Antwort. »Vielleicht. Weiß nicht.«

»Wie zum Henker bist du da rein gekommen?«

»Ich wollte da nicht rein«, antwortete Sami mit beleidigtem Unterton. »Ich stecke fest.«

»Was du nicht sagst.« Leyo wandte sich den beiden Jugendlichen zu. »Habt ihr ein Seil?«

»Das bringt nichts«, erklang Samis Stimme von unten. »Ich kann mich nicht bewegen.«

Leyo fluchte. »Gut, dann bleibt ihr hier und rührt euch nicht von der Stelle. Ich suche einen anderen Zugang.«

Keiner der beiden protestierte, obwohl Leyo die Lampe mitnahm. Er tastete sich an der Wand entlang, bis er eine Öffnung entdeckte, die etwa im gleichen Winkel abfiel wie der Schacht, in dem Sami steckte. Er atmete tief durch, schob die Waffe ins Holster, befestigte die Lampe an seinem Gürtel und hangelte sich Stück für Stück nach unten.

Zu Leyos Glück war das Wrack an dieser Stelle schon so zerfallen und abgetragen, dass nur noch das innere Gerüst frei lag und ihm Trittmöglichkeiten bot. Trotzdem waren die Abstände zwischen den Streben verdammt groß. Er wagte nicht, nach unten zu blicken. Wie tief mochte es da runter gehen? Und hatte er überhaupt eine Chance, Sami ohne Werkzeug zu befreien? Was, wenn er so endgültig feststeckte, dass man ihn aus seinem Metallgefängnis herausschneiden musste? Verdammt, wie schaffte es der Junge immer, sich in solche Schwierigkeiten zu manövrieren? Leyo verbannte die Frage aus seinem Kopf – er ahnte die Antwort – und kletterte weiter nach unten.

»Sami?« Er horchte in die Stille. »Hörst du mich?«

»Ja«, kam eine dumpfe Erwiderung aus der Wand. »Ich bin hier.« Es hämmerte metallisch.

»Halt still«, befahl Leyo. »Ich steig weiter runter. Vielleicht komme ich von da an dich ran.«

Er kletterte eine Sprosse tiefer, dann noch eine – und mit einem Knacken brach sie unter seinem Fuß entzwei. Scheppernd prallte das abgebrochene Rohrstück gegen die Wände, stürzte tiefer, immer tiefer, bis das Geräusch verklang. Leyo stieß ein Keuchen aus und seine Hände krallten sich instinktiv um die nächste Stange, die er erreichen konnte.

»Leyo?« Das war Samis panische Stimme. »Was ist passiert?«

»Alles gut«, ächzte er und kämpfte um seine Balance. »Ich bin gleich unten.« Das war optimistischer, als Leyo sich fühlte. Einige Meter tiefer erreichte er endlich ein Plateau, auf dem er Halt fand. Was war das hier gewesen? Ein Zwischendeck? Geborstene Planken führten links und rechts von ihm in die Dunkelheit. Da drüben, dort musste er Sami finden. Er tastete sich vorwärts, prüfte jeden Schritt. Es knarrte und knirschte – und da war noch ein weiteres Geräusch, das Leyo einen Schauer über den Rücken jagte. Ein Scharren, irgendwo in der Tiefe. Hoffentlich nur Ratten oder anderes Getier.

Er blickte nach oben und atmete erleichtert auf. Da war der Schacht!

»He, Sami. Siehst du das Licht?« Er leuchtete mit der Lampe hinauf.

»Ja!« Samis Stimme überschlug sich beinahe. »Ja, sehe ich.«

»Warte kurz.« Leyo sah sich um, packte eines der Rohre, das aus der Wand ragte, und bog es mit aller Kraft um, damit er es als Trittsprosse nutzen konnte. Jetzt gelang es ihm, sich zum Schacht hinauf zu stemmen. Er leuchtete in die Dunkelheit und erkannte erleichtert ein paar Beine über ihm. Der Junge war überraschend weit gekommen, aber genau an dieser Stelle beschrieb der Schacht einen Knick und wurde nach unten hin schmäler, sodass Sami stecken geblieben war.

