Kampf um Gaia - Bruno Latour - E-Book

Kampf um Gaia E-Book

Bruno Latour

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Beschreibung

Die moderne Wissenschaft hat tief greifend unser Verständnis der Natur geprägt. In den letzten drei Jahrhunderten bildete diese Idee der Natur den Hintergrund all unseres Tuns. Aufgrund der ökologischen Folgen des menschlichen Handelns tritt die Natur jedoch heute aus dem Hintergrund auf die Bühne, wie Bruno Latour in seinem neuen, faszinierenden Buch zeigt. Die Luft, die Meere, die Gletscher, das Klima, die Böden, alles interagiert mit uns. Wir haben die Epoche der Geohistorie betreten, das Zeitalter des Anthropozäns – mit dem Risiko eines Krieges aller gegen alle.

Die alte Natur verschwindet und weicht einem Wesen, das schwierig zu bestimmen ist. Es ist alles andere als stabil und besteht aus einer Reihe von Feedbackschleifen in ständiger Bewegung. Gaia ist sein Name. Latour argumentiert, dass die komplexe und mehrdeutige Gaia-Hypothese, wie sie von James Lovelock entwickelt wurde, ein idealer Weg ist, um die ethischen, politischen, theologischen und wissenschaftlichen Aspekte des nunmehr veralteten Begriffs der Natur zu entwirren. Er legt den Grundstein für eine zukünftige Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Theologen, Aktivisten und Künstlern, während wir beginnen, mit dem neuen Klimaregime zu leben.

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Seitenzahl: 670

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Die moderne Wissenschaft hat tiefgreifend unser Verständnis der Natur geprägt. In den letzten drei Jahrhunderten bildete diese Idee der Natur den Hintergrund all unseres Tuns. Aufgrund der ökologischen Folgen des menschlichen Handelns tritt die Natur jedoch heute aus dem Hintergrund auf die Bühne, wie Bruno Latour in seinem faszinierenden Buch zeigt. Die Luft, die Meere, die Gletscher, das Klima, die Böden, alles interagiert mit uns. Wir haben die Epoche der Geohistorie betreten, das Zeitalter des Anthropozäns – mit dem Risiko eines Krieges aller gegen alle.

 Die alte Natur verschwindet und weicht einem Wesen, das schwierig zu bestimmen ist. Es ist alles andere als stabil und besteht aus einer Reihe von Feedbackschleifen in ständiger Bewegung. Gaia ist sein Name. Latour argumentiert, daß die komplexe und mehrdeutige Gaia-Hypothese, wie sie von James Lovelock entwickelt wurde, ein idealer Weg ist, um die ethischen, politischen, theologischen und wissenschaftlichen Aspekte des nunmehr veralteten Begriffs der Natur zu entwirren. Er legt den Grundstein für eine zukünftige Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Theologen, Aktivisten und Künstlern, während wir beginnen, mit dem neuen Klimaregime zu leben.

Bruno Latour, geboren 1947, ist Professor am Sciences Politiques Paris und dem Centre de Sociologie des Organisations (CSO). Für sein umfangreiches Werk hat er zahlreiche Preise und Ehrungen erhalten, darunter den Siegfried-Unseld-Preis und den Holberg-Preis.

Zuletzt erschienen

Cogitamus (eu 38)

Jubilieren. Über religiöse Rede (stw 2186)

Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, 2014

Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (stw 1967)

Das Parlament der Dinge (stw 1954)

BRUNO LATOUR

Kampf um Gaia

Acht Vorträge über das Neue Klimaregime

Titel der Originalausgabe: Bruno Latour, Face à Gaïa.Huit conférences sur le nouveau régime climatique © Éditions La Découverte, Paris, 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe 2017

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Die Darstellung der unterschiedlichen Hervorhebungen im Text kann abhängig von Lesegerät und gewählter Schrift vereinfacht sein.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

INHALT

EINLEITUNG

ERSTER VORTRAG

Über die Instabilität (des Begriffs) der Natur

Die Beziehung zur Welt mutiert • Vier Arten, sich von der Ökologie verrückt machen zu lassen • Die Instabilität des Verhältnisses Natur/Kultur • Die Berufung auf die menschliche Natur • Der Rekurs auf die »natürliche Welt« • Die Pseudo-Kontroverse über das Klima leistet uns einen großen Dienst • »Sagt Euren Herren, daß die Wissenschaftler auf dem Kriegspfad sind!« • Wo versucht wird, von der »Natur« zur Welt überzuwechseln • Wie der Herausforderung zu begegnen ist

ZWEITER VORTRAG

Wie wir der Natur (kein) Leben einhauchen können

»Störende Wahrheiten« • Beschreiben, um zu alarmieren • Wo man sich auf die Wirkungsmächte konzentriert • Von der Schwierigkeit, Menschen von Nichtmenschen zu unterscheiden • »Und doch bewegt sie sich« • Eine Neufassung des Naturrechts • Über eine ärgerliche Tendenz, Ursache und Schöpfung zu verwechseln • Auf dem Weg zu einer Natur, die keine Religion mehr ist?

DRITTER VORTRAG

Gaia, eine (endlich profane) Gestalt der Natur

Galilei, Lovelock: Zwei symmetrische Entdeckungen • Gaia, ein mythischer Name, hochgefährlich für eine wissenschaftliche Theorie • Eine Parallele zu Pasteurs Mikroben • Auch bei Lovelock wimmelt es von Mikroakteuren • Wie läßt sich die Vorstellung von einem System vermeiden? • Die Organismen passen sich ihrer Umgebung nicht an, sie stellen sie her • Eine gewisse Komplikation des Darwinismus • Der Raum, ein Kind der Geschichte

VIERTER VORTRAG

Das Anthropozän und die Zerstörung (des Bilds) des Globus

Das Anthropozän: eine Innovation • Mente et Malleo • Ein anfechtbarer Ausdruck für eine ungewisse Epoche • Eine ideale Gelegenheit, die Figuren Mensch und Natur zu sprengen • Sloterdijk oder der theologische Ursprung des Bilds der Sphäre • Die Vermischung von Wissenschaft und Globus • Tyrrell gegen Lovelock • Die Rückwirkungsschleifen zeichnen keinen Globus • Endlich, ein neues Kompositionsprinzip • Melancholia oder das Ende des Globus

FÜNFTER VORTRAG

Wie können die verschiedenen Völker (der Natur) einberufen werden?

Zwei Leviathane, zwei Kosmologien • Wie können wir den Krieg der Götter vermeiden? • Ein gefahrvolles diplomatisches Projekt • Die Unmöglichkeit der Einberufung eines »Volks der Natur« • Wie können wir der Verhandlung eine Chance geben? • Über den Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion • Unsicherheit über den Sinn des Worts »Ende« • Ein Vergleich der kämpfenden Kollektive • Verzicht auf jede natürliche Religion

SECHSTER VORTRAG

Wie soll man dem Zeitenende (k)ein Ende bereiten?

Das Schicksalsjahr 1610 • Stephen Toulmin und die wissenschaftliche Gegenrevolution • Auf der Suche nach dem religiösen Ursprung der »Enthemmung« • Das sonderbare Projekt, das Paradies auf Erden zu schaffen • Erik Voegelin und die Wandlungen des Gnostizismus • Über einen apokalyptischen Ursprung der Klimaskepsis • Vom Religiösen über das Säkulare zum Irdischen • Ein »Volk der Gaia«? • Was auf die Anschuldigung, »apokalyptische Reden« zu halten, zu antworten ist

SIEBTER VORTRAG

Die Staaten (der Natur) zwischen Krieg und Frieden

»Das Große Gehege« von Caspar David Friedrich • Das Ende des Staates der Natur • Von der richtigen Dosierung Carl Schmitts • »Wir suchen den normativen Sinn der Erde« • Vom Unterschied zwischen Krieg und polizeilicher Maßnahme • Wie sollen wir uns Gaia zuwenden? • Menschen gegen Erdverbundene • Lernen, die im Kampf befindlichen Territorien zu orten

ACHTER VORTRAG

Wie sollen die kämpfenden (natürlichen) Territorien regiert werden?

Im Verhandlungstheater, Les Amandiers, Mai 2015 • Lernen, sich ohne obersten Schlichter zu versammeln • Ausweitung der Konferenz auf nichtmenschliche Lebewesen • Multiplizierung der Beteiligten • Die kritischen Zonen abgrenzen • Den Sinn des Staats wiederfinden • Laudato si'! • Endlich Gaia gegenüber • »Land in Sicht!«

BIBLIOGRAPHIE

Für Ulysse und MayaFür die gesamte Truppe, Szene und Kulisse,

»Die Erde wird in mythischer Sprache die Mutter des Rechts genannt. […] Das meint der Dichter, wenn er von der allgerechten Erde spricht und sagt: justissima tellus.«

Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 13

»Nicht mehr die Politik ohne Beiwort, sondern die Klimapolitik ist das Schicksal.«

Peter Sloterdijk, Sphären II: Globen, S. 353

»Ich würde eher erwarten, daß eine Ziege als verantwortungsvolle Gärtnerin mehr Erfolg hat als wir Menschen.«

James Lovelock, Gaia. Die Erde ist ein Lebewesen, S. 184

»Natur ist nur ein anderer Name für Selbstüberschreitung.«

William James, Das pluralistische Universum, S. 18413

EINLEITUNG

Alles begann mit Bildern aus einem Tanz, die ich vor etwa zehn Jahren gesehen habe und nicht mehr losgeworden bin: Während eine Tänzerin vor etwas zurückweicht, vor dem ihr zu grauen scheint, wirft sie immer besorgtere Blicke hinter sich, als häufe ihre Flucht hinter ihrem Rücken Hindernisse an, die sie immer mehr in ihren Bewegungen hemmen, bis sie am Ende gezwungen ist, sich ganz umzudrehen – und bestürzt, fassungslos, wehrlos sieht sie etwas noch Grausigeres auf sich zukommen, was sie zwingt, erneut zurückzuweichen. Auf der Flucht vor Grauenhaftem stößt sie auf Schlimmeres, das ihre Flucht teilweise erst geschaffen hat.

