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Kann ich? Darf ich? Soll ich? Oder muss ich? Das Leben stellt dir viele Fragen. Und jede Frage lädt dich dazu ein, die Welt und dein Leben besser zu verstehen. Der Philosoph Christoph Quarch erzählt dir, welche Antworten unsere großen Denker:innen gegeben hätten. Ein philosophischer Ratgeber für deine persönliche Lebensgestaltung.
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Seitenzahl: 113
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Inhalt
ICH UND DIE WELT
Bin ich der wichtigste Mensch in meinem Leben? (Marc Aurel)
Muss ich mich selbst optimieren? (Søren Kierkegaard)
Darf ich meiner Gesundheit schaden? (Thomas von Aquin)
Muss ich den aktuellen Trends folgen, um erfolgreich zu sein? (Martin Heidegger)
ICH UND DIE ANDEREN
Sollte ich kompromissbereit sein? (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)
Darf ich – wenigstens manchmal – lügen? (Immanuel Kant)
Sollte ich empathisch sein? (Edith Stein)
Darf ich hassen? (Arthur Schopenhauer)
ARBEIT UND FREIZEIT
Ist es wichtig, etwas Eigenes schaffen zu wollen? (Friedrich Nietzsche)
Muss ich meine Arbeit lieben? (Lucius Annaeus Seneca)
Muss ich mit Leuten meine Freizeit verbringen, auch wenn ich sie nicht mag? (Hans-Georg Gadamer)
Ist es okay, seine Zeit mit Spielen zu vertrödeln? (Friedrich Schiller)
PARTNERSCHAFT UND FREUNDSCHAFT
Gibt es den idealen Partner für mich? (Platon)
Sollen wir zusammenbleiben – auch wenn die Erotik weg ist? (Karl Jaspers)
Darf man mehrere Menschen gleichzeitig lieben? (Diotima von Mantineia)
Ist es okay, wenn ich schöner sein will als meine Freundinnen? (Agnolo Firenzuola)
ELTERN UND KINDER
Müssen wir unsere Eltern pflegen, wenn sie alt sind? (Martin Buber)
Muss ich meinen Eltern verzeihen? (Sokrates)
Muss ich mein Kind glücklich machen? (Wilhelm von Humboldt)
Ist es okay, Geldgeschenke zu machen? (Aristoteles)
POLITIK UND GESELLSCHAFT
Muss ich mich für Politik interessieren? (Hannah Arendt)
Ist es richtig, sich für Flüchtlinge zu engagieren? (Jeremy Bentham)
Muss man für die Rechte anderer kämpfen? (Flora Tristan)
Soll ich Obdachlosen Geld geben? (Emanuel Levinas)
UMWELT UND NATUR
Sollte ich mich für Naturschutz engagieren? (Ralph Waldo Emerson)
Ist es okay, ein Vermögen für sein krankes Tier auszugeben? (Albert Schweitzer)
Darf ich Lebensmittel wegschmeißen? (Hans Jonas)
Muss ein guter Mensch Vegetarier sein? (Johann Wolfgang Goethe)
GOTT UND RELIGION
Ist es wichtig, religiös zu sein? (Friedrich Schleiermacher)
Kann ich mir eine eigene Spiritualität erschaffen? (Mechthild von Magdeburg)
Gibt es Schicksal? (Gottfried Wilhelm Leibniz)
Gibt es ein Leben nach dem Tod? (Pythagoras)
Ich und die Welt
NEIN
Der große Athener Tragödiendichter Euripides hat eine ergreifende Geschichte erzählt. Sie handelt von einer Frau namens Alkestis, die mit dem König Admetos verheiratet war. Auf diesem aber lag ein alter Fluch, so dass er lange vor der Zeit zu sterben hatte. Allein, der Gott Apollon liebte den Admetos und erwirkte von den Göttern der Unterwelt, dass jener länger leben dürfe; gesetzt, es fände sich ein anderer Mensch, der an Admetos statt zu sterben bereit sei. Es fand sich aber niemand – außer seiner Frau Alkestis. Ihr war das Leben ihres Gatten wichtiger als ihr eigenes.