»Ich bin hier«, murmelte Leyo, streckte sich und berührte Sami am Bein. »Alles gut. Ich versuche, den Schacht ein Stück auseinanderzubiegen, das Ding ist ziemlich alt und rostig, könnte klappen. Hilf mit.«

Der Junge wimmerte. »Ich kann nicht.«

»Doch, du kannst, einfach mit aller Kraft die Wände zur Seite schieben. Auf drei. Eins, zwei, drei!«

Sami keuchte, der Schacht quietschte. Leyo stemmte sich verbissen gegen das alte Metall, das knirschend nachgab. Eine rostige Schraube fiel zu Boden, eine Verankerung löste sich.

»Es klappt!« Samis Stimme überschlug sich. »Ich kann mich bewegen.«

»Dann raus mit dir!«

Leyo ließ nicht locker, Schweiß rann ihm in die Augen, seine Handflächen brannten. Über ihm krachte es, etwas barst entzwei – und im nächsten Moment traf ihn Samis Schuh im Gesicht.

»Au! Langsam.« Er platzierte Samis Füße auf seinen Schultern, glitt dann rückwärts von seiner provisorischen Leiter und hob den Jungen aus dem Schacht. Er ließ ihm nicht einmal Zeit durchzuatmen, sondern zog ihn augenblicklich an sich.

»Du tust mir weh«, murmelte Sami erstickt und Leyo ließ ihn widerwillig los. Im Schein der Lampe erkannte er zahlreiche Schrammen und Kratzer auf Samis Armen, sein Shirt war zerrissen und seine Wangen nass vor Tränen.

Leyo strich ihm die dunklen Locken zur Seite und tastete anschließend seinen Brustkorb ab. »Bist du verletzt? Hast du dir was gebrochen?«

Sami schüttelte den Kopf. Obwohl er aussah wie ein Häuflein Elend, gelang es ihm, einen trotzigen Blick aufzusetzen, als könne er kein Wässerchen trüben. »Nein. Mir geht’s gut.«

»Ein Glück.« Leyo holte tief Luft. Er merkte erst jetzt, wie angespannt er gewesen war und wie schnell sein Puls ging. »Was hast du dir dabei gedacht, hm? Du könntest tot sein, verdammte Scheiße! Sei froh, dass ich zufällig hier in der Gegend war, wer weiß, was sonst passiert wäre.«

Sami schwieg, den Blick zu Boden gerichtet, aber sein Kehlkopf zitterte und er presste die Kiefer zusammen.

Leyo legte die Arme um ihn und hielt ihn fest. »He, alles gut. Wir hauen jetzt von hier ab, okay?«

Sami schniefte und rang sich ein Nicken ab. »Danke.«

»Nichts zu danken.« Leyo schob ihn an den Schultern von sich und sah ihn an. »Ist mein Job, dich aus der Scheiße zu ziehen. Ob uns das gefällt oder nicht.«

Jetzt erschien auf Samis Lippen ein dünnes Lächeln. »Bin froh, dass du hier warst.«

»Und ich erst.« Er führte Sami zurück zu der Stelle, an der er nach unten geklettert war. »Das wird jetzt noch einmal anstrengend, aber du schaffst das. Du gehst vor, ich bleibe hinter dir und fange dich auf, falls du stürzt. Einverstanden?«

Sami nickte. Er holte tief Luft, stieg auf die erste Sprosse und begann, sich nach oben vorzuarbeiten.

Als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten, fühlten sich Leyos Knie so weich an wie Karfaunbutter, und Sami schien es ähnlich zu gehen. Leyo musste grinsen. Hatte er sich wirklich mehr Abenteuer in seinem Leben gewünscht? Wer brauchte schon Weltraumschlachten und Transorbitalrennen, wenn er einen pubertären Sohn hatte?

Am Eingang zum Gigantenfriedhof verabschiedeten sich Masani und Tiru von ihnen und Sami blickte unschlüssig zu Leyo auf. »Muss ich es Mam erzählen?«

»Allerdings. Und ich sorge persönlich dafür, dass sie dir mindestens drei Monate Hausarrest aufbrummt.«

»Drei Monate?«, keuchte Sami und verschränkte die Arme vor der Brust. »Vergiss es! Da kriech ich lieber in den Schacht zurück.«

»Einen Scheiß wirst du«, konterte Leyo und legte seinem Sohn den Arm um die Schulter, um ihn weiter zu ziehen. »Du könntest tot sein, ist dir das eigentlich klar? Alles nur für diese bescheuerte Bande.«

»Die sind nicht bescheuert. Lana ist cool.«

»Stehst du auf sie?«

Betont lässig zuckte Sami die Schultern. »Kann sein.«

»Wie alt ist sie? Sechzehn? Siebzehn?«

»Hm. Denk schon.«

Leyo verdrehte die Augen. Was fanden Jungs wie Sami nur an den Älteren, die sowieso nichts für sie übrig hatten?

Er blickte seinen Sohn an. »Ist sie süß?«

Sami strahlte. »Total. Sie hat ein Piercing in der Nase.«

»Ah. Wie deine Mam.«

Sami blieb stehen und starrte Leyo mit so abgrundtiefer Empörung an, dass der sich das Grinsen verkneifen musste. »Boah, du bist widerlich! Sie ist überhaupt nicht wie Mam!«

»Schade. Deine Mam ist heiß.«

»Hör auf damit!«

»Wieso? Stimmt doch.«

Sami schob trotzig das Kinn vor. »Und wieso bist du dann nicht mehr mit ihr zusammen, hm?«

Leyo lächelte triumphierend. »Weil eine echte Beziehung mehr erfordert, als den anderen heiß zu finden. Das mussten deine Mam und ich auf die harte Tour lernen. Ich würde mir wünschen, dass du das eher kapierst als wir.«

»Du meinst, bevor ich ihr ein Balg anhänge, das sie nicht will.«

»He.« Leyo blieb stehen, ging vor seinem Sohn in die Hocke und sah ihn eindringlich an. »Sag das nie wieder, okay? Deine Mam hat dich sehr lieb – und ich auch. Das mit uns beiden hat nicht geklappt, aber das hat rein gar nichts mit dir zu tun.«

Samis Mundwinkel zuckten. »Und wir müssen es ihr wirklich erzählen? Kann das nicht unter uns bleiben?«

»Nein«, erwiderte Leyo strikt. »Vermutlich stirbt sie gerade vor Sorge um dich. Also los, nicht trödeln.«

Sami murmelte etwas Unverständliches, protestierte aber nicht mehr. Das Anwesen lag außerhalb von Kalubs End und gehörte zu den wenigen intakten Villen, die den Rand des Dorfes säumten. Früher, vor dem Ende des Vicariumabbaus, hatte es eine Reihe schicker Landhäuser in und um Kalubs End gegeben, doch von den meisten waren nur Ruinen geblieben. Es gab nicht mehr viel, womit man hier reich werden konnte – abgesehen vom Schrottgeschäft, das überwiegend auf Ausbeutung und Wucher basierte. Leyo war nicht glücklich darüber, dass Sami in einem solchen Haushalt aufwuchs, aber es stand ihm nicht zu, Arifa Vorschriften zu machen. Leyo war garantiert kein Heiliger und sah kein Problem darin, die Gesetze ein wenig zu dehnen, solange die Regierung nicht hinsah. Aber Reichtum auf dem Rücken derer anzuhäufen, die ohnehin nichts hatten, so wie Arifas Mann es tat, kam ihm schäbig vor.

Das kleine Landhaus war von Stacheldrahtzaun umgeben und an einigen Stellen sogar mit Selbstschussanlagen gesichert, um Diebe und Plünderer abzuschrecken. Im Garten ratterte eine Sprinkleranlage, die blühende Beete und Sträucher bewässerte, und die frisch getünchte Fassade wurde von warmem Licht erhellt. Sami gab den passenden Zahlencode in das Relais am Gartenzaun ein und als das Tor summend aufschwang, öffnete sich die Haustür.

»Sami!« Arifa rannte den gepflasterten Weg hinunter und schloss ihren Sohn stürmisch in die Arme. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Ich war krank vor Sorge.« Sie musterte ihn eindringlich und ihre Finger glitten über die zahlreichen Schrammen und Kratzer auf seinen Armen. Ihr vorwurfsvoller Blick traf Leyo. »Was verdammt noch mal habt ihr angestellt?«

»Leyo kann nichts dafür, Mam«, beeilte Sami sich zu sagen, und senkte betreten den Blick. »Es war meine Schuld.«

»Was war deine Schuld?«

»Ich ...« Sami biss sich auf die Unterlippe. »Ich war ... auf dem Friedhof. Beim Geisterwrack.«

Arifa riss die Augen auf. »Das ist nicht dein Ernst! Weißt du, wie gefährlich das ist?«

Sami schielte auf seine Fußspitzen. »Es war eine Mutprobe, Mam. Ich dachte, es passiert nichts.«

»Und was ist passiert?«

»Er ist in einen Schacht gestürzt«, ergänzte Leyo, um seinem Sohn das weitere Gespräch zu ersparen. »Oder besser gesagt – in einem stecken geblieben. Er kam allein nicht mehr raus, aber seine Freunde haben Hilfe geholt.«

Arifa schluckte und zog ihren Sohn erneut an sich. »Verdammt, Sami.« Sie küsste ihn auf den Scheitel. »Mach das nie wieder, hörst du?«

Sami schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang erstickt. »Bestimmt nicht, Mam. Versprochen.«

»Dann rein ins Haus mit dir, Jothena soll dir ein Bad einlassen.«

Sami nickte. Er warf Leyo einen Blick zu, zögerte kurz und umarmte ihn dann ein letztes Mal. »Danke«, flüsterte er. »Ich hab’ dich lieb.«

Leyo zog ihn noch ein Stück fester an sich. »Ich dich auch, Großer. Bis bald.«

Sami löste sich aus der Umarmung und marschierte Richtung Hauseingang. Arifa schenkte Leyo ein Lächeln. Er hatte definitiv nicht untertrieben, sie war heiß. Eine schwarzäugige Schönheit mit dunkelbrauner Haut, üppigen Kurven und Sommersprossen auf der Nase. Ihr hüftlanges schwarzes Haar war zu Braids geflochten, die sie zu einem Knoten hochgesteckt hatte. Außerdem trug sie einen Tunnel in jedem Ohrläppchen und einen goldenen Ring im Nasenflügel – Relikte einer wildbewegten Jugend, die wesentlich aufregender gewesen war, als ihr aktuelles Leben an der Seite eines reichen Geschäftsmanns vermuten ließ. Aber Aufregung war eben nicht das, wonach Arifa sich gesehnt hatte. Sie hatte Beständigkeit gesucht, Stabilität und Komfort – ganz im Gegensatz zu Leyo.

»Willst du mit reinkommen?«, fragte sie zögerlich. »Wir haben noch was vom Abendessen übrig.«

Leyo schüttelte den Kopf. »Das ist lieb, aber ich muss nachhause. Ich bin sowieso schon spät dran.«

»Grüß Liska und Amjan von mir«, bat Arifa. »Wenn ihr etwas für das Baby braucht, könnt ihr mich jederzeit fragen. Wir haben noch immer eine Menge Sachen von Kera, Strampler, Spielzeug, alles Mögliche.«

»Und du bist dir sicher, dass ihr das nicht wiederverwenden wollt?«

Arifa lachte. »Ich werde nicht jünger, Leyo. Kera war unser Wunschkind, aber noch einmal tue ich mir das nicht an. Also, wenn ihr was braucht, meldet euch gerne.«

»Danke, ich richte es aus. Sonst alles okay bei euch?«

»Du meinst abgesehen von einem pubertären Halbstarken, der macht, was er will, und einer quirligen Zweijährigen, die nicht stillsitzen kann?« Arifa gluckste. »Wir kommen zurecht, keine Sorge. Du könntest dich trotzdem öfter blicken lassen. Ich hab’ das Gefühl, auf dich hört unser Sohn wenigstens.«

Leyo lachte und strich Arifa sanft über den Arm. »Sami ist dreizehn, der hört auf niemanden, außer vielleicht auf seine Hormone. Mach dir deswegen keinen Kopf.«

Arifa erwiderte sein Lächeln nicht, sondern blieb ernst. »Denkst du, du könntest trotzdem einmal mit ihm reden, demnächst? Weißt du, er liebt Kera abgöttisch, er ist unheimlich süß zu ihr, aber er und Baref ... das ist ein Trauerspiel. Sie sind ständig nur am Streiten.«

Kluger Junge, dachte Leyo, nicht ohne einen Hauch von Stolz.

»Tut mir leid, Arifa, aber ich werde mich nicht zwischen Sami und deinen Mann stellen. Das wäre unfair.«

Arifa seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht.« Sie trat unschlüssig einen Schritt nach vorne, dann nahm sie Leyo in den Arm. »Danke für alles, ich wäre durchgedreht, wenn Sami bis Mitternacht nicht aufgetaucht wäre.«

»Kein Problem, dafür bin ich da. Erhol dich ein wenig und gib unserem Sohn einen Kuss von mir.«

»Mach ich. Bis bald.«

Leyo trottete zum Tor zurück und ließ das Anwesen hinter sich. Er spürte erst jetzt die Folgen der emotionalen Wechselbäder, durch die ihn dieser Abend gejagt hatte, und die Schmerzen in seinen Muskeln, die von der Kletterpartie her rührten. Zeit, nachhause zu gehen.