Abb. 0.1 Stéphanie Ganachaud, 12. Februar 2013

Ich war davon überzeugt, daß dieser Tanz den Geist der Zeit ausdrückt, daß er sie auf eine einzige, für mich höchst verwirrende Situation zurückführt: auf das, wovor die Moder14nen zuerst geflohen waren, das archaische Grauen vor der Vergangenheit, und auf das, dem sie heute gegenüberstanden: dem Einbruch einer enigmatischen Figur, der Quelle eines Grauens, das nicht mehr hinter uns liegt, sondern vor uns. Den Einbruch dieses Monsters, halb Zyklop, halb Leviathan, habe ich zunächst unter dem seltsamen Namen »Kosmokoloss« verzeichnet;[1] dann verschmolz es für mich sehr rasch mit jener anderen, so umstrittenen Figur, in die meine Lektüre von James Lovelock mich eintauchen ließ: Gaia. Ich konnte mich ihr nicht mehr entziehen, ich mußte zu verstehen suchen, was in dieser einigermaßen beängstigenden Form einer zugleich mythischen, wissenschaftlichen, politischen und wahrscheinlich auch religiösen Kraft auf mich zukam.

Da ich nichts von Tanz verstehe, brauchte ich einige Jahre, bis ich in Stéphanie Ganachaud die ideale Interpretin dieser kurzen Szene fand.[2] Inzwischen hatte ich einige gute Freunde davon überzeugt, die obsessive Figur Kosmokoloss zu einem Theaterstück zu verarbeiten; das Ergebnis war Gaia Global Circus.[3] Infolge einer jener Koinzidenzen, von der nicht überrascht sein dürfte, wer schon einmal Opfer einer Obsession 15war, erhielt ich damals die Einladung des Gifford Lectureships Committee, 2013 in Edinburgh einen sechsteiligen Vortragszyklus mit dem ebenfalls recht enigmatischen Titel »Natürliche Religion« zu bestreiten. Wie sollte ich einem Angebot widerstehen, das bereits William James, Alfred North Whitehead, John Dewey, Henri Bergson, Hannah Arendt und viele andere verlockt hatte?[4] Bot sich da nicht die ideale Gelegenheit, mich argumentativ mit einer Aufgabe auseinanderzusetzen, vor die mich zunächst der Tanz und das Theater gestellt hatten? Zumindest das Medium war mir diesmal nicht allzu fremd, zumal ich gerade eine Untersuchung über die Existenzweisen abgeschlossen hatte, in deren Verlauf Gaia sich immer mehr vordrängte.[5] Hier finden sich nun meine Edinburgher Vorträge in überarbeiteter, erweiterter und völlig umgeschriebener Form wieder.

Wenn ich bei dieser Veröffentlichung das Genre, den Stil und den Tonfall von Vorträgen beibehalte, so deswegen, weil die Anthropologie der Modernen, an der ich seit vierzig Jahren arbeite, immer mehr mit dem in Resonanz tritt, was man das NeueKlimaregime nennen kann.[6] Mit diesem Begriff 16fasse ich die gegenwärtige Situation zusammen, in der der physische Rahmen, den die Modernen als gesichert erachtet hatten, der Boden, auf dem ihre Geschichte sich immer abgespielt hatte, ins Wanken geraten ist. Als würde eine Bühne lebendig und versuchte, am dramatischen Geschehen mitzuwirken. Von diesem Augenblick an ändert sich an der Art und Weise, Geschichten zu erzählen, von Grund auf alles, so daß in die Politik Einzug hält, was jüngst noch zur Natur gehörte – einer Figur, die damit zu einem Tag für Tag weniger entzifferbaren Rätsel wird.

Seit Jahren versuchten meine Kollegen und ich, dieses Eindringen der Natur und der Naturwissenschaften in die Politik aufzufangen; wir hatten mancherlei Methoden entwickelt, die ökologischen Kontroversen zu verfolgen, ja zu kartographieren. Aber all diese Spezialuntersuchungen hatten die Gewißheiten derer nie zu erschüttern vermocht, die fortfuhren, sich eine soziale Welt ohne Objekte zu imaginieren und eine natürliche Welt ohne Menschen – und ohne erkennenden Wissenschaftler. Während wir uns damit abmühten, einige epistemologische und soziologische Knoten aufzudröseln, stürzte das ganze Gebäude, das deren Funktionen verteilt hatte, zusammen oder vielmehr: fiel buchstäblich wieder der Erde zu. Wir waren noch dabei, über mögliche Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen zu diskutieren, über die Rolle der Wissenschaft bei der Produktion der Objektivität, über die mögliche Bedeutung künftiger Generationen, da ergriffen die Naturwissenschaftler selbst immer häufiger das Wort, um von den gleichen Dingen zu sprechen, aber auf einer ganz anderen Skala: Sie benutzten Wörter wie »Anthropozän«, »große Beschleunigung«, »planetarische Grenzen«, »Erdgeschichte«, »tipping points«, »kritische Zonen« – erstaunliche Formulierungen, die aber erforderlich 17zu sein schienen und denen wir nach und nach begegnen werden, um diese Erde zu verstehen, die auf unser Handeln zu reagieren scheint.

Mein ursprüngliches Fach – die Wissenschaftssoziologie, oder besser Wissenschaftsanthropologie – wird heute durch die weithin verbreitete Einsicht in ihrer Stellung gestärkt, daß die alte Verteilung der Gewichte zwischen Wissenschaft und Politik obsolet geworden ist. Ganz als hätte das vielgestaltige Eindringen der Klimafrage und, seltsamer noch, ihrer Verbindung mit dem Regieren uns von einem Ancien Régime in ein Nouveau Régime gelangen lassen – wobei von Klima und Regierung im weitesten Sinne die Rede sein soll, in dem Sinn, den die Geographiehistoriker nur noch innerhalb der seit langem aus der Mode gekommenen »Klimatheorie« Montesquieus benutzten. Plötzlich schwant allen, daß ein anderer Geist der Gesetze der Natur im Entstehen begriffen ist und daß wir beginnen müssen, ihn niederzuschreiben, wenn wir die von jenem Neuen Regime entfesselten Gewalten überleben wollen. Unser Werk versteht sich als Beitrag zu dieser kollektiven Unternehmung.

Gaia wird hier als Anlaß einer Rückkehr zur Erde aufgefaßt, einer Rückkehr, die es ermöglicht, den endlich bescheidener und irdischer definierten Wissenschaften, Politiken und Religionen eine differenziertere Version ihrer spezifischen Qualitäten abzuverlangen als bisher. Die Vorträge sind paarweise angeordnet: Die beiden ersten betreffen den Begriff der Wirkungsmacht (im Englischen agency), einen unerläßlichen Operator für den Austausch zwischen bisher streng unterschiedenen Domänen und Disziplinen; die beiden folgenden führen die Hauptpersonen ein: zuerst Gaia, dann Anthropozän; die Vorträge fünf und sechs definieren die Völker, die um die Besetzung der Erde kämpfen, und die Epoche, in der 18sie sich befinden; die beiden letzten erforschen das geopolitische Problem der im Kampf begriffenen Territorien.

Die Leserschaft eines Buchs ist noch schwieriger einzukreisen als ein Vortragspublikum, aber da wir nun einmal in einer geologisch und menschlich zugleich geprägten Geschichtsepoche angelangt sind, möchte ich mich an Leser mit kombinierten Kompetenzen wenden. Ohne die Naturwissenschaften ist es unmöglich zu verstehen, was mit uns geschieht; sie haben uns als erste alarmiert, aber anhand des Bildes, das die alte Epistemologie von ihnen entwarf, sind sie nicht zu verstehen. Die Naturwissenschaften sind inzwischen so untrennbar mit der gesamten Kultur verbunden, daß es zu ihrem Verständnis der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften bedarf. Einem hybriden Thema gebührt ein hybrider Stil, der sich an ein zwangsläufig ebenfalls hybrides Publikum wendet.

Hybrid ist, wie Sie sich denken können, auch die Entstehung eines solchen Buchs. Wie alle Forscher bin ich gezwungen, auf englisch zu schreiben, um gelesen zu werden. In dieser Sprache wurden die sechs Gifford-Vorträge verfaßt, die ich im Februar 2013 in Edinburgh hielt; zusammen mit einem weiteren Vortrag von 2013 wurden sie von Franck Lemonde ins Französische übersetzt.[7] Aber anschließend ist das eingetreten, was Übersetzern passieren kann, wenn sie das Pech haben, in die Muttersprache eines Autors zu übersetzen, und was sie am meisten verabscheuen: Ich habe den Text völlig überarbeitet, um zwei neue Kapitel erweitert und derart umgeschrieben, daß ein ganz neuer Text entstanden ist (den ich nun wiederum für die englische Veröffentlichung übersetzen las19sen muß …). Ich bitte meinen Übersetzer tausendmal um Entschuldigung.

Autoren können sich mit der Illusion schmeicheln, daß ihre Leser von Anfang bis Ende des Buchs dieselben bleiben und von Kapitel zu Kapitel dazulernen. Für den Vortragenden, der sich jedesmal an ein partiell anderes Publikum wenden muß, gilt das nicht. Daher kann jeder der acht Vorträge für sich gelesen werden und alle in beliebiger Reihenfolge – was spezielle Ausführungen angeht, so habe ich sie in die Anmerkungen verwiesen.

Ich bin mehr Personen zu Dank verpflichtet, als ich nennen kann. In den bibliographischen Verweisen versuche ich, meine Dankesschuld abzutragen.

Es wäre jedoch ungerecht, nicht die Mitglieder des Gifford-Vortragskomitees an erster Stelle zu erwähnen, die mir ermöglicht haben, das Thema »natürliche Religion« aufzugreifen – nicht zu vergessen das Publikum, das sich im Februar 2013 an diesen sechs wundervollen, sonnigen Tagen im Santa-Cecilia-Saal in Edinburgh einfand.

Isabelle Stengers verdanke ich, daß sie mein Interesse für das Eindringen Gaias geweckt hat, und ich habe versucht, mich von der unmöglichen Gestalt Gaia zu befreien, indem ich wie üblich Simon Schaffer um Hilfe bat und meine Ängste Clive Hamilton, Dipesh Chakrabarty, Deborah Danowski, Eduardo Viveiros de Castro, Donna Haraway, Bronislaw Szerszynski und vielen anderen Kollegen mitteilte.

Ganz besonders jedoch möchte ich Jérôme Gaillardet und Jan Zalasiewicz danken, die mir bestätigten, daß die Natur- und die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften seit dem 20Anthropozän durchaus einen gemeinsamen Boden haben oder sogar eine kritische Zone teilen, die uns alle verbindet.

Den Studenten, die im Mai 2015 im Amandiers[8] das Théâtre des négociations konzipiert und aufgeführt haben, den Veranstaltern der Ausstellung Anthropocène Monument in Les Abattoirs[9] in Toulouse im Oktober 2014 sowie den Teilnehmern der Vorlesung »Politische Naturphilosophie« verdanke ich selbstverständlich viel mehr, als sie sich vorstellen.

Schließlich möchte ich mich bei Philippe Pignarre bedanken, der mich so lange schon als Verleger begleitet. Ich glaube nicht, daß er je ein Buch herausgebracht hat, das derart unmittelbar mit dem Namen seiner Reihe Les Empêcheurs de penser en rond zu tun hat, denn im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Auffassung ist Gaia keineswegs global, keine runde Sache; unzweifelhaft ist sie eine Angelegenheit für Menschen, die sich nicht im Kreis drehen wollen.21

[1] Bruno Latour, Kosmokoloss (2013), ein Hörspiel des Bayerischen Rundfunks. Dieses Hörspiel wie auch die Mehrzahl meiner in diesem Buch erwähnten Artikel können in ihrer vorläufigen oder endgültigen Fassung abgerufen werden auf der Website www.bruno-latour.fr.

[2] Die Szene wurde am 12. Februar 2013 getanzt und von Jonathan Michel gefilmt; siehe 〈www.vimeo.com/60064456〉.

[3] Die gemeinsam mit den Regisseurinnen Chloé Latour und Frédérique Ait-Touati, den Schauspielerinnen und Schauspielern Claire Astruc, Jade Collinet, Mathieu Protin und Luigi Cerri und dem Autor Pierre Daubigny seit Ostern 2010 durchgeführte Arbeit führte zu einer Aufführung in Toulouse (im Rahmen des Festivals Novela) im Oktober 2013 und an der Comédie de Reims im Dezember desselben Jahres, französische und internationale Tourneen folgten.

[4] Die sechs Vorträge sind auf der Webseite der Gifford Lectureships der Universität Edinburgh zugänglich. Zur Geschichte dieser Vorträge und des in französischen Augen recht enigmatischen Gebiets der »natürlichen Religion« vgl. Larry Witham, The Measure of God (2005).

[5] Bruno Latour, Existenzweisen – Eine Anthropologie der Modernen (2014).

[6] Dieser Ausdruck geht zurück auf einen von Stefan Aykut und Amy Dahan in Gouverner le climat? 20 ans de négociations internationales (2015) eingeführten Begriff, der den sehr eigentümlichen und ihnen zufolge wenig effizienten Versuch bezeichnet, »das Klima zu steuern«, als ob CO2 ein weiterer Fall von Umweltverschmutzung sei. Das leider noch nicht ins Deutsche übersetzte Buch spielt im vorliegenden Buch eine wichtige Rolle.

[7] Dieser Vortrag trug den Titel »Agency at the time of the Anthropocene« (2014); er wurde teilweise in den zweiten Vortrag übernommen.

[8] <Das Théatre des Amandiers in Nanterre ist eine der wichtigsten Experimentierbühnen im Pariser Raum.>

[9] <Museum für moderne und zeitgenössische Kunst.>

ERSTER VORTRAG

Über die Instabilität (des Begriffs) der Natur

Die Beziehung zur Welt mutiert • Vier Arten, sich von der Ökologie verrückt machen zu lassen • Die Instabilität des Verhältnisses Natur/Kultur • Die Berufung auf die menschliche Natur • Der Rekurs auf die »natürliche Welt« • Die Pseudo-Kontroverse über das Klima leistet uns einen großen Dienst • »Sagt Euren Herren, daß die Wissenschaftler auf dem Kriegspfad sind!« • Wo versucht wird, von der »Natur« zur Welt überzuwechseln • Wie der Herausforderung zu begegnen ist

Es hört nicht mehr auf, jeden Tag geht es von vorne los. An einem Tag ist es der Anstieg der Gewässer; am nächsten das Unfruchtbarwerden der Böden; abends geht es um das beschleunigte Verschwinden des Packeises; in den Fernsehnachrichten erfahren wir zwischen zwei Kriegsverbrechen, daß Tausende von Arten verschwinden, noch bevor sie ordnungsgemäß registriert werden konnten; jeden Monat liegen die CO2-Werte in der Atmosphäre noch höher als die Arbeitslosenzahlen; jedes Jahr erfahren wir, daß es das wärmste seit dem Beginn regelmäßiger Messungen ist; der Meeresspiegel steigt unaufhörlich; die Frühjahrsstürme bedrohen die Küstenregionen immer stärker; der Ozean erweist sich bei jeder Untersuchung als saurer. In den Zeitungen heißt es: Wir leben in der Epoche einer »ökologischen Krise«.

Von »Krise« zu sprechen heißt aber leider, sich mit der Auskunft zu beruhigen, daß »sie vorübergeht«, daß wir sie »bald 22hinter uns haben«. Wenn es doch nur eine Krise wäre! Wenn es doch nur eine Krise gewesen wäre! Den Experten zufolge handelt es sich aber um eine »Mutation«: Wir hatten uns an eine Welt gewöhnt; wir gehen in eine andere über, wir mutieren. Was das Beiwort »ökologisch« angeht, so wird es ebenfalls allzuoft eingesetzt, um sich zu beruhigen, um sich die Störungen vom Leib zu halten, mit denen man uns droht: »Ach, wissen Sie, was Sie uns von ökologischen Problemen erzählen, das betrifft uns nicht!« Ganz wie im vergangenen Jahrhundert, wenn man von »Umwelt« sprach und damit Lebewesen der Natur meinte, die wir von fern, durch eine Glaswand beobachteten. Aber heute sind wir alle – sagen uns die Experten – von innen heraus, im Innersten unserer wertvollen kleinen Existenzen durch die Meldungen betroffen, die uns im Alarmton darüber aufklären, was wir essen und trinken sollen, wie wir den Boden nutzen, uns fortbewegen, uns kleiden sollen. Da eine schlechte Nachricht die andere jagt, müßten wir eigentlich das Gefühl haben, von einer schlichten ökologischen Krise in etwas gerutscht zu sein, was eher als tiefe Mutation unserer Beziehung zur Welt zu bezeichnen wäre.

Und doch trifft dies sicherlich nicht zu. Das zeigt sich daran, daß wir alle diese Nachrichten erstaunlich gefaßt, ja mit geradezu bewundernswertem Stoizismus zur Kenntnis nehmen … Wenn es sich wirklich um eine tiefgreifende Mutation handeln würde, wären wir alle längst dabei, die Grundlagen unserer Existenz radikal zu ändern. Wir hätten begonnen, unsere Ernährung, unser Wohnen, unsere Verkehrsmittel, unsere Kulturtechniken, kurz: unsere Produktionsweise umzustellen. Bei jedem Verstummen der Alarmsirenen wären wir aus unseren Unterkünften gestürzt und hätten uns neue Techniken ausgedacht, um der Bedrohung zu begegnen. Die Bewohner der reichen Länder wären genauso erfindungsreich gewe23sen wie zur Zeit der vergangenen Kriege und hätten wie im 20. Jahrhundert innerhalb von vier oder fünf Jahren durch einen massiven Wandel ihrer Lebensweise das Problem gelöst. Dank ihrer energischen Maßnahmen würde die in der Beobachtungsstation Mauna Loa auf Hawaii gemessene CO2-Menge bereits beginnen, sich zu stabilisieren;[1] gut bewässerte Böden würden von Regenwürmern wimmeln und die mit Plankton gesättigten Meere wären erneut fischreich; sogar die arktischen Eismassen hätten womöglich ihr Abschmelzen verlangsamt (sofern sie nicht schon für Jahrtausende in einem irreversiblen Übergang zu einem anderen Aggregatzustand begriffen sind).[2]

Seit drei Jahrzehnten hätten wir jedenfalls bereits gehandelt. Die Krise wäre schon vorüber. Mit dem Stolz derer, die fast dem »großen ökologischen Krieg« zum Opfer gefallen wären, in dem sie infolge der Schnelligkeit ihrer Reaktionen und der totalen Mobilisierung ihrer Fähigkeiten aber doch noch die Oberhand behielten, würden wir auf diese Epoche zurückblicken. Vielleicht würden wir unsere Enkel bereits in Museen begleiten, die diesem Kampf gewidmet wären, in der Hoffnung, daß sie von unseren Fortschritten ebenso verblüfft wären, wie sie es heute sind, wenn sie sehen, wie der Krieg von 1940 das Manhattan-Projekt, die Einsatzfähigkeit von Penicillin und die überwältigenden Fortschritte der Radartechnik oder des Flugverkehrs Wirklichkeit werden ließ.

