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Ihre Heimat auf dem Planeten Ranun wurde vernichtet, doch in letzter Sekunde konnten Leyo, Liska und Amjan der Flammenhölle entkommen. Um der Militärpolizei zu entfliehen, die Leyo Fahnenflucht vorwirft, bleibt ihnen nur eine Chance: Colay zu finden, den Verbrecherboss, der für alles verantwortlich ist. Doch als ihr Ziel zum Greifen nahe scheint, braut sich im politischen Machtzentrum der Föderation eine Katastrophe zusammen und zwingt Leyo und seine Wahlfamilie zu einer Entscheidung: Wer ist Freund, wer Feind – und in welcher Welt wollen sie künftig leben?
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Seitenzahl: 610
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Alkoholkonsum, Feuer, Glücksspiel, internalisiertes Fatshaming, Faschismus (erwähnt), Gefangenschaft, Gewalt gegen Schutzbefohlene (erwähnt), Mord, Kampfhandlungen, Tod einer Figur, Traumafolgen (Panikattacken, Flashbacks), Xenophobie (erwähnt)
Einige Figuren in diesem Roman verwenden Neopronomen, z. B. ser/sem oder nim. Dabei handelt es sich um Wortneuschöpfungen,die binäre Pronomenwie „sie“ oder „er“ umgehen. Eine Sammlung von verschiedenen Neopronomen findet sich z. B. im Nichtbinär-Wiki (https://nibi.space/)
Amjan (ser/sem): Captain, verheiratet mit Liska und Leyo (Mensch)
Liska (sie/ihr): Pilotin, verheiratet mit Amjan und Leyo (Mensch)
Leyo (er/ihm): Navigator, verheiratet mit Liska und Amjan (Mensch)
Arifa (sie/ihr): Leyos Ex-Frau, Mutter von Sami und Kera (Mensch)
Kinder: Sami (er/ihm; 13 Jahre), Kera (sie/ihr; 2 Jahre)
Palana (sie/ihr): Captain der Phönix, Mutter von Calda (Mensch)
Paq (er/ihm): erster Offizier der Phönix (Hiskare)
Sinjo (er/ihm): zweiter Offizier, verheiratet mit Toryn, Vater von Kalim (Mensch)
Kal (xier/xiem): dritter Offizier (Mensch)
Shali (sie/ihr): Navigatorin und Pilotin der Phönix (Mensch)
Khae (sie/ihr): Chef-Ingenieurin und Mechanikerin der Phönix (Mensch)
Kesmin (sie/ihr): Hackerin und IT-Spezialistin, Mutter von Runi (Mensch)
Toryn (er/ihm): Schiffsarzt, verheiratet mit Sinjo, Vater von Kalim (Mensch)
Vinto (er/ihm): Toryns Assistent (Hiskare)
Dr. Asuri (sie/ihr): Leiterin der Botanikstation (Lidojsi)
Janusz (er/ihm): Biotechniker, Asuris Assistent (Mensch)
Philo (er/ihm): Bord-Psychologe, Ziehvater von Jazzin (Mensch)
Manda (sie/ihr): lebt in einer Biosphäre auf der Phönix (Yakanu)
Kinder: Runi (es/ihm; 6 Jahre, Mensch), Calda (sie/ihr, 15 Jahre, Mensch), Kalim (er/ihm, 12 Jahre, Mensch), Jazzin (er/ihm; 8 Jahre, Isane)
Schmuggler Leyo hat seine kriminelle Karriere an den Nagel gehängt und verdingt sich als Barmann im kleinen Ort Kalubs End. Seit der begehrte Rohstoff Vicarium dort zur Neige gegangen ist, gibt es nur wenig, womit die Menschen auf dem Planeten Ranun ihr Auskommen bestreiten können. Heimlich träumt Leyo von der guten alten Zeit, als er noch die Galaxis unsicher machen konnte. Als ihm ein Fremder einen vermeintlich simplen Schmuggeldeal vorschlägt, kann er daher nicht widerstehen und nimmt an.
Leyo ahnt nicht, dass er mit dieser Aktion direkt in eine Falle läuft und am Ende in einer Zelle der intergalaktischen Streitkräfte (ALIS) landet. Die zuständige Offizierin Ranjel Laveki, die Leyo von früher kennt, bietet ihm einen Ausweg aus seiner Misere an: Er soll sich als Agent für ALIS bei dem gesuchten Verbrecherboss Colay einschleusen und dem Militär Informationen zuspielen, dann entgeht er dem Gefängnis. Obwohl Leyo ahnt, dass man ihn gelinkt hat, willigt er ein. Um seine Aktivitäten zu überwachen, wird ihm ein Ortungschip implantiert. Zerknirscht weiht er seine Partnerperson Amjan und seine Frau Liska ein, mit denen er in einer poly Beziehung zusammenlebt. Die beiden sind über Leyos Alleingang wenig erfreut, sichern ihm aber ihre Unterstützung zu.
Leyo nimmt Kontakt zu Colay auf und erhält die Chance, für ihn zu arbeiten – nicht zuletzt, weil Leyos Ex-Frau Arifa Colays Tochter ist. Um sich zu bewähren, soll Leyo für Colay die amtierende Umweltministerin Erim Sariz entführen. Da er eine Pilotin für diesen waghalsigen Plan braucht, verlangt Liska, ihn zu begleiten.
Erim ahnt währenddessen nichts von den Entführungsplänen. Sie blickt frustriert auf ihre bisherige Amtszeit als Ministerin zurück, die ausschließlich von Fehlschlägen gekennzeichnet ist. All ihre ambitionierten Pläne, die Föderation zu einem nachhaltigeren Kurs zu motivieren, waren vergebens. Zu allem Überfluss steht plötzlich auch noch ihre jüngere Schwester Trish vor der Tür, die aus dem Internat geflogen ist. Nach einem heftigen Streit verschwindet Trish – und taucht erst in den frühen Morgenstunden in schlechter Verfassung wieder auf. Erim hat keine Wahl, als ihre Schwester mitzunehmen, wenn sie ihr Spaceshuttle zu einem wichtigen Termin nicht verpassen will.
Als Erim bemerkt, dass das Shuttle von Kriminellen übernommen wurde, die sie entführen wollen, ist es schon zu spät. Ihr Versuch, ein Notsignal an die Regierung zu senden, schlägt fehl und wird von einer Horde Weltraumpiraten abgefangen, die sich an ihre Fersen heften. Gemeinsam gelingt es Leyo, Liska, Trish und Erim, den Piraten zu entkommen, und die vier nähern sich einander an. Leyo verspricht, Trish sicher nach Hause zu bringen und dafür zu sorgen, dass Erim kein Haar gekrümmt wird.
Tatsächlich empfängt Colay seine „Gästin“ wohlwollend und unterbreitet ihr ein unmoralisches Angebot: Erim soll an seiner Stelle kompromittierende Dokumente offenlegen, die beweisen, dass beim Vicarium-Abbau auf Ranun gesetzliche Vorgaben missachtet und die Zerstörung des Planeten billigend in Kauf genommen wurde. Das könnte Erims politischen Kurs stärken und Colay bekäme seine Rache an den zuständigen Abbau-Firmen.
Was Erim nicht ahnt: Colay hat in der Zwischenzeit bereits begonnen, die letzten Reste des Vicariums aus dem Boden von Ranun zu extrahieren, und löst damit eine dramatische Kettenreaktion aus. Es kommt zu heftigen Erdbeben und glühende Lavaströme dringen an die Oberfläche – der Planet beginnt zu kollabieren. Leyos Partnerperson Amjan tut seren Möglichstes, um die Bevölkerung von Kalubs End in Sicherheit zu bringen, doch die Zeit wird knapp und Rettung scheint nicht in Sicht. In letzter Sekunde trifft Leyo eine Entscheidung und kappt seinen Ortungschip. Dies ruft tatsächlich einige Schiffe von ALIS auf den Plan und die Überlebenden können evakuiert werden. Leyo wird festgenommen, da er seinen Deal mit ALIS nicht einhalten konnte.
Die Offizierin Ranjel gewährt ihm trotzdem eine letzte Chance: Er soll den flüchtigen Colay für sie finden, dann erhält er endgültig Amnestie. Leyo willigt ein und macht sich gemeinsam mit seiner erweiterten Familie und einem gekaperten Schiff, der „Hestia“, auf den Weg ins Ungewisse.
Erim hält indessen eine flammende Rede vor dem Senat der Föderation und erntet dafür Respekt, obwohl sie sich aus ihren politischen Ämtern zurückzieht. Sie beschließt, ihr Engagement für eine nachhaltigere Zukunft jenseits der Regierung weiterzuführen.
»Ich halte die zehn und erhöhe um dreißig.«
Leyo nippte hastig an seinem Drink, um zu vermeiden, dass seine sorgfältig einstudierte Spielermiene schon nach zwei Runden zusammenbrach. Der Schnaps war so billig, dass er bei jedem Schluck einen säuerlich-bitteren Nachgeschmack hinterließ, auch die Gewürze konnten daran nichts ändern. Er taxierte sein Gegenüber. Die Frau war gut. Die anderen beiden am Tisch – eine Namisa mit blassrosa Schuppen und ein bärtiger Mensch in einem ölverschmierten Blaumann – waren eindeutig Anfänger, die zum puren Vergnügen zockten, weil sie vielleicht ein paar zusätzliche Credits verdient hatten oder den Nervenkitzel suchten. Die Dame vom Wartungsteam dagegen – Umi stand auf ihrem Namensschild, daneben die Pronomen sie/ihr – spielte garantiert nicht zum ersten Mal.
Ein schmales Lächeln huschte über Umis Lippen und sie verschränkte provokant die Arme vor der Brust. »Bist du dabei?«
Leyo reagierte nicht, sondern zog seelenruhig eine Tüte mit Tabak aus seiner Tasche und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Quälend langsam verteilte er die Krümel auf dem Papier und nutzte die gewonnene Zeit, um noch einmal seine Chancen abzuwägen.
Auf dem Tisch lag nur Mist: zwei Monde, ein Zwergplanet und ein wertloser Asteroid. Umi konnte kein gutes Blatt haben, außer sie hatte ein Sprungtor – oder eine Sonne. Verdammt, er hätte aufpassen sollen, wie viele noch im Spiel waren. Er warf einen Blick auf seinen eigenen Schirm. Die halbtransparenten Screens waren taktischem Militär-Equipment nachempfunden, aber natürlich auf einer Seite blickdicht, sodass die Beteiligten am Tisch jeweils nur ihr eigenes Blatt sehen konnten. Leyo kam auf drei Monde, das war billig, doch besser als nichts. Wenn sie wirklich bluffte, hatte er sie.
»Na? Wird's bald?«, brummte Umi und Leyo besänftigte sie mit einer huldvollen Geste.
Ein Barjunge trat an den Tisch, um der Namisa einen weiteren Drink zu bringen. Leyo nutzte die Gelegenheit, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Sami machte seinen Job hervorragend. Von wegen, es sei eine schlechte Idee, ihn mitzunehmen, nur weil er erst dreizehn war. Leyo hatte mit dreizehn schon ganz andere Dinger gedreht und sein Sohn war ein Naturtalent.
Sami warf einen kurzen, unauffälligen Blick auf Umis Screen, dann blinzelte er zweimal. Sie bluffte – hatte er es doch gewusst. Leyo befeuchtete mit der Zunge zufrieden das Zigarettenpapier und klemmte sich die Kippe zwischen die Lippen. Anzünden durfte er sie nicht, hier herrschte Rauchverbot, aber allein das Gefühl beruhigte ihn schon. »Ich halte die dreißig und will sehen.«
Umi gab einen amüsierten Laut von sich. »Na schön.« Sie tippte zweimal ihren Screen an und übertrug ihr Blatt auf die elektronische Tischplatte. Das System kombinierte ihre Karten augenblicklich mit den offenliegenden und gruppierte sie zur besten Konstellation. »Kleine Galaxie.«
Leyo blinzelte. Sie hatte recht. Mond, Zwergplanet, Gasriese und Sonne. Scheiße. Mit einem resignierten Seufzer löschte er sein Blatt und sah zu, wie sein Creditzähler enervierend schnell nach unten tickte. Er war jetzt orange unterlegt, das Zeichen dafür, dass er mehr als die Hälfte seiner erworbenen elektronischen Chips verspielt hatte.
Umi grinste. »Dachtest wohl, ich bluffe, hm?«
Leyo zuckte mit den Schultern und kaute auf seiner Zigarette herum. »Einen Versuch war's wert.« Er verkniff sich einen missmutigen Blick in Samis Richtung. So viel zum Thema Naturtalent. Offensichtlich hatte der Junge die Regeln doch noch nicht so ganz durchschaut – oder er hatte Lust, seinem Vater beim Verlieren zuzusehen.
»Kurze Pause?«, schlug die Namisa vor und Umi nickte gönnerhaft. Leyo war froh, kurz aufstehen und seine Zigarette rauchen zu können.
Er liebte den Nervenkitzel des Glücksspiels, die Art, wie das Adrenalin bei jeder neuen Karte durch seine Adern schoss, und die Euphorie eines geschickt ausgeführten Bluffs. Gleichzeitig stellte ihn die Notwendigkeit, dabei möglichst unauffällig zu bleiben und keine Miene zu verziehen, jedoch vor ungeahnte Herausforderungen. Sein ADHS-Gehirn war für diese Art von taktischer Kriegsführung nicht gemacht. Deswegen hatte er in seiner wildbewegten Jugend auch ständig beim Kartenspiel verloren.
Er leerte den billigen Drink, zog seinen Stick mit dem Chip-Saldo aus dem Spieltisch, damit ihn niemand klauen konnte, und gab Sami unauffällig das Signal, ihm nach draußen zu folgen.
Die Bar mit dem verheißungsvollen Namen »Ende der Galaxis« – wohl irgendeine popkulturelle Anspielung, die Leyo nicht verstand – war ein Sammelbecken von Schmugglern, Weltraumpiraten und ähnlichem Gesindel, also genau die Art von Gesellschaft, die Leyo mochte. Sie befand sich auf Nandu, einer zivilen Raumstation im Orbit eines unbewohnten Gasriesen, der nur eine krude Buchstaben-Zahlen-Kennung als Namen besaß. Die Atmosphäre dort war derart schwefel- und phosphorhaltig, dass sich nicht einmal Terraforming lohnte. Das zumindest hatte ihm einer der redseligen Dockarbeiter erzählt.
Deswegen war Nandu auch das perfekte Piraten- und Schmugglernest. Die Föderation interessierte sich kaum für diesen Flecken der Galaxis, an dem es, abgesehen von ein paar android-betriebenen Minen und Steinbrüchen, nichts zu holen gab. Die Militärpräsenz war dementsprechend niedrig und die Kontrollpunkte lausig überwacht. Es war für Leyo ein Leichtes gewesen, ihre Verfolger von ALIS abzuschütteln, noch bevor sie das System überhaupt erreicht hatten. Er bezweifelte jedoch, dass sich seine spezielle Freundin Ranjel Laveki so ohne Weiteres würde abhängen lassen, aber immerhin erkaufte es ihnen etwas Zeit für ihre Nachforschungen.
Er schlenderte an den einarmigen Banditen vorbei, die grell blinkend und mit eindringlichen Jingles um Aufmerksamkeit buhlten, und betrat durch eine elektronisch gesteuerte Tür die verqualmte und nicht besonders gut belüftete Raucherlounge. Leyo seufzte, er vermisste die gute alte Zeit, in der er nur ein Fenster hatte öffnen müssen oder einen Schritt vor die Tür gegangen war, um zu rauchen … Auf dem Schiff begnügte er sich mit E-Zigaretten, aber das war einfach nicht dasselbe.
Du könntest ja auch aufhören.
Bei dem Gedanken lachte er leise und steckte sich die Kippe an. Klar, er könnte auch Senatspräsident werden, das war ähnlich wahrscheinlich. Er rauchte die Zigarette zügig auf und als er die Lounge verließ, erwartete ihn Sami, an einen der Arcade-Automaten gelehnt.
»Gut gemacht«, brummte Leyo tonlos. »Von wegen Bluff. Du willst mich ruinieren, kann das sein?«
»Gar nicht wahr«, konterte Sami beleidigt. »Ich hab's genau gesehen, sie hatte nichts.«
»Sie hatte eine kleine Galaxie, du Naseweis. Das ist ein kleines bisschen mehr als drei mickrige Monde.«
»Hatte sie nicht.«
Leyo verdrehte die Augen. »Dann hat sie wohl den Screen gehackt – oder du hast einfach nicht ordentlich hingesehen.«
»Vielleicht hast du mir das blöde Spiel auch einfach nicht richtig erklärt.«
Leyo seufzte und bemühte sich um eine versöhnliche Miene. Galaxie war nicht so simpel wie andere Glücksspiele und er hatte immerhin von Sami erwartet, mit einem kurzen Blick das komplette Blatt zu erfassen. Wahrscheinlich ein bisschen viel verlangt für einen Dreizehnjährigen, der nicht – wie sein Vater – in Bordellen und Bars aufgewachsen war.
»Hast recht«, lenkte er ein, »war mein Fehler. Aber mein Chipvorrat geht zur Neige, wir sollten zusehen, dass wir mit Phase zwei starten, ehe ich unsere gesamte Barschaft verzocke und Amjan mir den Arsch dafür aufreißt. Bist du bereit?«
Sami nickte begeistert, seine Ohren glühten rot vor Aufregung. »Absolut bereit!«
Leyo stieß ihm spielerisch die Faust gegen die Schulter. »Gut so. Dann zurück an die Arbeit.«
Er kehrte an den Tisch zurück und bestellte einen weiteren ekligen Drink, damit er eine Beschäftigung für seine Finger hatte. Als Umi Platz nahm, wirkte sie sehr entspannt. Kein Wunder, mit ihrem Chip-Saldo führte sie jetzt deutlich. Das System kündigte an, dass sich der Mindesteinsatz erneut erhöht hatte, sodass ihn die Namisa, die sich in den ersten Runden ordentlich verzockt hatte, gerade noch erbringen konnte.
Für die nächsten zwei Runden spielte Leyo defensiv, stieg früh aus, wenn das Blatt nicht vielversprechend war, und ließ sich nicht zu abenteuerlichen Bluffs hinreißen. Seine Taktik ging auf, die Namisa verlor gegen den Menschen im Blaumann und musste den Tisch schließlich verlassen. Die nächste Runde startete für Leyo hervorragend, sein Blatt war nahezu perfekt und es gelang ihm, den Blaumann-Typen zu einem »all in« zu überreden.
Sichtlich frustriert verließ der den Tisch, als Leyo seine Vierlingsplaneten offenlegte. Es blieben nur noch Umi und er zurück. Ihr Saldo war nach der letzten Runde fast ausgeglichen, Leyo lag nur wenige Chips hinter ihr.
»Noch motiviert?«, fragte sie und Leyo grinste.
»Aber hallo. Ich würde sagen, das bringen wir noch zu Ende – oder?«
»Wenn du meinst. Wir könnten auch aufhören und jeder würde mit einem hübschen Gewinn hier rausgehen.«
»Ich könnte dir aber auch einfach deine Chips abzocken und meiner Frau den Pilotensitz mit Massagefunktion kaufen, den sie sich schon ewig wünscht.«
Umi lachte. »Die Arme, darauf wird sie noch eine Weile warten müssen. Also erhöhen wir den Einsatz?«
»Aber sicher.«
Leyo drückte auf den Screen, um die nächste Runde zu starten, und zog seine Beine nach oben, um sich im Schneidersitz auf den breiten Hocker zu setzen. Er bemühte sich zwar um innere Ruhe, aber seine wippenden Füße drohten seine Anspannung zu verraten. Außerdem war es bequemer so. Sein Puls pochte heftig und unter seinem Shirt hatte sich ein dünner Schweißfilm gebildet. Wenn er verlor, hatte er nicht nur einen Batzen Geld, sondern auch eine einmalige Chance verspielt, an Informationen zu kommen, die sie suchten.
Leyo trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte, während sich der Screen vor ihm aufbaute. Wenn sie hier keine Spur zu Colay fanden, dann steckten sie in einer Sackgasse. Seit sie vor zwei Monaten ihren Heimatplaneten Ranun verlassen hatten, waren sie Teil einer kruden Schnitzeljagd gewesen. Vom Mond Abram, der letzten bekannten Verbindung zu Colay, über eine unabhängige Raumstation hierher, nach Nandu. Die Informationsdichte wurde von Mal zu Mal dünner. Auf Abram hatten sie Colay nur knapp verpasst, doch schon auf der Raumstation war es kompliziert geworden, überhaupt Hinweise auf seinen Verbleib zu erhaschen. Er war nicht dumm, nahm verschlungene Wege abseits der üblichen Sprungtore und hinterließ allenfalls Brotkrumen. Nandu hier war der letzte Strohhalm, an den Leyo sich klammerte.
Die üblichen Gerüchte und wohl platzierten Bestechungsgelder hatten auch nichts zutage gefördert. Entweder waren sie auf dem Holzweg oder Colay hatte seine Anwesenheit hervorragend verschleiert. Nichts, was Leyo einem Verbrecherboss seines Formats nicht zutrauen würde, erst recht an einem Ort wie diesem, wo niemand gerne mit offiziellen Organen der Föderation kooperierte.
»Hey? Träumst du?«
Leyo riss sich aus seinen Gedanken. Scheiße, er driftete schon wieder ab. Konzentriert bleiben! Er begutachtete sein Blatt, ging mit Umis zwanzig Chips mit und musste sich zusammenreißen, um nicht vor Freude zu jubeln. Zu den zwei roten Gasriesen auf seiner Hand gesellten sich zwei passende rote Zwergplaneten und ein Mond, die in der Mitte lagen. Großes System nannte sich diese Konstellation. Kleiner als eine Galaxie, die immer eine Sonne als höchste Karte erforderte, aber besser als die meisten anderen Kombinationen. Und wenn noch eine Sonne kam, dann hatte er eine richtig gute Galaxie auf der Hand, die kaum zu toppen war. Jetzt oder nie.
Er erhöhte zunächst nur um einen kleinen Betrag, doch Umi ging direkt in die Vollen. Leyo kaute auf der Innenseite seiner Wange. Könnte sie eine Sonne haben? Unwahrscheinlich, davon gab es nur vier im ganzen Spiel. Trotzdem, wenn sie eine hatte – und vielleicht noch zwei passende Planeten oder Raumstationen auf der Hand – dann konnte sie ihn schlagen.
Leyo hoffte, dass Sami noch einmal einen Blick auf ihren Screen würde werfen können, doch zu seinem Leidwesen bestellte Umi keinen Drink mehr. Die vorletzte Karte auf dem Tisch – und Leyo musste sich einen Triumphschrei verkneifen. Eine Sonne. Verflucht, hatte er ein Glück. Seine versteinerte Miene war für einen Moment verrutscht und doch wirkte Umi kein bisschen verunsichert.
»Hundert.«
Leyo blinzelte. Sie bluffte. Sie musste bluffen. Oder hatte sie etwa … Scheiße, wenn sie eine zweite Sonne auf der Hand hatte, dann war sie auf dem besten Weg zu einer Doppelgalaxie – zwei Sonnen und drei passende Planeten. Die Chancen waren gering, aber nicht null.
Mit steifen Fingern drückte Leyo auf den Screen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. »Warum nicht zweihundert?«
Umi lachte. »Da ist sich jemand seiner Sache ziemlich sicher, was?«
»Ich erkenne einen Bluff, wenn ich ihn sehe.«
»Das hoffe ich für dich.« Sie ging mit. Ihr Chip-Saldo hatte sich jetzt schon deutlich verringert, wie Leyo beabsichtigt hatte.
Auf dem Tisch erschien die letzte Karte.
Ach – du – Scheiße.
Leyo schnappte kurz nach Luft. Ein Sprungtor. Der Joker im System, er konnte jede Funktion einnehmen, die nicht schon im Spiel war.
Umi grinste breit und leerte ihren Drink. »Was denkst du? All in?«
Leyo blickte auf seinen Screen, dann auf den Tisch. Hinter seiner Stirn arbeitete es. Das Tor warf die Gewinnwahrscheinlichkeiten komplett über den Haufen. Für ihn war es perfekt, es übernahm die Funktion einer zweiten Sonne, jetzt konnte er also auch mit einer Doppelgalaxie punkten. Aber wenn Umi tatsächlich eine zweite Sonne auf dem Screen hatte, dann war sie jetzt schon bei drei Sonnen und zwei Zwergplaneten, einer Triple-Galaxie. Und damit würde sie ihn schlagen.
Leyo holte tief Luft und dehnte seine Finger. Am liebsten hätte er sich noch eine Zigarette angezündet, aber er ließ es bleiben. »Wir haben beide nicht mehr viel auf dem Saldo, also … warum boosten wir den Einsatz nicht ein wenig?«
Sie zog die Stirn in Falten. »Inwiefern?«
»Der Laden hier riegelt den Einsatz nach oben ab, aber …« Er griff in seine Tasche und zog einen Creditstick samt Lesegerät heraus. »Das heißt ja nicht, dass wir uns daran halten müssen.«
»Du bist ganz schön dreist.«
»Der Massagesitz für meine Frau, du weißt schon. Vielleicht lege ich noch einen hübschen Strauß Blumen drauf – und eine Lokalrunde.«
»Woher soll ich wissen, dass du mich nicht bescheißen willst?«
»Schau nach.« Er schob ihr seinen Creditstick zu. »Da sind eintausend drauf – und ein paar Zerquetschte. Mein Einsatz, damit bin ich wirklich all in.«
Sie slottete den Stick in ihr eigenes Lesegerät, nickte und schob ihn Leyo über den Tisch zurück. »Na schön. Sämtliche Chips plus eintausend.«
»Netter Versuch.« Er legte den Kopf schief und streckte grinsend die Hand aus. »Ich will auch wissen, ob du flüssig bist.«
Sie seufzte, zog einen Stick aus der Hemdtasche und schob ihn Leyo zu. Leyo drehte ihn in den Fingern und steckte ihn dann in sein Lesegerät. Auf dem Holoscreen flammten mehrere Informationen auf: Vorname, Nachname, Pronomen, offizielle Position auf Nandu, der Finanzstatus von eintausenddreihundertfünf Credits und Sicherheitsfreigabestufe B. Treffer – ein Glück!
Mit einer winzigen Bewegung, die er als Jugendlicher in den Straßen von Kasdan perfektioniert hatte, ließ er Umis Stick in seinem Jackenärmel verschwinden und zauberte einen optisch nicht unterscheidbaren zweiten Stick hervor, den er ihr mit einem Lächeln über den Tisch hinweg zurückreichte. Solange sie ihn nicht auslas, würde der Bluff nicht auffallen.
»Was macht man so als Wartungsoffizierin?«
»Das Wartungsteam beaufsichtigen«, erwiderte Umi lakonisch und steckte den Stick, ohne ihn weiter zu beachten, in ihre Jackentasche. Leyo atmete verhalten auf. »Was soll das? Willst du Smalltalk führen oder spielen?«
»War nur neugierig. Hast du Familie, die ich mit diesem letzten Spielzug finanziell komplett ruiniere?«
»Nein. Aber deine Frau kann sich ihren Massagesitz sonst wo hinstecken. All in, plus eintausend.«
Leyo nickte angespannt. »Dann zeig mal, was du hast.«
Umi dehnte ihre Schultern, bis es knackte. Quälend langsam drückte sie auf den Screen und Leyo sah mit wachsender Beunruhigung zu, wie sich die Anordnung neu arrangierte. Ihre erste Karte flammte auf. Ein Gasriese. Gut, das war nicht schlimm. Eine Doppel-Galaxie, aber kleiner als seine.
Die letzte Karte. Leyo schwitzte, umklammerte die Tischplatte. Und da war sie. Eine dritte Sonne.
Scheiße.
»Trippelgalaxie.« Umi lehnte sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht zurück. »Drei Sonnen, ein Gasriese, ein Zwergplanet. Und du?«
Leyo holte tief Luft und unterdrückte den Impuls, sein Glas durch den Raum zu schleudern. Scheiße. Scheiße. Die eine verdammte Kombination, die ihm das Genick brach! Warum hasste ihn das Universum so sehr? Seine Familie würde ihm den Arsch aufreißen, wenn sie erfuhr, dass er gerade ein Loch von über eintausend Credits in ihre Ersparnisse gerissen hatte.
»Zwei Gasriesen«, brummte er missmutig und aktivierte den Screen, um das Endergebnis abzurufen. Sein Chip-Saldo sank auf null und auf dem Screen erschien der deprimierende rote Schriftzug: »Sie haben verloren«.
Leyos Faust zuckte, doch er beherrschte sich mühsam.
»Tripple schlägt Doppel«, jauchzte Umi und streckte demonstrativ die Hand aus. »Wenn ich bitten darf.«
Mit einem resignierten Seufzen griff Leyo in seine Tasche, um den Creditstick herauszuholen, doch im selben Moment landete eine schwere Hand von hinten auf seiner Schulter. »Spar dir das.«
Irritiert schielte Leyo nach oben. Hinter ihm stand eine große, massige Gestalt mit Armen wie Baumstämmen in einer Art abgewetzter Uniform aus synthetischem braunem Leder. Schon der Körperbau ließ Leyo erahnen, dass es sich dabei zwar um einen Humanoiden, nicht aber um einen Menschen handelte, und der Blick in das Gesicht seiner neuen Bekanntschaft bestätigte diesen Eindruck. Ein Hiskare, eindeutig.
Die Haut hatte einen rötlichen Braunton und spannte sich dünn und samtig über ein kantiges Gesicht mit ausgeprägter Kieferpartie, hoher Stirn und langgezogenen Ohren. Die dicken schwarzen Locs waren im Nacken zusammengebunden und auf dem kahlen Schädel darunter wurden Schmucknarben sichtbar, die verschlungene Muster bildeten.
Leyo schielte zu der Person hinauf. »Nett, dass Sie meine Schulden bezahlen wollen, aber kennen wir uns?«
»Ich kenne dich, das genügt.« Der Hiskare warf Umi einen Blick zu und schnippte dann eine Münze auf den Tisch. Klappernd drehte sie sich ein paar Mal um die eigene Achse, ehe sie in der Mitte liegen blieb.
Leyo schluckte hart. Verdammte Scheiße. Jetzt hatte er wirklich ein Problem. Umi seufzte resigniert – auch sie schien genau zu wissen, was die Münze bedeutete. Sie war das Erkennungszeichen der Karha, der größten und gefürchtetsten Kopfgeldjägervereinigung in der ganzen Galaxis. Sie organisierten sich in einer Art Gilde, geprägt von archaischen Regeln und Traditionen, und wurden von ALIS und der Föderation nicht nur geduldet, sondern sogar explizit ermutigt, den Abschaum dort einzufangen, wo ALIS freiwillig keinen Fuß hinsetzte. Die Münze war ein Freifahrtschein. Wer sich zwischen die Karha und ihre Beute stellte, riskierte eine Kugel – oder zwei. Mit diesen Leuten war nicht zu spaßen, und einen davon hatte sich Leyo gerade eingefangen.
»Ich hab’ gewonnen«, beharrte Umi. »Ich will, was mir zusteht. Danach kannst du ihn haben.«
»Nein.« Die sonore Bassstimme des Hiskaren nahm eine bedrohliche Färbung an. »Kopf und Kriegsbeute. Er gehört mir, genau wie seine Habe. Nimm die Chips und geh.«
Umi protestierte noch einmal halbherzig, doch schließlich erstarb ihre Stimme. Leyo konnte nicht sehen, was der Hiskare hinter ihm getan hatte, doch es genügte, dass Umi aufstand, ihren Stick mit dem Chip-Saldo aus dem Tisch zog und hastig in Richtung Bar davoneilte.
Ringsum war es gefährlich ruhig geworden – das gefiel Leyo gar nicht. Gespräche verstummten, Gläser hörten auf zu klirren und nur der Synth-Pop aus der Soundbox war noch zu hören. Alle Augen ringsum schienen auf ihn und den Hiskaren gerichtet. Er schielte zu ihm hinauf. »Kopf und Kriegsbeute, hm?«
»Genau das. Hände hoch. Aufstehen.«
Leyo spürte den Druck eines Pistolenlaufs im Genick und schälte sich mühsam aus dem Sitz, die Arme leicht erhoben.
»Die Hände bleiben da, wo ich sie sehen kann. Eine Bewegung und du bist tot.«
»Wär schlecht fürs Geschäft, oder? Für meine Leiche zahlt ALIS bestimmt nicht so gut.«
»Nein, aber deine eintausend Credits nehme ich gerne.«
Leyo fluchte verhalten und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Die Kopfgeldjäger der Karha traten selten allein auf, wahrscheinlich gab es eine ganze Einheit hier, die nur darauf wartete, ihrem Kameraden zu Hilfe zu kommen, sobald Leyo aufmuckte.
Einige Gäste beobachteten neugierig das Geschehen, andere starrten bemüht unbeteiligt in eine andere Richtung oder auf ihre Getränke. Wo war Sami? Hoffentlich war der Junge clever und machte sich auf den Weg zurück zum Schiff, um die anderen zu warnen. Überstürzte Heldentaten waren gerade das Letzte, das sie …
»Lass ihn los, du Arschloch!«
Wie aus dem Nichts schoss Sami zwischen den Tischen hervor und schüttete dem Hiskaren den hochprozentigen Inhalt eines Schnapsglases direkt ins Gesicht. Völlig überrumpelt von der unerwarteten Attacke griff er sich mit einem Aufschrei an die Augen und gab Leyo die Gelegenheit, unter dem Spieltisch abzutauchen.
Jetzt kam wieder Bewegung in die Gäste. Der Hiskare blinzelte und machte im nächsten Moment einen Satz über den Tisch, um Leyo abzufangen. Der Tisch knackte bedrohlich unter seinem Gewicht und er riss einen der Screens aus der Verankerung. Genau mit diesem Manöver hatte Leyo gerechnet, drehte sich um neunzig Grad nach links und glitt wieder unter dem Tisch hervor. Er blieb geduckt, zog seine Pistole und richtete sie auf den Hiskaren, der mit tränenden Augen in seine Richtung starrte. Zum Glück hatte er keine Ahnung, dass Leyo ein lausiger Schütze war.
»Lass gut sein«, keuchte Leyo. »Ich will hier kein Blutvergießen, klar?«
Der Hiskare wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Dann solltest du dich ergeben.«
»Klar. Und den Rest meines Lebens auf fünf Quadratmetern in einer ALIS-Militärzelle verbringen? Nein, danke. Ich werde jetzt einfach gehen.«
»So. Dann viel Erfolg.« Der Hiskare verschränkte die Arme vor der Brust und Leyo erkannte aus dem Augenwinkel, wie zwei Menschen synchron den Ausgang der Bar versperrten. Genau wie ihre Begleitung waren sie paramilitärisch in eine Art lederne Uniform gekleidet und besaßen eine ähnlich beeindruckende Statur. Der linke Mensch war muskulös und glatzköpfig mit dunkelbrauner, fast schwarzer Haut. Der andere hatte einen vielfarbigen Sidecut, der sich von seiner weißen Haut deutlich abhob, und zahlreiche fluoreszierende Tattoos.
Leyo sondierte hektisch den Raum, suchte nach weiteren Ausgängen oder Schlupflöchern. Nichts. Scheiße – er saß in der Falle.
»Das war beeindruckend.«
Erim lächelte geschmeichelt und ließ sich von Raqan vor der Tür des Konferenzzimmers einen Kuss auf die Wange geben.
»Du hast mich gut vorbereitet. Abgesehen davon hab ich meine Abschlussarbeit an der Uni über Kommunikationsstrategien in der föderalen Außenpolitik geschrieben – was ist da schon eine Informationskampagne für Solarmodule?«
Raqan lachte. »Fühlst du dich unterfordert, Frau Ex-Ministerin?«
»Kein bisschen«, antwortete Erim ehrlich und hakte sich bei ihm unter. »Es tut gut, Projekte planen zu können, die einfach funktionieren und nicht an politischen Hürden und Hinterzimmerabsprachen scheitern. Wollen wir essen gehen? Ich hab heute Morgen das Frühstück verpasst.«
»Verpasst?« Raqan schmunzelte. »So wie ich dich kenne, hast du lieber noch ein paar Hintergrundinformationen recherchiert, statt zu frühstücken, und im Shuttle schnell einen Kaffee runtergeschüttet.«
Erim musste grinsen. Sie und Raqan waren erst seit zwei Monaten ein Paar und doch hatte er ihre Gewohnheiten schon perfekt durchschaut. »Erwischt.«
»Du weißt, dass du einen Service-Androiden hast, der dir Frühstück machen kann?«
»Ja, schon. Aber ich hab morgens selten Appetit.«
»Ist die wichtigste Mahlzeit des Tages.«
Erim rollte mit den Augen. »Sonst noch ein paar Weisheiten, Mutter?«
Raqan gluckste und hob abwehrend die Hand. »Ist gut, ich bin schon still. Du solltest trotzdem auf dich achten, sonst hängt deine Work-Life-Balance bald ziemlich schief. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Der Job hier hat das Potenzial, dein Leben aufzusaugen wie ein Schwamm.«
»Wem sagst du das. Als ich noch Ministerin war, hatte ich so gut wie gar keine Freizeit mehr.«
»Das sollte nicht zur Gewohnheit werden, wenn du mich fragst.« Sie erreichten den runden, gläsernen Aufzug und schwebten mit ihm nach unten. Erim genoss den Ausblick, der sich ihr bot. Das Klima auf Kintor war für den menschlichen Organismus zwar nicht ideal – hohe Luftfeuchtigkeit gepaart mit hohen Temperaturen – sein Anblick jedoch war paradiesisch. Dichte, saftig grüne Tropenwälder schmiegten sich an die gläsernen Außenwände des Firmengebäudes von Solargy, das gänzlich aus durchsichtigen Solarpaneelen bestand. Statt breiter Straßen verbanden filigrane Brücken die einzelnen Gebäude und kugelrunde Shuttles schwebten dazwischen hin und her.
Während die Föderation dazu neigte, die Planeten, die sie besiedelte, gewaltvoll an ihre Bedürfnisse anzupassen, hatten die Kintorianen schon früh begonnen, die Verhältnisse ihres Planeten zu nutzen. Statt die notwendige Energie aus der Abholzung von Wäldern oder der Zerstörung der Natur zu gewinnen, setzte man auf Solarenergie, Windenergie und Biomasse. In den letzten Jahrhunderten hatten kintorianische Firmen und Forschungsgruppen diese Form der Energiegewinnung so effizient weiterentwickelt, dass der Planet mittlerweile vollständig durch erneuerbare Energien versorgt werden konnte.
Die Firma Solargy, für die Erim jetzt seit rund einem Monat als Pressesprecherin und PR-Beraterin arbeitete, gehörte in diesem Bereich zu den Marktführern.
Natürlich hatte sich die Öffentlichkeit lang und breit darüber mokiert, dass die ehemalige Umweltministerin in die freie Wirtschaft gewechselt war – noch dazu in die Firma, mit der sie gegen Ende ihrer Amtsperiode einen Milliardendeal geplant hatte. Heute kümmerte Erim das nicht mehr. Sie war glücklich. Glücklich mit Kintor, mit ihrem neuen Job und mit Raqan. Vor allem mit Raqan.
In den letzten Wochen war die boshafte kleine Stimme in ihrem Kopf leiser geworden, die ihr ständig zugeraunt hatte, dass ein Mann wie Raqan nie ernsthaft an einer Beziehung mit ihr interessiert sein konnte. Er war gutaussehend, klug, erfolgreich und sie … nun ja, eine ehemalige Politikerin mit Speckrollen und Doppelkinn, die krachend an ihren eigenen Ambitionen gescheitert war. Und trotzdem hatte sich die fiese kleine Stimme geirrt. Ihre Beziehung zu Raqan war intensiver geworden, seit sie ihr Apartment hier auf Kintor bezogen hatte. Sie verbrachten viel Zeit miteinander, lernten einander kennen und hatten eine solide Balance zwischen ihrem beruflichen und privaten Verhältnis gefunden. Außerdem hatten sie fantastischen Sex. Besser konnte es kaum laufen.
Sie stiegen im Erdgeschoss aus dem Fahrstuhl und gingen eine helle, verglaste Brücke entlang, auf die gerade der alltägliche Mittagsregen herabprasselte und an den Seiten abperlte. Die Firmenkantine bildete eine baumähnliche Struktur unter einer großen Glaskuppel. Die einzelnen Stockwerke thronten auf breiten Terrassen über einem künstlichen See, wie Blätter, die von einem Stamm abzweigten. Die Luft roch frisch und klar und auch die Temperatur war für Erim angenehm. Immer noch ein bisschen zu warm, aber gut erträglich.
Sie nahmen an einem der Tische Platz und Erim bestand darauf, die Tageskarte ohne Raqans Hilfe zu übersetzen. Bei Solargy trugen alle Mitarbeitenden simultan übersetzende Sprachmodule, auch Erim, aber es war ihr ein Bedürfnis, die Landessprache irgendwann selbst zu beherrschen. Schon allein Raqan zuliebe.
»Nicht deine Schuld, dafür gibt es keine Übersetzung«, erklärte er ihr sanft, als sie an einem Wort scheiterte. »Da’eq ist eine Frucht. Man erhitzt sie in der Regel im Ganzen, am besten über offenem Feuer, und kann sie dann ausschaben. Das Innere lässt sich frittieren oder als Füllung verwenden, es schmeckt ein bisschen nussig. Ist echt lecker.«
»Das probiere ich«, beschloss Erim und wählte auf dem integrierten Tablet das passende Gericht aus, dazu ein Glas Wasser mit Zitrone. Tatsächlich vermisste sie Fleisch und Fisch kein bisschen, seit sie hier auf Kintor lebte. Die kintorianische Spezies ernährte sich rein vegetarisch, überwiegend sogar vegan.
Auch Raqan bestellte sein Mittagessen und legte seine Hand sacht in Erims. Seine glatte Haut, die je nach Temperatur zwischen tintenblau und tiefschwarz nuancierte, fühlte sich immer warm und samtig an. Er räusperte sich und sagte dann unschlüssig: »Um ehrlich zu sein, Erim, ich … würde gerne etwas mit dir besprechen.«
Sie runzelte die Stirn. »Wegen des Werbeauftrags?«
»Nein. Etwas … Privates.«
»Oh. Okay.« Verdammt, sie hasste diesen kurzen, schmerzvollen Stich in ihrer Brust, der hinterhältige Gedanken in ihren Kopf projizierte.
Er wird dich verlassen.
Er hat jemand Besseren gefunden.
Ich meine, schau dich doch an. War nur eine Frage der Zeit.
Verdammt, wann würde das endlich aufhören?
Raqan schien ihre Unsicherheit zu bemerken, drückte ihre Hand fester und schenkte ihr ein Lächeln. »Schau nicht so grimmig, es ist nichts Schlimmes.«
»Sorry.« Sie strich sich in einer nervösen Geste eine Haarsträhne ihres asymmetrischen Bobs aus der Stirn. »Es ist nur … Na ja, du weißt schon. Ich arbeite dran.«
Er fuhr sacht mit dem Daumen über ihren Handrücken und sah ihr tief in die Augen. »Alles gut. Ich weiß, dreißig Jahre Gefangenschaft im Selbstoptimierungswahn der Föderation lassen sich nicht einfach so wegwischen, aber ich versichere dir, es gibt nichts, weswegen du dir Sorgen machen musst.« Er senkte die Stimme. »Du bist das Beste, was mir passieren konnte. In jeder Hinsicht.«
Erim spürte, wie ihr Hitze in die Wangen stieg, und sie wandte verlegen den Blick ab. Mit ehrlichen Komplimenten umzugehen, fiel ihr nach wie vor schwer, vor allem dann, wenn sie so viel emotionale Tragweite hatten.
»Das bringt mich dann auch schon zu dem Punkt, den ich mit dir besprechen wollte«, fuhr Raqan fort, während die Service-Drohne die Getränke servierte. Erim nippte nervös an ihrem Glas. »Meine Eltern legen in zwei Tagen für einen Zwischenstopp hier am Raumhafen an. Die Chance wollten wir nutzen, um etwas essen zu gehen. Ich hatte mich gefragt, ob du … mitkommen willst.«
Erim blinzelte. »Ich soll … deine Eltern kennenlernen?«
Raqan lächelte entwaffnend. »Ich weiß, es ist noch etwas früh, aber die Gelegenheit wäre günstig. Und was mich angeht«, er schloss Erims Hand fest in seine, »fühlt es sich richtig an.«
Erim holte tief Luft und dehnte ihre Schultern. »Das kommt … ein bisschen plötzlich.«
»Ich verstehe, wenn du dafür noch Zeit brauchst. Ehrlich. Ich will dich zu nichts drängen und hab meinen Eltern noch nichts versprochen.«
»Aber sie wissen von mir?«
»Klar. Wieso sollte ich ihnen das verheimlichen?«
»Wissen sie auch, dass ich …? Na ja …«
»Dass du eine Vergangenheit hast?« Raqan lachte. »Sie empfangen Nachrichten, insofern: ja, vermutlich. Mach dir keinen Kopf deswegen.«
Erim zuckte mit den Schultern und sortierte mühsam ihre Gedanken. Raqans Einladung hatte sie ziemlich überrumpelt und sie versuchte herauszufinden, woran das lag. Ein Teil war wohl immer noch ihrer persönlichen Unsicherheit und der Angst geschuldet, dass ein Treffen mit seinen Eltern Raqan die Augen öffnen und ihn dazu bringen könnte, sie in die Wüste zu schicken. Glücklicherweise war sie heute reflektiert genug, um das schnell als irrational abzutun.
Der andere Teil hingegen saß tiefer und hatte damit zu tun, dass Erims Beziehung zu ihren Eltern, besonders zu ihrer Mutter, äußerst kompliziert war. Ihrem Schönheits- und Selbstoptimierungswahn hatte sie es zu verdanken, dass sie überhaupt so viele Selbstzweifel mit sich herumtrug. Für ihre Mutter war sie nie gut genug gewesen. Was, wenn das bei Raqans Eltern auch so war? Sie würde nicht noch jemandem in ihrem Leben ertragen, der ständig an ihr herumnörgelte.
Gleichzeitig war sein Vorschlag ein großer Vertrauensbeweis, der ihr Herz vor Freude springen ließ. Es war Raqan ernst – so ernst, dass er bereit war, sie seiner Familie vorzustellen. Nach gerade einmal zwei Monaten.
Er streichelte sanft ihre Hand. »Lässt du mich an deinen Gedanken teilhaben?«
»Es ist … kompliziert«, fasste sie zusammen. »Ich würde deine Eltern gern kennen lernen, ehrlich. Ich freue mich, dass du sie mir vorstellen willst.«
»Aber?«
»Kein aber.« Erim drückte seine Hand. »Das ist nur die böse Stimme in meinem Kopf. Ich krieg das hin.«
»Bist du sicher? Du musst dich meinetwegen nicht zu etwas zwingen, mit dem du dich unwohl fühlst.«
»Deine Eltern können nicht so furchteinflößend sein wie meine«, erwiderte Erim lakonisch. »Also, was soll schon passieren?«
Raqan schmunzelte. »Du meinst, weil sie keine lebende Politiklegende sind wie dein Vater?«
»Und auch keine turbokapitalistische Selfmade-Millionärin wie meine Mutter«, ergänzte Erim. »Was machen deine Eltern noch gleich beruflich?«
»Mein Vater war Lehrer«, antwortete Raqan, »meine Mutter Laborassistentin. Aber mittlerweile genießen sie ihren Ruhestand und bereisen die Galaxis.«
»Keine schlechte Perspektive. Das sollte ich meinen Eltern auch mal vorschlagen.«
»Dein Vater ist doch auch pensioniert, oder nicht?«
»Offiziell schon, aber er findet immer irgendwas Neues. Gerade schreibt er seine Memoiren. Oder vielmehr lässt er sie schreiben.«
Eine Drohne servierte ihr perfekt angerichtetes Mittagessen und sie verloren sich wieder im Smalltalk über die Arbeit und aktuellen Klatsch und Tratsch in der Abteilung.
Erst beim Dessert griff Raqan das Thema noch einmal auf. »Also, dann … reserviere ich in zwei Tagen einen Tisch für vier?«
Erim nickte. Nach dem ersten Schockmoment fühlte sie sich jetzt wesentlich sicherer in ihrer Entscheidung. »Tu das. Ich freu mich drauf.«
Leyo zögerte, die Pistole immer noch in der Hand. Was jetzt? Er war am Arsch. Der Ausgang war blockiert und vor ihm stand der massige Hiskare, der ihm wahrscheinlich in einer gezielten Bewegung den Arm aus dem Gelenk reißen konnte. Wäre Leyo ein versierterer Schütze gewesen, hätte er vielleicht versucht, einen oder zwei seiner Gegner auszuschalten, ehe es zum Handgemenge kam, aber auf solche Glückstreffer sollte er sich nicht verlassen.