Er bog auf die Hauptstraße ein, ließ die bunten Häuser hinter sich und erreichte schließlich die kleine Hütte. Es brannte kein Licht mehr in der Stube, auch in Liskas Werkstatt, die in einer grob gezimmerten Garage untergebracht war, war es finster.

Leyo fingerte seinen Schlüssel aus der Tasche, sperrte auf und betrat die Wohnstube, wo er ein spärliches Gaslicht entzündete. Auf dem klapprigen Tisch im Zentrum des Raumes lagen zwei Holzbretter mit einer angebissenen Scheibe Brot, einem Tiegel Karfaunbutter und einer Schale mit Äpfeln, daneben standen ein Krug Wasser und zwei Becher. Im Vorbeigehen schnappte Leyo sich einen Apfel und biss herzhaft hinein, dann schlüpfte er aus seiner Jacke und aus seinen staubigen Schuhen.

Auf Zehenspitzen schlich er Richtung Schlafzimmer, damit die alten Dielen nicht knarrten, und schob die Tür behutsam auf.

Liska lag in Amjans Arm auf dem Bett, den Kopf an seren Schulter gelehnt, und lauschte der Geschichte, die ser vorlas. Leyo schenkte den beiden ein Lächeln, um Amjan nicht zu unterbrechen, und ließ sich dann neben Liska ins Bett sinken. Sie brummte zufrieden, als er sie auf den Mund küsste, und schmiegte sich stumm an ihn.

Amjan war gut darin, Worten Leben einzuhauchen, las die verschiedenen Figuren in unterschiedlichen Stimmlagen und wusste genau, wie ser durch Tempo und Varianz Spannung erzeugen konnte. Trotzdem war Leyo als Zuhörer eine Zumutung, weil seine Gedanken dauernd abdrifteten und er immer nach ein paar Seiten den Faden verlor.

Er lauschte also nur mit halbem Ohr und zeichnete währenddessen Liskas Rippenbogen nach, bis hin zu ihrem leicht gewölbten Bauch. Ihre Haut war von einem satten, tiefen Braun mit einem rotgoldenen Schimmer – einem Hauch von Whisky, sagte Amjan immer. Mittlerweile war der vierte Monat ihrer Schwangerschaft angebrochen und Liska hatte deutlich an Umfang zugenommen. Sie brummte zufrieden unter Leyos Streicheleinheiten und hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe.

Eigentlich hatten Leyo und Amjan vor fünf Jahren nur auf einen flotten Dreier mit Liska spekuliert, doch daraus war ein sehr langfristiger Dreier geworden. Ihre Beziehung war nicht exklusiv und grundsätzlich waren sie offen für ein größeres Polykül, in letzter Zeit hatte sich aber – auch bedingt durch Liskas Schwangerschaft – nichts ergeben. Außerdem war Kalubs End ein Kaff und begrenzte daher die Möglichkeiten für weitere Beziehungen.

Als Amjan das Ende des Kapitels erreicht und das Buch beiseitegelegt hatte, fragte Liska an Leyo gewandt: »Wo warst du so lange?«

»Sami war in Schwierigkeiten«, erwiderte er, ohne mit seinen Streicheleinheiten innezuhalten. »Er hatte sich auf irgendeine saublöde Mutprobe eingelassen und ist beim Geisterwrack in einen Schacht gefallen.«

»O scheiße.« Amjan fuhr hoch. »Ist er okay?«

»Jep. Hat sich nur mächtig erschrocken und ein paar Schrammen geholt. Aber das dürfte ihm zumindest eine Lehre gewesen sein.«

»Die Kids sollten sich sowieso nicht dort rumtreiben«, brummte Amjan und schmiegte sich wieder an Liska. Über ihrem Bauch verschränkte ser die Finger mit Leyos. »Das ist kein verdammter Spielplatz.«

»Kannst du laut sagen. Aber mach das mal ein paar übermütigen Halbstarken klar.«

»Apropos übermütig.« Liska streckte sich und gähnte. »Ich bin echt erledigt. Wollen wir schlafen?«