Was nur eine vorübergehende Krise hätte sein können, hat 24sich jedoch zu einer gründlichen Alteration unseres Verhältnisses zur Welt entwickelt. Allem Anschein nach haben wir uns als diejenigen entpuppt, die vor dreißig oder vierzig Jahren hätten handeln können – und die nichts getan haben oder fast nichts.[3] Seltsam: Wir haben eine ganze Reihe von Schwellen überwunden, haben einen totalen Krieg überstanden – und jetzt haben wir beinahe nichts wahrgenommen! So daß wir von einem gewaltigen Geschehen auf die Knie gezwungen werden, das sich jetzt hinter unserem Rücken auftürmt, ohne daß wir es wirklich bemerkt, ohne daß wir uns dagegen ins Zeug gelegt hätten. Stellen wir uns das einmal vor: Versteckt vor der Unzahl an Weltkriegen, Kolonialkriegen, nuklearen Bedrohungen hätte es im 20. Jahrhundert – diesem »klassischen Jahrhundert des Kriegs« – einen anderen, ebenso globalen, ebenso totalen, ebenso kolonialen Krieg gegeben, den wir durchlebt hätten, ohne es zu realisieren. Während wir uns noch sehr zögerlich daranmachen, uns für die »künftigen Generationen« (wie man vor kurzem noch sagte) zu interessieren, hätten die vergangenen Generationen schon alles verdorben! Irgend etwas wäre geschehen, was uns nun nicht mehr bevorstünde wie eine heranrückende Gefahr, sondern hinter den Lebenden läge. Müßten wir uns nicht ein bißchen schämen darüber, eine Lage unumkehrbar gemacht zu haben, weil wir uns wie Schlafwandler benommen haben, während die Alarmglocken schrillten?

Denn an Alarmsignalen hat es nicht gefehlt. Die Sirenen hörten gar nicht mehr auf zu heulen. Das Bewußtsein vom 25ökologischen Desaster ist nicht neu, es ist lebhaft, ist begründet; seit dem Beginn dessen, was wir »Industriezeitalter« oder »technische Zivilisation« nennen, verfügt es über Belege, Beweise. Man kann nicht sagen, man habe nicht gewußt.[4] Aber es gibt viele Arten und Weisen, gleichzeitig zu wissen und nicht zu wissen. Wenn es sich darum handelt, auf uns selbst, auf unser Überleben, auf das Wohlbefinden unserer Lieben zu achten, neigen wir nur allzusehr dazu, auf Nummer sicher zu gehen: Beim kleinsten Schnupfen unserer Kinder suchen wir den Kinderarzt auf; bei der geringsten Gefahr für unsere Pflanzen greifen wir zu Insektiziden; bei der winzigsten Befürchtung hinsichtlich unseres Eigentums schließen wir Versicherungen ab, schaffen wir uns Überwachungskameras an; um uns gegen eine Invasion zu schützen, rüsten wir umgehend an der Grenze auf. Das berühmt-berüchtigte Vorsorgeprinzip wenden wir großzügig an, sobald es sich darum handelt, unsere Umgebung und unsere Güter zu schützen, selbst wenn wir uns des Befundes nicht so sicher sind und die Experten sich über die Ausmaße der Gefahr in den Haaren liegen.[5] Für die gegenwärtige globale Krise jedoch beruft sich niemand auf dieses Prinzip, um sich mutig ans Werk zu machen. Diesmal hat die überaus alte, bedenkliche, überängstliche 26Menschheit, die sich für gewöhnlich nur tastend voranbewegt, wie ein Blinder jedes Hindernis mit einem weißen Stock abtastet, sich auf jede Spur von Risiko sorgfältig einstellt, sich bei jedem Anzeichen von Widerstand zurückzieht, voranprescht, sobald der Horizont sich aufhellt, und erneut innehält, sobald sich ein neues Hindernis zeigt – diese Menschheit hat all das völlig kaltgelassen. Keine ihrer alten bäuerlichen, bürgerlichen, handwerklichen, proletarischen, politischen Tugenden scheint hier in Kurs zu stehen. Die Alarmglocken haben geläutet, und man hat sie eine nach der anderen abgestellt. Man hat die Augen geöffnet, man hat gesehen, man hat gewußt, man ist mit fest geschlossenen Augen weitergestürmt.[6] Wenn wir uns bei der Lektüre von Christopher Clarks Die Schlafwandler wundern, daß Europa sich im August 1914 in vollem Bewußtsein der Lage in den Weltkrieg stürzt:[7] Wie sollen wir uns dann nachträglich nicht darüber wundern, mit welch präziser Kenntnis der Ursachen und Auswirkungen sich Europa (und alle, die ihm seither nachgefolgt sind) in diesen anderen Weltkrieg gestürzt hat, von dem wir verblüfft erfahren, daß er stattgefunden hat – und daß wir ihn wahrscheinlich verloren haben?

27»Eine Beeinträchtigung der Beziehung zur Welt«: so lautet die wissenschaftliche Definition von Wahn. Die ökologischen Mutationen bleiben unverständlich, wenn man nicht ermißt, in welchem Ausmaß sie uns alle wahnsinnig machen. Selbst wenn sie es auf unterschiedliche Weise tun!

Ein Teil der Öffentlichkeit – Intellektuelle, Journalisten, manchmal mit Unterstützung von Experten – spinnt sich allmählich immer tiefer in eine Parallelwelt ein, in der es weder eine in Bewegung geratene Natur gibt noch eine ernsthafte Bedrohung. Diese Menschen bewahren ihre Ruhe, weil sie sicher sind, daß die Daten der Wissenschaftler von dunklen Kräften verfälscht oder jedenfalls derart übertrieben worden sind, daß wir dem, was sie »Katastrophenstimmung« nennen, mutig entgegentreten und lernen sollten, »vernünftig zu bleiben« und weiterzuleben wie zuvor, ohne uns allzu große Sorgen zu machen. Dieser Leugnungswahn tritt bisweilen in fanatischer Form auf, zum Beispiel bei den sogenannten »Klimaskeptikern«, auch »Klimanegationisten« genannt, die in unterschiedlichem Ausmaß Verschwörungstheorien huldigen und – wie viele amerikanische Politiker – in der Ökologiefrage einen Versuch sehen, auf Umwegen in den Vereinigten Staaten den Sozialismus einzuführen![8] In einer milden Form, die man in Anlehnung an jene religiöse Tradition, deren Anhänger ihr Heil in Gottes Hände legten, als quietistisch bezeichnen könnte, ist dieser Wahn allerdings über den ganzen Erdball verbreitet. Die Klimaquietisten leben wie die anderen in einer Parallelwelt, aber da sie alle Alarmanlagen abgeschaltet 28haben, kann keine noch so schrille Ankündigung sie dazu bringen, sich vom weichen Kissen ihres Zweifels zu erheben: »Wir werden ja sehen. Das Klima hat sich immer geändert. Die Menschheit ist immer damit fertig geworden. Wir haben reichlich andere Sorgen. Worauf es ankommt, ist, abzuwarten und sich vor allem nicht verrückt machen zu lassen.« Ein seltsamer Befund: Sie sind dem Wahn verfallen, weil sie die Ruhe behalten! Manche zögern auch nicht, mitten in einer politischen Versammlung das Versprechen aus dem Buch Genesis zu zitieren, das Gott nach der Sintflut Noah gab: »Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe.«[9] Diese Garantie ist derart gediegen, daß man natürlich unrecht hätte, sich zu beunruhigen.

Andere – glücklicherweise sind sie nicht so zahlreich – haben zwar die Alarmsirenen gehört, reagieren aber derart panisch darauf, daß sie sich in eine neue Raserei stürzen. »Da die Bedrohungen so schwerwiegend sind und die Transformationen, die wir dem Planeten zugefügt haben, derart tiefgreifend, nehmen wir uns doch« – dies ihr Vorschlag – »das ganze Erdsystem vor, diese riesige Maschine, die nur deswegen gestört ist, weil wir sie nicht vollständig genug kontrolliert haben.« Und sie lassen sich von einer neuen Aufwallung der Lust an totaler Beherrschung einer Natur packen, die immer 29noch als widerspenstig und wild gilt. In diesem großen Delirium, das sie bescheiden als Geo-Engineering bezeichnen, wollen sie es mit der ganzen Erde aufnehmen.[10] Um sich von den Albträumen der Vergangenheit zu kurieren, streben sie danach, die Dosis an Größenwahn noch zu steigern, die für das Überleben in dieser Klinik für Patienten mit schwachen Nerven, zu der die Welt geworden sein soll, unerläßlich ist. Hat die Modernisierung uns in eine Sackgasse geführt? Dann laßt uns noch entschiedener modern werden! Wenn man die Phlegmatiker aus ihrem Schlummer rütteln muß, dann muß man diesen Größenwahnsinnigen eine Zwangsjacke anlegen, damit sie nicht allzuviel Unsinn anrichten.[11]

Unter welchen Bezeichnungen ließen sich die Varianten der Depression erfassen, unter denen die allzu vielen leiden, die die Transformationen der Erde sorgfältig beobachten und entschieden haben, daß wir sie weder ignorieren noch ihnen abhelfen können? Trauer, Trübsinn, Melancholie, Neurasthenie? Ja, sie sind mutlos geworden, ihre Kehle fühlt sich an wie zugeschnürt; kaum noch raffen sie sich auf, eine Zeitung zu lesen; nur die Wut darüber, daß andere noch verrückter sind als sie, reißt sie manchmal aus ihrer Erstarrung. Aber danach versinken sie wieder unter einer Lawine von Antidepressiva.