Er machte einen Schritt zurück, die Pistole immer noch auf den Hiskaren gerichtet. Der wusste ja nicht, dass Leyo nicht einmal ein Schleusentor traf, geschweige denn einen beweglichen Gegner.
Wo war Sami, verdammt noch mal? Hektisch sah sich Leyo nach ihm um und entdeckte ihn in der Nähe der Bar. In der Hand hielt er eine Flasche, bereit, damit zuzuschlagen, mit der anderen deutete er eindringlich auf einen Notausgang direkt neben der Theke.
Kluger Junge, dachte Leyo, nicht ohne einen Hauch von Stolz. Sami kam eben doch nach ihm, ein bisschen jedenfalls.
»Leg die Waffe weg«, befahl der Hiskare und trat einen Schritt auf Leyo zu, um die Distanz zu verringern. »Wenn du dich nicht wehrst, passiert dir nichts.«
Leyo schnaubte. »Abgesehen davon, dass ihr mich an ALIS verschachert? Darauf kann ich verzichten.«
»Warts ab«, entgegnete der Hiskare. »Vielleicht wirst du überrascht. Steck die Waffe weg und wir reden. An einem ruhigeren Ort als hier.«
»Kein Bedarf.«
»Schade. Dann doch auf die harte Tour.« In einer fließenden Bewegung griff er an seinen Gürtel, entsicherte die Taser-Pistole und richtete sie auf Leyo. Dem gelang es gerade noch rechtzeitig auszuweichen und der Taser traf einen Menschen neben ihm, der sofort zuckend zu Boden ging. Dessen Begleitung schrie erbost auf, zog eine Pistole – und das Chaos war perfekt.
Das Publikum stob auseinander, manche griffen an ihre Waffen, andere nutzten die Gelegenheit, um ihrerseits eine Schlägerei anzuzetteln oder den Chipvorrat des Nachbarn zu klauen. Gläser barsten, Stühle und Tische wurden umgestoßen und so gelang es Leyo, in Richtung Theke abzutauchen. Nur wenige Meter von ihm entfernt ertönte ein Schuss, jemand brüllte vor Schmerz und die wütenden Schreie einer Sicherheitskraft gingen im allgemeinen Chaos unter. Leyo musste einem fliegenden Barhocker ausweichen und stieß einen zierlichen Menschen beiseite, doch dann erreichte er Sami und ergriff ihn am Arm.
»Weg hier!«
Sami nickte, riss hastig die Hintertür auf und gemeinsam stolperten sie in einen schmalen, schummrig beleuchteten Gang, von dem beidseitig Lagerräume abzweigten. Die metallene Tür fiel hinter ihnen zu und dämpfte den anhaltenden Lärm aus der Bar. Am anderen Ende des Ganges befand sich ein schweres, rundes Schott, das die Bar intern abriegelte, falls es in der restlichen Station zu einem Sauerstoffabfall oder anderen Katastrophen kam. Leyo presste die Hand auf das zugehörige Relais – und nichts passierte.
Zugriff verweigert.
Er fluchte. Scheiße, das durfte doch nicht wahr sein!
Sami sah ihn alarmiert an. »Kannst du das überbrücken?«
»Nein«, knurrte Leyo, »nicht auf die Schnelle. Aber ein Kurzschluss könnte –« Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende geführt, da drosch Sami die Flasche, die er an sich gerissen hatte, bereits mit voller Kraft auf das Relais. Der Screen splitterte, zähe, blaue Flüssigkeit sickerte in die Elektronik, es blitzte einige Male bedrohlich und dann fiel der Strom aus. Nur das rote Notausgangschild beleuchtete noch den Gang.
»So etwa?«
Leyo blinzelte. »Ja. Genau. So etwa.«
Er sah sich um, erspähte den mechanischen Notöffner und begann ihn mit aller Kraft aufzudrehen. Knackend öffnete sich das Schott, Millimeter für Millimeter.
»Scheiße, Leyo, beeil dich!«
Hinter ihnen ging die Tür auf und knallte gegen die Wand. Ein Blick über die Schulter verriet Leyo, dass der Hiskare sie gefunden hatte. In der roten Notbeleuchtung wirkte seine massige Gestalt wie der Bösewicht aus einem Actionfilm, der bedrohlich näherkam.
Leyo warf sich noch einmal mit aller Kraft gegen den Hebel und das Schott weitete sich knirschend. »Hau ab«, rief Leyo Sami zu. »Geh zurück zur Hestia, los.«
Sami blieb, wo er war, den Hals der kaputten Flasche in der Hand, und setzte eine entschlossene Miene auf. »Nicht ohne dich.«
»Verdammt, Sami, du sollst –« Leyo duckte sich in letzter Sekunde zur Seite, sonst hätte ihn der Schuss aus der Taser-Pistole erwischt.
Der Hiskare war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt und blieb dort stehen. »Hände weg vom Hebel.«
Leyo fluchte und hob die Arme. »Lass den Jungen gehen, okay? Er hat nichts damit zu tun.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.« Der Hiskare trat einen weiteren Schritt auf sie zu. »Immerhin hätte er mir fast die Augen aus dem Gesicht gebrannt.«
»Und?«, fauchte Sami. »Würd ich wieder tun.«
»Bist ein taffes Kerlchen, aber die Runde geht an mich. Also leg die Flasche weg und nimm die Hände hoch.«
»Nein!«
»Komm schon, Kleiner. Ich will nicht auf dich schießen, dein Großvater würde mir den Arsch aufreißen.«
Leyo blinzelte, doch Sami schnaubte nur abfällig. »Verarschen kann ich mich selbst, du Hohlbrot, ich hab gar keinen Großvater.«
»Sami, Funkstille, okay.« Leyo hob abwehrend die Hände und machte einen Schritt auf sein Gegenüber zu. Das gab der ganzen Sache eine unschöne Wendung. Sami hatte keine Ahnung, dass der Verbrecherboss, den sie suchten, sein Großvater war – aber der Hiskare wusste es offenbar. »Du bist nicht wegen des ALIS-Kopfgeldes hier.«
»Richtig. Meine Captain will dich sprechen – und zwar unauffällig. Wir sollten nicht unnötig Staub aufwirbeln. Nun …« Er seufzte. »Nicht noch mehr als ohnehin schon.«
»Deine Captain?«, wiederholte Leyo. »Wer soll das sein?«
»Komm mit, dann erfährst du's.«
Leyo kaute auf seiner Unterlippe. Wenn der Hiskare nicht bluffte – und das tat er offenbar nicht – dann war er vielleicht ihr Ticket zu Colay. Nur gefiel es Leyo gar nicht, die Bedingungen dieses Aufeinandertreffens nicht selbst diktieren zu können. Colay hatte sie einmal verraten und hätte seine eigene Tochter und seine Enkelkinder zum Sterben auf einem brennenden Planeten zurückgelassen. Leyo war an einem Plausch nicht interessiert, nur daran, ALIS Colays Kopf zu bringen, um sich und seine Familie endlich freizukaufen. Trotzdem … er musste mehr herausfinden. Die Situation war zu verlockend, um sie verstreichen zu lassen.
Demonstrativ ließ er die Pistole sinken, sicherte sie aber nicht. »Sagen wir, ich wäre interessiert. Wohin würdest du mich bringen?«
»Zu unserem Schiff. Wir sind keine Freunde von ALIS, im Gegenteil. Ihr habt nichts zu befürchten.«
»Das werden wir dir glauben müssen.«
»Korrekt. Die Tatsache, dass ich hier stehe und mit dir rede, statt euch beide über den Haufen zu schießen, dürfte dir als Indiz –«
»Indizien sind schön und gut«, unterbrach ihn Leyo, »aber ich will mehr. Deinen Namen, zum Beispiel, und den deiner Captain.«
»Ich bin Paq«, antwortete er freimütig. »Meine Pronomen sind er/ihm. Du bist Leyo und der Kleine da ist Sami. Richtig?«
Leyo hörte, wie sein Sohn scharf die Luft durch die Zähne einsog. »Woher weißt du das?«
»Spielt keine Rolle«, beschwichtigte ihn Leyo. »Besonders scharfsinnig scheinst du nicht zu sein, sonst wäre dir aufgefallen, dass ich nicht unsere Namen hören wollte, sondern den deiner Captain.«
Paq zögerte kurz und schien nachzudenken, dann antwortete er: »Sie heißt Palana und ist Captain der Phönix. Reicht das?«
Hinter Leyos Stirn arbeitete es. Die Karha, Palana, Phönix, das alles sagte ihm gar nichts. »Und was wollt ihr von uns?«
»Begleite mich, dann findest du es raus.«
Leyo kaute auf seiner Unterlippe, sein Herzschlag beschleunigte. Shit, wie sollte er sich entscheiden? Dem Kopfgeldjäger vertrauen, der ihn vielleicht nach Strich und Faden verarschte, in der Hoffnung, Antworten zu finden? Oder auf seine Intuition hören, die ihn in der Vergangenheit schon oft gerettet, ihn aber auch ebenso oft in Schwierigkeiten gebracht hatte? Und Sami … auch seine Sicherheit war ein Faktor. Verdammt, gerade wünschte er sich Amjan an seine Seite. Ser wusste immer, was zu tun war.
Leyo holte tief Luft und traf dann eine Entscheidung. »Okay, meinetwegen. Wir gehen zu deiner Boss.«
»Spinnst du?«, keuchte Sami, der immer noch seine Flasche wie einen Prügel umklammert hielt. »Der Typ wollte dich kaltmachen.«
»Wollte er nicht«, korrigierte Leyo. »Tot bringe ich kein Geld. Stimmt's, Paq?«
Der nickte gewichtig. »Korrekt.«
»Und der Bursche hier«, ergänzte Leyo und legte die Hand auf Samis Schulter, »bringt auch kein Geld. Also kann er gehen. Korrekt?«
Paq schnaufte vernehmlich. »Meinetwegen.«
»Ich gehe nicht«, protestierte Sami. »Ich lass dich nicht allein.«
Leyo seufzte und neigte sich zu Samis Ohr. »Ich regle das«, versprach er leise. »Geh zurück zum Schiff und sag Liska, sie soll die Hestia startbereit machen.«
»Du hast einen Plan?«
»Ich hab immer einen Plan.«
Er richtete sich auf und sah zu, wie Sami durch die Öffnung im Schott nach draußen kletterte.