Nun mag man einwenden, das sei ein alter Mythos, der uns Heutigen nichts mehr zu sagen habe. Zumal er klar patriarchale Züge trägt. Sich für den Gatten hinzugeben, fiele heute niemandem mehr ein. Wie aber steht es um die vielen tausend Mütter, die sich für ihre Kinder opfern? Wie steht es um die vielen Männer, die ihr Leben für ihre Liebsten ließen? Wie steht es um die Gentlemen zur See, die anstandslos zuerst Frauen und die Kinder in Sicherheit brachten? Es gibt reichlich Beispiele von Menschen, die sich selbst nicht als die wichtigste Person in ihrem Leben sahen – und die bereit waren, ihr Leben zum Wohl des Lebens anderer aufs Spiel zu setzen oder gar dranzugeben.
Dass wir Heutigen ein solches Verhalten kaum noch verstehen können oder gar ablehnen, liegt nicht daran, dass wir klüger oder fortschrittlicher wären als die Altvorderen. Eher liegt es daran, dass die Geschichte übervoll ist von Predigern, Diktatoren, Ideologen und Fundamentalisten, die sich die Opferbereitschaft der Menschen aus rein selbstsüchtigen Motiven dienstbar gemacht haben. Das hat aus verständlichen Gründen dazu beigetragen, dass wir heute versucht sind, Altruismus und Selbsthingabe abzulehnen, und stattdessen einen Egoismus verinnerlicht haben, der früheren Menschen inakzeptabel gewesen wäre. Die Gründe dafür sind vielfältig, müssen hier aber nicht eigens rekonstruiert werden. Wichtig ist nur zu erkennen, dass es nicht im Wesen des Menschen, sondern am modernen Menschenbild liegt, wenn wir vor allem um unser eigenes Wohlergehen besorgt sind und uns für die wichtigste Person in unserem Leben halten.
Die Römer zum Beispiel dachten diesbezüglich völlig anders. Sie waren wahrlich keine Altruisten oder Gutmenschen, eher im Gegenteil: Sie schufen sich ein riesiges Imperium und beherrschten Jahrhunderte lang die Welt. Doch Egoisten waren sie nicht. Sie wussten, dass es Größeres und Wichtigeres gibt als die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Interessen. So konnte Marc Aurel, der Philosoph auf dem Kaiserthron, bemerken: »Wie lange der Mensch lebt, ist gleichgültig; notwendig aber ist es, dass jeder seine Pflicht tut.« Und damit meinte er, dass es wichtiger ist, sich in den Dienst bestimmter Werte und Tugenden zu stellen, als bloß auf das eigene Leben und die persönlichen Interessen bedacht zu sein.
Marc Aurel war Anhänger der sogenannten stoischen Philosophie. Die Gründer dieser Philosophenschule lehrten, der Mensch sei immer eingebunden in größere Systeme, von denen er lediglich ein kleiner Teil ist. Solche Systeme sind die Familie, die Gesellschaft, der Staat, die Kultur und natürlich auch die Natur. Ihnen, diesen größeren Systemen, verdankt sich unser Sein; und ihnen zu dienen kann wertvoller und wichtiger sein, als die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Vielleicht sogar wichtiger als das eigene Leben. Alkestis jedenfalls sah es so. Zur Belohnung wurde sie übrigens von den Göttern zurück unter die Lebenden versetzt …
(121–180 n. Chr.)
stand zwischen 161 bis 180 zwanzig Jahre lang als Kaiser an der Spitze des römischen Reiches. Seine Regierungszeit gilt als die letzte Blütezeit des Imperiums, gelang es ihm doch, in seinem gigantischen Reich den inneren Frieden und Zusammenhalt sicherzustellen, obwohl dessen nördliche und östliche Grenzen fortwährend bedroht waren. Deshalb verbrachte er den Großteil seiner Amtszeit im Feldlager, wo er auch seine von der stoischen Philosophie inspirierten Selbstbetrachtungen niederschrieb. Marc Aurel starb fernab von Rom in der Grenzstadt Vindobona, heute bekannt unter dem Namen Wien.