Am verrücktesten sind vermutlich die, die zu glauben scheinen, daß sie trotz allem etwas tun können, daß es nicht zu spät ist, daß die Regeln gemeinsamen Handelns auch in diesem Fall gewiß funktionieren werden; daß man auch angesichts 30von Bedrohungen dieses Ausmaßes und in völliger Kenntnis der Sachlage im Rahmen der bestehenden Institutionen rational handeln sollte.[12] Aber sie leiden vermutlich am bipolaren Syndrom, sind in der manischen Phase von Energie erfüllt und versinken dann wieder so tief in der Depression, dass sie die Lust überwältigt, sich aus dem Fenster zu werfen – oder ihre Gegner.

Gibt es irgend jemanden, der sich diesen Symptomen zu entziehen vermag? Ja, aber glauben Sie doch nicht, daß diese Leute geistig gesund wären! Wahrscheinlich handelt es sich um ein paar Künstler, Eremiten, Gärtner, Forscher, Aktivisten oder Naturwissenschaftler, die in fast vollständiger Isolation nach anderen Mitteln suchen, der Angst zu widerstehen: »Esperados«, wie Romain Gary sie so hübsch nannte.[13] (Sofern sie nicht wie ich ihre Angst dann loswerden, wenn sie Mittel und Wege finden, sie anderen zu inokulieren.)

Kein Zweifel, die Ökologie macht wahnsinnig. Davon ist auszugehen – nicht um sich zu heilen, sondern nur um überleben zu lernen, ohne sich vom Leugnen, von der Hybris, von der Depression, von der Hoffnung auf eine vernünftige Lösung oder von der Flucht in die Wüste anstecken zu lassen. Die Zugehörigkeit zur Welt ist nicht heilbar. Aber wenn man sich Mühe gibt, kann man sich vom Glauben heilen, daß 31man nicht dazugehört; daß das nicht das wesentliche Problem ist; daß, was mit der Welt geschieht, uns nichts angeht. Die Zeit ist vorbei, in der man hoffen konnte, damit »zurechtzukommen«. Wohl stecken wir in einem Tunnel, aber an seinem Ende winkt uns kein Licht. In diesen Dingen ist die Hoffnung der schlechteste Ratgeber, denn wir befinden uns nicht in einer Krise. Das wird nicht »vorübergehen«, daran werden wir uns gewöhnen müssen. Das ist definitiv.

Was infolgedessen not tut, ist die Entdeckung eines Behandlungsplans – allerdings ohne den Anspruch auf allzu rasche Heilung. In dieser Hinsicht ist ein Fortschritt nicht auszuschließen; aber ein umgekehrter Fortschritt, einer, der darin besteht, die Idee des Fortschritts zu hinterfragen, hinter ihn zurückzugehen, eine andere Empfindung für das Vergehen von Zeit zu entdecken. Statt von Hoffnung zu sprechen, müßten wir uns um eine recht subtile Weise bemühen, die Hoffnung zu verlieren; was nicht heißt: in Verzweiflung zu geraten, sondern, nicht mehr darauf zu setzen, daß die bloße Hoffnung mechanisch alles richten werde.[14] Hoffen, nicht mehr auf Hoffnung zu bauen? Nun, das klingt nicht sehr ermutigend.

Wenn schon keine Hoffnung besteht, gründlich geheilt zu werden, ließe sich wenigstens der Gegensatz zwischen den 32Übeln ausnutzen. Letztlich wäre ja auch das eine Behandlungsform: »lernen, mit seinen Schmerzen klarzukommen«, oder ganz einfach, »klarzukommen«. Wenn die Ökologie wahnsinnig macht, dann deswegen, weil sie wirklich eine Alterierung der alterierten Beziehungen zur Welt ist. Und in diesem Sinn ist sie ein neuer Wahn und gleichzeitig eine neue Weise, die früheren Tollheiten zu bekämpfen! Es gibt keine andere Lösung für eine Behandlung ohne Hoffnung auf Heilung: Wir müssen in die Tiefe unserer Verlassenheit hinabsteigen, in der wir uns allesamt befinden, wie nuanciert auch immer unsere Ängste sein mögen.[15]

Schon dieser Ausdruck »Beziehung zur Welt« zeigt, in welchem Ausmaß wir gewissermaßen entfremdet sind. Oft wird uns die ökologische Krise dargestellt als die immer zu erneuernde Entdeckung, daß »der Mensch zur Natur gehört«. Eine scheinbar ganz einfache und doch im Grunde sehr obskure Formulierung. Sind damit Menschen gemeint, die endlich verstehen sollen, daß sie einer »natürlichen Welt« zugehören, an die sich anzupassen sie lernen müßten? Anscheinend kommt das Problem eher von dem Wort »Zugehörigkeit«. In der westlichen Tradition unterstreichen die meisten Definitionen des Menschen nämlich, wie sehr er sich von der Natur unterscheidet. Das wird meistens gemeint, wenn von »Kultur«, »Gesellschaft« oder »Zivilisation« die Rede ist. Infolgedessen begegnet man jedesmal, wenn man »den Men33schen der Natur annähern« will, dem Einwand, daß der Mensch vor allem oder doch ebensosehr ein kulturelles Wesen sei, das sich der Natur zu entziehen oder zumindest sich von ihr zu unterscheiden habe.[16] Folglich wird man nie genug darauf insistieren können, »daß er dazugehört«. Übrigens gilt er dann, wenn er wirklich natürlich und nur natürlich ist, gern als etwas, was überhaupt kein Mensch mehr ist, sondern bloß ein »materielles Ding« oder ein »reines Tier« (um noch unbestimmtere Ausdrücke zu verwenden).

Verständlich daher, daß jede Definition der ökologischen Krise als »Rückkehr des Menschen zur Natur« umgehend eine Art Panik auslöst, weiß man doch nie, ob von uns verlangt wird, daß wir zu einer rein animalischen Existenz zurückkehren oder daß wir zum wahren menschlichen Dasein zurückfinden sollen. »Aber ich bin kein Naturwesen! Ich bin vor allem ein kulturelles Wesen.« – »Abgesehen davon, daß Sie zunächst einmal doch gewiß ein natürliches Wesen sind, wie konnten Sie das vergessen?« Tatsächlich, zum Wahnsinnigwerden. Ganz zu schweigen vom »Zurück zur Natur« im Sinne von »Zurück ins Zeitalter der Höhlen« mit ihrem trostlosen Beleuchtungssystem, das jedem etwas zänkischen Mo34dernisten sofort als Argument zur Hand ist, wenn er einem etwas konsequenten Umweltschützer begegnet: »Wenn es nach Ihnen ginge, würden wir noch immer bei Kerzenlicht dasitzen!«

Die Schwierigkeit liegt bereits in dem Ausdruck »Beziehung zur Welt«, der zwei Bereiche voraussetzt, Natur und Kultur – Bereiche, die sowohl deutlich unterschieden als auch nicht völlig voneinander zu trennen sind. Versuchen Sie nicht, lediglich die »Natur« zu definieren, denn dann müssen Sie auch das Wort »Kultur« definieren (der Mensch ist das Wesen, das sich der Natur entzieht – von Herzen, mit Schmerzen … ); versuchen Sie nicht, lediglich die »Kultur« zu definieren, denn dann werden Sie sogleich auch das Wort »Natur« definieren müssen (der Mensch ist ein Wesen, das sich den Zwängen der Natur nicht ganz entziehen kann). Was heißt, daß wir es nicht mit Bereichen zu tun haben, sondern mit ein und demselben Konzept – einem Konzept, das in zwei Teile zerfällt, die sozusagen ein starkes Gummiband miteinander verbindet. In der westlichen Tradition kann man nie von dem einen Teil sprechen, ohne den anderen zu erwähnen: Es gibt keine andere Definition der Natur als diese Definition der Kultur und keine andere Kultur als diese Definition der Natur. Sie sind gemeinsam entstanden, unzertrennlich wie siamesische Zwillinge, die einander streicheln und Faustschläge versetzen und doch miteinander verwachsen sind.[17]

Da dieser Punkt wesentlich für das Folgende, aber immer noch schwer zu begreifen ist, muß ich mich ihm auf Umwe35gen nähern.[18] Sie erinnern sich gewiß jener nicht so fernen Epoche vor der feministischen Revolution, als man noch von »homme« (Mann) sprach, wenn man jedweden ohne Unterschied meinte, während das Wort »femme« (Frau) zwangsläufig spezifischer verwendet wurde, nämlich ausschließlich für Angehörige der Gruppe, die damals auch als »schwaches Geschlecht« oder »das andere Geschlecht« bezeichnet wurde. In der Sprache der Anthropologen stellt das Wort »homme« hier eine nichtkodierte Kategorie dar, etwas Unproblematisches, Unauffälliges, während das Wort »femme« die Aufmerksamkeit auf einen spezifischen Aspekt lenkt, auf das Geschlecht der Person, von der die Rede ist; und dieser Aspekt macht aus »femme« eine kodierte Kategorie, die sich von der nichtkodierten als ihrem Hintergrund ablöst. Daher die Bemühungen, »homme« durch »humain« (Menschenwesen) zu ersetzen, einen Begriff, der beide Hälften der Menschheit umfaßt und sowohl Frau als Mann bezeichnet – jeden von ihnen mit seinem biologischen oder jedenfalls sozialen Geschlecht, das beide gewissermaßen gleich unterscheidet.[19]

Wir würden in diesen Fragen weiterkommen, wenn wir Natur/Kultur in exakt analoger Weise verlagern könnten, so daß »Natur« aufhört, so zu klingen, als sei das eine nichtkodierte Kategorie. (Die beiden Begriffspaare sind übrigens historisch miteinander verbunden, aber seitenverkehrt, da die Frau oft der Natur zugeordnet wird und der Mann der Kultur.)[20] Ich 36möchte daher einen Ort ins Leben rufen – für den Augenblick auf begrifflicher Ebene, aber später versuchen wir, ihn zu instituieren[21] –, der es ermöglicht, Kultur und Natur als gleichermaßen kodierte Kategorien zu definieren. Wenn Sie sich an den Scharfsinn erinnern, der aufgeboten wurde, um dem sexistischen Sprachgebrauch abzuhelfen, wird es Ihnen einleuchten, daß es recht praktisch wäre, etwas Äquivalentes für die Verbindung zwischen Natur und Kultur zu finden. Da es in diesem Fall aber leider keinen eingeführten Begriff gibt, der die Rolle des Wortes »humain« übernehmen könnte, möchte ich Ihnen den typographischen Behelf Natur/Kultur vorschlagen, um so die entsprechende Umstellung der Aufmerksamkeit zu erreichen. Damit vermeiden wir nämlich, die Natur als etwas universell Selbstverständliches zu behandeln, von dem die kodierte Kategorie Kultur sich abhebt, ganz wie der Einsatz von »er/sie« vermeiden hilft, daß das männliche Geschlecht als universelles aufgefaßt wird.[22]

Nehmen wir einen anderen Vergleich, diesmal aus der Kunstgeschichte; er ist noch stärker mit unserer Wahrneh37mung der Natur verbunden. Man kennt die höchst seltsame Gewohnheit der abendländischen Malerei seit dem 15. Jahrhundert, den Blick des Betrachters so zu lenken, daß er zum Pendant eines aus Gegenständen und Landschaften bestehenden Schauspiels wird.[23] Der Betrachter muß nicht nur einen bestimmten Abstand zu dem einhalten, was er sich anschaut; was er sieht, muß vielmehr, um vollkommen sichtbar zu sein, arrangiert, zubereitet, aufgebaut, aneinandergereiht werden. Zwischen ihnen steht die Bildfläche; sie nimmt die Mitte zwischen Subjekt und Objekt ein. Über die Seltsamkeit dieses skopischen Regimes und die dem betrachtenden Subjekt dabei zufallende Position haben die Historiker intensiv nachgedacht.[24] Aber die symmetrisch entsprechende Sonderbarkeit, die dem Gegenstand die höchst merkwürdige Rolle zuweist, nur dazusein, um von einem Subjekt angeschaut zu werden, hat noch nicht genug Aufmerksamkeit gefunden. Jemand, der sich zum Beispiel ein Stilleben ansieht – die französische Bezeichnung nature morte ist aufschlußreich –, wird dazu formatiert, das Subjekt dieses Typs von Objekten zu werden, während diese Objekte – beispielsweise Austern, Zitro38nen, Kapaune, Schalen, goldglänzende Weintrauben auf einer drapierten weißen Tischdecke – keine andere Rolle haben als die, diesem besonderen Typus von Blick ausgesetzt zu sein.

In diesem Fall ist ganz deutlich zu erkennen, daß es absurd wäre, das schauende Subjekt für eine historische Besonderheit zu halten, den Gegenstand seines Blicks jedoch – eine nature morte! – für etwas Natürliches oder Selbstverständliches. Man kann sie nicht voneinander trennen oder getrennt kritisieren. Was die abendländische Malerei erfunden hat, ist ein Begriffspaar, dessen beide Bestandteile gleich seltsam, um nicht zu sagen exotisch, sind und von dem sich in keiner anderen Zivilisation eine Spur findet: das Objekt für dieses Subjekt, das Subjekt für dieses Objekt. Damit ist bewiesen, daß es einen Operator gibt, daß eine Operation vollzogen wurde, die Objekt und Subjekt aufteilt, genau wie es ein gemeinsames Konzept gibt, das die jeweiligen Rollen von Natur/Kultur verteilt, wobei dieses Konzept dieselbe Position einnimmt wie »Menschenwesen« gegenüber den kodierten Kategorien »Mann« und »Frau«.

Um die Präsenz dieses Operators weniger abstrakt zu belassen, habe ich einen Künstler gebeten, sie zu zeichnen.[25] Er entschied sich dafür, einen Architekten – und zwar Le Corbusier! – an die selbstverständlich virtuelle Position zu rücken, von der aus jemand auf der Leinwand die beiden gleich unna39türlichen Positionen von Objekt und Subjekt einander symmetrisch zuordnen würde. Die Rolle des Betrachters, von dem angenommen wird, daß er sich auf okzidentale Weise ein Bild anschaut, ist derart unwahrscheinlich, daß der Künstler ihn in Gestalt eines Stativs dargestellt hat, an dem ein einziges, riesiges Auge sitzt.[26] Es wird jedoch zu wenig beachtet, daß das Objekt, das Pendant dieses Auges, ebenso unwahrscheinlich ist. Um eine nature morte herzustellen, muß man sie vorher gewissermaßen töten oder zumindest ihre Bewegung unterbrechen – daher die Striche, die die Bewegung eines Gegenstandes nachzeichnen, wenn der Operator nur einen Moment fixiert (zu Recht spricht man davon, daß je40mand in einer laufenden Vorführung »den Film anhält« – besser vielleicht: das Bild).[27] Mit geringer Übertreibung ließe sich sagen, daß es nicht mehr Objekte auf der Welt gibt als dämlich Cheese! grinsende Menschen vor dem Fotoapparat.

Abb. 1.1 © Samuel Garcia Perez

Dieses Schema hilft, wie ich hoffe, zu verstehen, warum es völlig sinnlos wäre, Subjekt und Objekt miteinander »versöhnen« oder sie »überwinden« zu wollen, ohne den (hier durch den manipulierenden Architekten dargestellten) Operator zu berücksichtigen, der die Rollen an jene seltsamen Figuren verteilt hat, von denen die einen die Natur darstellen werden (für ein Subjekt), die anderen das Bewußtsein (von diesem Objekt). Das Beispiel ist um so erhellender, als wir die Grundlage unserer Naturvorstellungen sehr weitgehend aus der Malerei beziehen. Der Manipulator existiert durchaus, es ist der Maler. Wenn man die Menschen im Westen »Naturfreunde« nennt, meint man damit, daß sie gemalte Landschaften lieben und daß Descartes sich die Welt vorstellt, als hätte Gott ein manipuliertes Stilleben auf eine Leinwand projiziert.[28]

Macht man sich diese Rollenverteilung bewußt, dann wird verständlich, daß der Ausdruck »zur Natur gehören« kaum einen Sinn hat, da die Natur ja nichts ist als ein Element innerhalb eines Komplexes von mindestens drei Begriffen, zu dem ihr Pendant, die Kultur, ebenso gehört wie derjenige, der beider Merkmale festlegt. In diesem Sinn gibt es die Natur nicht, zumindest nicht als eigene Domäne, sondern nur als die Hälfte eines durch ein einziges Konzept definierten Paars. Wir müssen 41den Gegensatz Natur/Kultur daher in den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit rücken und dürfen sie keineswegs weiterhin als eine Ressource sehen, die uns aus unseren Schwierigkeiten hilft.[29] Machen wir es uns zur Gewohnheit, »Natur« in vorsichtige Anführungszeichen zu setzen, um uns daran zu erinnern, daß es sich um eine Kodierung handelt, die zwei Kategorien gemeinsam ist. (Um von den Wesen, Entitäten, Multiplizitäten, Akteuren zu sprechen, die man bisher in die besagte »Natur« hineinzustecken versuchte, werden wir daher ein anderes Wort brauchen; ich werde es weiter unten einführen).

Wenn die Ökologie wahnsinnig macht, dann deswegen (wie wir nun wissen), weil sie uns zwingt, uns der Instabilität dieses Konzepts – gefaßt als der unmögliche Gegensatz zweier Bereiche, die tatsächlich in der wirklichen Welt existieren – voll und ganz zu stellen. Vermeiden Sie insbesondere, sich »der Natur zuzuwenden«! Genausogut könnten Sie versuchen, die Bildebene zu durchbrechen, um die im Stilleben schimmernden Austern zu essen. Was immer Sie tun, Sie stecken fest, denn Sie können nie wissen, ob Sie mit Bereichen zu tun haben oder mit dem Konzept. Und Sie sind noch schlimmer dran, wenn Sie den Anspruch erheben, Natur und Kultur miteinander »auszusöhnen« oder durch »befriedete« Beziehungen zwischen beiden ihren Gegensatz »zu überwinden«.[30]42Trotz des Titels eines zu Recht berühmten Buchs ist kein »Jenseits von Natur und Kultur« erreichbar.[31]

Aber vielleicht ist es nicht ganz unmöglich, im Diesseits der Sache näher zu kommen. Wenn wir es tatsächlich mit ein und demselben zweiteiligen Konzept zu tun haben, dann ist das der Beweis dafür, daß diese Teile durch einen gemeinsamen Kern zusammengehalten werden, der ihre Unterschiede festlegt. Wenn wir uns diesem Kern, diesem Differenzial, diesem Dispositiv, diesem Operator nähern könnten, wäre vorstellbar, wie er zu umgehen ist. Ausgehend von einer Sprache, die diesen Gegensatz benutzt, würden wir fähig, das, was wir sagen wollen, in eine andere Sprache zu übersetzen, die ihn nicht benutzt. Wir würden beginnen können, unseren Wahn zu heilen – indem wir uns einen anderen inokulieren, selbstverständlich. Ich mache mir keine Illusionen.

Dieser gemeinsame Kern beginnt sich herauszuschälen, sobald man sich Formulierungen vornimmt wie »seiner Natur gemäß handeln« oder besser noch den klassischen Ausdruck »seiner wahren Natur gemäß leben«. Es ist nicht schwierig, die normative Dimension eines solchen Ausdrucks zu erkennen, denn er beansprucht, die ganze Existenz an einem Lebensmodell auszurichten, das dazu zwingt, zwischen den falschen und den wahren Daseinsweisen zu wählen. Die normative Kraft, 43mit der man eher auf der »kulturellen« oder »gesellschaftlichen« Seite rechnen würde, wird hier jedoch deutlich der »natürlichen« Seite des Doppelkonzepts zugeordnet. Dies tritt noch deutlicher hervor, wenn von der »menschlichen Natur« die Rede ist, die man »achten lernen« oder im Gegenteil »bekämpfen lernen« müsse.

Die Berufung auf das »natürliche Recht« bringt noch unmittelbarer zum Ausdruck, daß die »Natur« als eine Gesamtheit von quasirechtlichen Regelungen aufgefaßt werden kann. In diesem Fall wird das Adjektiv »natürlich« seltsamerweise zum Synonym für »moralisch«, »legal« und »achtunggebietend«; selbstverständlich läßt sich weder sein Sinn festlegen noch sein Gebot erfüllen. Sobald irgendeine Autorität sich daranmacht, gegen »unnatürliche« Handlungen einzuschreiten, erheben sich alsbald die Proteste: In wessen Namen wagen Sie zu entscheiden, welche Verhaltensnormen »natürlich« und welche »unnatürlich« sind? Da die Moral in unseren Gesellschaften seit langem Gegenstand heftiger Kontroversen ist, wirkt jede Bemühung, ein ethisches Urteil auf die Natur zu begründen, als nahezu unverschleiert ideologisch. Die von solchen Versuchen ausgelöste Empörung zeigt recht klar, daß die »Natur« (hier in Anführungszeichen) eine moralische Kontroverse nicht beenden kann, indem sie sich auf die Natur (ohne Anführungszeichen) beruft.

Mit anderen Worten, in bezug auf solche Themen wie »Bio«-Produkte oder »hundertprozentig natürliche« Joghurts reagiert jeder von uns recht rasch konstruktivistisch – um nicht zu sagen relativistisch. Sobald man uns erklärt, ein Produkt sei »natürlich«, ist uns klar, daß man uns (schlimmstenfalls) hinters Licht führt oder (bestenfalls) eine neue Weise gefunden hat, »künstlich« zu sein. Was für Aristoteles möglich war, ist es nicht mehr für uns: die Natur kann die Polis nicht 44mehr einigen. Die moralische Aufladung des Begriffs »Natur« hat sich derart in ihr Gegenteil verkehrt, daß der nächstliegende Reflex jeder kritischen Tradition darin besteht, die Naturalisierung zu bekämpfen. Die Erklärung, daß eine bestimmte Position zu einer »natürlichen« geworden ist, genügt für den Schluß, daß sie zu bekämpfen, zu historisieren oder zumindest zu kontextualisieren ist. Und wirklich wird ein Sachverhalt, der »naturalisiert« oder »essenzialisiert« wird, fast mit Sicherheit zu einem rechtlichen Sachverhalt – ganz als habe der Common sense De-facto- und De-jure-Feststellungen praktisch miteinander verschmolzen.

Eines ist deutlich: Wenn die Ökologie darin bestünde, sich in dieser Weise auf die Natur und ihre Gesetze zu berufen, würden wir uns nicht so rasch verständigen können. In den heutigen pluralistischen Gesellschaften ist »natürlich« ein Beiwort, dessen Sinn nicht leichter zu definieren ist als der von »moralisch«, »legal« oder »achtunggebietend«. In all diesen Fällen erscheint das Thema Natur/Kultur ganz offenkundig als eine Verteilung von Rollen, Funktionen und Argumenten, die sich nicht auf eine dieser beiden Komponenten reduzieren lassen, sosehr die Benutzer solcher Ausdrücke das auch beanspruchen mögen. Je mehr Sie davon sprechen, »in den Grenzen des Natürlichen« zu bleiben, um so weniger werden Sie auf allgemeine Zustimmung stoßen.[32]

45Ganz anders steht es mit der Begriffsfamilie, die in dem Ausdruck »natürliche Welt« mit »Natur« in Verbindung gebracht wird. In diesem Fall scheint es, als könne man die beiden Seiten desselben Gegenstands tatsächlich unterscheiden und zu einer Übereinstimmung gelangen. Oder zumindest glaubte man es bis zu den ökologischen Krisen, genauer: bis das Neue Klimaregime die Berufung auf die »Natur« ebenso polemisch werden ließ wie die Berufung auf das natürliche Recht.

Auf den ersten Blick sollte die Situation dennoch eine andere sein, denn – darin scheinen sich alle einig – die »natürliche Welt« kann den Menschen nicht vorschreiben, was sie zu tun haben. Zwischen Sein und Sollen muß doch wohl ein unüberbrückbarer Abgrund klaffen? Das ist tatsächlich die Standardposition der gewöhnlichen Epistemologie, die man einnimmt, wenn man beansprucht, »sich der Natur zuzuwenden, wie sie ist«. Schluß mit den Ideologien: Die Tatsachen »sprechen für sich«, und man muß höllisch aufpassen, sie nicht moralisch aufzuladen. Ihre Beschreibung darf auf keinerlei Vorschrift hinauslaufen. Die leidenschaftslose Darstellung schlichter Verbindungen von Ursache und Wirkung darf von keinerlei Neigung getrübt sein. Die berühmte »Wertneutralität« ist hier streng gefordert. Anders als im vorhergehenden Fall definiert das »Natürliche« nicht, was Recht ist, sondern bloß, was »schlecht und recht da ist, weiter nichts«.

Natürlich braucht man nicht lange nachzudenken, um festzustellen, daß die Differenz zwischen den beiden Bedeutungen von »recht« verschwindend und die Standardposition sehr unstabil ist. Wann immer man sich in einer Auseinandersetzung auf die »natürliche Welt« beruft, bleibt die normative Dimension präsent, allerdings in subtilerer Weise, denn das Hauptgebot bestimmt gerade, daß diese »natürliche Welt« keinerlei Moral hat oder sogar, daß sie nicht erlauben dürfte, aus 46ihr eine moralische Vorschrift abzuleiten. Fürwahr ein mächtiges moralisches Gebot, das uns da lehrt, sich der Moral gänzlich zu enthalten, wenn man die Wirklichkeit dessen, was ist, voll ermessen will![33] Ebensogut könnte man Mr. Spock und den Bewohnern von Vulcan jedes Gefühl von Gut und Böse absprechen … Was das »weiter nichts« angeht, so scheint man sich damit nicht lange aufhalten zu wollen! Im Gegenteil, was für eine endlose Reihe von Argumenten kann nicht abspulen, wer die undiskutierbare Notwendigkeit dessen, was ist, gegenüber den unüberschaubaren Unsicherheiten dessen, was sein soll, in Stellung bringt!

Dies um so mehr, als die schlichte Beschreibung mit einer Gruppe äußerst einschränkender Gebote einhergeht: Man »muß« lernen, die nackten Tatsachen zu beachten; man »darf nicht« übereilt aus ihnen schließen, wie sie sich anordnen oder welche Lehren aus ihnen zu ziehen sind; vor allem »müssen« sie zunächst einmal »in voller Objektivität« erkannt werden; und wenn sie unumgänglich sind, »muß« dies eindeutig und unumstritten der Fall sein. Was vermeintlich »schlecht und recht da ist, nichts weiter«, erlegt eine ganze Menge von Verpflichtungen auf. Welch paradoxer Effekt der Berufung auf die »Natur«: eine gewaltige Bürde von Vorschriften, die alle von etwas ausgehen, das keine präskriptive Dimension haben soll.[34]

Gewöhnlich wird die Instabilität dieser normativen Dimen47sion zweiten Grades so resümiert: »[Es ist zu beachten:] Die Naturgesetze [gleichgültig, was man tut oder denkt] sind für jedermann unbestreitbar.« Würde die Formel sich selbst genügen, brauchte man die eingeklammerten Satzteile nicht: Man würde einfach feststellen, was nicht zu bestreiten ist. Aber das normative Gebot ist implizit durchaus präsent, da es jedem, der Gefahr läuft, diese Gesetze nicht zu beachten, ständig in Erinnerung gerufen wird. Dieser Bescheid, meist im Rahmen eines Streits, manchmal einer Polemik, ergeht jedesmal, wenn die nichtmoralische Existenz der »natürlichen Welt« benutzt wird, um eine kulturelle Entscheidung oder ein menschliches Verhalten zu kritisieren. Alsbald dringt die Existenz nackter, unbestreitbarer Tatsachen in die Diskussion ein, um ihr ein Ende zu setzen, und ihre normative Rolle, die diese Fakten gar nicht haben sollen, macht sich geltend – die Rolle eines unanfechtbaren Schiedsrichters, die eben von ihrer »rein natürlichen« Existenz herrührt.