»Können wir?«, fragte Paq ungeduldig und Leyo nickte.
»Nach dir.«
Paq streckte die Hand aus. »Deine Waffe.«
»So hatten wir nicht gewettet.«
»Ich dachte, wir vertrauen einander.«
»Einen Scheiß tun wir«, knurrte Leyo. »Ich behalte meine Knarre, du hast deine ja auch noch.«
»Ich hab den Jungen gehen lassen – jetzt schuldest du mir etwas.«
Leyo verdrehte die Augen. »Vorschlag zur Güte: Ich sichere meine Pistole und du deine.«
Paq verzog das Gesicht, lenkte aber schließlich ein. Langsam zog er die Taserpistole aus dem Holster, Leyo tat es ihm gleich – und dann ging es ganz schnell.
Leyo ließ seine Knarre fallen und griff nach Paqs Taserpistole. Der reagierte sofort und fuhr den Ellbogen aus, doch Leyo tauchte darunter hinweg, packte die entsicherte Waffe, riss Paqs Hand zur Seite und drückte ab. Paqs Knie traf ihn noch mit Wucht in die Magengrube und er japste nach Luft, doch da hatte der Taser schon sein Ziel erwischt. Ein Zucken glitt durch Paqs Körper, er verdrehte die Augen und sackte auf die Knie. Seine Muskeln verloren an Spannung und Leyo riss ihm den Taser aus den schlaffen Fingern.
»Sorry, Kumpel. Sag Colay schöne Grüße.«
Paq knurrte, versuchte sich auf die Beine zu stemmen, doch da versetzte Leyo ihm bereits einen weiteren Schuss mit der Taserpistole und er sank bewusstlos zu Boden.
Leyo atmete auf. Schnell, bevor Verstärkung nachrückte. Er durchwühlte Paqs Taschen, ohne etwas Brauchbares zu finden, außer einer E-Zigarette und einigen Ersatzladungen für die Pistole. Kein Geld, kein Creditstick, nur eine Handvoll Karha-Münzen, die Leyo nicht anrührte. Er wollte sich nicht ausmalen, was die Organisation mit Leuten machte, die ihr Erkennungszeichen missbrauchten.
Die Tür zur Bar sprang auf. »Paq? Alles in Ordnung?«
Scheiße. Leyo ließ hastig von dem Hiskaren ab und zwängte sich durch den Spalt im Schott nach draußen. Er befand sich irgendwo in den Service-Korridoren der Raumstation und rannte los, blind einen Gang hinunter, rechts, links – und schließlich stolperte er durch ein weiteres Schott, das er kurzschloss, auf die Einkaufsstraße hinaus. Hier herrschte geschäftiges Durcheinander. Zahllose Ladenbuchten drängten sich unter einem schmutzigen, von Metallstreben durchzogenen Kunststoffdach aneinander, es roch nach Fettdünsten, Motoröl und Schweiß.
Ein bisschen erinnerte es Leyo an den intergalaktischen Markt in Kasdan, nur dass man hier auf Nandu vor allem das kaufen konnte, was für Schmuggler- und Piratenpack vermeintlich interessant war: mechanische Ersatzteile, Rauschmittel, Pornos und Waffen. Über allem lag ein unergründliches Gewirr menschlicher und nicht-menschlicher Stimmen in verschiedenen Frequenzen und Lautstärken. Menschen, Parahumanoide und unterschiedliche Typen von Androiden drängten sich aneinander vorbei, rempelten sich gegenseitig an oder brüllten sich Beschimpfungen zu.
Leyo wühlte sich durch die Menge und war bald davon überzeugt, die Kopfgeldjäger abgeschüttelt zu haben. Das hatte ihn die Kindheit in den kasdanischen Gassen gelehrt – schnell dort zu sein, wo seine Verfolger nicht waren. Er hoffte, dass Sami den Weg zurück zum Dock allein finden würde, er hatte schließlich noch eine Aufgabe zu erledigen.
Ein Gutes hatte die Schlägerei in der Bar gehabt: Umi hatte mit Sicherheit noch nicht bemerkt, dass er die Sticks ausgetauscht hatte. Trotzdem sollte er keine Zeit verlieren.
Er aktivierte die Funkverbindung in seinem Ohr. »Leyo an Liska, hörst du mich?«
»Ich höre dich«, kam die Antwort. »Wie ist es gelaufen?«
»Ich hab’ den Stick. Gab aber etwas Ärger.«
»Inwiefern?«
»Erzähl ich dir nachher. Mach das Schiff startklar, wir sollten verschwinden, sobald ich die Infos habe.«
»Scheiße, Leyo, hatten wir nicht gesagt –?«
»Unauffällig, ja, ja, ich weiß. War nicht meine Schuld.«
»Was ist mit Sami?«
»Auf dem Weg zu euch. Sag ihm, dass ich wohlauf bin, könnte ihn interessieren.«
»Okay«, antwortete Liska gedehnt. »Ich glaube, ich will das gar nicht so genau wissen.«
»Hab alles im Griff, Süße. Ehrlich. Bin am Terminal, wir sehen uns gleich.«
Er beendete das Gespräch, als er vor dem großen Infoschalter ankam. Alle umliegenden Gänge – die Einkaufspassage, die Straße zu den Docks, die Vergnügungsmeile und die Werkstätten – zweigten sternförmig von der großen Sammelhalle ab, in der Leyo jetzt stand. Eine metallene Kuppel wölbte sich über ihm und um den Infoschalter in der Mitte stand rund ein Dutzend Androiden verteilt. Warum man sich die Mühe gemacht hatte, humanoide Exemplare zu verwenden, anstelle von simplen Automaten, wusste Leyo nicht – wahrscheinlich irgendein Mist von wegen »Kundenzufriedenheit« und »Vertrauen in Infrastruktur«. Menschen und Parahumanoide redeten nun einmal lieber mit Wesen, die ihnen ähnelten, statt mit Computern. Das galt auch für Kriminelle.
Er trat an einen der Schalter und schenkte dem in die Jahre gekommenen Androiden hinter dem Tresen sinnloserweise ein Lächeln. »Ich hätte gerne eine Auskunft.«
Der Android nickte mechanisch. Die Dinger waren gruselig, fand Leyo. Zu maschinell, um menschlich zu sein, aber zu menschlich, um als Maschine durchzugehen. Die metallene Oberfläche des Androiden wies Kratzer und Dellen auf, er war nicht besonders gut gewartet worden, aber offenbar noch voll funktionstüchtig. »Welche Auskunft darf es sein?«
»Ich suche Informationen über ankommende und abfliegende Schiffe der letzten drei Wochen.«
Der Android verarbeitete die Anfrage und piepste dann: »Negativ. Sicherheitsfreigabe erforderlich.«
»Bitte sehr.« Leyo schob den Chip über den Tresen und wippte unruhig auf den Fußballen auf und ab. Jetzt wurde es spannend.
»Einen Moment bitte.« Der Android slottete den Chip in seine Handfläche. Leyo wartete unruhig. Wenn er jetzt einen Alarm auslöste, waren sie im Arsch. Der Raumhafen konnte ihr Abflugschott einfach dichtmachen und dann saßen sie in der Falle.
Komm schon, flehte Leyo. Verdammte Blechdose.
»Sicherheitsfreigabe erkannt«, flötete der Android. »Guten Tag, Frau Nevek. Zugriff auf Informationen der Stufe B.«
»Durchsuche ankommende und abfliegende Schiffe«, wiederholte Leyo. »Name: Tar Colay.«
Für wenige Sekunden schloss der Android die mechanischen Lider – offenbar eine Simulation des Ladevorgangs – dann sah er Leyo wieder aus unnatürlich grün leuchtenden Augen an. »Negativ. Kein Eintrag.«
»Selber Suchvorgang, Name: Baref Zentani.«
»Negativ. Kein Eintrag.«
»Na schön. Selber Suchvorgang, Schiffstyp: Naharra.«
»Negativ. Kein Eintrag.«
Leyo fluchte. Das durfte doch nicht wahr sein! Gut, wenn er Colay auf diesem Weg nicht fand, dann musste eben sein neuer hiskarischer Freund herhalten. Vielleicht hatte er nicht geblufft und es gab eine Verbindung. »Durchsuche ankommende Schiffe. Schiffsname: Phönix.«
Diesmal hatte der Android die Lider noch gar nicht geschlossen, als er schon verkündete: »Ein Treffer.«
»Details.«
»Schiffsname: Phönix, Typ: Cicada. Landeplatz: Dock 1.2. Aufenthaltsdauer: 72 Stunden. Status: genehmigt.«
»Signatur auslesen.«
Es flimmerte einige Male, dann tauchte eine Schlange aus Ziffern und Zahlen auf dem Display auf. Leyo erkannte sofort, dass es eine maskierte Signatur war, aber das ließ sich beheben. Er fingerte zwischen Tabak und Zigarettenpapier einen leeren Chip aus seiner Tasche, wischte ihn sauber und lud die Signatur darauf.
»Danke.« Er zog den ID-Stick aus dem Gerät. »Das war's dann.«
Der Android neigte den Kopf. »Einen schönen Tag noch.«
Zufrieden grinsend schlug Leyo den Weg in Richtung Docks ein und entsorgte Umis ID-Stick unterwegs in einem Abfalleimer. Zugegeben, das war nicht ganz so gelaufen wie geplant, aber sie hatten eine Spur. Endlich!