NEIN
Selbstoptimierung steht hoch im Kurs. Von allen Seiten wird dir nahegelegt, dass du das Beste aus dir machen musst. Also arbeitest du an dir: an deinem Aussehen, deiner Karriere, deinem spirituellen Erwachen … – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Du machst hier eine Fortbildung, da ein Seminar, dann noch schnell ein Workout oder eine Yoga-Einheit, eigentlich solltest du meditieren und natürlich anschließend die Gäste, die du eingeladen hast, mit einem unvergesslichen Menü verwöhnen. Du willst perfekt sein, es möglichst allen recht machen und dann auch noch auf dem großen Marktplatz der sozialen Medien erfolgreich sein. So verlangt es die Aufmerksamkeitsökonomie, deren unerbittlicher Kernsatz lautet: Dein Wert richtet sich danach, wie viel Aufmerksamkeit du auf dich lenken kannst. Die Aufmerksamkeit der anderen ist es, nach der dein Wert geschätzt wird. So wirst du zum Unternehmer deines eigenen Lebens, perfektionierst und optimierst dein Selbst-Marketing, wo immer du kannst. Bis zu dem Tag, an dem dir die Puste ausgeht und du in die Knie gehst; bis zu dem Tag, an dem du in den Spiegel schaust und hinter deinen Augen eine tiefe Müdigkeit erkennst – eine Müdigkeit, die eigentlich Verzweiflung ist.
Verzweiflung. Du glaubst gar nicht, wie viele Menschen tief verzweifelt sind. Du siehst es ihnen nicht an, denn sie alle haben ihr Selbst-Marketing perfektioniert. Sie alle wissen, was zu tun ist, um auf dem großen Marktplatz mitzuhalten oder gar zu reüssieren. Doch – genau wie du – zahlen sie alle einen hohen Preis: Sie opfern ausgerechnet dasjenige, um das es ihnen bei dem ganzen Hype der Selbstoptimierung ja eigentlich geht – das Selbst. Die Tragik bei dem ganzen Rummel, den du um dich selbst veranstaltest, liegt darin, dass du dich am Ende selbst verlierst.
Einer, der dieses Problem aus eigener Erfahrung kannte, ist der dänische Philosoph Sören Kierkegaard. Er war sein Leben lang von der Frage bewegt, was es denn eigentlich bedeutet, ein gutes Leben zu führen. Die Antwort, die er gab, scheint ganz im Trend der Selbstoptimierungspropaganda der Coaches und Personal Trainer zu liegen: Es geht darum, ein Selbst zu sein, war Kierkegaard überzeugt. Fragt sich nur, was das bedeutet. Du ahnst es schon: Nicht das, was heute Selbstoptimierung heißt. Warum?
Ein Selbst zu sein bedeutet für Kierkegaard erstens, niemals fertig zu sein. Weil es gar kein Selbst gibt. Das Selbst ist vielmehr ein Geschehen: ein Prozess, der niemals endet. Endet er, dann ist es um das Selbst geschehen. Wenn du jemals glauben solltest: Jetzt, da du von allen wertgeschätzt wirst (vor allem von dir selbst) und dich zu dem Menschen optimiert hast, der du immer sein wolltest, jetzt wärest du fertig und am Ziel – dann lass dir sagen: Gerade jetzt bist du kein Selbst mehr, sondern ein Schatten deiner selbst, der die Lebendigkeit verloren hat. Je mehr du dich perfektionierst, um das zu sein, von dem du meinst, es sei dein Selbst, desto mehr verlierst du dich in dem, was Kierkegaard die »Krankheit zum Tode« genannt hat: Verzweiflung.
Worin besteht sie? Kierkegaard meint, es gibt zwei Varianten der Verzweiflung: »Verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen«. Hä? Was soll das heißen? Der erste Satz weist darauf hin, dass wir immer schon wir selbst sind: Wir haben schon ein Stück gelebt, haben das Erbe unserer Vorfahren angetreten, unsere Sozialisation durchlaufen, unsere Eigenheiten ausgeprägt. Wenn wir dieses gewordene, wenn auch oft ungewollte, Selbst überwinden wollen, sind wir auf dem besten Wege zur Verzweiflung; weil wir unsere Vergangenheit nicht loswerden, weil unsere ganze Existenz in Voraussetzungen gründet, die sich unserer Macht entziehen – und an denen wir auch nichts mehr ändern können. Deshalb führt es unausweichlich in Verzweiflung, wenn du nicht du selbst sein willst.