Da diese schlichte Existenz den Begierden, Bedürfnissen, Träumen, Idealen, Phantasmen der Menschen derart entgegensteht, wird jedesmal, wenn Tatsachen betont werden, ein eminenter Wert geltend gemacht, auf den man angeblich mehr hält als auf alles andere: »Respektieren Sie, was ganz einfach der Fall ist, ob Sie es nun wollen oder nicht!« Die Anspielung auf die Willkür der Menschen, die man im Zaum halten »muß«, bringt die zuerst geleugnete normative Aufladung erneut ins Spiel. Weil man die immer wieder Zwietracht säenden moralischen Fragen beiseite gelassen hat, läuft es schließlich hinaus auf ein: »So ist es nun einmal, ob Sie wollen oder nicht!« Ich kommentiere hier bloß philosophisch die männliche Geste dessen, der mit der Faust auf den Tisch haut, um eine Diskussion zu beenden.[35]48

Niemals begnügt die Berufung auf die Natur sich damit, ein moralisches Gesetz zu definieren; sie dient vor allem auch dazu, die zur Ordnung zu rufen, die von ihm abweichen. In dem Begriff »Natur« steckt immer und zwangsläufig eine polemische Dimension. Die Forderung, sich an die Tatsachen zu halten, ist normativ hoch zwei. Sie begnügt sich nicht damit, den obersten moralischen Wert einzuführen; darüber hinaus beansprucht sie, das politische Ideal schlechthin zu verwirklichen: die Übereinstimmung der Geister trotz ihrer fehlenden Übereinstimmung in moralischen Fragen.[36] Verständlicherweise fällt es schwer, den Kontrast zwischen den beiden Teilen des Konzepts Natur/Kultur hier nicht von neuem auftauchen zu sehen. Die beiden Seiten des Konzepts, das wir zu umgehen suchten, sind also zugleich präsent, ganz wie in den unendlichen, immer wieder erneuerten Querelen über die Macht des »Naturrechts«. Entgegen dem Anschein ist die Berufung auf die »natürliche Welt« hier noch stärker normativ aufgeladen als im vorhergehenden Fall. In allen Fällen sind es »widernatürliche Handlungen«, die man aufzudecken versucht, aber sobald man behauptet, sie gefunden zu haben, verpflichtet die Beschuldigung, einen schlichten Tatbestand de facto in einen Sachverhalt de jure »naturalisiert« zu haben, die Kritik, zur Tat zu schreiten. Praktisch ist das de facto immer auch spürbar ein de jure.

49Seltsamerweise sind sich darüber nicht die Umweltschützer als erste klargeworden, sondern ihre erbittertsten Gegner. Ohne die ungeheuren Störmanöver der Klimaskeptiker gegen die Wissenschaften vom System Erde hätte man sich niemals darüber klarwerden können, wie instabil die Berufung auf die »natürliche Welt« geworden war. Dank dieser unnützen Fehde kommt jetzt ein Argument zu Ehren, das ursprünglich von einer kleinen Anzahl von Wissenschaftshistorikern entdeckt worden war.[37]

Seit den 1990er Jahren haben sich bekanntlich mächtige Pressure-groups daran gemacht, die »Fakten« (eine Mischung aus Modellen und immer komplexeren und zugleich immer belastbareren Messungen) in Zweifel zu ziehen, die in den Forschergemeinschaften einen Konsens über den menschlichen Ursprung der Klimaveränderungen zu stiften begannen.[38] Trotz der Philosophen wie Ethikern gleich teuren Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten erfaßten die Chefs der bedrohten Großunternehmen umgehend, was auf 50dem Spiel stand. Sie begriffen, daß die Politiker – sofern die Fakten (die CO2-Emissionen als Hauptursache der Klimaveränderungen) sich bestätigten –, getrieben von der Unruhe der Öffentlichkeit, alsbald nach Maßnahmen rufen würden. Dem scharfsinnigen Frank Luntz, der als Psychosoziologe und Rhetoriker seinesgleichen sucht – er hat auch den Ausdruck »Klimawandel« (für »globale Erwärmung«) erfunden[39] –, verdanken wir die treffendste Formulierung dieser tiefsinnigen Philosophie: Da die Beschreibung der Fakten Vorschriften für eine Politik so gefährlich nahekommt, müssen die Fakten in Zweifel gezogen werden, um die Infragestellung der industriellen Lebensweise zu stoppen.

Die Mehrzahl der Wissenschaftler glaubt, daß die globale Erderwärmung weitgehend von Schadstoffen menschlichen Ursprungs verursacht wurde, die eine strenge Reglementierung erforderlich machen. Der republikanische Stratege Luntz scheint damit übereinzustimmen, wenn er einräumt: ›Die wissenschaftliche Debatte ist dabei, uns jeden Ausweg zu versperren.‹ Seiner Auffassung nach sollte man jedoch so tun, als seien die Beweise nicht schlüssig: ›Wenn die Öffentlichkeit zu der Überzeugung gelangt, daß die wissenschaftlichen Probleme gelöst sind, wird sich auch ihre Einstellung gegenüber der globalen Erwärmung ändern. Infolgedessen müssen Sie weiterhin das Fehlen wissenschaftlicher Gewißheit zum zentralen Argument machen.‹[40]

51Die präskriptive Potenz wissenschaftlicher Gewißheiten ist so stark, daß es gilt, diese als erste anzufechten.[41] Daher die Entwicklung jener Pseudokontroverse, der es so wunderbar gelang, einen Großteil der Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß die Klimawissenschaft völlig unzuverlässig sei, die Klimaforscher eine Lobby unter anderen, das IPPC ein Versuch, den Planeten in die Hände verrückter Wissenschaftler zu bringen, die Chemie der oberen Atmosphäre eine Verschwörung »gegen den American way of life«, die Ökologie ein Anschlag auf die unveräußerlichen Rechte der Menschheit, sich zu modernisieren.[42] All das reichte nicht hin, den Konsens der Experten zu erschüttern, der sich Jahr für Jahr stärker bewahrheitete.[43]

Wäre man bereit, das Kohlendioxid, und also Kohle ebenso wie Erdöl, zur Ursache des Klimawandels zu erklären, dann – 52und das haben Industrielle und Banker durchaus begriffen – könnte man die Beschreibung der Tatsachen nie mehr vor einer moralischen Bewertung sichern, und bald auch nicht mehr vor politischen Maßnahmen. Verantwortlichkeit macht eine Antwort erforderlich – natürlich vor allem, wenn die Ursache eine »menschliche« ist.[44] Wenn sie sich nicht sehr ins Zeug legen, wird der faktische Sachverhalt zum juristischen. Beschreiben heißt niemals nur informieren, es heißt alarmieren, emotional berühren, mobilisieren, zum Handeln aufrufen, vielleicht auch Sturm läuten. Das war im Grunde bekannt; allerdings mußte es auch ans Licht gebracht werden.

Angesichts der gewaltigen ersten Klimabedrohung (derjenigen, die aus den Arbeiten der Forscher hervorging) sind Pressure-groups aktiv geworden, um einer – in ihren Augen – noch gewaltigeren Bedrohung zu begegnen, die unmittelbar aus der ersten hervorging: Die Öffentlichkeit würde sie verantwortlich machen und ihnen infolgedessen eine tiefgreifende Transformation der Regeln auferlegen, innerhalb deren sie funktionieren. Daß angesichts eines solchen Notstands die übliche Epistemologie nicht sehr schwer wog, versteht sich. Sie werden die Mächtigen nicht dadurch einschüchtern, daß Sie mit der Faust auf den Tisch hauen; Sie können es sich auch sparen, ihnen zu sagen: »Das sind die Tatsachen, sehr geehrte Vorstandsvorsitzende, ob Sie nun wollen oder nicht!« Die »Wertfreiheit« wird in Scherben gehen. Die Lobbyisten haben alles auf die Beine gebracht, was sie an Kommunikationsspezialisten, gedungenen Experten und sogar über jeden Verdacht erhabenen Vertretern einschlägiger Akademien aufzu53bieten hatten, um zu erreichen, daß man etwas ganz anderes will, und zwar auf der Basis ganz anderer Tatsachen. Wie einer von ihnen schrieb: Der Kohlenstoff ist »unschuldig« und ist von jeder Anklage und jeder Verantwortung reinzuwaschen.[45] Kein Zweifel, andere Nicht-Tatsachen werden zu einer anderen Nicht-Politik veranlassen!

Die ganze Perversität der Berufung auf den »Zustand der natürlichen Welt« zeigt sich daran, daß der Gegenangriff nur wirksam werden konnte, weil die Standardposition, die der gewöhnlichen Epistemologie, weiterhin jedermann einleuchtete, der Öffentlichkeit, den Politikern und vor allem – das ist das Erstaunlichste – den Klimaexperten, die so heftig und ungerecht angegriffen wurden, weil sie – ihren Gegnern zufolge – die Demarkationslinie zwischen Wissenschaft und Moral überschritten hatten. Hätten die Lobbyisten nämlich gesagt: »Wir glauben nicht an diese Tatsachen; sie passen uns nicht; sie ziehen Opfer nach sich, die wir nicht erbringen wollen«; oder, wie Präsident [George H.] Bush: »Unsere Lebensweise ist nicht verhandelbar«,[46] hätte jeder den Humbug 54