Zu seiner Erleichterung wartete Sami bereits am Dock, genau wie seine Mutter Arifa, die nervös vor dem Schiff auf und ab ging. Als sie Leyo sah, atmete sie erleichtert aus. »Verdammt, Leyo, da bist du ja endlich!«
»Sorry, gab ein paar Komplikationen.« Er schenkte Sami ein Lächeln und wuschelte ihm durchs Haar. »Alles klar bei dir?«
Er gab einen widerwilligen Laut von sich und ordnete demonstrativ seine Frisur. »Das war ne Scheißaktion von dir.«
»Dass ich dir das Leben retten wollte?«
»Bullshit.« Sami schob beleidigt das Kinn vor. »Dass du immer aus allem eine Solonummer machen musst.«
»Tu ich gar nicht – und jetzt ab ins Schiff, wir müssen los, ehe unser kleiner Diebstahl auffällt.« An Arifa gewandt fügte er hinzu: »Hat Liska den Fehler gefunden?«
»Mehr oder weniger«, antwortete Arifa, während sie hinter ihrem Sohn ins Schiff kletterte. »Sie sagt, der Serienresonanzwandler hätte eine leichte Fehlfunktion, dadurch sinkt die Energieeffizienzleistung des Schiffes und das System riegelt den Schubantrieb früher ab als nötig.«
Leyo schnaubte. Sie hatten sich beim Preis ordentlich übers Ohr hauen lassen, so viel stand fest. Seit sie Ranun verlassen hatten, war ständig irgendwas am Schiff kaputt. Meistens nur Kleinigkeiten, die Liska reparieren konnte, aber es nervte. Andererseits musste er sich eingestehen, dass die Hestia damit keinen so großen Unterschied zu ihrem ehemaligen Zuhause in Kalubs End bot.
Sie war nicht besonders hübsch, ein bisschen heruntergekommen und roch nach altem Öl, aber Leyo liebte das Schiff über alles. Die Hestia hatte ihm und seiner erweiterten Familie ein Zuhause geboten, nachdem sie ihre Heimat verloren hatten. Sie war ein Stück Freiheit, seine Chance, sich in den ewigen Weiten des Weltraums zu verlieren, ohne dabei seine Familie zurücklassen zu müssen. Jetzt konnte er jeden Tag in einem Pilotensitz verbringen, Routen auskundschaften, Signaturen maskieren, Sprungwege berechnen, all den großartigen Kram tun, den er als Schmuggler so geliebt hatte – und zugleich konnte er Zeit mit seinen Liebsten verbringen.
Er verriegelte die Eingangsluke hinter ihnen und folgte Arifa und Sami in den Aufenthaltsraum neben der Küche. Im Zentrum des Raumes stand ein runder, fest montierter Tisch mit mehreren geschwungenen Schalensitzen, den sie in erster Linie als Esstisch verwendeten. Der ganze Raum war mit alten Postern und Plakaten tapeziert, die ihnen bei verschiedenen Zwischenstopps in die Hände gefallen waren, und die kargen, grauen Wandverkleidungen etwas wohnlicher erscheinen ließen. Sie zeigten skurrile Bands, von denen Leyo noch nie gehört hatte, Filmpremieren von vor zwanzig Jahren, Reklame für Hoverbikes – Leyo hatte dagegen protestiert, war aber überstimmt worden – und Veranstaltungsreklame. Seit es selbst in den entlegenen Flecken der Galaxis kaum noch Werbung gab, die nicht über AR-Linsen oder Holobildschirme flimmerte, bekam man den Papierkram nachgeworfen.
Amjan hockte mit Arifas kleiner Tochter Kera am Boden in einer Aureole von Spielzeug und sah ihr versonnen dabei zu, wie sie emsig brabbelnd mit einem breiten Grinsen Figuren von der einen Seite ihres Spielzeugraumschiffs zur anderen schob.
Die Kleine hatte es in den letzten Monaten nicht leicht gehabt und Leyo war froh, sie so zufrieden zu sehen. Mit ihren zwei Jahren war sie zu jung, um zu begreifen, wie haarscharf sie und ihre Familie einer Katastrophe entronnen waren, und das war gut so. Andererseits begriff sie sehr wohl, dass ihr Zuhause fort war, genau wie ihr Vater, und dass sie nun auf engstem Raum mit Menschen leben musste, die zuvor nur entfernte Nachbarn gewesen waren. Ganz zu schweigen davon, dass Kera eine andere Art von Lebensstil gewohnt war, denn ihr Vater, Baref, hatte es seiner Familie nicht an Luxus mangeln lassen. Gerade beim Essen war die Kleine mäkelig und schwer zu überzeugen, dass es an Bord nun einmal nur das gab, was auf dem Plan stand, auch wenn sie noch so laut nach etwas anderem schrie.
Im Moment wirkte Kera aber friedlich und schien mit sich und ihrer Umgebung im Reinen, was sicher auch an Amjans Fürsorge lag. Leyo spürte eine weiche, wohlige Wärme in sich aufsteigen. Ser ging gänzlich in der Elternrolle auf. Wenn Liska in wenigen Monaten ihr gemeinsames Baby zur Welt brachte, würde ser das beste Elternteil in der Galaxis abgeben.
Kera hatte Leyo in der Tür entdeckt, rief ihm ein fröhliches »Hallo!« entgegen und hielt begeistert die Figur in ihrer Hand hoch. Ein Space-Marine, offensichtlich.
»He, ihr beiden.«
»Da bist du ja!« Amjan rappelte sich auf. »Was ist passiert? Liska sagte, ihr –«
»Alles gut gelaufen«, fiel Leyo sem lakonisch ins Wort. »Also, fast, jedenfalls. Kleine Kneipenschlägerei und ein paar Kopfgeldjäger, aber sonst nichts.«
Amjan blinzelte. »Sonst nichts, aha. Kopfgeldjäger?«
»Karha, sie arbeiten irgendwie mit Colay zusammen. Ich hab ihr Schiff und ihre Signatur. Wenn wir uns in der Nähe verstecken, können wir ihnen folgen, sobald sie ablegen. Ich sag Liska Bescheid, wir sollten von hier verschwinden, hab vielleicht ein bisschen Staub aufgewirbelt.«
»Was war so schwierig daran, einen frustrierten Wartungsoffizier zu bestechen?«
»Hab’s versucht, aber ihre Infos waren Müll. Ich musste selbst ins System.« Das war nur die halbe Wahrheit, denn nach seiner eigenen Recherche war ihm klar geworden, dass die Offiziere gar keine Informationen über Colay hätten finden können. Nur hatte er sich damit nicht zufriedengeben wollen. »Ich hab versucht, einen Zugangschip zu klauen, aber das hat auch nicht geklappt. Also mussten wir improvisieren.«
Amjan verdrehte die Augen, trat zu Leyo und gab ihm einen Kuss. »Du bist unmöglich.«
»Ich weiß.« Er grinste. »Und darin bin ich gut. Also lass uns verschwinden.«
Amjan blieb im Aufenthaltsraum zurück und sammelte mit Kera die Spielsachen ein, damit sie beim Start nicht durch die gesamte Maschine polterten, während Leyo ins Cockpit trat. Liska hockte in einem der Sessel, in der Hand ihr Tablet und wischte darauf hin und her. Ihr weiches, lockiges schwarzes Haar trug sie seit dem Abschied von Ranun raspelkurz, was ihr hervorragend stand. Ihre Fliegerbrille, ihr Lieblingsaccessoire, hatte sie auf die Stirn geschoben.
»He!« Sie fuhr hoch, als sie Leyo sah, und wuchtete sich aus dem Sitz. »Da bist du ja! Hast du –?«
»Ein Schiff und Signaturencodes«, erwiderte Leyo stolz. Er konnte einfach nicht anders: Kaum stand sie vor ihm, musste er mit den Fingern die weiche, dunkelbraune Haut berühren, die sich über ihren Babybauch spannte. »Wir können also sofort …« Er unterbrach sich, als Liska schmerzhaft das Gesicht verzog, und zog die Hand zurück. »Alles okay?«
Sie winkte lachend ab. »Ja, das Würmchen macht nur Gymnastik oder so. Tritt mir schon seit einer Stunde ständig in die Nieren. Apropos, hast du die Tabletten mitgebracht?«
»Scheiße.« Leyo schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Hab ich vergessen.«
»Mann, Leyo«, maulte Liska. »Weißt du, wie scheiße es ist, jeden Morgen mit einem Wadenkrampf des Todes aufzuwachen?«
»Ja«, erwiderte Leyo trocken, »schließlich weckst du uns jedes Mal.«
»Haha. Wie wär's mit einer Entschuldigung?«
Leyo seufzte, nahm Liskas Gesicht zwischen seine Hände und gab ihr einen Kuss auf die Lippen. Sie duftete nach Getriebeöl, Schweiß und einem Hauch von Vanille. Liskaduft. »Tut mir leid, Süße. Ehrlich. Bei der nächsten Gelegenheit denk ich dran.«
»Wer's glaubt.« Sie zwinkerte ihm zu und ließ sich wieder in den Sitz plumpsen. »Also, Signaturencodes wovon?«
Während sie gemeinsam das Schiff abflugbereit machten, sämtliche Schotts und Sicherungen prüften und die ausstehende Standgebühr elektronisch an den Raumhafen übermittelten, erzählte Leyo von Paq, dessen Mission und den Andeutungen über Colay.
»Das ist alles?«, fragte Liska skeptisch und Leyo schnaubte verächtlich.
»Was soll das denn heißen, junges Fräulein? Ich hab meinen Arsch dafür riskiert.«
Liska seufzte und justierte einige Hebel. »Wir folgen also dieser Phönix?«
»Beste Option, die wir haben, schätze ich. Ich muss die Signatur noch dechiffrieren, deswegen schlage ich vor, dass wir uns aus dem Staub machen und uns irgendwo in der Nähe einen Asteroiden suchen, hinter dem wir uns verstecken können.«
»Gut, hoffen wir auf das Beste.« Liska drückte den Sprechknopf. »Liska an Crew, wir sind startbereit. Gebt uns ein Signal, wenn ihr so weit seid.«
Amjan streckte hinter ihnen den Kopf ins Cockpit und hob den Daumen. »Alles klar. Kann losgehen.«