Und das gleiche Schicksal blüht dir, wenn du unbedingt du selbst sein willst: und zwar das Selbst, das du durch Optimierung und Perfektionierung verwirklichen möchtest. Dieses Ideal der Selbstverwirklichung ist deshalb falsch, weil es übersieht, dass dein eignes Leben deiner Machbarkeit zum größten Teil entzogen bleibt. Jeder Versuch der willentlichen Selbstoptimierung führt dazu, einen Teil von dir zu verleugnen oder zu töten. Deshalb ist es so anstrengend, unbedingt ein Selbst sein zu wollen. Daraus gibt es nur einen Ausweg: dich immer neu darauf einzulassen, was das Leben dir bietet. Immer neue Antworten auf das zu suchen, was das Leben von dir fordert. So lebst du verantwortlich – und wirst, ohne dass du dich optimieren müsstest, groß und schön und weit: ein einmaliges Selbst, ein reifer Mensch.
(1813–1855)
Wenige Menschen haben sich das eigene Leben so schwer gemacht wie Sören Kierkegaard. Grund dafür ist allem voran sein christlicher Glaube, der ihm einerseits eine unversiegliche Quelle der Inspiration war, andererseits ihn aber mit moralischen Skrupeln belastete, die ihn innerlich zerrissen. So löste er aus religiösen Gründen die Verlobung mit Regine Olsen und entsagte anschließend dem geschlechtlichen Leben. Nachdem er zwischen 1841 und 1846 eine Reihe bedeutender Bücher schrieb, die ihn zum Begründer des Existenzialismus machten, legte er sich in seinen späten Jahren mit den Kirchenoberen seiner Heimatstadt Kopenhagen an. Dort starb er im Alter von 42 Jahren an einem Schlaganfall.
NEIN
Im Mittelalter stand die Selbstkasteiung hoch im Kurs. Da genoss höchstes Ansehen, wer sich selber quälte. Heinrich Seuse etwa, der große Schüler Meister Eckharts, der sich täglich geißelte und acht Jahre lang ein mit Nägeln gespicktes Kreuz auf dem Rücken trug. Der hätte wohl nur gelacht über die Frage, ob man seiner Gesundheit schaden dürfe – und hätte darauf verwiesen, dass es ihm allein um sein Seelenheil gehe, gemessen an der ihm sein leibliches Wohl schnurzpiepegal sei.
Heute ist das Seelenheil den meisten piepschnurzegal, aber ihre Gesundheit ruinieren sie trotzdem: Dauerstress, Bewegungsmangel, schlechte Ernährung, Alkohol, Drogen, Nikotin. Zahlreich sind die Wege, sich kaputt zu machen oder seine Gesundheit zu schädigen. Die Gründe dafür bleiben aber meist dieselben. Man muss Geld verdienen, will Erfolg, braucht Entspannung oder man pocht auf seine eigene individuelle Freiheit. Wer wollte das in Frage stellen?
Die Gründe haben sich gewandelt – der Trieb, sich selbst zu schädigen, lebt fort. Der sonderbare Trieb, sich selbst zu schädigen und niemand, der ihm Einhalt gebietet. Wirklich niemand? Na ja, der Gesetzgeber greift gelegentlich ein, wenn die Bürger es zu weit treiben mit dem Masochismus: Dann werden Drogen verboten und Raucher in Glaskästen gesperrt, oder Krankenkassenbeiträge erhöht. Aber so richtig in die Privatsphäre des Einzelnen einzugreifen, das wagt selbst der Gesetzgeber nicht.
»Mein Leib gehört mir«, lautet das unausgesprochene Credo aller Büßer und Asketen – ungeachtet dessen, welchem Gott sie eigentlich nun dabei huldigen. Und ihren Leib, so schließen sie daraus, dürfen sie als ein Instrument gebrauchen. Der Zweck, so sagen sie, heiligt die Mittel, und die Schädigung des eigenen Leibes ist okay, solange das keinem anderen schadet oder im Dienste höherer Zwecke steht – oder von purer Notwendigkeit diktiert ist: Wer wollte einen Minenarbeiter tadeln, der seine Gesundheit ruiniert, um das bisschen Geld zu verdienen, das er braucht, um seine Familie am Leben zu halten?
Aber stimmt das auch? Der Kirchenlehrer Thomas von Aquin jedenfalls vertrat die Ansicht, man dürfe sich auf keinen Fall selber schädigen, weil dies »der Liebe, mit der ein jeder sich selbst lieben muss«, entgegengesetzt sei; und weil man so ein Unrecht gegen die Gemeinschaft begehe, der jeder unweigerlich zugehöre.
Wer so argumentiert, trifft einen wahren Punkt: